Bindungsstörungen bei Kleinkindern im digitalen Zeitalter

 
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Bindungsstörungen bei Kleinkindern im digitalen Zeitalter
D I S K U R S

     Karl Schrittwieser
     Bindungsstörungen
     bei Kleinkindern im
     digitalen Zeitalter
     Diagnostische und therapeutische
     Herausforderung

     S
                eit mehr als einem Jahr befähigt ein welt-      chologe begegnen mir Kinder mit diesen Auffälligkei-
                weites Ereignis Milliarden Menschen dazu,       ten seit einigen wenige Jahren – und dies häufiger seit
                ihr Verhalten zu ändern. Diese Erkenntnis       der Covid-19-Pandemie. Meine Eingangsfrage an die
                ist ein Modell dafür, wie kompetent unsere      Eltern „Würden Sie heute auch ohne Pandemie hier
                Anpassungsleistungen sein können, sofern        sitzen?“ verneint mittlerweile eine zunehmende An-
     Veränderungswünsche entsprechend stark nach Lö-            zahl derer. Dennoch, das hier erörterte Thema tauchte
     sungen drängen.                                            bereits in Prä-Covid-Zeiten auf und scheint im Rah-
     Die Idee zu diesem Artikel entstand aus für mich neu-      men der aktuellen Krise einen zusätzlichen Schub zu
     en Beobachtungen im Kontext diagnostischer und             erfahren.
     psychotherapeutischer Arbeit mit Kleinkindern und          Der Fokus der Störungsdynamik dürfte dabei in einer
     deren Familien. Es sind dies noch wenig vertraute Stö-     signifikanten Veränderung der Interaktionsmuster auf
     rungsmuster in der psychosozialen, emotionalen und         der Eltern-Kind-Ebene liegen. Die Bandbreite der Ein-
     kognitiven Entwicklung bei 2- bis 5-Jährigen, die häu-     flussgrößen reicht von passager reduzierter Aufmerk-
     fig über Kindergartenpädagog*innen zur klinisch-psy-       samkeit als Ausdruck einer erhöhten Erziehungs- und
     chologischen Abklärung bzw. deren Eltern zur Bera-         Betreuungsbelastung seitens der Bezugspersonen ge-
     tung empfohlen werden.                                     genüber dem Kind bis hin zu dessen Ausstoßung als
     Durch diese Aspekte sensibilisiert, bot sich mir Ende      Bindungsstörung im pathologischen Sinn.
     letzten Jahres die Gelegenheit zu einem Impulsreferat      Auf der Handlungsebene geschieht dies durch Abgabe
     im Rahmen eines regionalen Kindernetzwerktreffens.         elterlicher Verantwortung an digitale Schnuller, Shut-
     Ich betitelte dieses in leidenschaftlicher Betroffenheit   Up-Toys und andere elektronische Medien, die essen-
     als „Kindesweglegung 2.0 – atypische Störungsbilder        tielle Eltern-Kind-Interaktionen ausdünnen und das
     des Kleinkindalters und digitaler Medienmissbrauch“.       Wachsen sicherer Bindungen erschweren.
     Aus einem seit etwa zwei Jahren geführten kollegialen      Digitale Geräte übernehmen zunehmend die Steue-
     fachspezifischen Austausch zur genannten Thematik          rung physiologischer, psychosozialer und emotionaler
     entwickelte sich der Prototyp eines „Elternfragebo-        Regulation von Kindern ab dem Säuglingsalter. Smart-
     gens zur Nutzung digitaler Medien von Kindern bis          phone-Halterungen für Babyfläschchen sowie Töpf-
     sechs Jahren“.                                             chen und Kinderwägen mit integrierten Tablets sind
     In meiner diagnostischen Tätigkeit als klinischer Psy-     längst im „guten Fachhandel“ erhältlich. Damit wer-

