BUND-Vision für Flusslandschaften in Deutschland - Eine Studie zur Lage und zu den Perspektiven der Flüsse und Ströme in Deutschland

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BUND-Vision für Flusslandschaften in Deutschland - Eine Studie zur Lage und zu den Perspektiven der Flüsse und Ströme in Deutschland
Broschüre Flüsse_Langfassung_19.7_neu bio 21.07.11 12:22 Seite 1

                                         BUND-Vision für
                                         Flusslandschaften
                                         in Deutschland

                                         Eine Studie zur Lage und zu den Perspektiven
                                         der Flüsse und Ströme in Deutschland
BUND-Vision für Flusslandschaften in Deutschland - Eine Studie zur Lage und zu den Perspektiven der Flüsse und Ströme in Deutschland
Broschüre Flüsse_Langfassung_19.7_neu bio 21.07.11 11:29 Seite 2

                                                                   Für die Bereitstellung und Aufarbeitung von Informationen
                                                                   für diese Studie und die Unterstützung danke ich
                                                                   Dr. Christoph Aschemeier, Daniel Badillo, Iris Brunar,
                                                                   Dr. Ernst Paul Dörfler, Dr. Hans-Joachim Grommelt,
                                                                   Stephan Gunkel, Dr. Hans Jürgen Hahn, Vera Konermann ,
                                                                   Dr. Ralph Köhler, Mechthild Klocke , Manfred Krauss,
                                                                   Dr. Christine Margraf sowie Dr. Sandra Richter und
                                                                   Prof. Dietrich Borchardt.
                                                                   Nikolaus Geiler, Limnologe, Freiburg, Mai 2011

                                                                   Impressum
                                                                   Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland e. V. (BUND)
                                                                   Friends of the Earth Germany · Am Köllnischen Park 1
                                                                   10179 Berlin · Tel.: 0 30/2 75 86-40 · Fax: 0 30/2 75 86-4 40
                                                                   Text: Nikolaus Geiler, Winfried Lücking,
                                                                   Sebastian Schönauer · Titelbild: Dr. Ernst Paul Dörfler
                                                                   V.i.S.d.P.: Dr. Norbert Franck · Gestaltung: N & U GmbH

              2     BUND
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                 Zusammenfassung

                I
                    m Jahr 2005 konnte das Bundesumweltministerium            Genau genommen erfordert die „neue Flusspolitik“ eine
                    seinen Anspruch, eine „neue Flusspolitik“ zu formulie-    weitere, eine „vierte Dimension“: nämlich die Bereit-
                    ren, nicht mehr einlösen. Veränderte politische Priori-   schaft, über die eingeschränkten Ziele der EU-Wasser-
                 täten, personelle Überlastung und die anspruchsvolle         rahmenrichtlinie hinauszudenken, den personellen
                 Umsetzung der EU-Wasserrahmenrichtlinie (WRRL)               Kahlschlag in der Wasserwirtschafts- und Naturschutz-
                 ließen das Projekt „neue Flusspolitik“ schnell versanden.    verwaltung zu beenden und mehr Bürgerbeteiligung in
                 Die Bestandsaufnahmen und die Bewirtschaftungspläne          der wasserwirtschaftlichen Planung zuzulassen.
                 nach der EU-Wasserrahmenrichtlinie haben aber mitt-
                 lerweile gezeigt, dass der Zustand der Flüsse und Ströme     Die BUND-Vision einer „neuen Flusspolitik“ gilt für alle
                 in Deutschland schlechter ist als erwartet. Für den          deutschen Stromlandschaften. Darüber hinaus unter-
                 BUND ist dies Grund genug, die Vision einer „neuen           breitet diese Studie auch spezielle Vorschläge zur Auf-
                 Flusspolitik“ zu formulieren.                                wertung der Stromlandschaften von Oder, Elbe, Weser,
                                                                              Ems, Rhein und Donau – immer gemäß dem Motto: Was
                 Eine neue Flusspolitik bedeutet für den BUND, dass           Lachs, Biber und Fischotter nutzt, nutzt auch dem Men-
                 Schleusen, Wehre und andere Querbauwerke nicht län-          schen. Die neue Flusspolitik will mithin eine Synthese
                 ger das Fließkontinuum der Bäche, Flüsse und Ströme          von Naturschutz, Hochwasserrückhalt, Naherholung und
                 unterbrechen. Die BUND-Vision umfasst drei Bereiche,         Kulturlandschaft!
                 die wir die „drei Dimensionen“ nennen. Die erste Dimen-
                 sion betrifft die Längsdurchgängigkeit, die wir wieder-
                 herstellen wollen. Die zweite Dimension ist die Querver-
                 netzung zwischen Flüssen und Auen. Dazu müssen die
                 wenigen verbliebenen Restbestände unserer Stromauen
                 deutlich ausgeweitet werden – das trägt gleichermaßen
                 dazu bei, Hochwasser zurückzuhalten wie auch die
                 Artenvielfalt zu sichern. Das bislang weitgehend igno-
                 rierte Sand- und Kieslückensystem unterhalb der Strom-
                 sohlen bildet die „dritte Dimension“.

                 Um dem Klimawandel zu begegnen, müssen wir zudem
                 unsere Fließgewässer fit für Wassermangel und Dürren
                 machen. Entgegen dem tradierten „Rohrdenken“ – alles
                 Wasser möglichst schnell abzuleiten – wird es künftig
                 darauf ankommen, möglichst viel Wasser natürlich in
                 der Landschaft zu halten. Eine neue Flusspolitik muss
                 auch intensiver als bislang den Umgang mit pflanzli-
                 chen (Neophyten) und tierischen Einwanderern (Neo-
                 zoen) bedenken. Und nicht zuletzt kommt es darauf an,
                 die nach wie vor zu hohe Belastung unserer Fließgewäs-
                 ser mit Nährstoffen (Phosphor- sowie Stickstoffverbin-
                 dungen) und Mikroschadstoffen zu reduzieren.

                                                                                              Eine Vision für die Flusslandschaften in Deutschland   3
BUND-Vision für Flusslandschaften in Deutschland - Eine Studie zur Lage und zu den Perspektiven der Flüsse und Ströme in Deutschland
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                    Inhaltsverzeichnis

                                   Zusammenfassung                                                                       3
                                   Vorwort: Professor Dr. Hubert Weiger                                                  6
                                   Vorwort: Sebastian Schönauer                                                          7

                    1              Eine Vision für die Flusslandschaften in Deutschland                                  8

                    2              Mehr Freiheit für die Ströme                                                          9
                                   2.1    Freifließende Flüsse                                                           9
                                          2.1.1 Was der Vision im Wege steht – das Flusskontinuum ist unterbrochen       9
                                          2.1.2 Die „Omnibuslösung“ – ein pragmatischer Weg?                            10
                                          2.1.3 Der Fluch der bösen Tat … die Flüsse fressen sich in ihren Untergrund   11
                                          2.1.4 Die Zukunft der Flüsse und unser Strombedarf                            12
                                          2.1.5 Kleinwasserkraftwerke – klein auch bei der CO2-Einsparung               13
                                          2.1.6 Staustufen und das Problem der Methangasbildung                         14
                                          2.1.7 Scheitert der Lachs auf der letzten Meile?                              14
                                          2.1.8 Wie ökologieverträglich ist das Binnengüterschiff?                      16
                                          2.1.9 „Alians“ im Schlepptau der Binnenschifffahrt                            18
                                          2.1.10Mit dem Motorsport den Haubentaucher aufscheuchen?                      19
                                   2.2    Mehr Raum für den Fluss: Breite Auen mit hoher Dynamik                        19
                                          2.2.1   Bauen im Überschwemmungsgebiet: Schutz von Leben vor Nutzung!         19
                                          2.2.2   Alle Parteien für naturnahen Hochwasserrückhalt                       20
                                          2.2.3   Die Aue – ein Lebensraum höchster Artenvielfalt                       21
                                          2.2.4   Die Flussauen – Hotspots der Artenvielfalt                            23
                                          2.2.5   Wasserrahmen- und FHH-Richtlinie zusammen denken!                     24
                                          2.2.6   Für multifunktionale Gewässerrandstreifen                             25
                                          2.2.7   Die Gewässer für den Klimawandel fit machen!                          26
                                   2.3    Die Flusssohle: die unterschätzte „dritte Dimension“                          27

                    3              Chemie: An was kranken die deutschen Flüsse?                                         30
                                   3.1    Phosphor – ein neues altes Problem                                            30
                                   3.2    Stickstoff – die Minderungsziele reichen nicht aus!                           31
                                   3.3    Mikroverunreinigungen als Makroproblem?                                       32
                                   3.4    Ein „Sandoz II“ muss verhindert werden!                                       33

