Bindungsstörungen bei Kleinkindern im digitalen Zeitalter
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D I S K U R S Karl Schrittwieser Bindungsstörungen bei Kleinkindern im digitalen Zeitalter Diagnostische und therapeutische Herausforderung S eit mehr als einem Jahr befähigt ein welt- chologe begegnen mir Kinder mit diesen Auffälligkei- weites Ereignis Milliarden Menschen dazu, ten seit einigen wenige Jahren – und dies häufiger seit ihr Verhalten zu ändern. Diese Erkenntnis der Covid-19-Pandemie. Meine Eingangsfrage an die ist ein Modell dafür, wie kompetent unsere Eltern „Würden Sie heute auch ohne Pandemie hier Anpassungsleistungen sein können, sofern sitzen?“ verneint mittlerweile eine zunehmende An- Veränderungswünsche entsprechend stark nach Lö- zahl derer. Dennoch, das hier erörterte Thema tauchte sungen drängen. bereits in Prä-Covid-Zeiten auf und scheint im Rah- Die Idee zu diesem Artikel entstand aus für mich neu- men der aktuellen Krise einen zusätzlichen Schub zu en Beobachtungen im Kontext diagnostischer und erfahren. psychotherapeutischer Arbeit mit Kleinkindern und Der Fokus der Störungsdynamik dürfte dabei in einer deren Familien. Es sind dies noch wenig vertraute Stö- signifikanten Veränderung der Interaktionsmuster auf rungsmuster in der psychosozialen, emotionalen und der Eltern-Kind-Ebene liegen. Die Bandbreite der Ein- kognitiven Entwicklung bei 2- bis 5-Jährigen, die häu- flussgrößen reicht von passager reduzierter Aufmerk- fig über Kindergartenpädagog*innen zur klinisch-psy- samkeit als Ausdruck einer erhöhten Erziehungs- und chologischen Abklärung bzw. deren Eltern zur Bera- Betreuungsbelastung seitens der Bezugspersonen ge- tung empfohlen werden. genüber dem Kind bis hin zu dessen Ausstoßung als Durch diese Aspekte sensibilisiert, bot sich mir Ende Bindungsstörung im pathologischen Sinn. letzten Jahres die Gelegenheit zu einem Impulsreferat Auf der Handlungsebene geschieht dies durch Abgabe im Rahmen eines regionalen Kindernetzwerktreffens. elterlicher Verantwortung an digitale Schnuller, Shut- Ich betitelte dieses in leidenschaftlicher Betroffenheit Up-Toys und andere elektronische Medien, die essen- als „Kindesweglegung 2.0 – atypische Störungsbilder tielle Eltern-Kind-Interaktionen ausdünnen und das des Kleinkindalters und digitaler Medienmissbrauch“. Wachsen sicherer Bindungen erschweren. Aus einem seit etwa zwei Jahren geführten kollegialen Digitale Geräte übernehmen zunehmend die Steue- fachspezifischen Austausch zur genannten Thematik rung physiologischer, psychosozialer und emotionaler entwickelte sich der Prototyp eines „Elternfragebo- Regulation von Kindern ab dem Säuglingsalter. Smart- gens zur Nutzung digitaler Medien von Kindern bis phone-Halterungen für Babyfläschchen sowie Töpf- sechs Jahren“. chen und Kinderwägen mit integrierten Tablets sind In meiner diagnostischen Tätigkeit als klinischer Psy- längst im „guten Fachhandel“ erhältlich. Damit wer- 26 S Y S T E M I S C H E N O T I Z E N 0 2 / 2 1
den künstliche Elternfiguren erschaffen, die den Kin- bzw. das Zeigen eines bestimmten Verhaltens als mehr dern primäre Bedürfnisse erfüllen sollen. oder weniger sozial verträglich markieren: eine Nase Die parallele Entwicklung einer psychohygienisch Kokain etwa anders als den täglichen Doppelliter passenden Kultur im Umgang mit digitalen Medien Wein. scheint sowohl im Erwachsenenleben als auch in dem Die simple Formel für die Entstehung eines Problems der Kinder nur mühsam zu gelingen, zumal sich die könnte etwa so lauten: Dieses tritt dann auf, wenn ein entsprechenden technischen Möglichkeiten in spekta- bestimmtes Verhalten zu wenig oder zu viel gezeigt kulärer Weise verändern. So ermöglichte ein namhaf- wird. ter japanischer Elektronikkonzern vor 40 Jahren mit „Alle Dinge sind Gift und nichts ist ohne Gift; allein der Erfindung des Walkmans ein kollektives Distanzie- die Dosis macht, dass ein Ding kein Gift ist.