Das Konzept Citizen Science - ein Ansatz für die Sachunterrichtsdi-daktik

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Svantje Schumann & Pascal Favre

Das Konzept Citizen Science - ein Ansatz für die Sachunterrichtsdi-
daktik

Zusammenfassung: Die Beteiligung von Laien an der Forschung hat eine lange Tradition. Im
Beitrag werden Hintergründe und Definitionen des modernen Konzepts 'Citizen Science' erläu-
tert. Eine kurze Analyse von Zielsetzungen weist auf die Existenz eines Kontinuums mit unter-
schiedlich gewichteten Begründungsanteilen hin. An den beiden entgegengesetzten Polen fin-
den sich der erfahrungsbasierte Ansatz und der datenbasierte Modellierungsansatz. Zwei aus-
gewählte Projekte werden exemplarisch auf die für sie besonders charakteristischen und für
Bildung ggf. relevanten Elemente untersucht. Diese Analyse dient als Grundlage für Überle-
gungen, wie Wissenschaft auf der Ebene der Primarstufe vermittelt und der Ansatz Citizen
Science ggf. nutzbar gemacht werden kann. Es gibt Hinweise darauf, dass auf Wahrnehmung
und Sammeln basierende Ansätze Erschließungsprozesse und Autonomiebildung unterstüt-
zen.
Schlüsselworte: Citizen Science-Projekte, erfahrungsbasierter Ansatz, Primarstufen- und
Sachunterrichtsdidaktik

Citizen Science - a potential approach to teaching (elementary) science
Abstract: Amateurs and non-scientists have long been involved in scientific research. Techno-
logical progress has opened new perspectives. The article outlines the background of and de-
fines 'citizen science'. Regarding the aims of existing projects our analysis has revealed the
existence of a continuum of differently-weighted rationales, with the experiential approach and
a data-based modelling approach at opposite ends of the spectrum. We further analysed two
Citizen Science projects in terms of characteristic elements that may be of educational rele-
vance in order to explore how science can be taught at primary school level and what, if any,
contribution citizen science may be able to make. Our analysis indeed found evidence that in-
terpretive learning and development of psychosocial autonomy in young children is supported
by a primary education focused on perception and on enquiry-based data collection supports.
Keywords: Citizen science projects, experiential teaching methods, primary school didactics,
teaching science subjects

1. Citizen Science: Hintergründe, Definitionen und Ansätze
Citizen Science, verstanden als die Beteiligung von Laien an Forschungsprojekten, hat eine
lange Tradition, der Begriff selbst setzte sich jedoch erst in den 1990er Jahren durch (Cohn,
2008). Der historische Hintergrund von Citizen Science zeigt sich im Ausdruck des Bürger-
wissenschaftlers – so nannte man Forscherpersönlichkeiten wie bspw. Gregor Mendel, der
als Augustinermönch ohne die Unterstützung einer Universität in den 1850er Jahren Kreu-
zungsexperimente im Klostergarten durchführte und die Grundregeln der Vererbung ent-
deckte.
   Die Europäische Umweltagentur EEA definiert Citizen Science als „Organized research in
which members of the public – who may or may not be trained in science – gather or analyze
data“ (Bonney & Dickinson, 2012). Das Sammeln und die Analyse von Daten werden auch in
anderen Definitionen als wesentliche Elemente des Konzepts angesehen. Die Ausgestaltung
reicht also von der reinen Datenerhebung bis hin zum Einbezug von Bürgerinnen und Bür-

                                             1
gern in die Auswertung von Daten. Dabei betonen traditionelle Ansätze vor allem Citizen
Science-Projekte im Bereich Tiere, Pflanzen oder Umwelt (Cohn, 2008). Aktuell wird ver-
sucht, auch naturwissenschaftliches Experimentieren und laborwissenschaftliche Arbeitswei-
sen verstärkt zum Gegenstand von Citizen Science-Projekten zu machen. Dabei spielt die
digitalisierte Datenerhebung, -eingabe und -verarbeitung eine große Rolle. U. a. wird dafür
gezielt Software entwickelt, die gratis zur Verfügung gestellt und bspw. mit einem Smartpho-
ne verwendet wird (vgl. CyberTracker1). Spezifische Geräte werden zudem immer einfacher
zugänglich und können oft vergleichsweise günstig angeschafft werden (bspw. IR-
Spektrometer, Mikroskope, Tomographen); viele der gesammelten Daten sind zudem mittels
Internet problemlos und kostenfrei einsehbar (bspw. Karten und Luftbilder).
   Die Anzahl der aktuell existierenden Citizen Science-Projekte ist nicht bekannt; allein auf
Plattformen wie der amerikanischen Website Citizen Science2 finden sich bereits über 100
Projekte, auf der angelsächsischen Plattform zooniverse.org3 ebenso. Der Verein GLOBE
Schweiz4 weist auf seiner Homepage auf über 50 Themen hin.