                    4              Über die EU-Wasserrahmenrichtlinie hinaus denken!                                    35
                                   4.1    Der Problemaufriss der EU-Wasserrahmenrichtlinie                              35
                                   4.2    Flucht in die Fristverlängerung                                               36
                                   4.3    Eine nachhaltige Finanzierungsstrategie für die WRRL-Umsetzung!               38
                                   4.4    Schäden an der Gewässerökologie – wer muss zahlen?                            39
                                   4.5    Grenzflüsse – oder die Grenzen nationaler Gewässerschutzpolitik               39
                                   4.6    Den Kahlschlag in der Wasserwirtschafts- und Naturschutzverwaltung stoppen!   40

              4     BUND
BUND-Vision für Flusslandschaften in Deutschland - Eine Studie zur Lage und zu den Perspektiven der Flüsse und Ströme in Deutschland
5   Die neue Flusspolitik ist eine Bürgerbeteiligungspolitik!                                                               41
    5.1    Bürgerbeteiligung in der wasserwirtschaftlichen Planung: BUND initiiert Flusskonferenzen                         41
    5.2    FlussgebietsmanagerInnen oder FlussraummanagerInnen als Katalysatoren zur effizienteren
           Umsetzung der WRRL                                                                                               42
    5.3    Deichrückverlegungen mehrheitsfähig machen                                                                       42
    5.4    Finanzierung der Maßnahmen – flexibler Mitteleinsatz!                                                            42

6   Einzelvorschläge für Oder, Elbe, Weser, Ems, Rhein und Donau                                                            44
    6.1    Die Oder – weit weg vom „guten ökologischen Zustand“                                                             44
           6.1.1   Zu viel Algen-Nährstoffe in der Oder                                                                     46
           6.1.2   Braunkohleabbau mit Folgen für das Oder-Einzugsgebiet                                                    46
           6.1.3   Dürre in Ostdeutschland                                                                                  47
           6.1.4   Der Nationalpark Unteres Odertal – immer noch ungeliebt                                                  47
           6.1.5   Der drohende Ausbau der Grenzoder                                                                        49
           6.1.6   Katastrophenhochwasser durch Eisversatz                                                                  49
    6.2    Die Elbe – auf dem Weg zu einer deutschen Loire                                                                  50
           6.2.1 Was die Algen in der Elbe mästet                                                                           52
           6.2.2 Die Renaturierung der Unteren Havel                                                                        53
           6.2.3 Der Ausbau der Tideelbe                                                                                    53
    6.3    Die Weser – Spitzenreiter bei der Salz- und Nährstoffbelastung                                                   54
    6.4    Die Ems – Fluss in (Sauerstoff-) Not                                                                             56
           6.4.1 Die Tideems                                                                                                57
           6.4.2 Renaturierung durch Kanalbau?                                                                              58
    6.5    Der Rhein – zwischen höchster Industriedichte und höchster Naturwertigkeit                                       59
           6.5.1   Der Rhein als größtes Biotopverbundsystem in Deutschland                                                 59
           6.5.2   Uferrevitalisierung unter dem Schutz von Längsbauwerken                                                  60
           6.5.3   Unter dem Strand die Altlast                                                                             61
           6.5.4   Den Leinpfad tiefer legen!                                                                               62
           6.5.5   Spurenstoffe im Rhein, im Aal und im Trinkwasser                                                         62
           6.5.6   Wie viel naturnaher Hochwasserrückhalt am Rhein ist noch möglich?                                        63
    6.6    Donau – blaues Band der Biodiversität                                                                            64

7   Was wir lieben, zerstören wir                                                                                           69
    7.1    Knapp und dreckig: Wasser in der Hauptstadt                                                                      69
    7.2    Damit der aquatische Naturschutz nicht unter die Räder kommt                                                     70

8   Für eine Synthese von Naturschutz, Hochwasserrückhalt, Naherholung und Kulturlandschaft!                                71

9   Anmerkungen                                                                                                             72

                                                                            Eine Vision für die Flusslandschaften in Deutschland   5
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                    Vorwort

                    D
                          ie Vielfalt der Welt wird an ihren Flüssen beson-
                          ders deutlich. Sie verbinden, sie trennen, sie
                          schöpfen Neues, sie zerstören. Sie sind keine klar
                    abzugrenzenden Lebensräume, sondern stehen im
                    wechselseitigen Kontakt mit benachbarten Biotopen.
                    Diese Interaktionen machen Flüsse mit ihren Auen zu
                    ökologisch wertvollen, artenreichen und unbedingt
                    schützenswerten Landschaften.

                    Die vorliegende Studie des BUND beschäftigt sich daher
                    in einem ersten Teil mit diesem einzigartigen Lebens-
                    raum, analysiert seinen gegenwärtigen biologischen und
                    ökologischen Zustand anhand der Kriterien der Wasser-
                    rahmenrichtlinie und bewertet die bisherige Umsetzung
                    und Flusspolitik. Der zweite Teil der Studie beschreibt
                    Entwicklungspotenziale, die ein zukunftsfähiges Gleich-
                    gewicht zwischen Schutz und Nutzung des Ökosystems
                    berücksichtigen. In Ergänzung dieser Studie überarbeitet
                    der BUND seine Verbandsaussagen, um sich den aktuel-
                    len politischen Veränderungen zu stellen und den not-
                    wendigen Wandel zu befördern.

                    Mit dieser Studie entwirft der BUND seine Visionen von
                    freifließenden Flüssen, lebendigen Auen und sauberen
                    Gewässern für die fünf großen deutschen Flussgebiete.
                    Er bietet einen tiefen Einblick in die Lage der Flüsse und
                    leitet daraus Perspektiven für eine gesunde und biolo-
                    gisch vielfältige Flusslandschaft ab. Der BUND wird sich
                    über seine Orts- und Kreisgruppen, Landesverbände und
                    ehrenamtlich Aktiven lokal, regional und bundesweit für      Wasser ist Leben, Leben ist Vielfalt und Vielfalt ist bunt/
                    diese Vision einsetzen. Wir wollen artenreiche und           BUND!
                    naturnahe Flusslandschaften mit hohem Erholungswert
                    und darüber in einen konstruktiven Dialog treten mit         In diesem Sinne wünsche ich Ihnen und uns eine gute
                    Politik und Verwaltung und all jenen, die Flüsse öko-        Zusammenarbeit zur Umsetzung der BUND-Visionen, die
                    nomisch nutzen wollen.                                       nach der Lektüre hoffentlich auch Ihre sein werden.