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den künstliche Elternfiguren erschaffen, die den Kin- bzw. das Zeigen eines bestimmten Verhaltens als mehr
dern primäre Bedürfnisse erfüllen sollen.                    oder weniger sozial verträglich markieren: eine Nase
Die parallele Entwicklung einer psychohygienisch Kokain etwa anders als den täglichen Doppelliter
passenden Kultur im Umgang mit digitalen Medien Wein.
scheint sowohl im Erwachsenenleben als auch in dem Die simple Formel für die Entstehung eines Problems
der Kinder nur mühsam zu gelingen, zumal sich die könnte etwa so lauten: Dieses tritt dann auf, wenn ein
entsprechenden technischen Möglichkeiten in spekta- bestimmtes Verhalten zu wenig oder zu viel gezeigt
kulärer Weise verändern. So ermöglichte ein namhaf- wird.
ter japanischer Elektronikkonzern vor 40 Jahren mit „Alle Dinge sind Gift und nichts ist ohne Gift; allein
der Erfindung des Walkmans ein kollektives Distanzie- die Dosis macht, dass ein Ding kein Gift ist.“ (Paracel-
ren. Damalige Jugendliche sahen darin eine Chance, sus, 1538).
sich von der Welt ihrer konservativen Nachkriegs- Ein Zuwenig an Beziehung, Anerkennung, Aufmerk-
eltern abzugrenzen. Das ist zugleich jene Walk- samkeit, Empathie, Bewegung, Essen etc. bzw. ein Zu-
man-Generation, die später ihren Millennial-Kindern viel an Verstörendem, Achtlosem, Antreibendem –
fassungslos beim Füttern deren Tamagotchis zusah oder auch Bewegung, Essen etc.
und nun seit etwa zehn Jahren den Enkeln beim Strei- Kinderpsycholog*innen empfehlen digitale Abstinenz
cheln ihrer Smartphones und sonstiger intelligenter zumindest in den ersten beiden Lebensjahren. Vertre-
Oberflächen.                                                 ter der Augenheilkunde halten die Nutzung digitaler
„Beziehung ist der stärkste Wirkfaktor, den wir ken- Medien bis 3 Jahre für gänzlich ungeeignet, max. 30
nen“, weiß der Kinderpsychiater und Schriftsteller Minuten pro Tag zumutbar für 4- bis 6-Jährige, 1 Stun-
Paulus Hochgatterer. „Zuerst muss man zu zweit sein“, de im Grundschulalter sowie bis zu 2 Stunden ab 10
postuliert der Konstruktivist Ernst von Glasersfeld.         Jahren.
In der anamnestischen Arbeit mit Familien lässt sich Wir sehen jedoch, dass bereits Säuglinge unspezifische
seit einigen wenigen Jahren erkennen, dass manche Erfahrungen machen, viele Eltern ihre Kinder ab 2
Eltern ihre Kinder bereits im ersten Lebensjahr sol- Jahren an die Nutzung digitaler Geräte heranführen,
chen Medien als reine Reizquelle aussetzen und sie da- jedes zehnte 3-jährige Kind bereits selbständig im In-
bei in ihren Selbstregulationsversuchen allein lassen. ternet aktiv ist und 10- bis 14-Jährige täglich 8 Stunden
Alleinlassen stellt eine Beziehungsverletzung dar.           digitalen Gerätegebrauch, an Wochenenden bis zu
Das inzwischen zum Unwort mutierte Covid-19-be- 12 Stunden betreiben.
dingte „Social Distancing“ mit den damit einherge- Kleinkinder sind bereits häufig in der Lage, trotz feh-