“ (Paracel- ren. Damalige Jugendliche sahen darin eine Chance, sus, 1538). sich von der Welt ihrer konservativen Nachkriegs- Ein Zuwenig an Beziehung, Anerkennung, Aufmerk- eltern abzugrenzen. Das ist zugleich jene Walk- samkeit, Empathie, Bewegung, Essen etc. bzw. ein Zu- man-Generation, die später ihren Millennial-Kindern viel an Verstörendem, Achtlosem, Antreibendem – fassungslos beim Füttern deren Tamagotchis zusah oder auch Bewegung, Essen etc. und nun seit etwa zehn Jahren den Enkeln beim Strei- Kinderpsycholog*innen empfehlen digitale Abstinenz cheln ihrer Smartphones und sonstiger intelligenter zumindest in den ersten beiden Lebensjahren. Vertre- Oberflächen. ter der Augenheilkunde halten die Nutzung digitaler „Beziehung ist der stärkste Wirkfaktor, den wir ken- Medien bis 3 Jahre für gänzlich ungeeignet, max. 30 nen“, weiß der Kinderpsychiater und Schriftsteller Minuten pro Tag zumutbar für 4- bis 6-Jährige, 1 Stun- Paulus Hochgatterer. „Zuerst muss man zu zweit sein“, de im Grundschulalter sowie bis zu 2 Stunden ab 10 postuliert der Konstruktivist Ernst von Glasersfeld. Jahren. In der anamnestischen Arbeit mit Familien lässt sich Wir sehen jedoch, dass bereits Säuglinge unspezifische seit einigen wenigen Jahren erkennen, dass manche Erfahrungen machen, viele Eltern ihre Kinder ab 2 Eltern ihre Kinder bereits im ersten Lebensjahr sol- Jahren an die Nutzung digitaler Geräte heranführen, chen Medien als reine Reizquelle aussetzen und sie da- jedes zehnte 3-jährige Kind bereits selbständig im In- bei in ihren Selbstregulationsversuchen allein lassen. ternet aktiv ist und 10- bis 14-Jährige täglich 8 Stunden Alleinlassen stellt eine Beziehungsverletzung dar. digitalen Gerätegebrauch, an Wochenenden bis zu Das inzwischen zum Unwort mutierte Covid-19-be- 12 Stunden betreiben. dingte „Social Distancing“ mit den damit einherge- Kleinkinder sind bereits häufig in der Lage, trotz feh- henden Faktoren reduzierter Kontinuität von Kinder- lender Lese- und Schreibfähigkeiten, selbstständig gartenbesuchen, dramatischen Veränderungen der Ar- einzelne Internetseiten oder Apps zu bedienen. Die beitswelten von Eltern sowie familiären Bedeutung digitaler Geräte auf der Bezie- ökonomischen Bedrohungen verstärken je- hungsebene kommt in drastischer Weise nen Qualitätsverlust existenzieller Bezie- zum Ausdruck, wenn Kinder ihr Smart- hungen. Selbst Eltern, die bereit sind, ihr phone als „Freund“ oder Jugendliche dieses Erziehungsverhalten kritisch zu hinterfra- „als eigenen Körperteil“ bezeichnen. Dazu gen, kapitulieren angesichts der seit dem der israelische Videokünstler Omer Fast: Frühjahr 2020 andauernden überhöhten „Die Welt, in der wir uns bewegen, hat die Anforderungen, mit ihren Kindern gesunde Maße eines Telefons.“ Interaktionsformen zu leben. Analog-phy- Der kanadische Mediziner Gabor Maté dif- sische Begegnungen werden reduziert, di- DR. KARL SCHRITT- ferenziert strikt die möglichen Motive ei- gital-virtuelle dagegen verstärkt. WIESER ist klinischer nes Kindes bei der Nutzung digitaler Gerä- In der mit Beginn des kommenden Jahres Psychologe und sys- te. Liegen diese im Wunsch nach Erleben temischer Psychothe- in Kraft tretenden ICD-11 sprechen wir emotionaler oder sozialer Erfahrungen, wie rapeut sowie Lehr- fachlich erstmals von krankheitswertigen therapeut mit par- etwa Suche nach