2. Zielsetzungen, Bedeutungszuweisungen, Begründungen und Ansprüche von
    Citizen Science- Projekten5
Die Sondierung der genannten Zielsetzungen von Citizen Science-Projekten weist auf die
Existenz eines Kontinuums mit unterschiedlich gewichteten Begründungsanteilen hin. An
den beiden entgegengesetzten Polen finden sich zwei dominante Ansätze:
    a) Erfahrungsbasierter Ansatz: Die Bedeutung des Sammelns von Erfahrungen, insbe-
sondere in Form einer Bildung durch mit Sinnen erlebbarer Erfahrung, wird
naheliegenderweise insbesondere von Anbietern erfahrungsbasierter Projekte betont. Sie
weisen insbesondere hin auf die Bedeutung der Erkundung der unmittelbaren Umgebung
sowie auf durch Wahrnehmung mittels Sinnesorganen beruhende Erlebnisse, vor allem die
Beobachtung. So zielt bspw. das Projekt Jahreszeiten von GLOBE explizit auf Beobachtun-
gen in unmittelbarer Umgebung ab: „Welche Pflanzen aus dem GLOBE-Angebot wachsen in
der Schulhausumgebung, und welche Arten können einfach beobachtet werden?“6 Die Wert-
schätzung der sinnlichen Wahrnehmung geht dabei über ihre Anerkennung als wissenschaft-
liche Arbeitsmethode hinaus. Bei GLOBE heißt es dazu: „Das aufmerksame Wahrnehmen
und Beobachten über längere Zeit fördert den Sinn für die einzigartige Schönheit der Natur
und weckt das Interesse und Verständnis für jahreszeitliche Veränderungen, Prozesse und
Zusammenhänge. Dabei wird naturwissenschaftliches Arbeiten in der Natur erlernt und ge-
übt.“ Es wird also die These aufgestellt, dass Beobachtung und Wahrnehmung in besonde-
rem Maße dafür geeignet sind, menschlicher Neugier Nahrung zu geben und echtes Interes-
se zu wecken.
    b) Datenbasierter Modellierungsansatz: Dieser findet sich vor allem in Citizen Science-
Projekten mit Schwerpunkt auf Datenanalyse. Zu nennen wären hier u. a. die Projekte
Seti@home,7 Stardust@home8 und der in Deutschland eingetragene Verein Rechenkraft.net
e.V..9 Bei diesen Projekten wird auf privaten Computern Software installiert, um deren unge-

1
  http://cybertracker.org, eingesehen am 01.03.2014
2
  http://www.scientificamerican.com/citizen-science, eingesehen am 01.03.2014
3
  https://www.zooniverse.org/, eingesehen am 01.03.2014
4
  http://www.globe-swiss.ch/de/Uber_GLOBE/Ziele/, eingesehen am 01.03.2014
5
  Bezüglich der Ziele, Wirksamkeitsbehauptungen bzw. der Wirksamkeitsansprüche der existierenden Ansätze im
Citizen Science-Bereich liegen bisher kaum empirische Untersuchungen vor
6
  www.globe-swiss.ch/de/Angebote/GLOBE_Jahreszeiten/, eingesehen am 01.03.2014
7
  http://setiathome.berkeley.edu/, eingesehen am 01.03.2014
8
  http://stardustathome.ssl.berkeley.edu/, eingesehen am 01.03.2014
9
  http://www.rechenkraft.net/, eingesehen am 01.03.2014

                                                     2
nutzte Rechenleistung wissenschaftlichen Berechnungen zur Verfügung zu stellen. Eine wei-
tere moderne Variante sind die im Rahmen der Citizen Science-Entwicklung zunehmend auf
den Markt kommenden Computerspiele. Beispiele sind u. a. das Spiel Citizen Science Ga-
me10, welches sich die Stärkung der Argumentation in Umweltverhaltensfragen zum Ziel
setzt. Mit Hilfe von Computerspielen wie Foldit und EyeWire erhoffen sich Forschende den
Gewinn von maßgebenden wissenschaftlichen Erkenntnissen (bspw. für die Herstellung von
Medikamenten oder zum vertieften Verständnis von physiologischen Prozessen).11
    In Bezug auf das Potential von Labor- und Experimentiertechnik einerseits und von auf
Datenverarbeitung orientierten Citizen Science-Ansätzen andererseits hebt Strasser (2013)
hervor: Ein „citizen (cyber-) science project around the laboratory sciences” sei in der Lage,
“the century-long social and intellectual isolation of the experimental sciences“ zu beenden.
Wobei bisher keinesfalls geklärt ist, ob eine solche Isolation tatsächlich vorliegt und was ggf.
ihre Ursachen sind. Das Zitat von Strasser wirft zudem die Frage auf, welchen Anspruch
solche Citizen Cyberscience-Projekte haben: Dienen sie eher der Wissenschaft, der Wirt-
schaft, der Politik oder der Öffentlichkeit? Handelt es sich vorrangig um Wissenschaft bzw.
um Wissenschaftsvermittlung oder profitieren alle Beteiligten gleichermaßen? Es scheint
unklar zu sein, wo der Mehrwert solcher Projekte liegt bzw. ob eine derartige Begründung
ausreichend ist, um entsprechende Projekte in der Schule oder Öffentlichkeit umzusetzen.
    Neben den die Erfahrung hervorhebenden und den an einem Cyberscience-Ansatz orien-
tierten Citizen Science-Projekten gibt es auch multidimensionale Bedeutungszuweisungen,
welche den Mehrwert solcher Projekte gleichermaßen mehreren Akteuren und deren Sicht-
weisen zuordnen. Silvertown (2009) sieht in einer solchen Sichtweise den eigentlichen An-
stoß für das vermehrte Auftreten von Citizen Science-Projekten: So bedeute der Einbezug
der Öffentlichkeit die Nutzbarmachung kostenloser Arbeitskraft, vielfältiger Fähigkeiten und
großer Rechenleistung. Manche Untersuchungen, bspw. großflächige Umweltuntersuchun-
gen, benötigten außerdem viele Daten, die mithilfe von Citizen Science effizient gesammelt
werden könnten. Gleichzeitig wird Citizen Science als eine Form von Bildungs- und Öffent-
lichkeitsarbeit erachtet und daher vielerorts vom Staat gefördert. Im Papier Citizen Science
Germany12 werden hinsichtlich der Ansprüche und dem Mehrwert von Citizen Science-
Projekten Vorteile für alle Akteure gesehen:
     a) Als nutzbringend für die Wissenschaft wird u.a. hervorgehoben, dass große Daten-
        mengen erhoben, zahlreiche Denkweisen und Blickwinkel erfasst und neue For-
        schungsfragen, -themen und -felder entwickelt werden können. Implizit wird damit der
        Aspekt des Innovationspotentials und Kreativitätspools angesprochen.
     b) Als Gewinn für die Bevölkerung werden Anerkennung ihrer Arbeit, Austausch von
        Wissen und Daten, Entdeckerfreude und das Lernen im Dialog genannt.
     c) Als lohnend für die Wirtschaft werden Technologiemarkt und Erschließung neuer Fel-
        der, Akzentuierung nachhaltiger Themen, Bürger- und Kundennähe und Experten-
        kontakt bezeichnet.
     d) Im Hinblick auf den Nutzen für die Politik wird u.a. auf die Stärkung gesellschaftlicher
        Akzeptanz von Wissenschaft, den Bürgerdialog über Forschungsfragen, die Weiter-
        bildung von Bürgerinnen und Bürgern und den effizienteren wissenschaftlichen Fort-
        schritt hingewiesen.

