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Vier Perspektiven - eine Botschaft für die Bildungspolitik Digitale Medien im Kreuzfeuer der Kritik Bündnis für HUMANE BILDUNG
"Lehrpläne sind das Ergebnis des Kampfes der gesellschaft- lichen Interessengruppen um ihren Einfluss auf die heran- wachsende Generation." Erich Weniger (Göttinger Erziehungswissenschaftler) Lektorat und Design grafik.werkstatt der Hochschule Offenburg, Badstr. 24, 77652 Offenburg V.iS.d.P: Prof. Dr. phil. Ralf Lankau (futur-iii.de; ralf.lankau@futur-iii.de)
Vier Perspektiven - eine Botschaft für die Bildungspolitik Digitale Medien im Kreuzfeuer der Kritik Positionspapier Bündnis für humane Bildung Michaela Glöckler, Ralf Lankau, Ingo Leipner, Gertraud Teuchert-Noodt 2020
"Wo alle das Gleiche denken, wird nicht viel gedacht." (Karl Valentin) Die Autorinnen und Autoren gehören zu zwei Organisationen: Bündnis für humane Bildung Hochschullehrer, Wissenschaftler und engagierte Bürger gründeten 2017 das „Bündnis für humane Bildung“. Ihre Überzeugung lautet: Bildung lässt sich nicht digitalisieren! Di- gitale Instrumente können Bildungsprozesse nur unterstützen. Alternativen sind gefragt. Website: http://www.aufwach-s-en.de Allianz ELIANT 2006 gründeten zehn europaweit tätige Dachorganisationen die „Europäischen Allianz von Initiativen angewandter Anthroposophie“ (ELIANT). Die Allianz setzt sich auf verschiede- nen Lebensgebieten und Arbeitsfeldern für mehr Lebensqualität und kulturelle Vielfalt in Europa ein. Website: https://eliant.eu Petition Grundschulen und Kindergärten sollen digitalfreie Zonen bleiben, um Raum für reale Le- benserfahrungen zu bieten. Um diese Forderung zu untermauern, haben das „Bündnis für humane Bildung“ und ELIANT eine europaweite Petition ins Leben gerufen. Website: http://www.aufwach-s-en.de/2018/03/petition-eliant-und-buendnis-fuer-humane-bil- dung/ Die Stiftung „Kind und Jugend“ trägt dieses Papier mit: Die Stiftung fördert Versorgungsleistungen, Präventionsarbeit und das soziale Engage- ment von Kinder- und Jugendärzten. Dazu beteiligt sie sich an wissenschaftlichen Pro- jekten (u. a. Koordination), um die Qualität der kinder- und jugendärztlichen Versorgung zu verbessern. Website: https://www.stiftung-kind-und-jugend.de 2
Vier Perspektiven - eine Botschaft für die Bildungspolitik Digitale Medien im Kreuzfeuer der Kritik „Eine Kindheit ohne Computer ist der beste Start ins digitale Zeitalter“ 1, heißt es im Buch „Die Lüge der digitalen Bildung“ … und Prof. Ralf Lankau schreibt kurz und knapp: „Kein Mensch lernt digital“ 2. Für diese provokativen Positionen gibt es gute Gründe. Wir veröffentlichen sie zum ersten Mal gebündelt in einem Papier, das aus vier Perspektiven wesentliche Aspekte der Kritik zusammen- fasst. Schnell auf den Punkt gebracht - mit aller Tiefe, die angemessen ist. Eine Publikation des „Bündnis für humane Bildung“ in Zusammenarbeit mit dem Netzwerk „ELIANT“, unterstützt von der Stiftung „Kind und Jugend“. 1. Perspektive: psychische Entwicklung des Kindes Das Positionspapier von ELIANT beleuchtet die individuelle Situation von Kin- dern, die zu früh mit digitalen Medien konfrontiert werden. Das kann negative Folgen für deren psychische Entwicklung haben, etwa bei der emotionalen Intelli- genz oder kognitiven Reifeprozessen (Impulskontrolle, Belohnungsaufschub, Suchtverhalten etc.). Daher fordert ELIANT u. a. eine evidenzbasierte Forschung, um den Einfluss digitaler Technologie auf die Gesundheit der Kinder zu untersu- chen. 2. Perspektive: Gehirnreife aus Sicht der Neurobiologie Die Neurobiologin Prof. Dr. Gertraud Teuchert-Noodt vertieft aus ihrer Perspek- tive die Erkenntnisse von ELIANT. Sie zeigt, wie stark digitale Medien in das Ge - hirn von Kindern eingreifen, indem sie u. a. suchtauslösende Impulse setzen. „Dauerhaft trainierte Muskeln vollbringen gute körperliche Leistung“. Das gilt auch für das Gehirn, das nur durch eine „größtmögliche Eigenaktivierung“ zu geistigen Leistungen in der Lage ist. Es ist ratsam, das Gehirn (=„brainy“) mehr zu benutzen als das „handy“. 1 Lembke, Gerald / Leipner, Ingo (2018): „Die Lüge der digitalen Bildung. Warum unsere Kinder das Lernen verler- nen“, 3. Aufl. Redline, München 2 Lankau, Ralf (2017): „Kein Mensch lernt digital: Über den sinnvollen Einsatz neuer Medien im Unterricht“, Beltz, Weinheim 3
3. Perspektive: Schule ohne Überwachung Prof. Ralf Lankau verortet digitale Konzepte für Unterricht nicht in der Pädago- gik, sondern in Kybernetik und Behaviorismus. Lernen wird zu einem mess- und steuerbaren Prozess umgedeutet, wobei der Erfolg mit Methoden des Total Quali- ty Managements (TQM) zu bestimmen ist. Bildung wird ökonomisiert, obwohl sie eigentlich an menschliches Bewusstsein gebunden ist, nicht an Medien(tech- nik). Daher ist Lernen endlich wieder als individueller und sozialer Prozess zu ver- stehen. 4. Perspektive: gesellschaftliche Dimensionen Die moderne Daten-Ökonomie beginnt im Bildungssystem, wo sich bereits wert- volle Erkenntnisse über Schüler gewinnen lassen, etwa durch Lernprogramme, die jeden Schritt am Rechner dokumentieren (Learning Analytics). Daher wirft Ralf Lankau die prinzipielle Frage auf: „Bleibt der Mensch als Individuum, Persönlich- keit und autonomes Subjekt das Ideal freier Gesellschaften oder wird er zum Da- tenlieferanten eines zu perfektionierenden Datenverarbeitungssystems?“ Vier Perspektiven - eine Botschaft für die Bildungspolitik: Statt sich einem öko- nomisch und technologisch getriebenen Hype kritiklos in den Rachen zu werfen, sollte die Bildungspolitik grundlegend darüber nachdenken, was Kinder in einer sich digitalisierenden Welt wirklich brauchen: realweltliche Erfahrungen, zwi- schenmenschliche Interaktion, Entwicklung emotionaler Intelligenz. Das macht sie stark, um später gut mit Computern arbeiten zu können. Ingo Leipner (Bündnis für humane Bildung) 4
