Beziehungsgestaltung in der Pflege von Menschen mit Demenz - Perspektive-Demenz
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NEUE KONZEPTE FÜR DIE PRAXIS Beziehungsgestaltung in der Pflege von Menschen mit Demenz Der neue Expertenstandard Im Oktober 2017 wurde der neue Expertenstandard für die Pflege der Fachöffent- lichkeit vorgestellt. Seit April 2018 kann er bestellt werden (s. S. 47). Was steht drin? Worauf zielt er? CHRISTIAN MÜLLER-HERGL, Mitglied der Expertengruppe, die den Standard erarbeitet hat, stellt ihn in seinen Grundzügen vor. flege und Betreuung von Menschen mit Demenz Berufsgruppe der Pflegenden in einem geordneten P müssen individuell erfolgen: da wirkt das Kon- zept "Standard" zunächst irritierend. Allerdings Verfahren geeinigt haben. Das aktuelle Wissen, aber auch Erfahrungen aus der Pflegepraxis fließen in werden die DNQP-Standards (Deutsches Netzwerk die Erstellung des Standards ein: Auf der Basis wis- für Qualitätsentwicklung in der Pflege) als Hand- senschaftlicher Literaturstudien (wissenschaftliches lungsrichtlinien auf einem mittelabstrakten Niveau Team) erarbeitet eine Expertengruppe (12 Perso- verstanden, auf die sich ausgewählte Mitglieder der nen) Empfehlungen für Struktur-, Prozess- und Er- pflegen: Demenz 471 2018 43
gebnisqualität und kommentiert diese umfassend. Zugewandtheit, Anerkennung, Zuversicht, Beach- Da ein solcher Expertenstandard für Pflegende in tung der Individualität, Anerkennung -, kurz darum, allen Arbeitsfeldern gelten soll, muss er konkreti- der Person mit Demenz ein personales Gegenüber siert und in den jeweiligen Einrichtungen operati- zu sein. Anleihen an eine therapeutische Beziehung onalisiert werden. Es wird ein Leistungsniveau des auch in der Pflege werden deutlich. pflegerisch Richtigen und Wichtigen beschrieben, Aus diesen Zusammenhängen heraus themati- unabhängig davon, ob es unter den gegenwärti- siert der Expertenstandard Themen wie palliative gen Bedingungen auch finanzierbar und umsetzbar Versorgung, herausforderndes Verhalten oder auch ist - wobei der Blick auf die Praxis immer präsent Demenz im Rahmen von Lernbehinderungen nicht ist. Verbindlich werden die Expertenstandards da- oder nur am Rande. Beziehung ist auch in diesen durch, dass sich Pflegende und Institutionen dazu Kontexten der zentrale Dreh- und Angelpunkt für verpflichten. Allerdings: dies nicht zu tun, müsste das Grundverständnis von Pflegenden, um Person- man schon einschlägig begründen, um nicht als Sein und Lebensqualität von Menschen mit Demenz unprofessionell zu gelten. zu stützen. Zentral für die Pflege: Beziehung Zielsetzung des Standards Das Feld der Pflege von Menschen mit Demenz ist Die zentrale Zielsetzung lautet: "Jeder pflegebedürf- weit und groß. Wo soll angesetzt werden? Schnell tige Mensch mit Demenz erhält Angebote zur Bezie- war man sich einig, die Sache aus der Perspektive hungsgestaltung, die das Gefühl, gehört, verstanden der Zielgruppe zu betrachten. Dies hieß, von den Be- und angenommen zu werden sowie mit anderen Per- dürfnissen und der Lebensqualität der Personen mit sonen verbunden zu sein, erhalten und fördern." Der Demenz, also der Lebenssituation der Betroffenen Standard geht von der Annahme aus, dass die eher auszugehen, und nicht von den Defiziten. Verschie- funktionalen