10
   http://www.gameslearningsociety.org/project_citizen_science.php, eingesehen am 01.03.2014
11
   http://www.spiegel.de/wissenschaft/mensch/3-d-spiel-gamer-klaeren-struktur-eines-virus-enzyms-auf-a-
787069.html, eingesehen am 01.03.2014
12
   http://www.citizen-science-germany.de, eingesehen am 01.03.2014

                                                      3
Eine vieldiskutierte Frage im Bereich Zielsetzung und Bedeutungszuweisung von Citizen
Science- Projekten ist die nach dem wissenschaftlichen Wert. Cohn (2008) gibt auf die Frage
„Can volunteers do real research?” die Antwort, dass interessierte Laien nach einer gründli-
chen Einführung in das jeweilige Projekt verlässliche Daten erheben könnten, wenn die Art
der Erhebung nicht zu komplex sei. Auch für den Citizen Cyberscience-Ansatz wird in An-
spruch genommen, dass er tatsächliche Forschung umsetzt. Spierer (2011) äußert sich dazu
wie folgt: „Citizen cyberscience is a grass-roots movement which challenges the assumption
that only professionals can do science. Given the right tools and incentives, and some online
training, millions of enthusiastic volunteers can make a real difference, contributing to signifi-
cant scientific discoveries.” Gerhard Wolf, Projektleiter von Citizen Science Germany räumt
ein, dass „Wissenschaftler noch skeptisch sind, ob die Qualität der von Helfern generierten
Daten gut genug ist“ (zit. in Haarmann, 2013). Gemäss Peter Finke (ebd.) leisten Bürgerin-
nen und Bürger in vielen Citizen Science-Projekten nur Hilfsdienste, haben aber keinen Ein-
fluss auf Hypothesenbildung oder Zielsetzung der Projekte. Problematisch sei, dass die eh-
renamtliche Tätigkeit mit Kostenlosigkeit gleichgesetzt werde; es würden Forschungskosten
gespart und ehrenamtliches Engagement ausgebeutet. Aus Sicht derjenigen, die ehrenamtli-
ches Engagement einer Vielzahl von Menschen in Anspruch nehmen, wird hingegen nicht
von Ausbeutung, sondern von Crowdsourcing gesprochen und dadurch die Inanspruchnah-
me legitimiert (vgl. Howe, 2006).
    Ziele vieler Projekte sind der Dialog und das Bilden von Netzwerken.13 Allerdings wird
nicht erklärt, worin der Mehrwert der Schaffung eines solchen Netzwerkes gesehen wird.
Eine mögliche Begründung für Netzwerkbildung und Entstehung von Citizen Science-
Communities sieht der Historiker Dominik Mahr (Universität Lübeck) im grundlegenden Be-
dürfnis, an Forschung Anteil zu nehmen. Hubertus Kohle, Kunsthistoriker an der Universität
München und Projektleiter des Citizen Science-Projekts Artigo,14 stellt bezüglich des Verhal-
tens von Menschen gegenüber der Wissenschaft fest: „Die Leute wollen nicht mehr nur rezi-
pieren, sondern mitmachen." Hier deutet sich möglicherweise ein Streben nach Autonomie
bezogen auf Einblick und Mitsprachemöglichkeit im Bereich der Wissenschaft an. Öffentli-
cher Diskussionsbedarf besteht allerdings bei Fragen der Sicherheit und Ethik solcher Pro-
jekte, in denen Laien selbst forschend aktiv werden (bspw., wenn Biohacker mit eigenen La-
borgeräten in Privaträumen biotechnologisch forschen; vgl. Grüling, 2013; Charisius, Karberg
& Friebe, 2013; Apfel, 2012).

   In den Zielsetzungen von Citizen Science-Projekten im Bereich Umweltmonitoring wird
häufig betont, dass das Bewusstsein der Bevölkerung für Belange des Umwelt- und Klima-
schutzes oder allgemein der Nachhaltigkeit gesteigert werden soll.