1. Perspektive: psychische Entwicklung des Kindes ELIANT-Positionspapier zur Medienerziehung Bildung ist für breite Bevölkerungsschichten zugänglich geworden und hat ein ho- hes Niveau der Inklusion erreicht. Es wurden auch weltweit bemerkenswerte Er- folge bei der Alphabetisierung erzielt. Diese Entwicklung alleine garantiert aber keine positiven Ergebnisse, wenn sie nicht begleitet wird durch eine unverzerrte Reflexion der Rahmenbedingungen für eine gesunde Entwicklung. Dazu gehört auch die Freiheit, in Kenntnis aller Informationen ein hohes Maß an individueller Wahlmöglichkeit auch bei der digitalen Bildung zu erhalten. Was meinen wir damit? ELIANT engagiert sich dafür, im Rahmen der früh- kindlichen Bildung, sowie der Primar- und Sekundarstufe des Schulsystems die Wahlmöglichkeiten für Bildungsmittel zu erhalten. Lehrer, Erzieherinnen und El- tern haben das Recht, die jeweils bevorzugten Methoden und eine adäquate Lern - umgebung auszuwählen, damit die Medienerziehung auf die Entwicklungsbedürf- nisse der Kinder ausgerichtet wird. ELIANT hat zu diesem Thema eine Vision entworfen, die auf den wachsenden wissenschaftlichen Erkenntnissen beruht, die aus Verhaltensforschung, Neurologie und Psychologie kommen. Diese Erkennt- nisse spiegeln die notwendigen Schritte wider, damit sich Menschen von Geburt an gesund entwickeln. Es ist essentiell, diese Phasen in ein künftiges Bildungskon- zept zu integrieren, so dass Kinder in die Lage versetzt werden, ein Optimum an sozialer, emotionaler, kognitiver und geistiger Gesundheit zu erreichen. 3 Frühe digitale Bildung Die Erfahrungen in der frühen Kindheit sind entscheidend für die Entwicklung im späteren Leben. Der technologische Fortschritt durchdringt alle Lebensberei- che und macht auch vor Kindern und Kleinkindern nicht halt. Unabhängige For- schung hat in umfassender Weise Effekte für die kindliche Entwicklung aufge- zeigt, die den oft behaupteten Nutzen elektronischer Geräte für die Bildung in Frage stellen.4 3 Linn, S., Almon, J., & Levin, D. E. (2012). Facing the screen dilemma: Young children, technology and early education. Campaign for a Commercial Free Childhood. Available at: http://www.com- mercialfreechildhood.org/sites/default/files/facingthescreendilemma.pdf 5
Reifungsprozesse im Gehirn Die Entwicklung des menschlichen Gehirns weist in den ersten Jahren des Lebens die stärkste Intensität auf. Die weiteren Entwicklungsschritte hängen von diesen frühen Erfahrungen ab. In den ersten Lebensjahren braucht das reifende Gehirn vor allem die ganzkörperliche Betätigung und den Gebrauch aller Sinne, um in den verschiedenen natürlichen (analogen!) Umgebungen aktiv sein zu können. Durch diese ganzkörperliche sensomotorische Integrationsarbeit übt das Gehirn, seine komplexe Verarbeitungsfähigkeit und zwar auf der Informations-, Kontroll- und Kommandoebene. Nur so kann das Kind in umfassender Weise lernen, sein Gehirn zur Orientierung in der Umwelt und mit Bezug auf den eigenen Körper zu nutzen. Dieses Erforschen der realen Umgebung während der ersten Jahre ist wichtig, weil es den Kindern die Möglichkeit gibt, sich gesund im Raum- und Zeitkontext zu verankern. Ohne wiederholtes intensives Üben und das Verknüpfen kognitiver Erfahrungen mit koordinierten körperlichen Handlungsweisen ist dies nicht mög- lich.5 In ähnlicher Weise ist eine reale Interaktion zwischen Menschen erforder- lich, wenn das Vorderhirn reifen soll. Es ist der Sitz der exekutiven Funktionen, die unser Leben kontrollieren. Seine Entwicklung ist Grundlage für unser Denk- und Erinnerungsvermögen; es gibt dem Menschen die Möglichkeit, rational und eigenverantwortlich zu handeln. Fundamentale Voraussetzung dafür ist jedoch die Art der Betätigung in den ersten Lebensjahren – das Kind wird selbst aktiv sein in Nachahmung und eigenständiger Erforschung seiner realweltlichen Umgebung. Die Nervenzellen im Gehirn eines kleinen Kindes sind sehr sensitiv, was es möglich macht, viel stärker als ein Erwachsener Sinneseindrücke aufzunehmen und zu speichern. Doch nicht alle Sinnesreize sind nützlich! 6 7 Aktuelle For- schung lenkt den Blick auf das Risiko neuronaler Hyperaktivierung, die einen ne- 4 Linn, S., Almon, J., & Levin, D. E. (2012). Facing the screen dilemma: Young children, technology and early education. Campaign for a Commercial Free Childhood. Available at: http://www.com- mercialfreechildhood.org/sites/default/files/facingthescreendilemma.pdf 5 Teuchert-Noodt: 20 Theses from the perspective of Brain Research, July 25, 2017. Available at: https://eliant.eu/fileadmin/user_upload/Conference2017/Thesenpapier_2017_Teuchert-Nood.pdf 6 Cheung et al., (2017). Daily touchscreen use in infants and toddlers is associated with reduced sleep and delayed sleep onset. Scientific Reports 7, 46104. Available at: https://www.nature.com/ articles/srep46104 7 Hunt, Melissa G., Rachel Marx, Courtney Lipson, and Jordyn Young. "No More FOMO: Limiting Social Media De- creases Loneliness and Depression.“ Journal of Social and Clinical Psychology 37, no. 10 (2018): 751-768. Avail- able at: https://roguemedialabs.com/wpcontent/uploads/2018/11/jscp.2018.37.10.751.pdf 6