und verrichtungsorientierten Anteile dene Ansätze und Theorien ließen schnell die Bezie- der Pflege nur in, mit und durch eine gute Pflege- hung als zentrales Bedürfnis und Qualitätsmerkmal beziehung gelingen können. Beziehungsgestaltung in den Mittelpunkt rücken. Kognitive Veränderun- bildet die Brücke, damit sich die Person auf Unter- gen bedeuten ja auch emotionale, soziale und be- stützungsprozesse einlassen kann, Kontakte und ziehungsbezogene Veränderungen. Unter anderem Gemeinschaft erfährt sowie an Aktivitäten teilneh- erodieren psychische Sicherheit, Urvertrauen, das men kann, die dem Tag Struktur geben und Ängste Gesamtensemble psychischer Funktionen inklusi- reduzieren. Ohne diese Einbettung drohen immer ve der integrierenden Funktionen des Selbst. Um wieder Machtkämpfe, paranoide Übertragung, De- ein Minimum von Sicherheit zu gewinnen, ist eine pressivität oder Apathie. Pflege als Beziehungs- und vertrauensvolle und emotional warme Beziehung Problemlösungsprozess zu verstehen ist nun wahr- zu anderen Personen - primär Angehörige, dann lich nichts Neues, scheint aber seit Einführung der aber auch professionell Pflegende - unverzichtbar, Pflegeversicherung eher in den Hintergrund geraten um Ängste zu binden, eine Kohärenz zu finden und zu sein. Ein auf Funktionalität, Risikomanagement und Haftungsvermeidung ausgerichtetes Pflegema- nagement gefährdet das Person -Sein der Betroffenen Menschen mit Demenz und reduziert sie zu sicher versorgten Objekten. Hier steht die Wiederherstellung der sozialen Norm, nicht gewinnen Sicherheit durch aber die Person im Mittelpunkt. warme zwischenmenschliche Beziehungen Da Beziehung nicht wirklich standardisiert sein kann, wendet sich der Standard im Wesentlichen den persönlichen, professionellen und institutionellen sich halbwegs psychisch zu stabilisieren. Schon Tom Rahmenbedingungen zu, welche die Wahrschein- Kitwood äußerte die Vermutung, dass Menschen mit lichkeit einer gelingenden Beziehungsgestaltung zunehmender Demenz nur in der Begegnung sich erhöhen. Der Expertenstandard adressiert primär wieder ein stückweit rekonstituieren, ein wenig Klar- anerkannte Fachkräfte (,Anwender') ohne (geron- heit über sich selbst gewinnen und sich als Person to)psychiatrische Zusatzausbildung, obgleich diese erfahren können. Fehlt ein solches .Hilfs-Ich '. ist wärmstens empfohlen wird. Im Unterschied zu bis- vermehrt mit herausforderndem Verhalten und einer herigen Expertenstandards wird neben der Fach- schlechten Lebensqualität zu rechnen. Es geht dem- kraft verstärkt auch die Institution angesprochen: Zu nach nicht so sehr um das WAS- die Interventionen- diesem Zweck ist die Einrichtung gehalten, ein Pra- sondern um das WIE - Präsenz, Aufmerksamkeit, xiskonzept zur Gestaltung person-zentrierter Pflege 44 pflegen: Demenz 471 2018