henden Faktoren reduzierter Kontinuität von Kinder- lender Lese- und Schreibfähigkeiten, selbstständig
gartenbesuchen, dramatischen Veränderungen der Ar- einzelne Internetseiten oder Apps zu bedienen. Die
beitswelten von Eltern sowie familiären                                 Bedeutung digitaler Geräte auf der Bezie-
ökonomischen Bedrohungen verstärken je-                                 hungsebene kommt in drastischer Weise
nen Qualitätsverlust existenzieller Bezie-                              zum Ausdruck, wenn Kinder ihr Smart-
hungen. Selbst Eltern, die bereit sind, ihr                             phone als „Freund“ oder Jugendliche dieses
Erziehungsverhalten kritisch zu hinterfra-                              „als eigenen Körperteil“ bezeichnen. Dazu
gen, kapitulieren angesichts der seit dem                               der israelische Videokünstler Omer Fast:
Frühjahr 2020 andauernden überhöhten                                    „Die Welt, in der wir uns bewegen, hat die
Anforderungen, mit ihren Kindern gesunde                                Maße eines Telefons.“
Interaktionsformen zu leben. Analog-phy-                                Der kanadische Mediziner Gabor Maté dif-
sische Begegnungen werden reduziert, di-        DR. KARL SCHRITT-       ferenziert strikt die möglichen Motive ei-
gital-virtuelle dagegen verstärkt.              WIESER ist klinischer   nes Kindes bei der Nutzung digitaler Gerä-
In der mit Beginn des kommenden Jahres          Psychologe   und sys-   te. Liegen diese im Wunsch nach Erleben
                                                temischer Psychothe-
in Kraft tretenden ICD-11 sprechen wir                                  emotionaler oder sozialer Erfahrungen, wie
                                                rapeut sowie Lehr-
fachlich erstmals von krankheitswertigen        therapeut mit par-
                                                                        etwa Suche nach Entspannung, Aufmerk-
Störungen verursacht durch Missbrauch di-       tieller Lehrbefugnis.   samkeit, Angstreduzierung oder Interakti-
gitaler Medien und kodieren künftig eine        Er bietet im freiberuf- on, so sieht er darin eine missbräuchliche
Internetabhängigkeit als „Gaming disorder       lichen Rahmen kli-      und daher abzulehnende Verwendung. Ist
6C51“.                                          nisch psychologische    ein Kind jedoch fähig, die Funktion des Ge-
                                                Diagnostik, systemi-
                                                                        rätes in den Mittelpunkt seines Interesses
                                                sche Psychotherapie
NUN SIND IN UNSERER GESELLSCHAFT                sowie Supervision       zu stellen, würde er dies als passend und
höchst unterschiedliche Akzeptanzen kulti-      bevorzugt mit Frage-    damit nicht entwicklungsverstörend anse-
viert, die den Gebrauch von Substanzen          stellungen zu Kind      hen.
                                                und Familie an.