gativen Einfluss auf die Entwicklung des Vorderhirns haben kann. 8 Es gibt einen direkten Zusammenhang zwischen der Nutzung digitaler Technologie und der Aktivierung des Belohnungssystems im Gehirn. Werden Bildschirm-Medien vor der vollständigen Gehirnreife ausgiebig genutzt, kann die Balance zwischen dem Bedürfnis nach Belohnungen und einem gesunden Selbstvertrauen erschüttert werden. Auf diese Weise steigt das Risiko, von solcher Technologie abhängig zu werden.9 Kognitive Fähigkeiten Die Face-to-Face-Kommunikation mit anderen Menschen stellt eine entscheiden- de Grundlage dar, damit sich komplexe kognitive Fähigkeiten entwickeln, wie etwa Sprechen, Zuhören, Lesen und Schreiben. Es hat sich herausgestellt, dass di- gitale Medien weitgehend nicht in der Lage sind, solche Kompetenzen zu fördern; in einigen Fällen zeigten sich unter ihrem Einfluss sogar Verzögerungen in der Sprachentwicklung. Im Kontext formaler Lernprozesse zeigten sich keine positi- ven Ergebnisse, wie es zum Beispiel die PISA-Berichterstattung dokumentiert. 8 Kognitive Fähigkeiten sind in einem hohen Maß davon abhängig, wie gesund die Umgebung für die Gehirnentwicklung ist. Die emotionale und soziale Intelligenz hingegen braucht zu ihrer Entwicklung die unmittelbare Auseinandersetzung mit anderen Menschen. Auch die sozialen Kompetenzen eines Kindes entwickeln sich früh im Leben - durch die verbale und non-verbale Kommunikation mit Eltern, Erzieherinnen und Lehrern. Um stabile Beziehungen zu anderen Menschen aufzubauen, ist es unerlässlich zu lernen, die Emotionen anderer zu erkennen und darauf zu reagie- ren. Die Entwicklungspsychologie betont dabei die Bedeutung der unmittelbaren Interaktion zwischen Bezugsperson und Kleinkind, das auf diese Weise lernt, die Eltern zu beobachten und auf deren Handlungen passend zu reagieren. Der engli- sche Begriff „technoference“ 10 (technische Interferenz) steht für das heutige Phä- nomen, dass technische Geräte täglich mehrfach die oben genannte Interaktion unterbrechen. Unsere Fixierung auf Bildschirm-Technologie im Alltag gerät in 8 Hyung Suk Seo et al., (2017). Neurotransmitters in Young People with Internet and Smartphone Addiction: A Com- parison with Normal Controls and Changes after Cognitive Behavioral Therapy. 9 Sigman A: Screen Dependency Disorders: a new challenge for child neurology. JICNA 2017. Available at: https://www.researchgate.net/profile/Aric_Sigman/publication/317045692_Screen_Dependency_Disorders_a_new _challenge_for_child_neurology/links/592; 2ef56aca27295a8a7b29b/Screen-Dependency-Disorders-a-new-chal- lenge-for-child-neurology.pdf 10 Brandon T. McDaniel, Jenny S. Radesky. Technoference: longitudinal associations between parent technology use, parenting stress, and child behavior problems. Pediatric Research, 2018; DOI: 10.1038/s41390-018-0052-6 7
Konflikt mit zwischenmenschlichen Beziehungen und reduziert häufig für kleine Kinder die Gelegenheiten, etwas über sich und die Welt zu lernen. Studien zeigen auch, je weniger kleine Kinder digitale Medien nutzen, desto besser sind sie in der Lage, unterschiedliche menschliche Emotionen wahrzunehmen und zu verste- hen.11 Verhalten Aktuelle unabhängige Forschung auf dem Gebiet der Verhaltenspsychologie rückt das Problem der „sofortigen Belohnung“ („instant gratification“) in den Mittel- punkt. Diese Form der Belohnung ist direkt verbunden mit digitalen Medien, wie sie kleine Kinder nutzen. Kinder lernen die Regulation ihrer Gefühle, indem sie sich in kleinen Projekten engagieren, sich selbst Ziele setzen und diese Schritt für Schritt erreichen. Heute verspricht den Kindern der ständige Zugriff auf digitale Unterhaltung, dass sie jederzeit eine „sofortige Belohnung“ erhalten können. Die- se Möglichkeit zerstört für Kinder die Notwendigkeit, sich aktiv Anerkennung zu erarbeiten. Außerdem werden Kinder dabei beeinträchtigt, Geduld, Willenskraft und Selbstbeherrschung zu entwickeln. Mit dem Phänomen des Belohnungsauf- schubs müssen sich viele Kinder nicht mehr auseinandersetzen, was verhindert, dass sie entsprechende Bewältigungsstrategien einüben. Stattdessen nähren diese Technologien die Erwartung, dass jedes Bedürfnis sofort gestillt wird. Geschieht das nicht, tauchen überwältigende Gefühle des Ärgers, der Frustration und Trau- rigkeit auf - großes Leid für Kind und Eltern, sowie eine starke Belastung für de- ren gesunde Beziehung.12 Fazit Echte Kommunikation zwischen Menschen und die Verwurzelung in der Realität lassen sich nicht ersetzen durch digitale Technologie, egal wie ausgefeilt moderne Soft- und Hardware sein mag. Um eine gesunde Entwicklung zu ermöglichen, braucht jedes Kind intensive Begleitung durch Erwachsene. Nur auf diese Weise können sich seine körperlichen, kognitiven und seelischen Fähigkeiten optimal 11 Uhls, Y. T., Michikyan, M., Morris, J., Garcia, D., Small, G. W., Zgourou, E., & Greenfield, P. M. (2014). Five days at outdoor education camp without screens improves preteen skills with nonverbal emo- tion cues. Computers in Human Behavior, 39, 387-392. Available at: https://www.sciencedirect.- com/science/article/pii/S0747563214003227 12 W. R. Cummings: The negative effects of technology on childhood behavior. Childhood behavioral concerns. Psych- Central. Available at: https://blogs.psychcentral.com/childhood-behavioral/2017/11/the-negative-effects-of-tech- nology-on-childhood-behavior/ 8
entwickeln. ELIANT fordert eine breite interdisziplinäre Forschung zu den hier aufgezeigten Tatbeständen. Die Frage ist daher: Wie kann ein gesunde Entwick- lung im Bildungsprozess gestaltet werden? Auf dieser Basis sollte die Bildungspoli- tik die genannten wissenschaftlichen Resultate zur Kenntnis nehmen. Und: Eltern sollten in der Lage sein, sich für eine Form der Medienerziehung zu entscheiden, die dem Alter der Kinder entspricht und auf deren Entwicklungsbedürfnisse zuge- schnitten ist. Dieses Ziel lässt sich am besten erreichen, wenn folgende Forderun- gen erfüllt werden: 1. Ein unabhängiges, evidenzbasiertes, interdisziplinäres Forschungsprogramm ist aufzulegen. Dazu zählt eine Längsschnittstudie über einen größeren Zeit- raum, um den Einfluss digitaler Technologie auf die gesundheitliche Entwick- lung der Kinder zu untersuchen. Ebenso ist die Rolle zu prüfen, die Bildung spielen kann, um eine förderliche Umgebung für eine gesunde Entwicklung in der Kindheit aufzubauen. 