NEUE KONZEPTE FÜR DIE PRAXIS Eine gute Beziehungs- gestaltung bildet zu entwickeln. Hierin sind Rahmenbedingungen, In der Regel betrifft ,a' (z. B. S2a) immer die Pflege- die Brücke, damit Anforderungen, Schulungen, Interventionen und fachkraft, die folgenden Buchstaben .b' oder ,c' (z. B. sich Menschen mit Maßnahmen zur Evaluation konkret zu beschreiben. S2b) die Einrichtung. Demenz auf Unter- Alle drei Kriterienebenen werden in den anschlie- stützungsangebote ßenden Kommentierungen konkretisiert. Diese spie- einlassen Fünf Ebenen für Struktur, Prozess geln die Diskussionen der Expertengruppe sowie die und Ergebnis von den Experten und Untergruppen eingereichten Arbeitspapiere wieder, welche von den Herausge- Der Expertenstandard unterscheidet fünf themati- bern und der wissenschaftlichen Leiterin der Exper- sche Schwerpunkte, die jeweils sowohl die Fach- tengruppe, Prof. M. Roes, redigiert und zusammen- kraft wie die Institution ansprechen. Zu diesen fünf gestellt wurden. Nur im Zusammenhang mit den Themen werden Struktur (S)-, Prozess (P)- und Er- Kommentierungen sind die Kriterien verständlich gebniskriterien (E) formuliert. Die Schwerpunkte der und praxisrelevant. Strukturkriterien lauten: Im Folgenden werden einzelne Aspekte der Kri- S 1: Haltung & Kompetenz von Pflegefachkraft und terien und deren Kommentierung, vorzugsweise aus die damit einhergehende Aufgabe der Einrich- dem Strukturteil. hervorgehoben. tung, für angemessene Haltung und Kompetenz Sorge zu tragen Schwerpunkt 1: Haltung & Kompetenz S2: Planung & Durchführung der Maßnahmen auf Der Strukturteil beschreibt die Rolle der Pflegekraft Basis einer Verstehenshypothese/Fallbespre- als Hilfs- oder Ersatz-Ich und betont neben den ob- chung, basierend auf Einrichtungskonzept und jektiven die Bedeutung subjektiver Bedürfnisse. Verfahrensregelung Menschen mit Demenz sollen nach ihren Vorstel- S3: Anleitung, Schulung und Beratung von Men- lungen befragt und die Pflege in soziales Handeln àl c, Cl schen mit Demenz und Angehörigen eingebettet werden. Die Aufrechterhaltung "stö- " ~ S4: Beziehungsfördernde Maßnahmen & Angebote basierend auf adäquaten Rahmenbedingungen rungsfreier Abläufe" ist von sekundärer Bedeutung. Kostenträger werden aufgefordert, Regeln, Auflagen ~ (QJ der Einrichtung und Leistungskontrollen dieser Schwerpunktsetzung ~ S5: Evaluation der beziehungsfördernden Pflege. anzupassen. pflegen: Demenz 471 2018 45
Aus der Interaktion und Kommunikation mit Men- überprüft. Ausdrücklich wird darauf verwiesen, dass schen mit Demenz heraus lassen sich Störungen und unterschiedliche Institutionen - Krankenhaus, ambu- Bedarfe im Rahmen der pflegerischen Beziehung gut lanter Dienst, stationäre Altenpflege - dies je nach einschätzen. Anstelle eines bestimmten Assessments ihrem Auftrag und Möglichkeiten auszugestalten werden Kriterien beschrieben (Aufmerksamkeit, Ex- und anzupassen haben. ekutivfunktionen, Krankheitseinsicht, Lernen und Im Zentrum des Pflegeprozesses steht nicht mehr Gedächtnis, Sprache, visuell-spatiale und perzep- die Planung, sondern die Entwicklung einer Verste- tuell-motorische Funktionen, Ungerichtetheit (man- henshypothese im Rahmen einer Fallbesprechung. gelnde Intentionalität). soziale Kognition), die kog- Letztere nimmt eine Schlüsselstellung im Experten- nitive Veränderungen verlässlich erkennen lassen. standard ein: die Verstehenshypothese versucht, die Das Handeln der Pflegenden ist immer auch Dinge aus Sicht der Person zu rekonstruieren, sich Spiegel der Institution, daher gilt diese als weiterer in sie hineinzuversetzen und aus dieser Perspekti- Adressat des Standards. Hier wird das materielle venübernahme heraus die Pflege zu gestalten. Ver- und soziales Umfeld, die Führung, die