                                                                                 Ihr Hubert Weiger

                                                                                 BUND Vorsitzender

              6     BUND
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                 Vorwort

                 Flüsse und Flusslandschaften zählen zu den schönsten,       Dennoch, wo man den Flusslandschaften halbwegs ihren
                 artenreichsten, zugleich auch sensibelsten Lebensräu-       natürlichen Charakter belässt, schlägt ein kräftiger Puls
                 men Mitteleuropas. Aus gutem Grund gelten Bäche und         in diesen Lebensadern, bleiben sie eine wichtige Lebens-
                 Flüsse, zusammen mit den sie umrahmenden Auen, nicht        grundlage der Bevölkerung. Sie bilden die Basis für eine
                 nur als „Lebensadern der menschlichen Zivilisation“, son-   nachhaltige Regionalentwicklung, vor allem für sanften
                 dern auch als „ökologisches Rückgrat“ unseres Landes.       Tourismus und nachhaltige Landwirtschaft.
                 Flüsse und Bäche mit ihren Überschwemmungsgebieten          Doch dies ist der Öffentlichkeit und der Politik in Mitte-
                 prägen die Landschaften und sind für die biologische        leuropa nur selten bewusst. Auch in der Umwelt- und
                 Vernetzung von unschätzbarem Wert.                          Naturschutzszene wird der Zustand der Flüsse häufig
                                                                             unzutreffend bewertet.
                 Doch kaum ein Teil der Natur wird so geschunden wie die
                 Flüsse. Aufgrund vielfacher Nutzung durch Siedlungen,       Eine Chance für echte Wiedergutmachung an den jahr-
                 Industrie, Verkehrswege, Hochwasserschutz und intensi-      hundertelang geschundenen und degradierten Gewäs-
                 ve Landwirtschaft, aber auch durch Zehntausende von         sern bot im Jahr 2000 die EU-Wasserrahmenrichtlinie
                 Wasserkraftanlagen sind unsere Fließgewässer zu Stau-       (WRRL). Sie folgt einem ganzheitlichen Ziel für den
                 stufenlandschaften verkommen. Ihr Fließgewässerkonti-       Schutz und die Verbesserung der aquatischen Umwelt.
                 nuum ist weitgehend unterbrochen, diffuse Belastungen,      Um Gewässerhabitate für die Ansprüche nachfolgender
                 vornehmlich Stickstoff und Pestizide aus der Landwirt-      Generation zu erhalten und wiederherzustellen, will sie
                 schaft, verunreinigen sie. Die Flüsse sind als Lebensräu-   eine naturverträgliche und nachhaltige Wassernutzung
                 me für Pflanzen und Tiere schwer geschädigt worden,         erreichen. Gleichermaßen wirkt Natura 2000 für unsere
                 rund 80 Prozent der Flussauen sind verloren gegangen.       Gewässer. Das Ziel der WRRL – der „gute Zustand der
                 Die Gefahr eines Hochwassers steigt, wenn Flussbetten       Gewässer“ bis zum Jahr 2015 – stellt angesichts des
                 eingeengt, begradigt und eingedeicht werden. Erst lang-     tatsächlichen Zustandes der Gewässer in Europa eine
                 sam setzt sich die Erkenntnis durch, dass der „Ausbau“      gewaltige Herausforderung dar. Ihre Ziele finden sich
                 der Flüsse zu Wasserstraßen – wie der Aufstau und die       auch in den deutschen Umwelt- und Naturschutzgeset-
                 Kanalisierung schamhaft umschrieben werden – die            zen wieder und harren der Umsetzung.
                 Fließgewässer ökologisch erheblich beeinträchtigt, die
                 Hochwassergefahr weiter erhöht und wertvolle Auenle-        Der BUND hat sich den Schutz und die Renaturierung
                 bensräume vernichtet hat.                                   unserer Fließgewässer zur Aufgabe gemacht. Wir setzen
                                                                             uns deshalb mit aller Kraft dafür ein, dass Lachs und
                 Den Berichten der Europäischen Umweltagentur zufolge        Meerforelle, Stör und Neunauge ihre einstigen Lebens-
                 hat sich die Gewässerverschmutzung seit 1980 nicht          räume wiederbesiedeln können. Und dass auch der
                 generell verbessert und vor allem bei kleineren Fließge-    Mensch die Gewässer vor seiner Haustüre bald wieder
                 wässern und dem Grundwasser sogar verschlimmert. Der        ohne Einschränkung zur Ernährung, Erholung und Erbau-
                 Wasserausbeutungsindex (water exploitation index) hat       ung nutzen kann.
                 sich seit 1985 um 20 Prozent ausgeweitet, und in vielen
                 Küstenregionen macht sich eine Grundwasserversalzung        Schließen Sie sich dieser BUND-Vision an. Helfen Sie uns,
                 bemerkbar. Diese Verschlechterung der Gewässersituati-      dieses ehrgeizige Ziel zu erreichen. Gewässerschutz ist
                 on fand statt, während zur gleichen Zeit die EU über 25     Naturschutz. Echter Naturschutz ist unbedingter Gewäs-
                 Richtlinien und Verordnungen erließ, die die europäi-       serschutz. Und beides dient dem Wohl des Menschen.
                 schen Gewässer schützen sollten: eine Verordnungsflut
                 ohne Wert und ohne Wirkung.                                 Sebastian Schönauer, Sprecher AK Wasser, BUND

                                                                                              Eine Vision für die Flusslandschaften in Deutschland   7
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                    1         Eine Vision für die Flusslandschaften in Deutschland

                    D
                           ie vorliegende Vision knüpft an eine Idee des Bun-    Vision zu beteiligen. Die vorgeschlagenen Ziele sind ehr-
                           desumweltministeriums aus dem Jahr 2005 an.           geizig. Sie erfordern erhebliche Anstrengungen bei der
                           Damals hatte das Bundesumweltministerium alle         politischen Umsetzung, denn wir müssen festgefahrene
                    interessierten Kreise zu einer Diskussionsveranstaltung      Denk- und Nutzungsweisen verändern.
                    über eine „neue Flusspolitik“ nach Berlin eingeladen.
                    Vorgesehen war die Entwicklung einer „Gesamtkonzepti-
                    on zur neuen Flusspolitik in Deutschland“.1 In der Dis-
                                                                                                           ~
                                                                                 Die Vision der Internationalen Rheinschutzkommission
                    kussion hatte das Umweltbundesamt vorgeschlagen, eine        „Rhein 2000“ lautete die Vision der Internationalen
                    „Vision“ als „übergreifende Klammer“ für alle deutschen      Kommission zum Schutz des Rheins (IKSR) in den 90er
                    Stromlandschaften zu entwerfen. Eine visionäre Flusspo-      Jahren. Nach der verheerenden „Sandoz-Giftwelle“ von
                    litik sei notwendig, um langfristig angelegte konzeptio-     1986 war es das visionäre Ziel der Rheinschutzkommis-
                    nelle Gewässerschutzziele zu formulieren, die an Rhein,      sion, den Fluss wieder in einen sauberen Zustand zu
                    Donau und Elbe über die aktuelle Bewirtschaftungspla-        versetzen – so sauber, dass Lachse bis in den Oberrhein
                    nung hinausgehen könnten. Noch weitergehender will           aufsteigen und in den Nebenflüssen des Mittelrheins
                    diese Broschüre Denkverbote und Tabus aufbrechen.            ablaichen würden. Dieses Ziel hat das damalige Aktions-
                    Könnte beispielsweise auf lange Frist die Güterschifffahrt   programm „Rhein 2000“ erreicht. Für einen weiteren
                    auf der Elbe und auf anderen schwach befahrenen Flüs-        Motivationsschub wurde „Eine neue Vision – Rhein
                    sen ein Ende finden? Darüber hinaus müssen wir die           2020“2 entworfen. Darin heißt es:
                    Querverbauungen zur Wasserkraftnutzung grundsätzlich
                    in Frage stellen.                                            „Die Bilanz zum Aktionsprogramm Rhein hat bewiesen:
                                                                                 Visionen können wahr werden, wenn man ihre Verwirkli-
                    Die Wasserwirtschaftsverwaltungen in Bund und Län-           chung mit Energie und in realistischen Schritten angeht.
                    dern wurden in den Folgejahren vom Tagesgeschäft bei         (…) Es gibt eine neue Vision vom Rhein: Ein grünes Band
                    der Umsetzung der EU-Wasserrahmenrichtlinie (WRRL)           von Auen begleitet den Strom, nimmt Hochwasser auf
                    derart in Beschlag genommen, dass für die Konzeption         und strotzt vor amphibischen Leben. Die Artenvielfalt
                    einer visionären Flusspolitik kein Freiraum mehr blieb.      von rheintypischen Tieren und Pflanzen steigt weiter an.
                    Insbesondere die Beschäftigten der Wasserwirtschafts-        Lachse wandern bis in den Raum Basel und erhalten
                    verwaltungen der Länder gehen bei der Umsetzung der          ihren Bestand ohne Besatz. Rheinfische und Rheinmu-
                    WRRL in Messprogrammen und Berichtspflichten unter.          scheln sind wieder zahlreich vertreten. (…) Hochwasser-
                    Was als „neue Flusspolitik“ gestartet war, versandete in     vorsorge und Auenentwicklung sollen eng miteinander
                    kürzester Zeit. Nach Auffassung des BUND gibt es aber        verzahnt werden. Verstärkter Wasserrückhalt in ehema-
                    ein Leben jenseits der WRRL, das mit visionären Vorstel-     ligen Auen und im gesamten Einzugsgebiet verbessert
                    lungen gefüllt werden muss – mit der provozierenden          die Hochwasservorsorge für den Menschen. Gleichzeitig
                    Vision frei fließender Ströme. Unsere „neue Flusspolitik“    sichert mehr Raum für den Fluss die biologische Vielfalt
                    beruht auf dem Grundsatz „Nicht nur rein, sondern auch       in den Auen und damit den Schatz natürlicher Ressour-
                    ökologisch intakt!“. Gewässerschutz ist deutlich mehr
                    als der Bau von Kläranlagen. Insofern schließt sich der
                    BUND der nachstehenden Vision der Internationalen
                                                                                 cen am Rhein.“
                                                                                                           ~
                    Rheinschutzkommission an – und bedauert gleichzeitig,
                    dass die anderen Flusskommissionen an Weser, Elbe,
                    Oder und Donau nicht gleichartige Visionen ihrem
                    Tagesgeschäft vorangestellt haben. Der BUND lädt alle
                    Interessierten dazu ein, sich an der Diskussion um diese