Entspannung, Aufmerk- Störungen verursacht durch Missbrauch di- tieller Lehrbefugnis. samkeit, Angstreduzierung oder Interakti- gitaler Medien und kodieren künftig eine Er bietet im freiberuf- on, so sieht er darin eine missbräuchliche Internetabhängigkeit als „Gaming disorder lichen Rahmen kli- und daher abzulehnende Verwendung. Ist 6C51“. nisch psychologische ein Kind jedoch fähig, die Funktion des Ge- Diagnostik, systemi- rätes in den Mittelpunkt seines Interesses sche Psychotherapie NUN SIND IN UNSERER GESELLSCHAFT sowie Supervision zu stellen, würde er dies als passend und höchst unterschiedliche Akzeptanzen kulti- bevorzugt mit Frage- damit nicht entwicklungsverstörend anse- viert, die den Gebrauch von Substanzen stellungen zu Kind hen. und Familie an. S Y S T E M I S C H E N O T I Z E N 0 2 / 2 1 27
K A R L S C H R I T T W I E S E R Dazu ein Auszug aus dem erwähnten Elternfragebo- ziehungsverhaltens. Vielmehr handelt es sich dabei je- gen: doch um Inselleistungen hinsichtlich Sprache, Moto- 8. In welchen Situationen bieten Sie Ihrem Kind ein digitales rik oder visueller Wahrnehmung, die kaum in eine ge- Gerät zu seiner Nutzung an? sunde Gesamtentwicklung integrierbar sind. a) wenn es sich langweilt nie manchmal oft Meine fachlichen Begegnungen mit diesem neuen b) zur Konfliktlösung nie manchmal oft Phänomen von Entwicklungsstörungen im Kleinkind- c) wenn es unruhig ist nie manchmal oft alter geschehen im psychodiagnostischen und psycho- d) zur Lernförderung nie manchmal oft therapeutischen Kontext. Im Bestreben systemisches e) um selbst entlastet zu sein nie manchmal oft Denken mit entwicklungspsychologischen Werkzeu- f) Sonstiges ............................... gen zu einer intervenierenden Diagnostik zu verknüp- Aus „Elternfragebogen zur Nutzung digitaler Medien fen bzw. im familientherapeutischen Setting nach von Kindern bis 6 Jahren“ (Schrittwieser, 2021). weiterführenden Lösungen zu suchen, betrete ich mit Es scheint dabei wenig überraschend zu sein, dass der dem hier vorgestellten Thema Neuland und habe mit- kindliche Umgang mit digitalen Medien stark davon unter den Eindruck, mehr Fragen als Antworten zu abhängig ist, welchen Bezug deren Eltern hierzu ha- produzieren. Ich möchte nun exemplarisch zwei Fall- ben. fragmente darstellen, die aus meiner Sicht relevante Aspekte zum Verständnis der Problemdynamik enthal- IN DER MULTIDISZIPLINÄREN ARBEIT mit Kindern im ten. Vorschulalter lassen sich vermehrt Symptome gravie- render Sprachstörungen bis hin zu bizarren Formen DIE ERSTE GESCHICHTE TRÄGT DEN TITEL ÜBERLEBEN: rudimentärer Entwicklung der Erstsprache mit patch- Die 4-jährige Amira (der Fallname ist frei erfunden) workartigen Mustern beobachten. Dabei werden inter- beherrscht mechanisches Zählen in englischer Spra- aktionsarme Welten im Kontext digitaler, mit den Be- che bis zur Zahl 10 sowie das Benennen der Grundfar- dürfnissen des Kleinkindalters unverträglicher und ben in ihrer Muttersprache arabisch. Das Mädchen hat v. a. nicht mit der sozialen Umwelt in Resonanz ste- jedoch bisher keine funktionelle Erstsprache entwi- hender, auf der Perzeptionsebene jedenfalls mächtiger ckelt. Sie kommuniziert zusätzlich auch in Deutsch Eindrücke abgebildet. ebenfalls in Form von Einzelworten ohne Satzbildung. Es zeigen sich unspezifische psychomotorische Retar- Amira begegnet Bezugspersonen ohne ersichtliche In- teraktionsresonanz, zeigt kei- nen reziproken Blickkontakt und wirkt körperlich altersent- Kleinkinder sind bereits häufig in der Lage, sprechend entwickelt. trotz fehlender Lese- und Schreibfähigkei- Die Familie flüchtete 2015 von Syrien nach