3. Exemplarische Sichtung von Citizen Science-Projekten
Im Folgenden werden zwei ausgewählte Citizen Science-Projekte exemplarisch auf die für
sie besonders charakteristischen und für Bildung ggf. relevanten Elemente untersucht. Diese
Analyse dient als Grundlage für Überlegungen, wie Wissenschaft auf der Ebene der Primar-
stufe vermittelt und der Ansatz Citizen Science ggf. nutzbar gemacht werden kann.

3.1 GLOBE Jahreszeiten

13
   Vgl. bspw. Citizen Science Germany.pdf, http://www.citizen-science-germany.de: Citizen Science wird als idea-
les Medium zum Dialog zwischen Bürgerinnen und Bürgern und Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern
angesehen.
14
   http://www.artigo.org/, eingesehen am 01.03.2014

                                                       4
Bei dem bereits erwähnten Projekt GLOBE Jahreszeiten handelt es sich um eines von meh-
reren Projekten des Vereins GLOBE Schweiz. Allgemeine Ziele von GLOBE sind:15
     „Das Leisten eines Beitrags zum besseren Verständnis über die Zusammenhänge in
        unserem System Erde (Erde als System, Systemisches Denken);
     Die Förderung einer nächsten Generation global und der Nachhaltigkeit verpflichteter
        Forscherinnen und Forscher
     Die Leistungsverbesserung von Schülerinnen und Schülern im Bereich Erdsystem-
        wissenschaften (Earth System Science), und dies im Rahmen der Lehrpläne und mit
        Schwerpunkt erkundend-erforschendes Arbeiten (Inquiry-based learning)
     Die Förderung des Bewusstseins und der Handlungsmöglichkeiten des/der Einzelnen
        zu Gunsten unserer Umwelt.“
   Das Projekt GLOBE Jahreszeiten richtet sich an Schülerinnen und Schüler aller Schulstu-
fen und beinhaltet die „Erforschung der Wirkung von Jahreszeiten auf Bäume und Sträu-
cher“16 und das „aufmerksame Wahrnehmen und Beobachten“.17 Als wahrnehmbare Phä-
nomene werden bspw. der Blattaustrieb im Frühjahr, die Reifung von Früchten oder die
Herbstverfärbung erhoben. Wesentliche Bezugsdisziplin ist die Phänologie, also die Be-
obachtung der im Jahresverlauf auftretenden Wachstums- und Entwicklungserscheinungen.
Das Resultat stellen die protokollierten Beobachtungen dar.18 Hervorgehoben wird seitens
GLOBE, dass sich phänomenologische Beobachtungen in besonderem Maße für Schulen
eignen, weil sie in unmittelbarer Umgebung stattfinden können, keine besondere Ausstattung
und Kenntnisse nötig sind.19 Die Daten können laut GLOBE u. a. für die Pollendiagnose und
für Frostwarnungen sowie langfristig für das Erkennen der Auswirkungen der Klimaverände-
rung auf die Vegetation genutzt werden.
   Die Beobachtungen werden im sog. PhaenoNet, der Plattform von GLOBE, eingegeben
und auf einer Schweizer Karte visualisiert. Dadurch können die Daten verschiedener Teil-
nehmer miteinander verglichen werden. Das PhaenoNet ist nicht nur für Schulen konzipiert,
sondern steht allen Bürgerinnen und Bürgern offen und somit auch Wissenschaftlern und
Wissenschaftlerinnen. Ihnen werden Beobachtungsanleitungen und Datenblätter zur Verfü-
gung gestellt. Diese beziehen sich auf sechs verschiedene Pflanzenarten: Hasel, Rotbuche,
Bergahorn, Flieder, Schwarzdorn und Buschwindröschen. Ausgefüllt werden muss zunächst
eine Standortbeschreibung mit Angaben zu folgenden Merkmalen: Name des Standorts, ge-
ographische Koordinaten, Höhe über Normal-Null, Umgebung (Stadt, Vorort, ländlich,
Schutzgebiet), Lichtverhältnisse (Beschattungsgrad) und Entfernung zum nächsten Gebäu-
de. Ablauf und didaktische Tipps für Lehrpersonen sind auf der Homepage aufgeführt, da-
runter z.B. Dateien zum Thema Unterrichtsplanung und Zeitbedarf für die Beobachtungen.20
   Anleitungs- und Beobachtungsbögen, die auf der Homepage verfügbar sind, umfassen
u.a. eine Liste von Arten, die von den SchülerInnen beobachtet werden können, steckbriefar-
tige Darstellungen zu den einzelnen Arten des Jahreszeiten-Projekts, Tabellenvorlagen für
die Standortbeschreibung der beobachteten Pflanzen sowie Anleitungsbögen für die Be-

15
   http://www.globe-swiss.ch/de/Uber_GLOBE/Ziele/, eingesehen am 01.03.2014
16
   http://www.globe-swiss.ch/de/Angebote/GLOBE_Jahreszeiten/, eingesehen am 01.03.2014
17
   http://www.globe-swiss.ch/media-global/Downloads/GLOBE_PhaenoNet_Jahreszeiten.pdf, eingesehen am
01.03.2014
18
   http://www.globe-swiss.ch/media-global/Downloads/GLOBE_PhaenoNet_Jahreszeiten.pdf, eingesehen am
01.03.2014
19
   http://www.globe-swiss.ch/media-global/Downloads/GLOBE_PhaenoNet_Jahreszeiten.pdf, eingesehen am
01.03.2014
20
   http://www.globe-swiss.ch/de/Angebote/GLOBE_Jahreszeiten/Mitmachen/Planung/, eingesehen am
01.03.2014