Teamquali- halten ist aus seiner Funktion heraus zu verstehen, tät und die Bedürfnisse des Teams, die Befähigung auf die von dementiellen Veränderungen betroffene zur Selbststeuerung, insgesamt die personzentrierte Wahrnehmung eine aus Sicht der Person stimmige, Führung angesprochen. Es wird die Überzeugung problemlösende Antwort zu geben. Es handelt sich bei dieser Hypothese um eine logische, zusammen- fassende Synthese der zur Verfügung stehenden Informationen, die über die Summe der Iníormatio- Der Expertenstandard richtet sich nen deutlich hinausgeht. Allgemeine Zuschreibun- nicht nur an Fachkräfte, sondern gen und Attributionen sollen ersetzt werden durch genaue, einfühlsame Beschreibungen, welehe die auch an Institutionen "Innenseite der Außenseite" deutlich machen. Die Expertengruppe geht davon aus, dass sich Pflegende gegenüber Menschen mit Demenz angemessener vertreten, dass personzentrierte Schulungen und verhalten, wenn sie dem Verhalten, der Erscheí- Personalentwicklungen dazu beitragen, den Stress nung, den Ausdrucksweisen Bedeutung und Sinn der Pflegenden zu reduzieren und eben dadurch Be- zuschreiben können. Pflegende können sich eher ziehung zu ermöglichen. Es versteht sich von selbst, in ihrer Rolle als .Hilfs-Ich' verstehen und gelassen- dass damit ein hoher Anspruch an die Führung ge- souverän, zugewandt und freundlieh reagieren, auch stellt wird. In Bezug auf Schulungen werden drei dann, wenn das Verhalten einen oberflächlich ge- Ebenen empfohlen: eine Basisqualifikation für alle sehen verletzenden Charakter annimmt. Insgesamt Mitarbeiter, die Rolle einer Fachkraft mit geronto- bedeutet dies auch, dass sich Pflegende vermehrt psychiatrischer Zusatzqualifikation sowie auf der damit auseinandersetzen müssen, was sie selber als Ebene des Managements eine alle gerontopsychi- Person im Gelingen wie im Scheitern zum Pflege- atrische Aktivitäten koordinierende Führungskraft prozess beitragen. Die Verstehenshypothese bildet (dementia care specialist). dann die Basis für die Ziele und die Planung. Hierbei wird auf den engen Zusammenhang von Pflege und Schwerpunkt 2: Planung und Beziehung verwiesen: Letztere kommt nicht einfach Durchführung der Pflege hinzu, sondern wird im engen Zusammenhang mit Beschrieben werden Wissen und Kompetenzen, die den funktionalen Aufgaben gelebt und realisiert. die Fachkraft für die Planung und Durchführung Erneut wird darauf aufmerksam gemacht. dass sich mitbringen sollte. Insbesondere auf Kompetenzen in Einrichtungen, aber auch Aufsichts- und Kontroll- der verbalen und nonverbalen Kommunikation und behörden von einer auf Sauberkeit, Ordnung und Interaktion wird verwiesen. Wünsche und Feedback Kontrolle geprägten Pflegekultur zu lösen haben. der betroffenen Personen und ihrer Angehörigen sind mit einzubeziehen. Es wird kein spezifischer Schwerpunkt 3: Anleitung, Schulung, Beratung Ansatz personzentrierter Pflege präferiert, stattdes- Der Expertenstandard geht von einem zugehenden, sen auf Kriterien wie Einzigartigkeit, Individualität proaktiven Beratungsansatz aus, der Menschen mit und Selbstbestimmung verwiesen. Wichtig aber ist, Demenz und Angehörige unterstützt, sich auf die dass die Einrichtung sich zum Thema personzentrier- Demenz einzustellen, möglichst gut mit dieser Ver- ter Pflege positioniert und beschreibt, was sie denn fassung zu leben und miteinander verbunden zu darunter versteht, wie sie Beziehungen zu gestalten bleiben. Unterschieden wird zwischen Information, und zu ermöglichen gedenkt, welehe Regelungen sie Anleitung und Beratung. Insgesamt lautet das über- dazu erlässt und wie sie die erwarteten Ergebnisse greifende Ziel, Menschen mit Demenz und Ange- 46 pflegen: Demenz 47 I 2018