Österreich. Amira ten, selbstständig einzelne Internetseiten war damals im Säuglingsalter oder Apps zu bedienen. Die Bedeutung und erlebte Traumata im Ur- sprungsland sowie auf der wo- digitaler Geräte auf der Beziehungsebene chenlangen Flucht. Die Eltern kommt in drastischer Weise zum Ausdruck, berichten, dass ihre Tochter bereits als Baby viele visuelle wenn Kinder ihr Smartphone als „Freund“ und auditive Eindrücke über oder Jugendliche dieses „als eigenen Smartphones aufgenommen habe und sie dieses Vorgehen Körperteil“ bezeichnen. auch in Österreich mit der Funktion des Beruhigens sowie dierungen oder auch Interaktionsstörungen mit autis- der Selbstbeschäftigung bis zu mehreren Stunden täg- tischer Färbung. Letztere wird derzeit häufig als atypi- lich beibehalten haben. Sie denken, Amira mit diesem sche oder pseudoautistische Symptomatik bezeichnet. Angebot sowohl ein adäquates emotionales als auch Eine noch unscharfe Vermutungsdiagnose. kognitives Lernen zu ermöglichen und unterschätzen Betroffene Eltern interpretieren diese Entwicklungs- dabei ein beträchtliches Transferdefizit in der Diffe- auffälligkeiten nicht selten ressourcenorientiert als renz zwischen realer und virtueller Interaktion und Mehrwert. Dies verbunden mit der Hoffnung auf ein Perzeption. gelingendes Leben ihres Kindes, vielleicht auch als be- Wir sehen hier eine Familie mit erhöhter Vulnerabili- schwichtigender Versuch hinsichtlich des eigenen Er- tät durch erlittene Traumata, Migration, hohe Anfor- 28 S Y S T E M I S C H E N O T I Z E N 0 2 / 2 1
derungen hinsichtlich kultureller Anpassung sowie DIE ZWEITE FALLGESCHICHTE BELEUCHTET multiple psychosoziale Belastungen. Auch das epige- DEN FOKUS DEPRIVATION: netische Konzept transgenerationaler Traumatisierung Der 3-jährige Dustin könne laut seiner Mu!er Affekte könnte als Erklärungsversuch relevant sein. All dies und motorischen Antrieb nur regulieren, indem er dem bereitet den Boden für die Entstehung komorbider wahllosen und unlimitierten Konsum digitaler Medien Entwicklungsstörungen. So könnten traumatische Er- ausgesetzt wird. Sobald der Bub in Konfliktsituationen eignisse in der Primärfamilie Amiras Verstörungen mit den Eltern oder Geschwistern gerät bzw. wenig Auf- ähnlich einem psychischen Hospitalismus verursacht merksamkeit erhält, flüchtet er in YouTube-Videos und haben, dessen Symptome wiederum autistischen Stö- versucht derart, seine Dysregulation zu steuern. rungsbildern ähneln. Die Familie lebt zu fünft in beengten Wohnverhältnis- Die im Kontext der Traumabewältigung etablierte sen, die Mutter leidet an einer Persönlichkeitsstörung, Überlebensstrategie (etwa digitaler Medienkonsum der Vater an Alkoholabhängigkeit. Entsprechend der zur Beruhigung des Säuglings) scheint hier zu einem Familienintensivbetreuerin sei Dustin bereits im chronifizierten Gebrauch gewachsen zu sein, der es- Säuglingsalter zum Ruhigstellen mit einem Smart- sentielle Interaktionen auf der Eltern-Kind-Ebene er- phone im Gitterbett verwahrt worden. setzt. Dies wiederum führt zu dramatischen Beein- Dustin begegnet meinen Lenkungsversuchen mit wü- trächtigungen hinsichtlich Spracherwerb, der gesam- tender Abwehr und unterbricht die eigenen Hand- ten kognitiven Entwicklung sowie auf der psychosozi- lungsbögen und jene seines Gegenübers mit chaoti- alen und emotionalen Ebene. schem Kontextwechsel. Der Bub kann seine inneren Die beschriebene Geschichte enthält neben anderen Bedürfnisse kaum den Verträglichkeiten seiner sozia- Belastungsfaktoren auch das Thema Migration. Hei- len Umwelt entsprechend anpassen. Er erlebt dabei matliche Modelle, die hier als nicht passend, nicht