2. Es ist eine EU-weite Kampagne ins Leben zu rufen, die Eltern, Schulen und Lehrer darüber informiert, wie Bildschirm-Technologie die kognitive und emotionale Entwicklung von Kindern beeinflusst. 3. Eltern, Lehrer und Erzieherinnen ist das Recht zuzusichern, dass sie frei zwi- schen verschiedenen pädagogischen Ansätzen wählen können. Diese Ansätze müssen leicht zugänglich und finanzierbar sein. Dazu hat auch eine bild- schirmfreie Option für Kindergärten und Grundschulen zu gehören, so lange die Schüler am Ende der Schulzeit ihre Lernziele erreichen, die als verpflich- tender Bildungskanon vorgeschrieben sind. 4. Es ist ein dauerhafter Dialog mit Stakeholdern einzurichten, inklusive zivilge- sellschaftlichen Organisationen, um eine geeignete Bildungspolitik zu entwer- fen und durchzusetzen. 5. Die Ziele einer Bildungspolitik nach dem Motto: „Entwicklung first - Digita- lisierung second!“ sind so zu entwickeln, dass der Schutz der menschlichen Gesundheit im Mittelpunkt steht, und potenzielle gesundheitliche Risiken für jedes Kind ausgeschlossen werden. Diese Vermeidung von Risiken sollte im Sinne des Vorsorgeprinzips allgemein anerkannt werden, so wie es im Arti- kel 191 des EU-Vertrags geregelt ist. Dr. med. Michaela Glöckler (ELIANT-Präsidentin) 9
„Nichts kann den Menschen mehr stärken, als das Vertrauen, das man ihm entgegenbringt.“ Paul Claudel 10
2. Perspektive: Gehirnreife aus Sicht der Neurobiologie Erziehung zur Medienmündigkeit Die Nutzung digitaler Medien in Kindergarten und Grundschule verhindert die gesunde Entwicklung des Gehirns, führt zu Lernstörungen und zur Sucht. Das stellt die Gehirnforschung fest. Die bereits eingetretenen Schädigungen dokumen- tieren Studien der Bundesregierung, pädagogischer Institutionen und Kranken- kassen. Digitale Medien führen deshalb im Unterricht nicht zu besserem Lernen, sondern schaden. Deshalb sollen Kinder vor dem 16. Lebensjahr nicht mit digita- len Medien lernen. 20 Thesen aus der Hirnforschung begründen diese Feststellung: 1. Je reichhaltiger die Kinderjahre mit Bewegungsaktivitäten gefüllt werden, um so optimaler wirkt sich das auf die Reifung mentaler Funktionen aus. Denn Kinder sind auf vielfältige körperliche Bewegungen angewiesen, um reale Er- fahrungen in Raum und in Zeit im Gehirn zu verankern. Laufen, klettern, purzeln, balanzieren sind und bleiben deswegen die initialen Stimulanzien, ohne die sich Verschaltungen in den motorischen und den nachgeschalteten Hirnregionen nicht normal auszubilden vermögen. 2. Das Gehirn von Homo sapiens ist genetisch nicht darauf eingestellt, mentale Fähigkeiten per Apps implementieren zu können. Stattdessen dient die über die ersten zwei Lebensjahrzehnte andauernde Reifung und zunehmende Dif- ferenzierung der Nervennetze im Kortex dazu, immer feiner werdende Muster von Verschaltungen in kortikalen Rindenfeldern anzulegen – etwa durch schreiben, rechnen, lesen lernen - und daraus neue Gedächtnisinhalte und geistige Leistungen entstehen zu lassen. 3. Wenn Computer und Tablets das Lernen des Grundschulkindes bestimmen, dann erleiden die reifenden Nervennetze in assoziativen Rindenfeldern des Großhirns durch neuronale Überaktivierung eine Notreifung. Damit findet 11
die Vorbahnung von differenzierten Verknüpfungen nicht statt, die zeitlebens eine notwendige Grundlage für das Denken ist. 4. Digitale Medien haben ebenso wie stoffliche Drogen ein Sucht induzierendes Potential. Denn limbische Schaltkreise unterliegen im Gehirn des Kindes ei- ner höchst sensiblen neuronalen Anpassung von Rezeptoren und Neuronen an jegliche Umweltreize sowie an (nicht-)stoffliche Drogen. Sobald sich Kin- der in Tablets und Co verlieben, entsteht ein unauslöschliches Verlangen nach mehr, und eine opioide Sucht verankert sich in dem verfügbaren Schaltkreis des sog. “Belohnungssystems“ (=Reward System). 5. Es ist ein Trugschluss davon auszugehen, das Gehirn von Kindern und Ju- gendlichen könnte den Umgang mit digitalen Medien – aufgrund des mini- malen technischen Aufwandes – unmittelbar von den Erwachsenen überneh- men. Das Denken und sich Erinnern kann dem Gehirn nicht digital einge- impft werden sondern nur durch selbständiges Lernen und durch Gedächt- nisübungen erworben werden. Kurz gesagt: „Lernen ist Erfahrung – alles an- dere ist Information“ (Albert Einstein). 6. Auf einen inhaltlichen Umgang mit den Medien wird sich nach Erkenntniss- tand der Hirnforschung das Gehirn des Kindes auch in den nächsten tausend Jahren nicht vorbereiten lassen. Die natürlicherweise sehr langsame Hirnrei- fung des Menschen untersteht genetischen und epigenetischen Regelmecha- nismen, die wie ein Uhrwerk ineinander greifen und umweltbezogen funktio- nalisiert werden. 7. Das alles wissende Smartphone in der Schultasche entbindet den Schüler au- tomatisch von der Anstrengung, sich das notwendige Schulwissen wirklich in die Rindenfelder des Gehirns einzuprogrammieren. 8. Erst Lerninhalte, die man durch Kopfarbeit aktiv und wiederholt aufnimmt und in Funktionsmodulen des Kortex verankert, hinterlassen ein lebendiges geistiges Konzept, schulen Wachheit und Neugierde, kreatives Denken und Bewusstsein. Nur Wissen schafft Bewusstsein und mehr Wissen erweitert das Bewusstsein. 9. Erst ab der Adoleszenz kann das fortschreitend gereifte Stirnhirn als überge- ordnete Kontrollinstanz mit den im Unterbewusstsein arbeitenden limbi- 12