NEUE KONZEPTE FÜR DIE PRAXIS hörige zu begleiten und zu stärken, nicht allein zu lassen, adäquate Hilfe rechtzeitig zu vermitteln und Expertenstandard Beziehungsgestaltung in der ein Verweilen in der häuslichen Situation so lange Pflege von Menschen mit Demenz wie erwünscht zu ermöglichen. Professionell Pfle- gende und Angehörige kommen wünschenswerter Sonderdruck. einschließlich Kommentierung und Literaturstudie Weise in einer gemeinsam geteilten Sorgehaltung (März 2018) überein. Angehörige werden begleitet, eine ange- Hrsg.: Deutsches Netzwerk für Qualitätsentwicklung in der Pflege messene Selbstfürsorge zu praktizieren und Entlas- (DNQP), ISBN: 978-3-00-057470-2, 224 Seiten, Preis: € 29,- tungsangebote und Hilfestellungen zu nutzen sowie (ink!. Versand-kosten), zu bestellen unter: www.dnqp.de selbstwirksam und problemlösend mit Herausforde- rungen umzugehen. Einrichtungen kommt die Aufgabe zu, Informati- on, Anleitung und Beratung zur Verfügung zu stellen und Mitarbeitende entsprechend zu qualifizieren. Schwerpunkt 5: Evaluation Hierzu gehört u.a. die Vernetzung mit regionalen De- Die im Verlauf der Demenz zunehmende Einschrän- menznetzwerken, Beratungsstellen, Selbsthilfegrup- kung der Personen, sich selbst in Situationen zu pen. Exemplarisch werden Inhalte für Informations-, verstehen, schränkt die Möglichkeiten ein - ver- Anleitungs- und Beratungsangebote beschrieben hindert sie aber nicht grundsätzlich -, die erfahrene und die Möglichkeiten und Grenzen unterschiedli- Pflege zu bewerten und Rückmeldung zu geben. cher Institutionen ausgelotet. Weitere Belastungen durch Schmerzen, Depres- sivität und Medikationen machen es notwendig, Schwerpunkt 4: Maßnahmen & Angebote dass die Pflegekraft die Selbstbekundungen der Auf der Basis einer Kenntnis von beziehungsfördern- Personen angemessen beurteilt. Zunehmend ist auf den Angeboten soll die Pflegekraft situationsbedingt nonverbale Anzeichen zu achten, die Auskunft über auf "subjektive Realitäten" (gemeint sind: Illusion, Befindlichkeiten geben, z.B. spontane Mitmachbe- Delusion und Halluzination) reagieren, soziale Teil- wegungen während der Pflege oder positive mimi- habe ermöglichen, einen lebendigen Alltag gestal- sche, gestische, stimmliche oder körpersprachliche ten, spontane Eigenaktivitäten ermöglichen und Reaktionen. Im fortgeschrittenen Stadium können Wahrnehmungseinschränkungen berücksichtigen. Pflegende versuchen, über Beobachtung Stimmung Wünsche des Betroffenen und Selbstbestimmung und Affekt (1), Beziehung und Interaktion zu Mit- sind dabei wichtige Richtmaße. menschen (2). Betätigung und Eingebundensein (3) Einrichtungen werden aufgefordert, Mitarbeiter sowie Anzeichen für das Gefühl der Sicherheit und für diese Aufgabe zu befähigen, für eine angemes- Geborgenheit (4) einzuschätzen und zu beurteilen. sene Personaleinsatzplanung und damit für