ak- keinen Unterschied zwischen Warten auf Etwas im zeptiert oder nicht erlaubt erlebt werden, mutieren Sinne von Innehalten und der übrigen Zeit von Aktivi- mitunter zu wenig authentischen Versuchen erzieheri- tät und Getriebensein. scher Neukreationen mit geringerer Anpassungsfähig- Der 3-Jährige macht insgesamt einen psychomoto- keit an Bedingungen und Anforderungen im Hier und risch deutlich retardierten Eindruck und weist eine Jetzt. Kulturbrüche führten schon immer zu einem Va- Impulskontrollschwäche sowie eine expressive Sprach- kuum an gewachsenen traditionell verlässlichen Mus- entwicklungsstörung auf. Dustins Umgang mit digita- tern. Denken wir nur an die elterliche Generation der len Medien induziert v. a. reaktives Verhalten – der 1970er-Jahre, die gegen die schwarze Pädagogik ihrer Bub erlebt dabei keine Resonanz wie in analogen, kre- Nachkriegseltern opponierte und sich mangels posi- ativen Prozessen, in denen zirkuläre Aspekte differen- tiver Vorbilder in einer 68er-Laissez-faire-Erziehung zierte neuronale Spuren erzeugen. Nicht zuletzt verlor. spricht die Forschung beim Phänomen der Spiegel- Vergleichsweise dazu scheint der geforderte Anpas- neuronen von einem Resonanzsystem, das naturge- sungsdruck an Eltern, die sowohl Migration als auch mäß auf einem Interaktionsprozess beruht. eine technische Revolution im Zeitraffer erleben, er- Das Kind folgt vielmehr einer Reiz-Reaktions-Dyna- heblich verstörender zu sein. Überdies kann das starke mik, bestehend aus eindimensionalen Inputs. Es Bedürfnis nach materiellem Mithalten inmitten unse- wähnt sich als Akteur und lässt sich dennoch lenken res Konsumterrors gerade in Form von digitalen Gerä- und verstärken. So werden neuronale Spuren im me- ten gut bedient werden. solimbischen System gesetzt, in dem mit Belohnung Welche fachlichen Interventionen könnten dieser gedealt wird, die es abhängig nach schneller und mehr Familie entwicklungsfördernde Lösungen ermögli- macht. chen? Die Besonderheit, sehr junge Kinder „wegzulegen“, ist – Anerkennung der familiären Resilienz angesichts abhängig vom elterlichen Stressausmaß, Bildungs- massiver existentieller Bedrohungen („Es ist Ihnen und ökonomischen Defiziten und/oder psychischen gelungen, zu überleben!“) Krankheiten und eskaliert schlimmstenfalls in ent- – Entwicklungspsychologische und edukative Inputs sprechend komorbider Weise. zur Herstellung eines Mehr an Wissens zur kindli- Zur Erzielung eines hilfreichen Ergebnisses kann auch chen Entwicklung hier – ganz ähnlich zum beschriebenen ersten Fall – – Etablierung erster Betreuungs- bzw. Behandlungs- die möglichst breite Palette professioneller Interventi- schritte wie Vermittlung sozialer Hilfen, onen betont werden. Diese sollten jedenfalls die psy- Sprachkurs, Erziehungsberatung, Interaktionsthe- chosozialen und ökonomischen Bedingungen der rapie, Ergotherapie, Logopädie, integrative Kinder- Familie als auch den speziellen Entwicklungsbedarf gartenbetreuung des betroffenen Kindes wirksam erreichen. S Y S T E M I S C H E N O T I Z E N 0 2 / 2 1 29
K A R L S C H R I T T W I E S E R Als Behandlungsfokus würde ich hier Angebote zur 3.1. als passive Beschäftigung Verbesserung der Eltern-Kind-Interaktion als beson- (bei anderer Person zuschauend): ders wichtig ansehen, die in Abhängigkeit der familiä- a) 0 bis 1 Jahre nie manchmal oft ren Ressourcenlage im ambulanten oder auch statio- b) 1 bis 2 Jahre nie manchmal oft nären Setting umsetzbar sein können. c) 2 bis 3 Jahre nie manchmal oft d) 3 bis 4 Jahre nie manchmal oft ICH HABE BEWUSST FÄLLE AUSGEWÄHLT, deren Pro- e) über 4 Jahre nie manchmal oft blemdynamik in der