schen Schaltkreisen annähernd kooperieren. Erst dann kann der Erwachsene eine Sucht bewusst verhindern und sinnbezogen mit Medien umgehen. 10. Das Stirnhirn ist das höchste Gut des Menschen, das im jungen Menschenle- ben durch Nachahmung, Erfahrung und Nachdenken reift. Warum nur glaubt man im digitalen Zeitalter, technische Fortschritte könnten das Stirn- hirn beschleunigt mitnehmen? Kein Bauherr beginnt den Hausbau mit dem Dachstuhl, kein Bauer wird seinen frisch gepflügten Acker mit reifendem Korn bepflanzen, und keine Gesellschaft würde es zulassen, dass bereits Kin- der den Führerschein für das Autofahren machen. 11. Das Stirnhirn managed die Gedächtnisbildung, das vernunftbezogene Den- ken und Handeln, erschafft Kulturen. Die dafür nötigen Bauelemente sind plastische Nervennetze und Neurotransmitter, die das Kind /der Jugendliche handlungsbezogen immer und immer wieder zum Einsatz bringen muß, um zuständige Neuronenverbände zu verknüpfen und leistungsstark zu machen. Es wäre das Aus einer menschlichen Gesellschaft, wenn diese Qualitäten durch die „kognitive Informatik“ ersetzt würden. 12. Aus hirnphysiologischer Sicht bleibt das Leben digitalisierter Kinder zeitle- bens doppelt gefährdet: das sog. „Belohnungssystem“ führt die Regie und das Stirnhirn wird entmündigt. Das heißt, das Stirnhirn unterliegt einer nicht-in- vasiven Lobotomie (das ist die physiologische Durchtrennung der aufsteigen- den Dopaminbahn), die Neurochirurgen im letzten Jahrhundert bei psy- chisch Schwerkranken zur Minderung des Leidens eingesetzt haben. 13. Wenn sich Jugendliche einem hohen Einfluss von Smartphone und Co. aus- setzen, dann wird das Stirnhirn von der menschlichen Raum- und Zeitverar- beitung entkoppelt. Aber was fangen wir in der realen Welt mit den vielen Spezialisten für virtuelle Welten an? 14. Nur dauerhaft trainierte Muskeln vollbringen gute körperliche Leistung. Nur eine größtmögliche Eigenaktivierung des Großhirns vollbringt geistige Leis- tung. Deswegen ist es ratsam, das Gehirn (=brainy) mehr zu benutzen als das „handy“ und „navi“. 15. Nur anhaltendes Training der für psycho-kognitive Fähigkeiten verantwortli- chen Hirnfelder im assoziativen und limbischen Kortex erzeugt antizipatori- sche Fähigkeiten, Wachheit und Mut. Der „digitale Assistent“ entbindet diese 13
Hirnsysteme der Möglichkeit, kreativ zu denken und ein selbstbestimmtes Leben ohne Ängste zu erwerben. 16. Hirnrhythmusstörungen haben sich neuerdings zur Volkskrankheit Nummer Eins ausgewachsen. Denn durch hohen Gebrauch digitaler Medien verlieren hirneigene Oszillatoren und neurochemische Stoffwechselprozesse ihre not- wendige Kommunikationsbasis. 17. Cyberattacke auf Nervennetze: Medien-User setzen in ihrem Gehirn Teile der Steuerzentrale (= Stirnhirn) außer Kraft. Attackiert werden speziell dieje- nigen Subsysteme, die für die Gedächtnisbildung und die kognitiv-emotiona- len Leistungen verantwortlich sind. Das kann zum Verlust der Urteilsfähig- keit führen, ein Angst- und Suchtsyndrom, Burnout und Depression auslö- sen. 18. Lebenslang bleiben psycho-kognitive Funktionen einer raum-zeitlichen Ar- beit der Nervennetze im limbisch-präfrontalen System unterstellt. Erstmals in der Menschheitsgeschichte wird uns durch die Digitalisierung diese für Denkprozesse absolut notwendige neuronale Grundlage streitig gemacht. 19. Auch und gerade aus Sicht der aktuellen Erkenntnisse zu den Leistungsfähig- keiten und den Grenzen des menschlichen Gehirns ist es gesellschaftspolitisch dringend erforderlich, humane Arbeitsplätze neu zu definieren und den neu- ronalen Kapazitäten der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer anzupassen. 20. Biologisch betrachtet ist die ökologische Nische von Homo sapiens ganz kon- kret einer neu entstandenen hirneigenen Konstruktion zu verdanken, dem Stirnhirn. Bewusstes Denken, Planen und Handeln versetzt(e) den Menschen in die allen anderen Lebewesen überlegene Lage, sich auf diesem Planeten eine neue bis dahin in der Tierwelt nicht vorhandene eigene Welt in Raum und in Zeit zu erschaffen und sich in ihr einzurichten, Kulturen zu entwi- ckeln und Traditionen zu pflegen. Eben dies macht uns die digitale Revoluti- on streitig! Prof. Dr. Gertraud Teuchert-Noodt (Bündnis für humane Bildung) 14
3. Perspektive: Schule ohne digitale Überwachung Humaner Einsatz von IT in der Bildung Digital-Agenda, Digitalgipfel, Digitalpakte, Smart City und Smart School, Deutschland ist im Digitalfieber. So fordern auch die Kultus- und Schulminister/ innen im „Digitalpakt Schule“, dass alle Schulen und Lehrkräfte – unabhängig vom Alter der Schülerinnen und Schüler, unabhängig von der Schulform und un- abhängig von den konkreten Fachinhalten – digitale Geräte und Techniken einset- zen sollen. Derart undifferenziert ist Medientechnik weder fachlich noch pädago- gisch zu begründen. Statt einem demokratischen und humanistischen Bildungsverständnis, bei dem das Individuum und das gemeinsame Lernen im Mittelpunkt stehen, definie- ren Bundesregierung und IT-Industrie mit „Digitalpakt#D“ und „Digitalpakt Schule“ eine zunehmend vollautomatisierte, digital gesteuerte „Lernfabrik 4.0“. Unterricht im Klassenverband findet nicht mehr statt. Kinder sitzen mit Kopfhö- rer vor Monitoren an Lernstationen und werden durch Computerprogramme und Sprachsysteme automatisiert beschult. Lehrkräfte werden zu Lernbegleitern und Sozialcoaches degradiert. Diese Konzepte kommen nicht aus der Pädagogik, sondern aus der Kybernetik und dem Behaviorismus. In Verbindung mit Methoden des Total Quality Ma- nagements (TQM) und der empirischen Bildungsforschung wird Lernen zu ei- nem mess- und steuerbaren Prozess umgedeutet. Dabei wird das Pferd von hinten aufgezäumt. Denn Bildung ist immer und notwendig an Personen und an ein le- bendiges Bewusstsein gebunden, nicht an Medien(technik). Lernen ist ein indivi- dueller und sozialer Prozess, der sich weder technisieren noch digitalisieren lässt, wenn darunter mehr verstanden wird als automatisiert abprüfbare „Kompeten- zen“. Die Bildungspolitik muss sich daher von der einseitigen Fixierung auf Digital- technik als vermeintliche Heilslehre lösen und sich wieder den Menschen und ihren Lern- und Bildungsprozessen mit allen Sinnen und allen Medien zuwenden. Bildungsauftrag und Erziehungsziel von Schulen sind selbstbestimmte Persönlich- keiten, die durch ihr Reflexionsvermögen und kritische Urteilsfähigkeit gesell- schaftliche Entwicklungen verantwortlich mitgestalten können, damit auch die kommenden Generationen eine humane und demokratische Zukunft haben. 15