              8     BUND
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                 2         Mehr Freiheit für die Ströme!

                I
                    n den 60er und 70er Jahren des letzten Jahrhunderts     Menge. Allein an der Weißen Elster – einem Nebenfluss
                    hatte die Flussverschmutzung in Westdeutschland         der Saale – wurden zu historischen Zeiten 23.000 Fluss-
                    ihren Höhepunkt erreicht. Der Rhein war wegen der       perlmuscheln aus den reichhaltig vorkommenden
                 hohen organischen Belastung kurz vor dem „Umkippen“.       Muschelbänken „geerntet“.4
                 Im August 1969 verendeten praktisch alle Fische von der
                 Untermain-Mündung bis nach Rotterdam. Millionen von        Von Fischen, Krebsen und Muscheln reich bevölkerte
                 Fischen trieben „kieloben“ im übel riechenden Rhein-       Bäche und Flüsse sind derzeit noch eine Utopie, weil
                 strom. Damals hätte sich wohl niemand vorstellen           zahlreiche Staustufen, Schleusen und Kraftwerksanla-
                 können, dass der Rhein wieder eine Wasserqualität          gen das Fließgewässerkontinuum der großen deutschen
                 erreichen würde, die das Baden und Schwimmen ermög-        Flüsse unterbrechen. Für den Lachs, den Stör und den
                 lichen würde. Was damals eine Utopie war, ist heute auf    Aal sowie für andere Langdistanzwanderfische wie den
                 weiten Strecken des Rheins Realität. Die Milliardeninve-   Maifisch (siehe Kasten) stellen diese „Querbauwerke“
                 stitionen in den Bau von Kläranlagen im Rheineinzugs-      kaum passierbare Wanderungshindernisse dar. Auch die
                 gebiet haben aus der damaligen „Pissrinne“ Europas         meisten Mitteldistanzwanderfische sind davon betrof-
                 einen Fluss gemacht, in dem inzwischen selbst der Lachs    fen. Fischtreppen wirken eher als Krücken, die das
                 versucht, seine einstigen Laichbiotope zurückzuerobern.    Manko der fehlenden Durchwanderbarkeit nicht grund-
                                                                            legend beseitigen. Denn selbst die besten Fischtreppen
                 Eine neue Flusspolitik heißt, den Flüssen Freiheitsgrade   weisen nur einen begrenzten Wirkungsgrad auf. Wenn
                 in drei Dimensionen zurückzugeben. Die erste Dimensi-      derzeit 50 Prozent der Schuppenträger die Fischtreppe
                 on bedeutet, dass die Flüsse in der Länge wieder durch-    finden und dann auch tatsächlich passieren, ist das
                 gängig sind. Die zweite Dimension zielt auf die Querver-   schon ein guter Wert.5 Nach der zweiten Fischtreppe
                 netzung der Ströme mit ihren Auen. Und die dritte          sind es dann aber nur noch 25 Prozent der im Unterlauf
                 Dimension geht in die Tiefe, nämlich in das Sand- und      gestarteten Fische. Die dritte Fischtreppe wird nur noch
                 Kieslückensystem unterhalb der Stromsohle.                 von 12,5 Prozent der aufstiegswilligen Fische durch-
                                                                            schwommen usw. usf. Da die Zahl der „Querbauwerke“
                                                                            von den Ästuarien bis zu den Laichbiotopen in den Mit-
                 2.1 Freifließende Flüsse                                   telgebirgsbächen oft mehr als ein Dutzend betragen
                                                                            kann, lässt sich leicht ausrechnen, wie viel bzw. wie
                 2.1.1 Was der Vision im Wege steht –                       wenig Fische angesichts der abnehmenden geometri-
                       das Flusskontinuum ist unterbrochen                  schen Reihe nach beispielsweise zwölf Fischtreppen
                 Unsere Vision ist kühn – so kühn wie die Voraussage vor    noch in ihren angestammten Laichbiotopen ankommen
                 50 Jahren, dass der Rhein eines Tages wieder ein passa-    werden. Und bei der Abwärtswanderung zurück ins
                 bles Badegewässer abgeben könnte. Lachs, Stör und          Meer wiederholt sich das Problem. Bei der Rückwande-
                 Huchen sollen in großer Zahl die Einzugsgebiete der        rung orientieren sich die Fische an der stärksten Strö-
                 deutschen Ströme bevölkern. Zumindest unsere Kinder        mung – und die führt durch die Turbinen der Wasser-
                 sollen an ökologisch intakten Flüssen wieder einen         kraftanlagen. Bei Turbinenanlagen ohne entsprechende
                 Fischreichtum erleben, wie er vor 200 Jahren vorhanden     Schutzeinrichtungen kommt es zu erheblichen Verlusten
                 war. Damals trat beispielsweise die Nase in derartig       abwandernder Fische,6, 7 so dass am unteren Ende der
                 dichten Schwärmen auf, dass sie an den Nebenflüssen        Wasserkraftkaskade kaum noch ein abwandernder Fisch
                 des südlichen Oberrheins mit Mistgabeln in riesigen        das Meer erreichen wird.
                 Stückzahlen aus den Flüssen herausgestochen und als
                 Dünger für Kartoffeläcker verwendet worden ist.3 Auch
                 Muscheln gab es in einer heute kaum noch vorstellbaren

                                                                                            Eine Vision für die Flusslandschaften in Deutschland   9
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                                             ~
                             Eine letzte Chance für den Maifisch?
                                                                               Rheinabschnitt ausgesetzt. Zuvor erhalten die Maifisch-
                                                                               larven am Gehörknöchelchen eine farbige Markierung,
                    Vor den großen Flussregulierungen war der Flussfisch       die später eine Erfolgskontrolle möglich macht. Fünf
                    die Hauptnahrungsquelle zur Absicherung des Protein-       Jahre nach dem Abwandern in die Nordsee ist mit einer
                    bedarfs unserer Bevölkerung. Noch vor rund 100 Jahren      Rückkehr der ausgewachsenen Maifische in den Rhein zu
                    zogen mehrere 100.000 Maifische pro Jahr im Mai zur        rechnen – wenn die Fische alle Hindernisse überwinden.
                    Fortpflanzung in den Rhein. Für die Berufsfischerei war
                    der Maifisch bis in die 30er Jahre des 20. Jahrhunderts    In den südfranzösischen Flüssen Garonne und Dordogne
                    eine unverzichtbare Einnahmequelle. Noch heute erin-       befanden sich bislang die letzten größeren Maifischbe-
                    nern Namen wie der Maifischmarkt in Düsseldorf oder        stände in Europa. Allerdings gehen sie dort dramatisch
                    das Poller Maispill in Köln an die Jahrhunderte alte       zurück. Die Ursachen hierfür werden noch kontrovers
                    Tradition der Maifischfischerei.                           und spekulativ diskutiert.10 Durch den Bestandsrück-
                                                                               gang in den letzten verbliebenen Populationen ist auch
                    Der bis zu drei Kilogramm schwere Maifisch (Alosa          das LIFE-Projekt am Rhein gefährdet.
                    alosa) wanderte früher den Rhein hoch bis nach Basel
                    und fand sich in großen Stückzahlen auch in Neckar,
                    Main und Mosel. Heute kennt kaum noch jemand den
                                                                                                         ~
                                                                               Weil so viele Fische an den Wasserkraftanlagen in
                    Maifisch, der zur Familie der Heringe gehört. Dabei        Deutschlands Flüssen verenden, ist ein ganzes Bündel
                    wurde der Maifisch in den Niederlanden noch vor 150        von Maßnahmen notwendig:
                    Jahren in Stückzahlen von mehreren 100.000 gefangen.       1. Die bestehenden Fischaufstiegshilfen müssen einer
                    Damit wies der Maifisch größere Fangzahlen als der            qualitativen und quantitativen Erfolgskontrolle unter-
                    Lachs auf. Für die Berufsfischer am Rhein war der Mai-        worfen werden.
                    fisch von wichtiger ökonomischer Bedeutung. In jedem       2. Bei schlechtem Wirkungsgrad müssen die Fischwan-
                    Frühling sicherte er ein regelmäßiges Einkommen, bevor        derhilfen so optimiert werden, dass von jeder vorkom-
                    im Sommer die Lachsfischerei einsetzte. „Der Maifisch         menden Fischart genügend Exemplare auf- und ab-
                    war in dieser Zeit eine Delikatesse, die in jedem großen      steigen können, um eine Reproduktionsrate
                    Brauhaus entlang des Rheins angeboten wurde.“8                gewährleisten zu können.11
                                                                               3. Mittelfristig müssen Erfolgskontrolle und Optimierung
                    Durch Überfischung, Gewässerverschmutzung und Stau-           auch beim Fischabstieg stattfinden.
                    stufenbau in den Rheinnebenflüssen schrumpften inner-      4. Die Öffentlichkeit muss Zugang zu den Monitoringer-
                    halb weniger Jahrzehnte die ehemals riesigen Bestände         gebnissen erhalten.
                    gegen null. Heute findet sich der Maifisch nur noch ver-
                    einzelt im Rheineinzugsgebiet. Der Maifisch gilt als vom   2.1.2 Die „Omnibuslösung“ – ein pragmatischer
                    Aussterben bedroht.9                                             Weg?
                                                                               Drastische Bestandseinbrüche beim Aal lassen befürch-
                    In einem Life-Projekt bemüht man sich derzeit in Hessen    ten, dass die Aale in Mitteleuropa vom Aussterben
                    und Nordrhein-Westfalen um die Wiedereinbürgerung          bedroht sind. Die langen Aale sind besonders bedroht, in
                    des Maifisches im Rhein. Dazu werden aufsteigende          Turbinen von Wasserkraftanlagen, ohne entsprechende
                    Maifische in der Garonne und in der Dordogne abgefan-      Schutzeinrichtungen tödlich verletzt zu werden.
                    gen und mit Hormonen behandelt, um ein Ablaichen zu        An den oberen Staustufen der Mosel fängt der Kraft-
                    erzwingen. Die Maifischlarven werden in Aufzucht-          werksbetreiber, die RWE POWER, deshalb die abwärts
                    becken angefüttert und dann in Millionenstückzahlen        wandernden Blankaale ab. Die Aale werden mit dem Lkw
                    seit 2008 im hessischen und nordrhein-westfälischen        bis Koblenz gefahren und dann im Rhein ausgesetzt.