                                                                               S Y S T E M I S C H E   N O T I Z E N   0 2 / 2 1   27
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     Dazu ein Auszug aus dem erwähnten Elternfragebo-                           ziehungsverhaltens. Vielmehr handelt es sich dabei je-
     gen:                                                                       doch um Inselleistungen hinsichtlich Sprache, Moto-
     8. In welchen Situationen bieten Sie Ihrem Kind ein digitales              rik oder visueller Wahrnehmung, die kaum in eine ge-
        Gerät zu seiner Nutzung an?                                             sunde Gesamtentwicklung integrierbar sind.
        a) wenn es sich langweilt             nie manchmal oft                  Meine fachlichen Begegnungen mit diesem neuen
        b) zur Konfliktlösung                 nie manchmal oft                  Phänomen von Entwicklungsstörungen im Kleinkind-
        c) wenn es unruhig ist                nie manchmal oft                  alter geschehen im psychodiagnostischen und psycho-
        d) zur Lernförderung                  nie manchmal oft                  therapeutischen Kontext. Im Bestreben systemisches
        e) um selbst entlastet zu sein        nie manchmal oft                  Denken mit entwicklungspsychologischen Werkzeu-
        f) Sonstiges                          ...............................   gen zu einer intervenierenden Diagnostik zu verknüp-
     Aus „Elternfragebogen zur Nutzung digitaler Medien                         fen bzw. im familientherapeutischen Setting nach
     von Kindern bis 6 Jahren“ (Schrittwieser, 2021).                           weiterführenden Lösungen zu suchen, betrete ich mit
     Es scheint dabei wenig überraschend zu sein, dass der                      dem hier vorgestellten Thema Neuland und habe mit-
     kindliche Umgang mit digitalen Medien stark davon                          unter den Eindruck, mehr Fragen als Antworten zu
     abhängig ist, welchen Bezug deren Eltern hierzu ha-                        produzieren. Ich möchte nun exemplarisch zwei Fall-
     ben.                                                                       fragmente darstellen, die aus meiner Sicht relevante
                                                                                Aspekte zum Verständnis der Problemdynamik enthal-
     IN DER MULTIDISZIPLINÄREN ARBEIT mit Kindern im                            ten.
     Vorschulalter lassen sich vermehrt Symptome gravie-
     render Sprachstörungen bis hin zu bizarren Formen                          DIE ERSTE GESCHICHTE TRÄGT DEN TITEL ÜBERLEBEN:
     rudimentärer Entwicklung der Erstsprache mit patch-                        Die 4-jährige Amira (der Fallname ist frei erfunden)
     workartigen Mustern beobachten. Dabei werden inter-                        beherrscht mechanisches Zählen in englischer Spra-
     aktionsarme Welten im Kontext digitaler, mit den Be-                       che bis zur Zahl 10 sowie das Benennen der Grundfar-
     dürfnissen des Kleinkindalters unverträglicher und                         ben in ihrer Muttersprache arabisch. Das Mädchen hat
     v. a. nicht mit der sozialen Umwelt in Resonanz ste-                       jedoch bisher keine funktionelle Erstsprache entwi-
     hender, auf der Perzeptionsebene jedenfalls mächtiger                      ckelt. Sie kommuniziert zusätzlich auch in Deutsch
     Eindrücke abgebildet.                                                      ebenfalls in Form von Einzelworten ohne Satzbildung.
     Es zeigen sich unspezifische psychomotorische Retar-                       Amira begegnet Bezugspersonen ohne ersichtliche In-
                                                                                                       teraktionsresonanz, zeigt kei-
                                                                                                       nen reziproken Blickkontakt
                                                                                                       und wirkt körperlich altersent-
Kleinkinder sind bereits häufig in der Lage,                                                           sprechend entwickelt.
trotz fehlender Lese- und Schreibfähigkei-                                                             Die Familie flüchtete 2015 von
                                                                                                       Syrien nach Österreich. Amira
ten, selbstständig einzelne Internetseiten                                                             war damals im Säuglingsalter
oder Apps zu bedienen. Die Bedeutung                                                                   und erlebte Traumata im Ur-
                                                                                                       sprungsland sowie auf der wo-
digitaler Geräte auf der Beziehungsebene                                                               chenlangen Flucht. Die Eltern
kommt in drastischer Weise zum Ausdruck,                                                               berichten, dass ihre Tochter
                                                                                                       bereits als Baby viele visuelle
wenn Kinder ihr Smartphone als „Freund“                                                                und auditive Eindrücke über
oder Jugendliche dieses „als eigenen                                                                   Smartphones      aufgenommen
                                                                                                       habe und sie dieses Vorgehen
Körperteil“ bezeichnen.                                                                                auch in Österreich mit der
                                                                                                       Funktion des Beruhigens sowie
     dierungen oder auch Interaktionsstörungen mit autis-                       der Selbstbeschäftigung bis zu mehreren Stunden täg-
     tischer Färbung. Letztere wird derzeit häufig als atypi-                   lich beibehalten haben. Sie denken, Amira mit diesem
     sche oder pseudoautistische Symptomatik bezeichnet.                        Angebot sowohl ein adäquates emotionales als auch
     Eine noch unscharfe Vermutungsdiagnose.                                    kognitives Lernen zu ermöglichen und unterschätzen
     Betroffene Eltern interpretieren diese Entwicklungs-                       dabei ein beträchtliches Transferdefizit in der Diffe-
     auffälligkeiten nicht selten ressourcenorientiert als                      renz zwischen realer und virtueller Interaktion und
     Mehrwert. Dies verbunden mit der Hoffnung auf ein                          Perzeption.
     gelingendes Leben ihres Kindes, vielleicht auch als be-                    Wir sehen hier eine Familie mit erhöhter Vulnerabili-
     schwichtigender Versuch hinsichtlich des eigenen Er-                       tät durch erlittene Traumata, Migration, hohe Anfor-