Dazu hat das Bündnis für humane Bildung für das Projekt „aufwach(s)en mit digitalen Medien“ die folgenden Positionen formuliert. Autonomie des Menschen vs. autonome Systeme Kommen neue Technologien auf den Markt und erschließen sich dadurch neue Geschäftsfelder, profitieren zunächst die Rücksichtslosen, bevor rechtliche und so- ziale Strukturen greifen. Das galt für den Manchesterkapitalismus, das gilt heute für den Digitalkapitalismus aus dem Silicon Valley. Dabei ist es nicht „die Digita- lisierung“, die Geschäftsfelder sucht und sich ausbreitet. Es sind ganz konkrete Konzerne wie Apple, Google oder Microsoft und Dienstleister wie die Telekom, die ihre Produkte und Dienstleistungen verkaufen wollen und dafür Digitaltech- nik in die Schulen drückt. Das galt für die PCs in den 1980er Jahre, das galt für die Laptops in den 1990ern, das gilt heute für Tablets und Smartphones. Unter- stützt werden sie dabei von Wirtschaftsverbänden und IT-Lobbygruppen wie Bit- Kom, die immer mehr Digitaltechnik an Schulen sowie Informatik und Wirt- schaft als Fächer fordern. In Frage steht daher (wieder einmal), wer über Medien- technik und Lehrinhalte an öffentlichen Schulen bestimmt. In Frage steht (wieder einmal), ob Schulen allgemeinbildende Schulen bleiben oder eine Vorstufe der (Berufs-)Ausbildung werden. In Frage steht nicht zuletzt, ob und ggf. wie sich Märkte für digitale Angebote sozialverträglich und zum Nutzen der Menschen (statt der IT-Konzerne) umformen lassen und wie diese notwendige Regulierung des Web zu gestalten ist. Dafür sind hier erste Thesen und Alternativen formuliert, die zeigen, wie sich Netztechnologien zum Nutzen und Wohl der Allgemeinheit einsetzen lassen. Zehn Thesen und Forderungen für Schulen ohne Überwachung 1. Die Daten-Ökonomie etabliert eine Überwachungsstruktur Daten-Ökonomie und digitaler Überwachungskapitalismus (Zuboff 2018) aus dem Silicon Valley bestimmen heute das Web. Sie basieren auf immer mehr perso- nenbezogen Daten jedes Einzelnen. Mobile Geräte und Kameras oder Sensoren im privaten wie im öffentlichen Raum (Internet of Things, IoT) ermöglichen es, den Menschen mit seinem Verhalten nahezu vollständig aufzuzeichnen und auszu- werten. Er wird zum unfreiwilligen Datenspender für Big Data und die Daten- analyse weniger IT-Monopole. In Schulen funktioniert das über Tablets, Smart- phones, Netzdienste und die (Bundes-)Schulcloud. 16
2. Bewegungs-, Verhaltens- und Persönlichkeitsprofile als Produkt Der permanente Rückkanal für personenbezogene Daten etabliert immer umfang- reichere Mess- und Kontrollstrukturen in allen Lebensbereichen. Daraus entste- hen immer exaktere Bewegungs-, Verhaltens- und Persönlichkeitsprofile. Diese Profile ermöglichen es, das Nutzerverhalten zu prognostizieren und Nutzer – mit persuasiven Technologien* der Werbe-Psychologie – in ihrem Verhalten zu beein- flussen. In Schulen ist das Instrument dafür Learning Analytics, das Aufzeichnen und Auswerten des Arbeitens am Smartphone, Tablet, Laptop oder PC von Schü- ler/innen. 3. Rechtsnormen für das Web statt rechtsfreier Raum Freie, demokratische und soziale Gesellschaften bleiben nur dann freie, demokra- tische und soziale Gemeinschaften, wenn sie andere IT- und Netzkonzepte entwi- ckeln, anstatt neoliberale und marktradikale Strukturen zu übernehmen. Auch In- frastruktur- und Kommunikationssysteme unterliegen in Rechtsstaaten dem gel- tenden Recht, dass sich für Netzanwendungen erst entwickeln muss. Mit dem Netzwerkdurchsetzungsgesetz, der europaweit gültigen Datenschutzgrundverord- nung (DSGVO) und dem europäischen Urheberrecht sind erste Grundpfeiler ein- geschlagen, um das vermeintlich „rechtsfreie“ Internet und Web zu zivilisieren. Für Schulen und Bildungseinrichtungen mit z.T. minderjährigen Schutzbefohle- nen (das sind Schülerinnen und Schüler juristisch) sind besonders strenge Regeln festzulegen und einzuhalten. 4. Transparenz der Algorithmen statt Transparenz der Schüler/innen. Statt permanenter Datenmaximierung nach der Logik der IT-Konzerne müssen Datenschutz, Datenvermeidung und Datenreduktion zu den obersten Geboten der neuen Datenwirtschaft werden. Eine zentrale Rechtsgrundlage muss die ver- pflichtende und vollständige Transparenz der eingesetzten Algorithmen werden. (Gigerenzer 2018) Dazu zählen als weitere Prämissen Datensparsamkeit, Dezen- tralisierung der technischen Infrastruktur (statt Zentralisierung in Server-Farmen), freier Zugriff der Nutzer auf ihre und generelle Löschpflicht für alle nicht (mehr) benötigten Daten. 5. Datensparsamkeit und Datenhoheit bei den Nutzern Personenbezogene Daten dürfen nur mit ausdrücklicher Genehmigung der Nut- zer genutzt und kommerzialisiert werden. Die Nutzer müssen an den mit diesen Daten generierten Umsätzen beteiligt werden. Daten schutzbefohlener Minder- 17