ausrei- Wesentliche Aspekte und konkrete Indikatoren die- chend Zeit Sorge zu tragen, den Mitarbeitern aber ser vier Ebenen werden ausführlich beschrieben. auch ausreichend Handlungsspielräume zu gewäh- Insgesamt sind die Reduzierung von Angst und Agi- ren. Ein wichtiger Beitrag dazu ist ein biographisch tiertheit einerseits sowie von Apathie und Depres- und persönlich gestaltetes Umfeld, das den bisheri- sivität andererseits eine Richtlinie, die alle Ebenen gen Lebensgewohnheiten im Grundsatz entspricht. durchzieht. Eine weitere bildet den Respekt vor der Der Expertenstandard denkt Pflege und Betreu- Selbstbestimmung einerseits sowie das Bedürfnis ung als eine zusammenhängende, aufeinander be- nach Sicherheit und Zugehörigkeit andererseits. zogene Gesamtaufgabe, die in enger Abstimmung Sind Menschen in einem positiven Kontakt, ein- wahrzunehmen ist. Da es immer wieder zu grenz- gebunden in Tätigkeiten, angemessen sensorisch wertigen Situationen kommt, kann auf beratende stimuliert sowie sicher und geborgen, dann geht es und bildende Angebote für die Pflegenden, z. B. in ihnen vermutlich vergleichsweise besser als wenn Form der Supervision oder der Fortbildung, nicht dies nicht der Fall wäre. verzichtet werden. Erneut wird auf die Verantwortung der Einrich- Unter den Titeln Lebensweltorientierung (Bio- tung verwiesen, dafür Sorge zu tragen, dass die Pfle- graphie). Wahmehmungsförderung (insbesondere genden die erbrachte Pflege aus einer Außenpers- durch eine personzentrierte Kommunikation), Wert- pektive wahrnehmen und damit kritisch reflektieren schätzung und Zuwendung (Präsenz) sowie Spe- können. Erst die Nähe, die aus der Distanz kommt, zifische Maßnahmen (Haustiere, Musik, Puppen) begründet eine hilfreiche Beziehung. Hier wird auf werden mögliche Interventionen zu beziehungsför- das Instrument der Fallbesprechung verwiesen, dernder Pflege konkretisiert. Wie immer sind diese welche eine zentrale Stellung sowohl bei der Pla- Maßnahmen den Möglichkeiten der jeweiligen In- nung wie bei der Evaluation der Pflege spielt. Die stitution anzupassen. Evaluation ist laufend, also täglich durchzuführen pflegen: Demenz 471 2018 47
und erfordert den persönlichen Kontakt der verant- hat sie die Kompetenz, Angehörige anzuleiten wortlichen Pflegekraft. Die fluktuierende Verfassung oder gar zu beraten? führt zu akzentuiert guten und schlechten Tagen, 5. Die Pflegeplanung und -dokumentation ist be- so dass ein einheitliches Bild der Verfassung eher ziehungs- und nicht einseitig funktionsorientiert unwahrscheinlich ist und ein Gesamtbild komple- auszurichten (Affekte, Beziehung, Betätigung, xe Verfassungen und Zustände aufführen wird. Die Geborgenheit werden reflektiert und dokumen- Pflege ist daher laufend anzupassen. Da Menschen tiert). Planungen liegen vor mit einer Bandbreite mit Demenz zunehmend nicht mehr zwischen Sache für gute und schlechte Tage. Sind Zitate der Per- der Pflege und Person der Pflegekraft unterscheiden sonen mit Demenz dokumentiert, die Hinweise können, sollte im Kontext des pflegerischen Han- auf die vier Beurteilungskriterien geben? delns nachgespürt und nachgefragt werden, wie die Person mit Demenz die Pflegesituation wahrnimmt. Mit Sicherheit ist in dem Expertenstandard das zur- Dieser Umstand macht es schwer, ein