             10     BUND
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                 Umgekehrt hat der Betreiber der Wasserkraftanlagen         dann dieses Geschiebe – die Folge: Erosion und Sedi-
                 am Oberrhein – der französische Strommulti Electricité     mentation sind nicht mehr im dynamischen Gleichge-
                 de France (EdF) – vorgeschlagen, die aufwärts wandern-     wicht. Mangels Geschiebenachschub gräbt sich der
                 den Rheinlachse an der untersten Staustufe abzufangen,     Fluss ständig tiefer in sein Bett. Die Geschiebedefizite
                 um die Langdistanzwandersalmoniden an den zehn             ergeben sich auch daraus, dass den Strömen die Mög-
                 Oberrheinkraftwerken vorbei im Lkw bis Basel zu trans-     lichkeit zur Seitenerosion genommen worden ist. Wenn
                 portieren. Die EdF bezeichnet diese „Omnibuslösung“ als    die Uferstrecken mit Steinwurf oder gar Beton festge-
                 pragmatischen Weg, der zudem noch dem Gebot der            legt worden sind, kann der Strom an seinen Rändern
                 Kosteneffizienz nach den Vorgaben der EU- WRRL ent-        nicht mehr Kies und Sand mobilisieren.
                 spricht (siehe Kasten zur EU-Wasserrahmenrichtlinie in
                 Kapitel 4.1).                                              Um der fortschreitenden Tiefenerosion zu begegnen,

                                          ~
                      Omnibuslösung für Lachse auch an der Lahn
                                                                            muss man nach der Logik der Wasserbauer entweder
                                                                            weitere Staustufen bauen oder künstlich Geschiebe hin-
                                                                            zugeben. „Es ist der Fluch der bösen Tat, dass sie ständig
                 Eine Art „Omnibus-Lösung“ für den Lachs wird seit Jah-     neues Böses gebären muss“, hatte in den 70er Jahren
                 ren auch an der Lahn praktiziert. Ehrenamtliche Lachs-     der damalige baden-württembergische Landwirtschafts-
                 warte der Interessengemeinschaft Lahn holen aus dem        minister Gerhard Weiser anlässlich der Inbetriebnahme
                 Rhein in die Lahn aufsteigende Lachse vor dem ersten       der Staustufe Iffezheim diesen Zwang bildhaft beschrie-
                 Wehr bei Lahnstein aus dem Wasser und bringen sie mit      ben: Wer angefangen hat, Staustufen im Oberlauf eines
                 Lastwagen zur Hälterungsanlage in Villmar-Aumenau.         Flusses zu bauen, ist dazu verdammt, durch ständige
                 Dort wird Laich entnommen und erbrütet. Die Jungfische     flussbauliche Maßnahmen zur Sohlstabilisierung oder
                 werden in den Lahn-Nebenflüssen Dill und Weil ausge-       sogar durch den Bau weiterer Staustufen flussab der
                 setzt, von wo sie den Weg zurück ins Meer antreten.12

                                          ~
                                                                            Tiefenerosion entgegenzuwirken. Dies gilt nicht nur für
                                                                            den Oberrhein, sondern auch für die Donau, die Werra,
                                                                            die Elbe und die Oder. Die bestehenden Staustufen wie-
                 Diesem Pragmatismus stellen wir eine konkrete Utopie       der für Geschiebe durchgängig zu machen, ist nur
                 entgegen: Zumindest an den Flüssen, auf denen sich die     schwer bis gar nicht möglich. Auch deshalb sollten wir
                 Binnenschifffahrt tendenziell nicht mehr lohnt, sollten    darüber nachdenken, langfristig die Querbauwerke an
                 am Ende der Abschreibungszeiträume die Staustufen          immer schwächer befahrenen Bundeswasserstraßen
                 kontrolliert abgebaut werden. Elbe und Weser könnten       abzubauen. Zudem muss mehr geforscht werden, wie
                 dann wieder zu frei fließenden Flüssen werden, in denen    das Geschiebe die Querbauwerke passieren kann.
                 sich Wanderfische ungehemmt verbreiten und vermeh-
                 ren könnten. An der Donau und ihren Nebenflüssen           Soweit der Geschiebetransport bereits in den Neben-
                 bekämen Sterlet und Huchen wieder eine Chance.             flüssen unterbrochen wird, ergibt sich im Hinblick auf
                                                                            den Geschiebemangel in den großen Strömen zudem ein
                 2.1.3 Der Fluch der bösen Tat … die Flüsse fressen         organisatorisches Problem: Während für die Ströme als
                       sich in ihren Untergrund                             Bundeswasserstraße die Bundeswasserstraßenverwal-
                 Staustufen, Schleusen- und Wasserkraftanlagen stellen      tung zuständig ist, wären für den Geschiebetransport in
                 aber nicht nur ein Wanderungshindernis für Fische dar.     den Nebenflüssen, sofern diese nicht ebenfalls als Bun-
                 Auch der sogenannte Geschiebetransport kommt durch         deswasserstraßen ausgewiesen sind, die Bundesländer
                 die Staustufen weitgehend zum Erliegen: Geröll, Kies       zuständig. Um die Geschiebeproblematik ganzheitlich zu
                 und Sand bleiben in den oberen Staustufen der Flussein-    betrachten, müssten sich also Bund und Länder im
                 zugsgebiete liegen. In den Mittel- und Unterläufen fehlt   jeweiligen Stromeinzugsgebiet an einen Tisch setzen.

                                                                                             Eine Vision für die Flusslandschaften in Deutschland   11
Broschüre Flüsse_Langfassung_19.7_neu bio 21.07.11 13:24 Seite 12