jähriger (Kinder, Jugendliche) dürfen weder für die Profilierung noch zur Kom- merzialisierung genutzt werden. Gleiches gilt für Gesundheitsdaten, die aus- schließlich für wissenschaftliche Zwecke in klar definierten Umgebungen und für konkrete Forschungsfragen genutzt werden dürfen. 6. Digitaltechnik an Schulen nur lokal und ohne Rückkanal ins Netz Digitaltechnik in Schulen wird nur lokal (Intranet, Edge Computing) und nur zur Unterstützung der Lehrenden beim Unterrichten in den Präsenzlehrphasen bzw. für Lernende bei Gruppenarbeiten und/oder in Selbstlernphasen eingesetzt. Dabei werden weder Schülerdaten gesammelt noch werden Lern- oder Persönlich- keitsprofile erstellt. Keine Daten gehen ins Netz. 7. IT neu denken, als Kinder- und Bürgerschutz Wenn wir das Web weiter nutzen wollen, müssen wir IT neu denken, vor allem an Bildungseinrichtungen mit Kindern und Jugendlichen. Denn aus dem Verspre- chen eines freien Netzes und hierarchiefreier Kommunikation ist ein Überwa- chungs- und Konsuminstrument zum Nutzen weniger IT-Konzerne und staatli- cher Überwachungsorgane geworden. Das kommerzielle Netz wird von Fake News, Spam und Gewalt dominiert. Die Utopie eines unreguliertes Netzes in ei- gener Verantwortung der Nutzer hat sich als nicht tragfähig erwiesen. Arbeiten wir an einer tragfähigen Alternative auf rechtsstaatlicher Basis. 8. Argument und Diskurs statt Datengläubigkeit Eine freie und reflektierende Gesellschaft weiß, dass Daten immer nur der Aus- gangspunkt und die Grundlage für Diskussionen und Entscheidungen sein kön- nen, alleine, ohne Kontext und Vorverständnis, nicht aussagekräftig sind. Daher muss die Daten- wie die Digitalgläubigkeit aufgebrochen, der interpersonale Dis- kurs und die Kontoverse wieder in ihr Entscheidungsrecht eingesetzt werden. Denn wer datengläubig Maschinen entscheiden lässt, was Menschen tun oder ler- nen oder wünschen sollen, zerstört die Autonomie des Menschen und seine Handlungsfreiheit zugunsten eines algorithmisch berechneten Regimes autoritärer technischer Systeme und technischer Willkür. 9. Autonomie des Menschen statt autonome Systeme Technologische Systeme zur automatisierten (algorithmisch berechneten) Verhal- tensmanipulation verstoßen gegen die Würde des Menschen, seine Grundrechte 18
und Selbstbestimmung. Sie sind in demokratischen und humanen Rechtsstaaten untersagt. 10. Elektrosmog durch WLAN Die Gesundheitsschädlichkeit von Mikrowellenstrahlung (WLAN) ist durch drei große Übersichtsstudien belegt. Im Februar 2018 erschien der Review „Biologi- sche und pathologische Wirkungen der Strahlung von 2,45 GHz auf Zellen, Ko- gnition und Verhalten" von Isabel Wilke. Diese bisher größte Überblickstudie zu WLAN dokumentiert mehr als 100 Studien, die die Gesundheitsschädlichkeit der Trägerfrequenz 2,45 GHz und ihrer gepulsten Variante WLAN untermauern. Eine Studie mit fast 700 Jugendlichen aus der Schweiz ergab, dass die kumulative Hirn-HF-EMF-Exposition1 durch Mobiltelefone über ein Jahr hinweg einen ne- gativen Einfluss auf die Entwicklung der figuralen Gedächtnisleistung bei Jugend- lichen haben kann. Selbst die Telekom warnt vor der Strahlenbelastung durch ihre Router: "Funksignale: Die integrierten Antennen Ihres Speedport senden und empfangen Funksignale bspw. für die Bereitstellung Ihres WLAN. Vermeiden Sie das Aufstellen Ihres Speedport in unmittelbarer Nähe zu Schlaf-, Kinder- und Aufenthaltsräumen, um die Belastung durch elektromagnetische Felder so gering wie möglich zu halten." Das sollte auch für Klassenzimmer gelten. Da es mit ka- belgebundenem Netzzugang Alternativen gibt, sollte man auf WLAN in Schulen verzichten. Prof. Dr. Ralf Lankau (Bündnis für humane Bildung) 19
"Nicht alles, was zählt, ist zählbar, und nicht alles, was zählbar ist, zählt." Albert Einstein 20
4. Perspektive: Gesellschaftliche Dimensionen Humanismus vs. Data-Ismus Viele reden von Digitalisierung und sogenannter „Künstlicher Intelligenz“ (sKI) als entscheidenden Zukunftsfaktoren. Nur wenige wissen, was sich konkret an technischen Systemen dahinter verbirgt. Nur selten werden die wirtschaftlichen Interessen klar benannt und warum Digitaltechnik und Netzdienste flächende- ckend installiert werden sollen. Das Ziel ist, Nutzerdaten zu sammeln und auszu- werten. Selten werden die Konsequenzen klar ausgesprochen, die diese Systeme für jeden Einzelnen haben (können): kleinteilige Verhaltenskontrolle und, per Smartphone, Web und App, Ökonomisierung auch des Privaten. Dabei sind die Fakten bekannt: Die fünf wertvollsten Unternehmen der Welt – die Big Five des Web: Alphabet/Google, Amazon, Apple, Facebook und Microsoft – sind so wertvoll nur durch Nutzerdaten und das Versprechen, noch mehr Nutzerdaten sammeln und auswerten zu können. Die Werkzeuge dafür sind Big Data und die sog. „Künstliche Intelligenz“ (sKI). Diese „künstlichen Intelli- genzen“ dienen, wie die Kybernetik als Mess- und Regelungstechnik, vor allem zur Automatisierung von Prozessen und ist im Wesentlichen eine automatisierte Datenverarbeitung. Im Netz dienen automatisierte Methoden dazu, (Verhaltens-)Muster zu erken- nen und z.B. menschliches Verhalten zu prognostizieren. Aber es sind und bleiben (z.T. sehr komplexe) Rechenmodelle. Die Microsoft-Deutschland-Chefin Sabine Bendiek formuliert es für die FAZ so: "Eine KI kann viele Dinge ganz toll, aber letztlich rechnet sie auf Basis von großen Datenmengen." (Armbruster 2019) Gleichwohl sind die zu erwartenden Folgen der „Digitalisierung aller Lebens- bereiche“ gar nicht zu überschätzen. Alles wird verdatet, in Big-Data-Rechennet- zen gesammelt und mit Methoden des Data Analytics ausgewertet, um mit Hilfe dieser Daten und Muster das Verhalten der Menschen zu steuern. Der Einzelne wird zum Datensatz. Je früher Daten von Menschen gesammelt werden können, desto besser. Daher sind KiTas und Schulen so wichtig für die Datensammler. Kinder und Jugendliche sind begeisterungsfähig, nutzen neue Techniken problemlos und un- reflektiert und haben noch lange Konsumbiografien. Die Gretchen-Frage der IT heißt daher schlicht: Wie hältst Du es mit den Daten? Für Nutzer/innen lautet die 21