                                                   5
obachtungen an der jeweiligen Pflanze und ihren Teilen. Auch Hinweise, wie sich die Ergeb-
nisse auf PhaenoNet eingeben und darstellen lassen, befinden sich auf der Homepage.
    Das Projekt legt den Schwerpunkt erkennbar auf den als „Bildung durch mit Sinnen erleb-
bare Erfahrung“ bezeichneten Ansatz (s.o.). Das Projekt zielt darauf ab, insbesondere Schü-
lerInnen aller Schulstufen Naturerfahrungen machen zu lassen und ihr Interesse an Natur zu
stärken. Genaue Beobachtung wird angesehen als besonders geeigneter Zugang, Kinder
Forschungspraxis erfahren zu lassen. Den SchülerInnen soll vermittelt werden, dass eine
Beobachtung sehr präzise sein muss, damit sie eine hohe Qualität besitzt und wissenschaft-
lich weiter verwendbar ist. Um die Beobachtung durchführen zu können, muss das jeweils im
Zentrum stehende Phänomen zunächst abgeklärt werden, wie auch das jeweilige Messver-
fahren und den Sinn der festgelegten Konvention.

3.2 OPAL Air Survey
Das Open Air Laboratories Network (OPAL), das 2007 gegründet wurde, hat seinen Sitz in
London und initiiert zahlreiche Citizen Science-Projekte. OPAL beschreibt sich selbst als „an
exciting initiative that is open to anyone with an interest in nature. We aim to create and in-
spire a new generation of nature-lovers by getting people to explore, study, enjoy and protect
their local environment.”21 Das Zusammenführen von Wissenschaftlerinnen und
Wissenschaftlern sowie Öffentlichkeit wird wie folgt begründet: „By bringing scientists, ama-
teur-experts, local interest groups and the public closer together, lasting relationships are
being formed and environmental issues of local and global relevance are being explored.” 22
OPAL setzt sich selbst folgende fünf übergeordnete Ziele:
   „1. A change of lifestyle - a purpose to spend time outside observing and recording the
       world around us OPAL aims to make more than a million people more aware of the
       open spaces and conservation sites around them, and more knowledgable about the
       contribution individuals can make to protect them.
   2. An exciting and innovative educational programme that can be accessed and enjoyed
       by all ages and abilities Through new approaches to learning, people will gain the op-
       portunity to become active participants with the knowledge and confidence to debate
       environmental issues.
   3. A new generation of environmentalists OPAL aims to increase active membership of
       amateur natural history societies, many drawn from under-represented sections of so-
       ciety.
   4. A much greater understanding of the state of the natural environment OPAL wants to
       ensure everybody can participate in projects to monitor the state of the natural envi-
       ronment and its biodiversity. We aim to help some of the most disadvantaged commu-
       nities to identify, quantify and highlight environmentally deprived spaces.
   5. Stronger partnerships between the community, voluntary and statutory sectors Scien-
       tists at nine regional universities, with the help of specialist national centres, will build
       connections with those who have an aspiration or need to improve local environments.
       The portfolio aims to engage with more than 500,000 people to encourage a greater
       sense of ownership of their local environment.”23
   In diesen Zielen spiegelt sich wider, dass OPAL vor allem der Naturentfremdung der
Menschen begegnen möchte, einer Erscheinung, die in der letzten Zeit wieder zunehmend
diskutiert wird (vgl. Louv, 2008). OPAL möchte der heranwachsenden Generation einen star-

21
   http://www.opalexplorenature.org/aboutOPAL, eingesehen am 01.03.2014
22
   http://www.opalexplorenature.org/aboutOPAL, eingesehen am 01.03.2014
23
   http://www.opalexplorenature.org/aboutOPAL, eingesehen am 01.03.2014