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derungen hinsichtlich kultureller Anpassung sowie         DIE ZWEITE FALLGESCHICHTE BELEUCHTET
multiple psychosoziale Belastungen. Auch das epige-       DEN FOKUS DEPRIVATION:
netische Konzept transgenerationaler Traumatisierung      Der 3-jährige Dustin könne laut seiner Mu!er Affekte
könnte als Erklärungsversuch relevant sein. All dies      und motorischen Antrieb nur regulieren, indem er dem
bereitet den Boden für die Entstehung komorbider          wahllosen und unlimitierten Konsum digitaler Medien
Entwicklungsstörungen. So könnten traumatische Er-        ausgesetzt wird. Sobald der Bub in Konfliktsituationen
eignisse in der Primärfamilie Amiras Verstörungen         mit den Eltern oder Geschwistern gerät bzw. wenig Auf-
ähnlich einem psychischen Hospitalismus verursacht        merksamkeit erhält, flüchtet er in YouTube-Videos und
haben, dessen Symptome wiederum autistischen Stö-         versucht derart, seine Dysregulation zu steuern.
rungsbildern ähneln.                                      Die Familie lebt zu fünft in beengten Wohnverhältnis-
Die im Kontext der Traumabewältigung etablierte           sen, die Mutter leidet an einer Persönlichkeitsstörung,
Überlebensstrategie (etwa digitaler Medienkonsum          der Vater an Alkoholabhängigkeit. Entsprechend der
zur Beruhigung des Säuglings) scheint hier zu einem       Familienintensivbetreuerin sei Dustin bereits im
chronifizierten Gebrauch gewachsen zu sein, der es-       Säuglingsalter zum Ruhigstellen mit einem Smart-
sentielle Interaktionen auf der Eltern-Kind-Ebene er-     phone im Gitterbett verwahrt worden.
setzt. Dies wiederum führt zu dramatischen Beein-         Dustin begegnet meinen Lenkungsversuchen mit wü-
trächtigungen hinsichtlich Spracherwerb, der gesam-       tender Abwehr und unterbricht die eigenen Hand-
ten kognitiven Entwicklung sowie auf der psychosozi-      lungsbögen und jene seines Gegenübers mit chaoti-
alen und emotionalen Ebene.                               schem Kontextwechsel. Der Bub kann seine inneren
Die beschriebene Geschichte enthält neben anderen         Bedürfnisse kaum den Verträglichkeiten seiner sozia-
Belastungsfaktoren auch das Thema Migration. Hei-         len Umwelt entsprechend anpassen. Er erlebt dabei
matliche Modelle, die hier als nicht passend, nicht ak-   keinen Unterschied zwischen Warten auf Etwas im
zeptiert oder nicht erlaubt erlebt werden, mutieren       Sinne von Innehalten und der übrigen Zeit von Aktivi-
mitunter zu wenig authentischen Versuchen erzieheri-      tät und Getriebensein.
scher Neukreationen mit geringerer Anpassungsfähig-       Der 3-Jährige macht insgesamt einen psychomoto-
keit an Bedingungen und Anforderungen im Hier und         risch deutlich retardierten Eindruck und weist eine
Jetzt. Kulturbrüche führten schon immer zu einem Va-      Impulskontrollschwäche sowie eine expressive Sprach-
kuum an gewachsenen traditionell verlässlichen Mus-       entwicklungsstörung auf. Dustins Umgang mit digita-
tern. Denken wir nur an die elterliche Generation der     len Medien induziert v. a. reaktives Verhalten – der
1970er-Jahre, die gegen die schwarze Pädagogik ihrer      Bub erlebt dabei keine Resonanz wie in analogen, kre-
Nachkriegseltern opponierte und sich mangels posi-        ativen Prozessen, in denen zirkuläre Aspekte differen-
tiver Vorbilder in einer 68er-Laissez-faire-Erziehung     zierte neuronale Spuren erzeugen. Nicht zuletzt
verlor.                                                   spricht die Forschung beim Phänomen der Spiegel-
Vergleichsweise dazu scheint der geforderte Anpas-        neuronen von einem Resonanzsystem, das naturge-
sungsdruck an Eltern, die sowohl Migration als auch       mäß auf einem Interaktionsprozess beruht.
eine technische Revolution im Zeitraffer erleben, er-     Das Kind folgt vielmehr einer Reiz-Reaktions-Dyna-
heblich verstörender zu sein. Überdies kann das starke    mik, bestehend aus eindimensionalen Inputs. Es
Bedürfnis nach materiellem Mithalten inmitten unse-       wähnt sich als Akteur und lässt sich dennoch lenken
res Konsumterrors gerade in Form von digitalen Gerä-      und verstärken. So werden neuronale Spuren im me-
ten gut bedient werden.                                   solimbischen System gesetzt, in dem mit Belohnung
Welche fachlichen Interventionen könnten dieser           gedealt wird, die es abhängig nach schneller und mehr
Familie entwicklungsfördernde Lösungen ermögli-           macht.
chen?                                                     Die Besonderheit, sehr junge Kinder „wegzulegen“, ist
– Anerkennung der familiären Resilienz angesichts         abhängig vom elterlichen Stressausmaß, Bildungs-
    massiver existentieller Bedrohungen („Es ist Ihnen    und ökonomischen Defiziten und/oder psychischen
    gelungen, zu überleben!“)                             Krankheiten und eskaliert schlimmstenfalls in ent-
– Entwicklungspsychologische und edukative Inputs         sprechend komorbider Weise.
    zur Herstellung eines Mehr an Wissens zur kindli-     Zur Erzielung eines hilfreichen Ergebnisses kann auch
    chen Entwicklung                                      hier – ganz ähnlich zum beschriebenen ersten Fall –
– Etablierung erster Betreuungs- bzw. Behandlungs-        die möglichst breite Palette professioneller Interventi-
    schritte wie Vermittlung sozialer Hilfen,             onen betont werden. Diese sollten jedenfalls die psy-
    Sprachkurs, Erziehungsberatung, Interaktionsthe-      chosozialen und ökonomischen Bedingungen der
    rapie, Ergotherapie, Logopädie, integrative Kinder-   Familie als auch den speziellen Entwicklungsbedarf
    gartenbetreuung                                       des betroffenen Kindes wirksam erreichen.