Frage schlicht: Bleibt der Mensch als Individuum, Persönlichkeit und autonomes Subjekt das Ideal freier Gesellschaften oder wird er zum Datenlieferanten eines zu perfektionierenden Datenverarbeitungssystems, wie es die Daten-Ökonomie und Verfechter des Data-Ismus (Harari 2017) verlangen? Für Dataisten ist klar: „Menschen sind lediglich Instrumente, um das Internet der Dinge zu schaffen, das sich letztlich vom Planeten Erde aus auf die gesamte Galaxie und sogar das ge- samte Universum ausbreiten könnte. Dieses kosmische Datenverarbeitungssystem wäre dann wie Gott. Es wird überall sein und alles kontrollieren, und die Men- schen sind dazu verdammt, darin aufzugehen." (Harari, 2017, 515) Deutschland und Europa hingegen haben dabei die Wahl. Sie können demo- kratische und soziale Gesellschaften bleiben oder sich den Bedingungen der Da- ten-Ökonomie unterordnen. Zwei Systeme stehen zur Wahl: ‒ Das US-amerikanische System des digitalen Überwachungskapitalismus (Zuboff, 2018) aus dem Silicon Valley steuert die Nutzer mit Techniken aus der Werbepsychologie („persuasive technolgies“), um die Umsätze der Big Five der IT zu optimieren. Die Parameter dieser Daten-Ökonomie: neolibe- ral, marktradikal und a-sozial, da die Nutzer/innen an ihren Bildschirmen und Displays sozial isoliert werden (Twenge 2016). Das Ziel ist die Maximie- rung der Nutzerzeiten, in der Werbung geschaltet und verkauft werden kann. ‒ Das zweite System ist das staatstotalitäre chinesische Überwachungsnetz. Alle Bürger werden komplett überwacht, der Staat hat Zugriff auf alle privaten Geräte und hat ein Sozialpunktesystem (Citizen Scoring) eingeführt. Er- wünschtes Verhalten wird belohnt, unerwünschtes Handeln sanktioniert. Ab- hängig vom Punktestand bekommt man besser oder schlechter bezahlte Ar- beit, gute, schlechte oder gar keine Schul- und Studienplätze für die Kinder usw. Selbst die medizinische Betreuung wird nach Punktestand gewährt oder verweigert. Da beide Optionen – sowohl der neoliberal und martkradikale Valley-Kapitalis- mus wie der chinesische Staatstotalitarismus – keine Option sind, müssen Deutschland und Europa einen dritten Weg gehen. Der bleibt nicht stehen bei zusätzlichen Datenschutzverordnungen und vermeintlichen Sicherungsoptionen, wie es die IT-Wirtschaft propagiert, sondern stellt die Datensammelwut generell 22
in Frage. Datenreduktion und -minimierung muss das Ziel sein, nicht Datenma- ximierung. Konsequenz im Bildungskontext: Schülerdaten dürfen z.B. gar nicht gespei- chert und ausgewertet werden, wie in den USA schon heute üblich. Empirie, Sta- tistik und Mustererkennung als Basis kybernetischer Modelle der sKI können und dürfen generell nur der Ausgangspunkt für den Diskurs sein, nicht Automatis- men. Der demokratische und interpersonale Diskurs ist die Basis für Entschei- dungen, es sind nicht die Daten. Dafür gilt es im „Zeitalter von Überwachungska- pitalismus“ und Daten-Ökonomie einzutreten. Daher schreibt Spiekermann 2018: "Jeder, der mit KI und Daten gearbeitet hat, weiß, dass die Daten nicht voll- ständig, dass sie oft falsch, dass sie selektiv sind und dass sie über Kontex- te hinweg verbunden und verfremdet werden. Künstliche Intelligenzen ma- chen die absurdesten Klassifikationsfehler. Wenn man mit diesen Fehlern weiterrechnet, entsteht noch mehr Unsinn." Prof. Dr. Ralf Lankau (Bündnis für humane Bildung) Literatur Armbruster, Alexander (2019) Nicht jeder muss ein Informatiker sein, Interview mit Mi- crosoft-Deutschland-Chefin Sabine Bendiek, FAZ v. 01.04.2019; https://www.faz.net/ak- tuell/wirtschaft/diginomics/microsoft-deutschland-chefin-sabine-bendiek-im-inter- view-16117321.html (06.04.2019) Fogg, B.J. (2003) Persuasive Technology: Using Computers to Change What We Think and Do. San Francisco: Morgan Kaufmann. Gigerenzer, Gerd; Rebitschek, Felix G.; Wagner, Gert G. (2018) Eine vermessene Gesell- schaft braucht Transparenz, in: Wirtschaftsdienst 2018/12, S. 860-868; DOI: 10.1007/ s10273-018-2378-4 Harari, Yuval Noah (2017) Homo Deus, München: C.H. Beck Lankau, Ralf (201 7) Kein Mensch lernt digital. Weinheim: Beltz Spiekermann, Sarah (2018) Big Data Illusion, FAZ v. 25.4.2018, S. 13; . http://www.faz.net/ aktuell/feuilleton/debatten/was-die-konzerne-mit-unsere-daten-machen- 15558098.html (06.04.2019) Twenge, Jean (2016) How Smartphones destroyed a Generation Zuboff, Shoshana (2018) Das Zeitalter des Überwachungskapitalismus, Frankfurt: Cam- pus 23
Weiterführende Links Bündnis für humane Bildung: aufwach-s-en.de Diagnose Funk: diagnose-funk.de Diagnose Media: diagnose-media.de Eliant: https://eliant.eu/home futur iii – Digitaltechnik zwischen Freiheitsversprechen und Totalüberwachung, futur-iii.de Gesellschaft für Bildung und Wissen e.V.: http://bildung-wissen.eu Hochschule Offenburg: hs-offenburg.de Stiftung "Kind und Jugend": https://www.stiftung-kind-und-jugend.de/startseite/ Ergänzende Literatur Bleckmann, Paula; Lankau, Ralf (2019) Digitale Medien und Unterricht. Eine Kontroverse, Weinheim: Beltz Bleckmann, Paula; Leipner, Ingo (2018) Heute mal bildschirmfrei! Böhme, Gottfried (2020) Der gesteuerte Mensch? Digitale Bildung – eine Kritik Lankau, Ralf (2017) Kein Mensch lernt digital. Weinheim: Beltz Lembke, Gerald; Leipner, Ingo (2015) Die Lüge der digitalen Bildung. Warum unsere Kin- der das Lernen verlernen Münch, Richard (2018) Der bildungsindustrielle Komplex. Schule und Unterricht im Wett- bewerbsstaat, Weinheim, Beltz-Juvena, 2018 O‘Neil, Cathy (2016) Angriff der Algorithmen, München: Hanser Spitzer, Manfred (2012) Digitale Demenz. Wie wir uns und unsere Kinder um den Verstand bringen Spitzer, Manfred (2015) Cyberkrank. Wie das digitalisierte Leben unsere Gesundheit rui- niert Spitzer, Manfred (2019) Smartphone-Epidemie Türcke, Christoph (2016) Lehrerdämmerung. Was die neue Lernkultur in den Schulen an- richtet Türcke, Christoph (2019) Digitale Gefolgschaft. Auf dem Weg in eine neue Stammesge- sellschaft Zierer, Klaus; Kahlert, Joachim; Burchardt, Matthias (Hrsg.) (2017) Die pädagogische Mit- te. Plädoyers für Vernunft und Augenmaß in der Bildung Zuboff, Shoshana (2018) Das Zeitalter des Überwachungskapitalismus Zuboff, Shoshana (1988) In the Age of the Smart Machine 24
Bündnis für HUMANE BILDUNG
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