                                                    6
ken Naturbezug ermöglichen und sie bei vielfältigen Naturerfahrungen unterstützen. Es wird
davon ausgegangen, dass von einer wertschätzenden, aufmerksamen Naturerfahrung für
alle Menschen unabhängig von Alter, Bildung und Fähigkeiten ein Bildungseffekt ausgeht. Es
sollen langfristige Beziehungen zwischen unterschiedlichen Akteursgruppen aufgebaut wer-
den. Die Vielfalt der an den Projekten beteiligten Menschen und die Bewahrung von vielfälti-
gen, gesunden Lebensräumen passen zum Akronym: Die herausragende Eigenschaft, die
den Schmuckstein Opal so begehrenswert macht, ist das facettenreiche, buntfleckige, schil-
lernde Farbenspiel, das sog. Opalisieren.
    OPAL hat mehrere sog. Surveys ins Leben gerufen, an denen sich die Öffentlichkeit betei-
ligen kann.24 Im Folgenden soll auf das Projekt Air Survey eingegangen werden.25 Von OPAL
wird die Wichtigkeit des Themas und die Initiierung dieses Projekts wie folgt begründet:
„Good air quality is essential for our health and for the wellbeing of our environment. By tak-
ing part in the OPAL air survey you'll help our scientists answer important questions about
local air quality and its impacts across England.” Das Projekt zielt darauf ab, stickstoffbasier-
te Luftverschmutzung zu erfassen, indem zwei Phänomene beobachtet werden:
     a) Das Wachstum von Flechtenarten (Flechte = Symbiose von Pilz und Alge). Flechten
        sind ausgezeichnete Stickstoffindikatoren.
     b) Die Häufigkeit und das Ausmass des Befalls von Bergahorn durch die Pilzart Rhytis-
        ma punctatum (die sog. Teerfleckenkrankheit) tritt bei guter Luftqualität weniger stark
        auf.
    Auf der Homepage des Air Survey-Projekts sind u.a. folgende Materialien abrufbar: ein
sog. Workbook,26 ein Fieldguide27 und ein Treeguide,28 eine interaktive Flechten-
Präsentation,29 Anweisungen zur Online-Einstellung der erhobenen Daten, Informationstexte
und -daten über Flechten (bspw. national pollution maps for nitrogen dioxide and
ammonia),30 bisherige Survey-Resultate31 in Form von Einzel- und Gesamtübersichtkarten
(bspw. der Karte Flechten an Bäumen),32 Activity sheets (Arbeitsblätter für Kinder). Das
Workbook behandelt nacheinander die Themen: What is air pollution?, Why does air pollu-
tion occur?, Bioindicators of air quality, The OPAL Air Survey, Activity 1: Lichens on trees,
dieses mit den Unterkapiteln What are lichens?, What do lichens look like?, Where to find
lichens?, Why lichens?, Further information, Activity 2: Tar spot on sycamore und Results.
Es erklärt auf einfache Weise, wie Luftverschmutzung zustande kommt und warum Flechten
und Pilze als Bioindikatoren fungieren. Der Fieldguide dient als Bestimmungshilfe für Flech-
ten. Die Erklärungen sind weitgehend einfach gehalten und werden durch Zeichnungen und
Fotos ergänzt. Der Fieldguide liefert auch die Anweisungen bezüglich der Erfassung und
Einordnung der Teerfleckenkrankheit am Bergahorn. Der Treeguide hilft, die Bäume, auf
denen Flechten wachsen, sowie den Bergahorn zu bestimmen.
    Auch das Projekt Air Survey hat seinen Schwerpunkt erkennbar auf dem als „Bildung
durch mit Sinnen erlebbare Erfahrung“ bezeichneten Ansatz (vgl. Kap. 2). Die Luftqualität
wird nicht direkt gemessen, sondern es werden wahrnehmbare Phänomene als Indikatoren
für Luftqualität verwendet. Flechten und Pilzbefall wird im Alltag tendenziell weniger Auf-

24
   http://www.opalexplorenature.org/surveys, eingesehen am 01.03.2014
25
   http://www.opalexplorenature.org/Airsurvey, eingesehen am 01.03.2014
26
   http://www.opalexplorenature.org/sites/default/files/7/file/OPAL-Air-Workbook-web-quality.pdf, eingesehen am
01.03.2014
27
   http://www.opalexplorenature.org/sites/default/files/7/file/OPAL-Air-Chart-web.pdf, eingesehen am 01.03.2014
28
   http://www.opalexplorenature.org/sites/default/files/7/file/OPAL-Tree-chart-web.pdf, eingesehen am 01.03.2014
29
   http://www.divulgando.org/ktn/lichens/, eingesehen am 01.03.2014
30
   http://www.opalexplorenature.org/AirPollutionData, eingesehen am 01.03.2014
31
   http://www.opalexplorenature.org/AirSurveyResultsIndex, eingesehen am 01.03.2014
32
   http://www.opalexplorenature.org/LichenResults, eingesehen am 01.03.2014

                                                       7
merksamkeit geschenkt als den besiedelten bzw. befallenen Bäumen selbst. Auch in diesem
Projekt wird versucht, durch die bereitgestellten Unterlagen eine möglichst fehlerfreie und
präzise Beobachtung sicherzustellen.