                    Wir werden ein bis zwei Generationen brauchen, um              belastet.15 Hinzu kommt, dass in Folge des Klimawandels
                    zumindest für einige ausgewählte Flüsse bzw. Fließ -           die Flusstemperaturen ansteigen und möglicherweise die
                    gewässerstrecken den freifließenden Zustand wieder zu          Niedrigwasserphasen zunehmen werden. Die Flüsse kön-
                    erreichen. Es ist deshalb nachvollziehbar, wenn für die        nen dann nicht mit der nötigen Zuverlässigkeit ausrei-
                    Maßnahmen zur „Entfesselung“ der Flüsse die Fristver -         chend Kühlwasser liefern. Deshalb muss der Missbrauch
                    längerungen zur Umsetzung nach WRRL bis 2024 und               der Flüsse zum Abladen von „Wärmemüll“ auch unter
                    darüber hinaus in Anspruch genommen werden. Dies               dem Gesichtspunkt der Versorgungssicherheit grundsätz-
                    aber nur dann, wenn in Flussverträgen entsprechende            lich hinterfragt werden. Ärgerlich ist zudem, dass die
                    Weichenstellungen zum freifließenden Zustand verbind-          Wasserentnahmeentgelt-Gesetze der Bundesländer die
                    lich vereinbart werden.13, 14 Das Vorhaben, wenigstens         Betreiber der großen Wärmekraftwerke großzügig privi-
                    einige ausgewählte Stromabschnitte grundlegend zu              legieren: Im Gegensatz zur Normalbevölkerung und zu
                    revitalisieren, anstatt nur einzelne wenige Uferpartien        anderen Industrie- und Gewerbebetrieben müssen die
                    aufzuhübschen, gleicht dem Bohren dickster Bretter: Es         Stromkonzerne für die Kühlwasserentnahmen nur mini-
                    wird nur mit sehr viel Ausdauer erfolgreich sein. Gewäs-       male oder sogar gar keine Entgelte bezahlen. Diese Privi-
                    serschützer setzen sich im Bewusstsein der langen Weg-         lege sind auch vor dem Hintergrund des in der WRRL
                    strecke dafür ein, dass jetzt die Diskussion für die hierfür   verankerten Gebotes zur Erhebung kostendeckender Was-
                    erforderlichen Weichenstellungen beginnt. Dies bedeutet        serpreise kritisch zu bewerten. Die Richtlinie empfiehlt
                    auch, nach Möglichkeiten zur Reaktivierung des                 zudem, in den Wasserpreisen auch die Umweltkosten zu
                    Geschiebetriebs zu suchen.                                     berücksichtigen, die durch Wassernutzungen entstehen
                                                                                   können.16 Die Minimal- oder gar Nulltarife der Strom-
                    2.1.4 Die Zukunft der Flüsse und unser Strombedarf             konzerne decken die beträchtlichen Umweltschäden
                    Da die Staustufen in der Regel aber nicht nur der Bin-         durch Kühlwasserentnahmen und Abwärmeeinleitungen

                                                                                                             ~
                    nenschifffahrt, sondern auch der Stromgewinnung die-           nicht annähernd.
                    nen, hängt die Realisierung unserer Vision untrennbar
                    mit der Zukunft unseres Strombedarfs zusammen. Nur                 Der energetische Stellenwert der Wasserkraft:
                    wenn es gelingt,                                                              Beispiel Rheinland-Pfalz
                    • unseren Bedarf an Elektrizität signifikant zu reduzie-       Während in den norddeutschen Bundesländern der
                      ren,                                                         Wasserkraftverstromung mangels Gefälle eher eine un-
                    • regenerative Stromgewinnungskapazitäten jenseits             tergeordnete Bedeutung zukommt, spielt sie in Baden-
                      der Wasserkraft massiv auszubauen                            Württemberg und in Bayern eine ungleich größere Rolle:
                    • und die diskontinuierlich produzierte Leistung aus           Mit jeweils mehreren 1.000 MW Leistung produzieren in
                      regenerativen Energiequellen gleichmäßig verfügbar           diesen beiden Bundesländern zumeist abgeschriebene
                      zu machen,                                                   Wasserkraftanlagen kostengünstig Grundlaststrom.
                    wird man genügend Akzeptanz für den kontrollierten
                    Abbau großer Wasserkraftanlagen an ausgewählten                Auch in Rheinland-Pfalz mit seinen eher niedrigen
                    deutschen Flüssen erreichen können. Eine nachhaltige           Gebirgen hat die Wasserkraft einen nicht geringen Stel-
                    Flusspolitik hängt also eng mit einer nachhaltigen Ener-       lenwert, kann sie doch etwa ein Zehntel der Jahres-
                    giepolitik zusammen.                                           stromproduktion eines großen Atomreaktorblocks erset-
                                                                                   zen. An den rheinland-pfälzischen Gewässern sind 179
                    Dies auch deshalb, weil die konventionelle Stromgewin-         Wasserkraftanlagen in Betrieb. Ihre Ausbauleistung
                    nung in den fossil- bzw. atomar-„befeuerten“ Großkraft-        beträgt 43 MW an kleinen und mittleren sowie 200 MW
                    werken vor allem den Rhein und seine Nebenflüsse und           an großen Anlagen. Sie produzieren damit (unter
                    das Elbe-Ästuar mit viel zu hohen Abwärmeeinträgen             Annahme von über 4.000 Volllaststunden pro Jahr)

             12     BUND
Broschüre Flüsse_Langfassung_19.7_neu bio 21.07.11 11:29 Seite 13

                 996 GWh Strom pro Jahr. Zum Vergleich: Ein großes            aller Wasserkraftanlagen, nämlich etwa 7.300 Anlagen
                 Atomkraftwerk produziert 9.400 GWh im Jahr. An der           mit weniger als 1 MW Leistung (Kleinwasserkraftwerke),
                 Jahresstromerzeugung in Rheinland-Pfalz (14,9 Milliar-       produzieren rund 2 TWh (ca. 10 %).
                 den KWh; Stand: 2007) hat die Wasserkraft einen Anteil
                 von 6,7 Prozent. Betrachtet man exemplarisch die Was-        Dabei gilt es zu berücksichtigen, dass diese Stromproduk-
                 serkraftnutzung im rheinland-pfälzischen Moselein-           tion von insgesamt 20 TWh aus den Wasserkraftanlagen
                 zugsgebiet, so findet der überwiegende Teil der Wasser-      gerade einmal 4 Prozent unseres Stromverbrauchs aus-
                 kraftverstromung an den Staustufen der Mosel statt:          machen und die 2 TWh der 7.300 Kleinwasserkraftanla-
                 Die zehn Anlagen haben insgesamt eine Ausbauleistung         gen einen Anteil am Gesamtstromverbrauch von nur 0,4
                 von 180 MW. Auch an fast allen Zuflüssen der Mosel           Prozent haben. Damit ist die Kleinwasserkraft von äußerst
                 wird die Wasserkraft zur Stromerzeugung genutzt. Hier-       geringer Bedeutung für die Energiegewinnung, hat aber,
                 bei sind besonders die Sauer (6,3 MW) mit der Wasser-        gerade auch bedingt durch die Vielzahl der Anlagen, oft
                 kraftanlage Rosport, die Dhron (6,1 MW) mit der Dhron-       verheerende Folgen für die Gewässerökologie.
                 Talsperre und die Our (4,2 MW) zu nennen.                    Das Umweltbundesamt hat deshalb bereits im Jahr 2001
                                                                              festgestellt:
                 Besonders problematisch ist die Wasserkraftgewinnung         „Die betriebswirtschaftlichen Berechnungen zeigen, dass
                 an der Kyll, einem weiteren Moselzufluss. Die Kyll ist als   vor allem bei kleinen Wasserkraftanlagen bis 100 Kilo-
                 europäisch bedeutsames Fischgewässer eingestuft und          watt (kW)Leistung in allen drei Fällen – Neubau, Reakti-
                 gehört zu den Schwerpunktgewässern, die mit zeitlicher       vierung und Modernisierung – die Selbstkostenpreise
                 Priorität den „guten Zustand“ im Sinne der WRRL errei-       über den Sätzen der Vergütung nach dem Stromein-
                 chen sollen. Das Vorhaben ist deshalb ambitioniert, weil     speisungsgesetz liegen und damit selbst in günstiger
                 an der Kyll 16 Wasserkraftanlagen mit einer installierten    Lage in vielen Fällen kaum wirtschaftlich Strom erzeugt
                 Ausbauleistung von 1,5 Megawatt (1.551 KW) das Lauf-         werden kann. Die ökonomischen Betrachtungen zeigen,
                 kontinuum dieses Mittelgebirgsflusses erheblich beein-       dass eine die Betriebskosten kleiner Wasserkraftwerke
                 trächtigen. 17
                                           ~
                 2.1.5 Kleinwasserkraftwerke – klein auch bei der
                                                                              deckende Förderung – insbesondere für Anlagen unter
                                                                              100 kW – zu hohe volkswirtschaftliche Kosten für die
                                                                              Vermeidung von Kohlendioxid-Emissionen hat. Der wei-
                        CO2-Einsparung                                        teren Erschließung des Potenzials kleiner Wasserkraft-
                 Während die großen Flusswasserkraftwerke in der              anlagen kommt daher vor dem Hintergrund der negati-
                 Summe immerhin vierstellige Megawatt-Beträge elek-           ven ökologischen Auswirkungen keine Priorität im
                 trischer Leistung produzieren, kommen viele Wasser-          Klimaschutz zu.“18
                 kraftanlagen an Bächen und kleinen Flüssen kaum über
                 100 Kilowatt hinaus. Ein bundesweites Kataster von           Durch die mehrmalige Anhebung der Vergütung für
                 Wasserkraftanlagen in Deutschland existiert nicht. Des-      eingespeisten Wasserkraftstrom im Erneuerbaren Ener-
                 halb geht man nach einer Faustformel davon aus, dass         gien-Gesetz (EEG) rechnen sich inzwischen auch die
                 10 Prozent aller Wasserkraftanlagen 90 Prozent des           Kleinwasserkraftwerke wieder. Dies führt in einigen
                 Wasserkraftstroms produzieren – 90 Prozent der Was-          Bundesländern zu einem Boom von Genehmigungsan-
                 serkraftanlagen kommen gerade auf 10 Prozent Wasser-         trägen für den Bau von Kleinwasserkraftanlagen. Dabei
                 kraftstromproduktion. Nach einer groben Internetre-          ist nicht einmal garantiert, dass die ökologischen Anfor-
                 cherche sieht das Verhältnis sogar noch extremer aus: 5      derungen nach dem Wasserhaushaltsgesetz (WHG), das
                 Prozent aller Wasserkraftanlagen, etwa 350 Anlagen mit       der Biodiversität Vorrang gibt, auch nur ansatzweise
                 einer Leistung von mehr als 1 Megawatt (MW), produ-          eingehalten werden. Im aktuellen „Erfahrungsbericht
                 zieren 18 Terawattstunden (TWh) und ca. 95 Prozent           EEG“19 machen das Bundesumweltministerium und