                                                                              S Y S T E M I S C H E   N O T I Z E N   0 2 / 2 1   29
K A R L    S C H R I T T W I E S E R

     Als Behandlungsfokus würde ich hier Angebote zur                  3.1. als passive Beschäftigung
     Verbesserung der Eltern-Kind-Interaktion als beson-                    (bei anderer Person zuschauend):
     ders wichtig ansehen, die in Abhängigkeit der familiä-                 a) 0 bis 1 Jahre                 nie manchmal oft
     ren Ressourcenlage im ambulanten oder auch statio-                     b) 1 bis 2 Jahre                 nie manchmal oft
     nären Setting umsetzbar sein können.                                   c) 2 bis 3 Jahre                 nie manchmal oft
                                                                            d) 3 bis 4 Jahre                 nie manchmal oft
     ICH HABE BEWUSST FÄLLE AUSGEWÄHLT, deren Pro-                          e) über 4 Jahre                  nie manchmal oft
     blemdynamik in der Überzeichnung drastisch hervor-                3.2. als eigenständige Beschäftigung:
     tritt. Und dennoch: Auch in Familien ohne tiefgreifen-                 a) 0 bis 1 Jahre                 nie manchmal oft
     de Dysfunktionalitäten können diese Aspekte sichtbar                   b) 1 bis 2 Jahre                 nie manchmal oft
     werden, etwa in Alltagsskurillitäten – gesellschaftlich                c) 2 bis 3 Jahre                 nie manchmal oft
     bereits etabliert und damit einem sozialen Foul unver-                 d) 3 bis 4 Jahre                 nie manchmal oft
     dächtig. Wenn Eltern beispielsweise stolz berichten,                   e) über 4 Jahre                  nie manchmal oft
     dass ihr Kind bereits mit 15 Monaten kontinent war,           Aus „Elternfragebogen zur Nutzung digitaler Medien
     nachdem sie es mittels eines am Kindertopf integrier-         von Kindern bis 6 Jahren“ (Schrittwieser, 2021).
     ten Tablets entsprechend „dressiert“ haben. Oder              Ich sehe eine wichtige Verantwortung bei Fachleuten,
     wenn ein Vater erzählt, dass das ihm verantwortete            die mit Fragen rund um Kleinkinder konfrontiert sind,
     Einschlafritual mit seinem 2-jährigen Sohn am besten          deren Bezugspersonen einen Reflexionsspielraum an-
     klappe, indem dieser in seinem Bettchen Geschichten           zubieten, um die Sensibilität für diese Aspekte zu er-
     am Handy präsentiert bekomme und er seinerseits da-           höhen.
     neben sitzend Fußball schaue.                                 Im Kontext familientherapeutischer Interventionen
                                                                               erlebe ich diesbezüglich zunehmend resig-
                                                                               native elterliche Haltungen. Die Spirale der
                                                                               Problementwicklung spannt sich dabei über
Mein Appell: Leisten wir in unseren                                            wenig reflektiertes eigenes Nutzungsverhal-
unterschiedlichen Professionen                                                 ten mit beschwichtigender Einschätzung
                                                                               der Modellwirkung, unkritischer Wahrneh-
Verantwortung, Eltern darin zu                                                 mung der Wirksamkeit im Erleben von
bestärken, existentielle Bindungen                                             Kleinkindern bis hin zu Gefühlen von
                                                                               Machtlosigkeit angesichts der enormen Ein-
zu ihren Kindern nicht an digitale                                             flussgröße, die der Umgang mit digitalen