4. Eignung des Ansatzes Citizen Science für die Wissenschaftsvermittlung auf
    Primarstufenebene
4.1 Aussagen bezüglich des Bildungspotentials der exemplarisch betrachteten Projek-
     te
Allgemein lässt sich sagen, dass beide Projekte von der Prämisse ausgehen, dass Naturer-
fahrung eine grundlegende Bildungsqualität besitzt und eine wichtige Basis für einen späte-
ren, nachhaltigen Umgang mit der Umwelt schaffen kann. Außerdem ist erkennbar, dass
beide Projekte auf aktuelle, politisch relevante Entwicklungen im Naturwissenschaftsbereich
(bspw. Datenmengen-Verarbeitung) und im Umweltbereich eingehen. Die Sich-Bildenden
(an den Projekten teilnehmenden Lehrkräfte, SchülerInnen und weitere Akteure) sollen kein
Wissensmanagement betreiben, sondern exemplarisch an ausgewählten Themen Erschlie-
ßungsprozesse erfahren. Beide Projekte verdeutlichen die Absicht, gegen die vorherrschen-
de Auffassung von einer modernen Wissensgesellschaft anzugehen, dass Bildung vor allem
als Bewältigung von wachsenden Datenmengen zu verstehen sei, und stellen die Bildung als
Transformationsprozess gegenüber. Damit steht nicht länger die Zunahme von Wissen im
Mittelpunkt von Bildungsbestrebungen, sondern ein veränderter Umgang mit Wissen. An die
Stelle einer passiven Wissensaneignung tritt die erfahrungsbasierte Erschließung von Er-
kenntnissen. Der aktuell dominierenden passiven Wissensaneignung soll in beiden Projekten
Erfahrung an die Seite gestellt werden. Damit soll auch einer drohenden Entwertung von
Erfahrung und Erfahrungswissenschaft entgegengewirkt werden. Potential für Bildungspro-
zesse scheinen insbesondere folgende Aspekte zu haben:
   - Die Projekte bauen auf dem i.d.R. sehr feinen Wahrnehmungs- und Differenzierungs-
       vermögen von Kindern dieser Alters- und Entwicklungsstufe auf und fördern dieses
       (bspw. Flechtenarten unterscheiden lernen).
   - Kinder können spüren, wie sie sich zu Experten auf einem Gebiet entwickeln und an
       Persönlichkeit und Erfahrung gewinnen.
   - Kinder können unmittelbar erleben, wie wichtig es ist, genau zu beobachten; Konzent-
       rationsfähigkeit und Verständnis von präziser Arbeitsweise können gestärkt werden.
   - Die Projekte finden in der unmittelbaren Erfahrungswelt der Kinder statt; die Phänome-
       ne sind jederzeit zugänglich.
   - Da die Projekte über einen langen Zeitraum andauern können und weil verschiedene
       Parameter in Beziehung miteinander gesetzt und in ihrem Kontext betrachtet werden,
       bekommen die Kinder eine Vorstellung vom Kreislauf der Natur und entwickeln syste-
       misches Denken.
   - Beobachtung und Bestimmung sind zentrale Bestandteile wissenschaftlicher Theorie-
       bildung.
   - Kinder lernen zu argumentieren
Kritisch hinterfragt werden können folgende Punkte:
   - Bestimmte Angaben und Kriterien sind für SchülerInnen der Primarstufe sehr schwierig
       zu verstehen.
   - Dasselbe gilt für manche Messverfahren, die viel Vorwissen erfordern. Dieses Vorwis-
       sen muss aber zunächst in den Klassen erarbeitet werden.

                                            8
- Wenn tatsächlich alle Kriterien einbezogen werden sollen, erfordert das eine Fülle von
      Beobachtungen und kann eine Überfrachtung und Überforderung für die SchülerInnen
      darstellen.
   - Fraglich ist, ob die Kinder die Daten selbstständig auf den Online-Plattformen eintragen
      können und inwieweit sie zum Vergleich mit anderen Erhebenden bzw. Beobachtenden
      in der Lage sind.
   - Es erscheint fraglich, dass Kinder sich selbstständig einen Überblick über Ablauf, Da-
      tenerhebungsvorgaben und Dateneingabe verschaffen können.
   - Ggf. kann kritisch gefragt werden, ob der Ansatz zu einseitig ausgerichtet ist und bei
      den Kindern Ermüdungserscheinungen hervorruft bzw. ob der Beobachtungszeitrah-
      men (gerade im Fall des GLOBE-Projekts Jahreszeiten) für Kinder eine Überforderung
      darstellt.
   Denkbar wäre es, die Projekte entsprechend den Bedürfnissen und Möglichkeiten der
PrimarstufenschülerInnen zu modifizieren. So könnten die Kinder bspw. Vorschläge zu eige-
nen Beobachtungskriterien machen und eigene Messverfahren vorschlagen. Die Daten
könnten dann allerdings nicht bei PhaenoNet eingegeben werden und wären dementspre-
chend nicht nutzbar für andere. Dafür könnten die Kinder bei dieser modifizierten Vorge-
hensweise das ihnen am Gegenstand interessant Erscheinende in den Mittelpunkt stellen
und sich selbst eine Vorlage erarbeiten; sie müssten sich so nicht einem vorgegebenen
Schema unterordnen. Gleichzeitig könnten sie Erfahrung sammeln, wie präzise Beobach-
tungsvorgaben sein müssen, was relevante Parameter sind und was nicht. Dadurch würden
sie sich wichtige wissenschaftsorientierte Kompetenzen erarbeiten, welche u.a. für eine re-
guläre Teilnahme an derartigen Citizen-Science Projekten vorausgesetzt werden.

4.2 Wissenschaftsvermittlung und Eignung des Ansatzes Citizen Science auf Primar-
     stufenebene
Bei einer ersten Recherche aktuell bestehender Citizen Science-Projekte deutete sich be-
reits an, dass ein Kontinuum zwischen den Polen erfahrungsbasierter Ansatz (traditionell, auf
Erfahrung und Dialog basierend) und datenbasierter Modellierungsansatz (tendenziell analy-
tisch, medienunterstützt, technisch und modellhaft) existiert (vgl. Kap. 2). Grundsätzlich lässt
sich fragen: Ist einer der beiden Ansätze der für die Primarschule geeignetere? Und wie
müsste ein Ansatz im Bereich von Citizen Science grundsätzlich aussehen, um der Alters-
und Entwicklungsstufe von PrimarschülerInnen gerecht zu werden? Welche Form der Wis-
senschaftsvermittlung braucht die Primarstufe?
    Aktuell klaffen die Aussagen stark auseinander bzgl. der Denkprozesse, zu welchen Kin-
der in unterschiedlichen Alters- und Entwicklungsstufen in der Lage sind. Es gibt Denkkollek-
tive, die der Auffassung sind, dass Piaget überholt ist und bereits sehr junge Kinder in der
Lage sind, abstrakt-logisch zu denken (vgl. bspw. Sodian, 2008; Koerber, 2006). Andere
Denkkollektive halten nach wie vor Piagets Theorie für die Treffendste: Bildungsprozesse
von Kindern erfolgen demnach rekonstruktiv sowie stufenweise. Die Stufe des konkret-
logischen Denkens kennzeichnet während einer langen Zeitspanne das kindliche Denken
(vgl. bspw. Scholz, 2005; Fischer, 2005). Die zwischen den beiden Denkkollektiven beste-
hende Widersprüchlichkeit lässt sich am ehesten auf ein Forschungsdesiderat zurückführen:
Es ist nach wie vor nicht genügend geklärt, wie Kinder in verschiedenen Alters- und Entwick-
lungsstufen zu Interpretationen über die Welt kommen und sich Dinge erschließen (Beck,
2001). Das Vorliegen dieses Desiderats erschwert die Beantwortung der Frage nach der
Eignung der beiden Citizen Science-Ansätze für die Primarstufe.