spezifisches zeit verfügbare Wissen zur Pflege von Menschen mit Instrument für die Evaluation zu empfehlen. Statt- Demenz umfassend und evidenzbasiert beschrie- dessen erfolgt der Hinweis auf die vier Kriterien und ben. Pflegende wissen - schon länger -, was eine Indikatoren für diese Kriterien. gute Pflegepraxis bedeutet. Leider hat die Pflege In der Regel sollte immer an der Person selbst nur eine eingeschränkte, wenn nicht bevormundete Maß genommen und erst in zweiter Linie auf das Verfügungsmacht über das, was pflegerisch gut ist: Urteil von Angehörigen oder Pflegekräften zurück- sie bestimmt sich nicht selbst, sondern erhält ihren gegriffen werden. Rahmen von zumeist pflegerisch Unkundigen, die über Definitionsmacht verfügen. Ob diese Entschei- der den Expertenstandard beachten - wir werden Zusammenfassung der Schwerpunkte es sehen. Konflikte mit Aufsichts- und Kontrollor- ganen lassen sich ohne Mühe antizipieren: wenn Was sind die wesentlichen Kernaufgaben, mit de- die Person nichts mehr essen und trinken will, sie nen der Expertenstandard die Einrichtungen und anhaltend die Körperpflege verweigert, die Pfle- Pflegenden konfrontiert: genden normverletzende Verhalten tolerieren oder 1. Wie können Rahmenbedingungen für eine profes- sich dem Ordnungs- und Zivilisierungsauftrag der sionelle Pflegebeziehung geschaffen werden? Wie Öffentlichkeit verweigern. Zumindest ist es mit die- kann ein Kontext geschaffen werden für offene sem Papier gelungen, auf eindrucksvolle Weise den Situationen, mit Spielräumen und Flexibilität für pflegerischen Standpunkt zu einem zentralen The- situationsoffenes Reagieren ma des Gesundheitswesen zu dokumentieren und zu 2. Ein personzentriertes Praxiskonzept muss her zu behaupten. Es ist zu hoffen, dass dieser Standard zu Themen wie Lebenswelt, Wahrnehmung, Wert- einem Bezugspunkt in Verhandlungen wird und ar- schätzung/Präsenz, spezielle Maßnahmen, für gumentativ das Anliegen einer guten pflegerischen Evaluation (Affekt, Beziehung, Betätigung, Ge- Versorgung stützt. borgenheit), für die Rolle und Aufgabe der verant- wortlichen Pflegefachkraft, für Mitwirkung von Angehörigen, für das Selbstbestimmungsr€cht der Christian Müller-Hergl Personen ... (OCM StrategieLead, Oialog- und Transfer- 3. Mitarbeiter: Wie wird die kontinuierliche Ent- zentrum Demenz (OZO), UniversitätWitten- wicklung von Wissen und Kompetenz gesichert? Herdecke), Oipl.-Theologe und -philosoph Was tun, um die Selbststeuerungsfähigkeit der E-Mail: ehristian.mueller-hergl@uni-wh.de Mitarbeiter zu ermöglichen? Was braucht das Team (z. B. Matrixorganisation, Fachkraft für Ge- rontopsychiatrie)? Wie stellt man eine Basisquali- fikation für alle Mitarbeitenden sicher? 4. Es gilt, die Implementierung einer kontinuierli- Ausgabe 49 chen Praxis der Fallbesprechungen zu entwickeln. Verstehenshypothesen bilden zukünftig die Basis von pflegen: Demenz der Pflege- und Betreuungsplanung. Auf Supervi- widmet sich dem Thema sion kann nicht verzichtet werden. Eine gemein- same Sorgehaltung mit den Angehörigen ist zu "Beziehung". entwickeln, z. B. im Rahmen ihrer Beteiligung an Fallbesprechungen. Verfügt die Einrichtung über passende Informationen zum Thema Demenz und 48 pflegen: Demenz 4712018
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