Überzeichnung drastisch hervor- 3.2. als eigenständige Beschäftigung: tritt. Und dennoch: Auch in Familien ohne tiefgreifen- a) 0 bis 1 Jahre nie manchmal oft de Dysfunktionalitäten können diese Aspekte sichtbar b) 1 bis 2 Jahre nie manchmal oft werden, etwa in Alltagsskurillitäten – gesellschaftlich c) 2 bis 3 Jahre nie manchmal oft bereits etabliert und damit einem sozialen Foul unver- d) 3 bis 4 Jahre nie manchmal oft dächtig. Wenn Eltern beispielsweise stolz berichten, e) über 4 Jahre nie manchmal oft dass ihr Kind bereits mit 15 Monaten kontinent war, Aus „Elternfragebogen zur Nutzung digitaler Medien nachdem sie es mittels eines am Kindertopf integrier- von Kindern bis 6 Jahren“ (Schrittwieser, 2021). ten Tablets entsprechend „dressiert“ haben. Oder Ich sehe eine wichtige Verantwortung bei Fachleuten, wenn ein Vater erzählt, dass das ihm verantwortete die mit Fragen rund um Kleinkinder konfrontiert sind, Einschlafritual mit seinem 2-jährigen Sohn am besten deren Bezugspersonen einen Reflexionsspielraum an- klappe, indem dieser in seinem Bettchen Geschichten zubieten, um die Sensibilität für diese Aspekte zu er- am Handy präsentiert bekomme und er seinerseits da- höhen. neben sitzend Fußball schaue. Im Kontext familientherapeutischer Interventionen erlebe ich diesbezüglich zunehmend resig- native elterliche Haltungen. Die Spirale der Problementwicklung spannt sich dabei über Mein Appell: Leisten wir in unseren wenig reflektiertes eigenes Nutzungsverhal- unterschiedlichen Professionen ten mit beschwichtigender Einschätzung der Modellwirkung, unkritischer Wahrneh- Verantwortung, Eltern darin zu mung der Wirksamkeit im Erleben von bestärken, existentielle Bindungen Kleinkindern bis hin zu Gefühlen von Machtlosigkeit angesichts der enormen Ein- zu ihren Kindern nicht an digitale flussgröße, die der Umgang mit digitalen Geräte abzugeben, sondern die Her- Medien im Leben ihrer heranwachsenden Kinder angenommen hat. Viele Familien ausforderungen dieser technischen werden an diesem fortgeschrittenen Punkt Revolution gemeinsam mit ihnen einer Problementwicklung im therapeuti- schen Kontext vorstellig. Der 13-jährige zu schaffen! Sohn oder die 13-jährige Tochter hat bereits seinen/ihren Tag-Nacht-Rhythmus umge- Erste Erfahrungen in der Anwendung des oben er- kehrt, nimmt kaum mehr an den Lockdown bedingten wähnten Fragebogens zur Erhebung des Umgangs mit Homeschooling- bzw. Hybridunterricht-Verpflichtun- digitalen Medien bei 0- bis 6-Jährigen zeigen das Er- gen teil und pflegt kaum physische Sozialkontakte mit staunen vieler Eltern über die tatsächliche Vielfalt an Familie und Freunden. Die vielfältigen Auswirkungen Begegnungen ihrer Kinder mit diesen Geräten. Spezi- der Pandemie scheinen dabei für diese Störungsdyna- ell unterschätzt werden hier jene passiven Berüh- mik eine Katalysatorwirkung auszuüben. Aus einem rungspunkte wie etwa das Mitschauen eines Säuglings seit 2020 um ein Drittel gesteigerten Umsatz im Ver- auf diversen Displays bei deren Nutzung durch famili- kauf digitaler Software lässt sich das Ausmaß jener Le- äre Bezugspersonen. Und dies häufiger mit einer un- bensveränderungen erahnen. kritischeren Selektion hinsichtlich konsumierter In- halte und zeitlicher Grenzen als bei aktiver Anwen- AM BEGINN MEINER FALLGESCHICHTEN stand eine Fa- dung. milie, die Flucht erlebt hat. Am Ende nun eine, die in Dazu wird im Elternfragebogen folgender Punkt erho- vielem ähnlich ist und dennoch psychohygienisch ge- ben: sündere Lösungen fand – für mich ein Resilienz-Wun- 3. In welchem Alter hatte Ihr Kind erste Kontakte mit einem der: digitalen Medium? Eine 17-jährige Afghanin flüchtet mit ihrer 2-jährigen 30 S Y S T E M I S C H E N O T I Z E N 0 2 / 2 1