Geräte abzugeben, sondern die Her-                                             Medien im Leben ihrer heranwachsenden
                                                                               Kinder angenommen hat. Viele Familien
ausforderungen dieser technischen                                              werden an diesem fortgeschrittenen Punkt

Revolution gemeinsam mit ihnen                                                 einer Problementwicklung im therapeuti-
                                                                               schen Kontext vorstellig. Der 13-jährige
zu schaffen!                                                                   Sohn oder die 13-jährige Tochter hat bereits
                                                                               seinen/ihren Tag-Nacht-Rhythmus umge-
     Erste Erfahrungen in der Anwendung des oben er-               kehrt, nimmt kaum mehr an den Lockdown bedingten
     wähnten Fragebogens zur Erhebung des Umgangs mit              Homeschooling- bzw. Hybridunterricht-Verpflichtun-
     digitalen Medien bei 0- bis 6-Jährigen zeigen das Er-         gen teil und pflegt kaum physische Sozialkontakte mit
     staunen vieler Eltern über die tatsächliche Vielfalt an       Familie und Freunden. Die vielfältigen Auswirkungen
     Begegnungen ihrer Kinder mit diesen Geräten. Spezi-           der Pandemie scheinen dabei für diese Störungsdyna-
     ell unterschätzt werden hier jene passiven Berüh-             mik eine Katalysatorwirkung auszuüben. Aus einem
     rungspunkte wie etwa das Mitschauen eines Säuglings           seit 2020 um ein Drittel gesteigerten Umsatz im Ver-
     auf diversen Displays bei deren Nutzung durch famili-         kauf digitaler Software lässt sich das Ausmaß jener Le-
     äre Bezugspersonen. Und dies häufiger mit einer un-           bensveränderungen erahnen.
     kritischeren Selektion hinsichtlich konsumierter In-
     halte und zeitlicher Grenzen als bei aktiver Anwen-           AM BEGINN MEINER FALLGESCHICHTEN stand eine Fa-
     dung.                                                         milie, die Flucht erlebt hat. Am Ende nun eine, die in
     Dazu wird im Elternfragebogen folgender Punkt erho-           vielem ähnlich ist und dennoch psychohygienisch ge-
     ben:                                                          sündere Lösungen fand – für mich ein Resilienz-Wun-
     3. In welchem Alter hatte Ihr Kind erste Kontakte mit einem   der:
         digitalen Medium?                                         Eine 17-jährige Afghanin flüchtet mit ihrer 2-jährigen