                                                                                              Eine Vision für die Flusslandschaften in Deutschland   13
Broschüre Flüsse_Langfassung_19.7_neu bio 21.07.11 11:29 Seite 14

                    seine Gutachter sogar klar, dass diese Anforderungen       mehr, womit selbst kleinere Mengen von Methanbildung
                    weder richtig kontrolliert noch eingehalten werden kön-    durchaus interessant werden. Damit ist selbstverständ-
                    nen. Trotzdem wird in einigen Bundesländern von wei-       lich auch die Summe der vielen kleineren aufgestauten
                    terem Ausbaupotential ausgegangen. Dies ist ein klarer     Gewässern in Betracht zu ziehen, womit auch die 7.300
                    Verstoß gegen das WHG und die WRRL.                        Kleinwasserkraftwerke eine ganz neue Dimension
                                                                               bekommen. Die Klimabilanz der Wasserkraft muss auf-
                    2.1.6 Staustufen und das Problem der                       grund dieser neuen wissenschaftlichen Erkenntnisse
                          Methangasbildung                                     grundsätzlich neu berechnet werden.
                    Die Methangasbildung ist seit Jahren ein Streitpunkt
                    zwischen den Naturschützern und den Befürwortern der       2.1.7 Scheitert der Lachs auf der letzten Meile?
                    Wasserkraft. Methangasemissionen entstehen durch die       Wenn der Lachs von Grönland aus wieder in den Rhein,
                    Zersetzung von Biomasse in den abgelagerten Sedimen-       die Weser oder in die Elbe zurückgewandert ist, hat er
                    ten der Staubereiche. Anerkanntermaßen gibt es dieses      viertausend Meilen hinter sich, 2.000 Meilen auf dem
                    Phänomen in den tropischen Klimazonen, während seine       Weg nach Grönland und wieder 2.000 Meilen auf dem
                    Existenz in den gemäßigten Zonen umstritten ist.           Weg zurück. Die beachtliche Schwimmleistung scheint
                                                                               dem „Langdistanzwanderfisch“ aber nichts zu nutzen:
                    Doch neuere wissenschaftliche Erkenntnisse weisen dar-     Denn der Einfluss der Kleinwasserkraftlobby und das
                    auf hin, dass diese Prozesse auch in unseren Gewässern     Unverständnis so mancher Genehmigungsbehörden las-
                    unter Methangasbildung stattfinden, in zwar geringe-       sen den Lachs buchstäblich auf der letzten Meile schei-
                    ren, aber durchaus relevanten Mengen. Insofern muss        tern. Doch der Reihe nach: Damit es überhaupt einen
                    die Diskussion über die Wasserkraft diese Erkenntnisse     Anflug von Hoffnung gibt, dass der Lachs wieder halb-
                    berücksichtigen. Eine neuere Studie der Universität Lin-   wegs sich selbst reproduzierende Bestände in Rhein,
                    köping in Schweden zeigt, dass selbst Bäche und Flüsse     Weser und Elbe aufbauen kann, muss er auch seine an-
                    zur Methangasbildung beitragen.20 Inwieweit dabei          gestammten Laich- und Jungfischhabitate in den Flüs-
                    zwischen stehenden und fließenden Gewässern unter-         sen und Bächen der deutschen Mittelgebirge erreichen.
                    schieden wurde, ist dem Abstract nicht zu entnehmen.       Dazu werden jetzt Fischtreppen an den Staustufen und
                    Fest steht aber, dass auch unsere Gewässer zur Methan-     Wasserkraftanlagen der großen Flüsse gebaut bzw. vor-
                    gasbildung beitragen. Doch diese Erkenntnisse sind         handene „Fischwanderhilfen“ werden optimiert. Damit
                    offensichtlich nicht so neu, denn schon Untersuchungen     sollen die Mittelgebirgsgewässer als Laich- und Jung-
                    an der Saale von 1989 belegen Methanbildung.21             fischbiotope für Lachs, Meerforelle und Meerneunauge
                                                                               erschlossen werden.
                    Klarere Aufschlüsse lassen allerdings die Untersuchungen
                    an den Stauseen Aare und Wohlensee in der Schweiz zu.22    Aber wegen der hohen EEG-Vergütung für Wasserkraft-
                                                                               strom haben auch die Kleinwasserkraftbetreiber ein
                    „Hochgerechnet auf die gesamte Fläche produziert der       begehrliches Auge auf die gefällestarken Mittelgebirgs-
                    Aare-Stausee jährlich 150 Tonnen Methan. Das ist etwa      gewässer geworfen. Die Kleinwasserkraftbetreiber
                    so viel wie rund 2000 Kühe pro Jahr an die Atmosphäre      locken mit folgendem Angebot: Wenn wir an vorhande-
                    abgeben oder entspricht bezüglich Klimawirksamkeit         nen Wehrabstürzen ein Kleinwasserkraftwerk bauen
                    dem CO2-Ausstoß von 25 Millionen gefahrenen Autoki-        dürfen, dann errichten wir parallel dazu eine Fischtrep-
                    lometern.“                                                 pe. Da freut sich der Lachs und wir können grünen Was-
                                                                               serkraftstrom produzieren. Das Angebot der Kleinwas-
                    Methan heizt die Erdatmosphäre etwa 25-mal stärker         serkraftbetreiber hat jedoch einen Haken: Nur ein
                    auf als Kohlendioxid – unter Umständen sogar noch          bestimmter Prozentsatz der Fische findet die Fischtrep-