Tochter und dem zweitgeborenen Kind im Säuglings- dern nicht an digitale Geräte abzugeben, sondern die alter vor ihrem gewalttätigen Ehemann aus dem Iran Herausforderungen dieser technischen Revolution ge- über die Türkei auf der Balkanroute nach Österreich. meinsam mit ihnen zu schaffen! Sie scheint trotz Bildungsnotstand und erlebter Ge- Ich nahm anfangs Bezug auf die Pandemie als Trigger walt in der Lage, ihre vorhandenen Ressourcen zu nut- für Verhaltensänderungen. Wir benötigen dazu offen- zen. Die junge Frau definiert etwa die Flucht in ju- sichtlich ein ausreichend starkes Motiv. Ich freue gendlich unbekümmerter Weise als „Abenteuer“ und mich auf den Tag, an dem auch die gesunde psychi- macht diese Haltung auch ihren Kindern erlebbar. Die sche Entwicklung unserer Kinder ein solches sein beiden scheinen den schwierigen Umständen ihres wird. bisherigen Lebens entsprechend in ihrer seelischen Grundstruktur nicht zerbrochen zu sein. Ich war be- eindruckt von der psychischen Stärke dieser Mutter LITERATUR und assoziierte dabei den Film „Das Leben ist schön“ Benigni, R. (1997). La vita è bella (Das Leben ist schön). 124 Min. von Roberto Benigni, in dem dieser als Vater seinem Italien. Fast, O. (2016). Talking is not always the Solution. Berliner Sohn eine andere KZ-Wirklichkeit vorhalluzinierte. Im Festspiele. richtigen Leben sowie im Film überleben hier Kinder Hochgatterer, P. (2017). Persönliche Widmung. existenziell bedrohliche Anforderungen mit Hilfe ei- Maté, G. (2020). How Not To Screw Up Your Kids, Interview. ner tragfähigen Beziehung zu einer Bezugsperson, die Paracelsus (1538). 3. Defensio. In: Septem Defensiones 1538. Werke verlässlich und liebevoll für sie da ist. Das Prinzip Bd. 2, Darmstadt 1965, S. 508–513. Schrittwieser, K. (2021). Elternfragebogen zur Nutzung digitaler „one caring person“ scheint jene Widerstandskraft zu Medien von Kindern bis 6 Jahren. bilden, die es einem Kind ermöglicht, sich gesund zu von Glasersfeld, E. (1990). Systeme – Zeitschrift der österreichi- entwickeln. schen Arbeitsgemeinschaft für systemische Therapie (2/90), Daher mein Appell: Leisten wir in unseren unter- S. 119–135. schiedlichen Professionen Verantwortung, Eltern dar- ICD-11 (erscheint 2022). International Statistical Classification of in zu bestärken, existentielle Bindungen zu ihren Kin- Diseases and Related Health Problems. Einladung Autorenlesung in Linz „Sommer, noch nicht Herbst“ ist der zweite Band einer Trilogie rund um eine Familie, deren Leben mit dem Eisenbahnbau in Österreich und Russland verbunden ist. Der erste Band „Diese unstillbare Sehnsucht“ erschien 2019. „Ein polyphoner, detailreich angelegter Roman über die Bandbreite, Brüchigkeit und Widersprüchlichkeit des Lebens. Ein Roman auch über die wichtige Bedeutung der Musik, über die Sehnsucht nach fernen Ländern und vor allem über die rettende Kraft von Lite- ratur.“ (Rudolf Habringer) Konrad Peter Grossmann liest aus seinem im Verlag am Sipbach erschienenen Roman „Sommer, noch nicht Herbst“. Musikalische Begleitung: Bohdan Hanushevsky (Kohelet 3) Konrad Peter Grossmann SOMMER, NOCH NICHT HERBST Montag, 20. September 2021, 19 Uhr ISBN: 978-3-903190-25-6 Priesterseminar Linz, 4020 Linz, Harrachstraße 7 1. Auflage Februar 2021, Wir freuen uns auf dein/Ihr Kommen und bitten aus Platzgründen (Präsenzveranstaltung) um Hardcover, Schutzumschlag Anmeldung: E-Mail: office@lasf.at, Telefon: +43 1 478 63 00 640 Seiten, EUR 35,20 S Y S T E M I S C H E N O T I Z E N 0 2 / 2 1 31
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