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Tochter und dem zweitgeborenen Kind im Säuglings-                        dern nicht an digitale Geräte abzugeben, sondern die
alter vor ihrem gewalttätigen Ehemann aus dem Iran                       Herausforderungen dieser technischen Revolution ge-
über die Türkei auf der Balkanroute nach Österreich.                     meinsam mit ihnen zu schaffen!
Sie scheint trotz Bildungsnotstand und erlebter Ge-                      Ich nahm anfangs Bezug auf die Pandemie als Trigger
walt in der Lage, ihre vorhandenen Ressourcen zu nut-                    für Verhaltensänderungen. Wir benötigen dazu offen-
zen. Die junge Frau definiert etwa die Flucht in ju-                     sichtlich ein ausreichend starkes Motiv. Ich freue
gendlich unbekümmerter Weise als „Abenteuer“ und                         mich auf den Tag, an dem auch die gesunde psychi-
macht diese Haltung auch ihren Kindern erlebbar. Die                     sche Entwicklung unserer Kinder ein solches sein
beiden scheinen den schwierigen Umständen ihres                          wird.
bisherigen Lebens entsprechend in ihrer seelischen
Grundstruktur nicht zerbrochen zu sein. Ich war be-
eindruckt von der psychischen Stärke dieser Mutter                       LITERATUR
und assoziierte dabei den Film „Das Leben ist schön“                     Benigni, R. (1997). La vita è bella (Das Leben ist schön). 124 Min.
von Roberto Benigni, in dem dieser als Vater seinem                        Italien.
                                                                         Fast, O. (2016). Talking is not always the Solution. Berliner
Sohn eine andere KZ-Wirklichkeit vorhalluzinierte. Im
                                                                           Festspiele.
richtigen Leben sowie im Film überleben hier Kinder                      Hochgatterer, P. (2017). Persönliche Widmung.
existenziell bedrohliche Anforderungen mit Hilfe ei-                     Maté, G. (2020). How Not To Screw Up Your Kids, Interview.
ner tragfähigen Beziehung zu einer Bezugsperson, die                     Paracelsus (1538). 3. Defensio. In: Septem Defensiones 1538. Werke
verlässlich und liebevoll für sie da ist. Das Prinzip                      Bd. 2, Darmstadt 1965, S. 508–513.
                                                                         Schrittwieser, K. (2021). Elternfragebogen zur Nutzung digitaler
„one caring person“ scheint jene Widerstandskraft zu
                                                                           Medien von Kindern bis 6 Jahren.
bilden, die es einem Kind ermöglicht, sich gesund zu                     von Glasersfeld, E. (1990). Systeme – Zeitschrift der österreichi-
entwickeln.                                                                schen Arbeitsgemeinschaft für systemische Therapie (2/90),
Daher mein Appell: Leisten wir in unseren unter-                           S. 119–135.
schiedlichen Professionen Verantwortung, Eltern dar-                     ICD-11 (erscheint 2022). International Statistical Classification of
in zu bestärken, existentielle Bindungen zu ihren Kin-                     Diseases and Related Health Problems.

      Einladung

      Autorenlesung in Linz
      „Sommer, noch nicht Herbst“ ist der zweite Band einer Trilogie rund um eine
      Familie, deren Leben mit dem Eisenbahnbau in Österreich und Russland verbunden ist.
      Der erste Band „Diese unstillbare Sehnsucht“ erschien 2019.

      „Ein polyphoner, detailreich angelegter Roman über die Bandbreite, Brüchigkeit und
      Widersprüchlichkeit des Lebens. Ein Roman auch über die wichtige Bedeutung der Musik,
      über die Sehnsucht nach fernen Ländern und vor allem über die rettende Kraft von Lite-
      ratur.“ (Rudolf Habringer)

      Konrad Peter Grossmann liest aus seinem im Verlag am Sipbach erschienenen Roman
      „Sommer, noch nicht Herbst“.

      Musikalische Begleitung: Bohdan Hanushevsky (Kohelet 3)                                          Konrad Peter Grossmann
                                                                                                       SOMMER, NOCH NICHT HERBST
      Montag, 20. September 2021, 19 Uhr
                                                                                                       ISBN: 978-3-903190-25-6
      Priesterseminar Linz, 4020 Linz, Harrachstraße 7
                                                                                                       1. Auflage Februar 2021,
      Wir freuen uns auf dein/Ihr Kommen und bitten aus Platzgründen (Präsenzveranstaltung) um         Hardcover, Schutzumschlag
      Anmeldung: E-Mail: office@lasf.at, Telefon: +43 1 478 63 00                                      640 Seiten, EUR 35,20

                                                                                                 S Y S T E M I S C H E   N O T I Z E N   0 2 / 2 1   31
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