             14     BUND
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                 pen bei der Aufwärtswanderung (siehe Kapitel 2.1.). Bei     besserungen für das Fließgewässer zu bescheinigen. Aber
                 mehreren Fischtreppen entlang eines Flusses kommt es        auch bei fachlich qualifizierten Gutachter(innen) besteht
                 deshalb auf dem Weg nach oben jeweils zu einem „Aus-        durch die Auftragsvergabepraktik die hohe Wahrschein-
                 dünnungseffekt“. Dasselbe gilt für die Abwärtswande-        lichkeit von „Gefälligkeitsgutachten". Wirkungskontrol-
                 rung. An „Lachsprogrammgewässern“ muss man sich             len bezüglich der (insbesondere kumulativen) Schädi-
                 deshalb entscheiden: Lachs oder Wasserkraft! Wenn           gung von Wanderfischarten liegen in der Regel nicht vor.
                 man beides zusammen versucht, wird das Lachswieder-
                 einbürgerungsprogramm notwendigerweise scheitern            Deshalb fordert der BUND:
                 müssen.                                                     1. Für den BUND hat der Erhalt natürlicher und naturna-
                                                                                her Fließgewässer stets Vorrang vor einer Wasserkraft-
                 Grundaussagen des BUND zur Wasserkraft                         nutzung. Den Neubau von Wasserkraftanlagen lehnen
                 Bisher gibt es keine konsequente Umsetzung der Wasser-         wir deshalb ab. Dies gilt auch für vorhandene Quer-
                 rahmenrichtlinie (WRRL)2000j60/EG des EP und des               bauwerke, die bisher keine Wasserkraftnutzung haben.
                 Rates vom 23. Oktober 2000. Die 2004 deutschlandweit,
                 im Zuge der Umsetzung der WRRL, durchgeführte               2. Zur besseren Umsetzung der Ziele der WRRL und des
                 Bestandsaufnahme zeigte deutlich, dass die fehlende            WHG zur Erreichung des „guten ökologischen
                 Durchgängigkeit der Fließgewässer bereits zu massiven          Zustands“ und zur nachhaltigen Nutzung fordert der
                 Problemen, bis hin zu einem Artenverlust von 94 % der          BUND eine länderspezifische ökologische Priorisierung
                 kieslaichenden Fischarten geführt hat. Die Fische sind         von Fließgewässern und Fließgewässerabschnitten, in
                 Zeigerorganismen für die Bewertung der Fließgewässer-          denen keine Querbauwerke mehr zulässig sein sollen.
                 Morphologie. Die Wiederherstellung des guten Zustands          Dort müssen vorhandene Wanderhindernisse beseitigt
                 der Gewässer ist erklärtes Ziel aller EU-Staaten. Dieses       und z. B. durch raue Rampen und Sohlgleiten ersetzt
                 Ziel kann im gesetzten Zeitrahmen (bis 2015 bzw. 2017)         werden. Dies gilt auch für Wasserkraftanlagen, sie
                 nur erreicht werden, wenn die fischbiologische, wie mor-       müssen spätestens nach Ablauf ihrer Konzessionsdau-
                 phologische Durchgängigkeit der Fließgewässer wieder           er zurückgebaut werden.
                 hergestellt wird.
                                                                             3. Um das energetische Ziel des BUND („100 Prozent
                 Art. 4 (7) WRRL und WHG 31 (2) 3 schließen die Erstellung     Erneuerbare Energien“) nicht zu gefährden, sollte der
                 einer wasserrechtlichen Erlaubnis für den Neubau einer        Wegfall von Wasserkraftanlagen in priorisierten
                 Wasserkraftanlage durch die zuständige Behörde in der         Gewässerabschnitten mit einer Steigerung der Ener-
                 Regel aus, da die Ziele, die mit der Änderung des Gewäs-      gieeffizienz und der Nutzung des energetischen Poten-
                 sers verfolgt werden, mit anderen geeigneten Maßnah-          tials bei gleichzeitiger ökologischer Optimierung in
                 men effizienter erreicht werden können. Hier fehlt jedoch     „Nicht-Vorranggebieten“ kompensiert werden.
                 auf behördlicher Ebene häufig die gewässerkundliche
                 Kompetenz, da die Bewilligung den Landratsämtern            4. Die ökologische Optimierung von Anlagen außerhalb
                 obliegt und lediglich das Benehmen mit den Fischerei-          der priorisierten Gebiete („Nicht-Vorranggebiete“)
                 und Naturschutzbehörden hergestellt werden muss.               kann über die Vergütung nach EEG erfolgen, wenn die
                                                                                ökologischen Verbesserungen eindeutig erbracht und
                 Der im EEG geforderte Nachweis der ökologischen Ver-           nachgewiesen sind.
                 besserung wurde bisher nicht qualifiziert erbracht.
                 Umweltgutachter(in) mit einer Zulassung in dem Bereich
                 Elektrizitätserzeugung aus Wasserkraft sind aus rein
                 fachlichen Gründen nicht in der Lage ökologische Ver-

                                                                                              Eine Vision für die Flusslandschaften in Deutschland   15
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                    5. Da die Gewährleistung des im EEG geforderten Nach-       bauen – also große Talsperren im Einzugsgebiet der
                       weises zur ökologischen Verbesserung bisher nicht        Ströme, die bei niedrigen Wasserständen zusätzliches
                       ausreichend qualifiziert realisiert wird, fordert der    Wasser abgeben, so dass die Binnenschifffahrt weiter-
                       BUND zur Sicherstellung eines qualifizierten Nachwei-    gehen kann. Die hessische Edertalsperre beispielsweise
                       ses, dass diese von gewässerökologisch zertifizierten    übernimmt seit vielen Jahrzehnten die Funktion zugun-
                       Ingenieurbüros erarbeitet werden und die zuständigen     sten der Schifffahrt auf der Weser. Mit wachsender
                       Wasserbehörden entscheiden, ob die ökologischen          Schiffsgröße und steigenden Anforderungen an stabile
                       Mindestanforderungen an WKAs erfüllt sind.               Wasserstände sind somit gewässerökologische Prämis-
                                                                                sen immer weniger vereinbar. Die Fortführung der Bin-
                    6. Sichergestellt werden muss dabei, dass die WKAs öko-     nenschifffahrt zieht den Zwang nach sich, ehemals
                       logische Mindestanforderungen dauerhaft erfüllen         freifließende Flüsse mit immer mehr technischen Syste-
                       und die technischen Anlagen den neuesten wissen-         men (Beton, Stahlspundwände, Steinschüttungen) aus-
                       schaftlichen Erkenntnissen angepasst werden.             zustatten.
                       Das gilt für:
                       • Fischaufstieg
                       • Fischabstieg
                                                                                                          ~
                                                                                        Basisdaten zu den „Bundeswasserstraßen“
                       • Geschiebemanagement und                                Das heutige Netz der Bundeswasserstraßen in Deutsch-
                       • Restwasserregulierung                                  land umfasst Binnenwasserstraßen mit einer Gesamt-
                                                                                länge von rund 7.300 Kilometern. Die Binnenwasser-
                    2.1.8 Wie ökologisch verträglich ist das Binnen-            straßen teilen sich auf in 2.537 Kilometer (35 Prozent)
                           güterschiff?                                         freifließende Flüsse, 3.027 Kilometer staugeregelte Flüs-
                    Die Binnengüterschifffahrt profitiert in der Öffentlich-    se (41 Prozent) sowie 1.742 Kilometer Kanalstrecken (24
                    keit und in der Politik von dem Mythos, besonders „um-      Prozent). Staugeregelt sind beispielsweise Neckar, Main
                    weltfreundlich“ zu sein. Das sympathische Image vom         und Mosel – mit jeweils zehn und mehr Staustufen. Als
                    gemütlichen Käpt’n auf seinem betagten Motorgüter-          Kanalstrecken fungieren etwa der Dortmund-Ems-
                    schiff findet sich allerdings in der Realität immer weni-   Kanal, der Rhein-Herne-Kanal, der Mittellandkanal als
                    ger. Auch in der Binnenschifffahrt herrscht inzwischen      wichtige Ost-West Verbindung zwischen Elbe und
                    ein knallharter Rationalisierungskurs und Verdrän-          Weser (und mittelbar zwischen Rhein und Oder) und der
                    gungswettbewerb – und damit verbunden der Zwang zu          Rhein-Main-Donau-Kanal als Verbindung zwischen dem
                    immer größeren Schiffseinheiten und Schubverbänden          Schwarzen Meer und der Nordsee. Zu den Anlagen an
                    mit immer höherer Tonnage. Der wirtschaftliche Druck,       den Bundeswasserstraßen zählen unter anderem 326
                    die Flüsse an die Kolosse anzupassen und eine möglichst     Schiffsschleusen und 337 Wehranlagen, vier Schiffshe-
                    ganzjährige Befahrbarkeit herzustellen, nimmt ständig       bewerke, zwei Talsperren und etwa 1.300 Brücken. 80
                    zu.24 Selbst mit Küstenmotorschiffen will man immer         bis 90 Prozent des Güterverkehrs finden auf dem Rhein
                    weiter flussaufwärts in die Stromsysteme eindringen.        und seinen angebundenen Nebenflüssen Mosel, Neckar
                    Gleichzeitig scheint durch den Klimawandel die Verläss-     und Main statt. Das restliche Verkehrsaufkommen ver-
                    lichkeit schifffahrtsgeeigneter Wasserstände abzuneh-       teilt sich auf die übrigen Flüsse und Kanäle. Besonders
                    men. Dadurch nimmt der Druck noch zu, die Flüsse für        im Osten unseres Landes ist die Güterschifffahrt an dem
                    den Schifffahrtsverkehr herzurichten. Zusätzliche Ufer-     Verkehrsaufkommen nur marginal beteiligt. Aufgrund
                    verbauungen und Aufweitungen der Flussläufe mit wei-        begrenzter Finanzmittel hat das Bundesverkehrsministe-
                    teren Stauhaltungen und Schleusen wären die Folge.25        rium Anfang 2011 die Bundeswasserstraßen nach Ver-
                    Inzwischen wird seitens der Binnenschifffahrtslobby         kehrsaufkommen in sieben Kategorien eingeteilt. Dem-
                    offen darüber nachgedacht, Niedrigwasserspeicher zu         nach sollen nur noch stark befahrene Wasserstraßen

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