                                               9
Allerdings gibt es starke Hinweise darauf, dass der Naturzugang über Wahrnehmung (vgl.
Schumann, 2009) und Sammeln (vgl. Duncker, 2007) für Kinder von großer Bedeutung ist.
Citizen Science-Ansätze, in denen das Beobachten und Sammeln (im Sinne gezielten Fin-
dens und Bestimmens) eine zentrale Rolle spielen, können die Welt der Wissenschaft und
die des kindlichen Erschließens zur Deckung bringen und dadurch eine Sachunterrichtsdi-
daktik unterstützen, die sich dem Erfahren von Wissenschaftslogik durch Kinder verpflichtet
fühlt: Auf diese Art erfahren Kinder einerseits exemplarisch das Forschen als Prozess. Ande-
rerseits werden ihnen Forschung und Arbeitsmethoden des Forschens nicht als abstraktes
Modell überwiegend kognitiv und/oder metakognitiv vermittelt - sie können sie unmittelbar
erleben. Sachunterricht würde sich dann entsprechend als Wissenschaftsunterricht für Kin-
der darstellen, als eine Wissenschaftspropädeutik, die dazu beiträgt, bei Kindern einen For-
schungshabitus anbahnen zu helfen. Und zwar nicht, indem Kinder darüber informiert wer-
den, wie Wissenschaft gemäß wissenschaftstheoretischer Ableitungen funktioniert, sondern
indem sie selbst forschend tätig werden können.
   Spannend ist, dass sich das Interesse von Kindern am Sammeln vor allem als soziales,
emotionales, selbst erlebtes, häufig in Interaktionen eingebundenes Phänomen darstellt und
nicht als rein rationales Sachinteresse. Studierende der PH FHNW erhoben im Rahmen von
Sachunterrichts-Lehrveranstaltungen von 2010 bis 2011 die Interessensgebiete von acht- bis
zwölfjährigen Kindern. Dabei wurde bspw. folgende Aussage eines Kindes (Mädchen, 9 Jah-
re alt), das Steine und Fossilien sammelt, aufgenommen: „Mir gefallen die Muster, die Ver-
steinerungen. Aber auch die Formen mag ich sehr. Besonders wenn die Steine nass sind,
glänzen einige so schön. Mein Vater hat früher auch Steine gesammelt. Jetzt hat er leider
keine Zeit mehr und muss immer arbeiten. Aber wenn ich eine Versteinerung finde, gehe ich
mit diesem Stein zu ihm und frage ihn, was das für eine Versteinerung ist. Er erzählt mir
dann immer schöne Geschichten dazu. Manchmal nimmt er auch sein großes Buch der Stei-
ne hervor und wir schlagen gemeinsam nach, um was für einen Stein es sich genau han-
delt.“ Diese Äußerung verdeutlicht die Faszination des Kindes für die ästhetische Dimension
des Phänomens, die Bedeutung des interaktiven, dialogischen Prozesses (das Sammeln
und/oder gemeinsame Bestimmen mit dem Vater) und die Ernsthaftigkeit sowie Expertenhaf-
tigkeit des Geschehens („das große Buch der Steine“). Auch in anderen Kinderzitaten zeig-
ten sich Indikatoren für kindliches Interesse, u.a. die Ernsthaftigkeit und gleichzeitige Begeis-
terung der Kinder in der Auseinandersetzung mit dem Gegenstand, ein hohes Verantwor-
tungsbewusstsein und das Gefühl, sich selbst als kompetent zu erleben und als Experte zu
agieren. Auf dieser Basis mit Bezug auf sammelnde Tätigkeiten lassen sich didaktische An-
sätze folgendermaßen ableiten: Kindliche Bildungsprozesse im Bereich des Sammelns sind
durch Rahmenbedingungen begünstigt, die den Kindern die Möglichkeit einer emotionalen
Bezugsfindung geben, Freiwilligkeit ermöglichen, Steuerung von außen minimieren, eigene
Bedeutungszuweisungen bzw. Erklärungen der Kinder in den Vordergrund stellen und auf
einer wertschätzenden, dialogischen Kooperation basieren.

4.3 Hinweise für eine Begünstigung von Erschließungsprozessen und Autonomiebil-
     dung durch auf Wahrnehmung und Sammeln basierende Ansätze
Wenn bei der Frage nach der potentiellen Eignung der genannten Ansätze die Aspekte des
Wahrnehmens sowie des Sammelns hinzugezogen werden, kann folgende Hypothese auf-
gestellt werden: Projekte, die dem Ansatz Bildung durch sinnlich erlebbare Erfahrung ver-
pflichtet sind, haben ein großes Potential im Hinblick auf kindliche Bildungsprozesse. Bei
derartigen Projekten sind es vor allem in der näheren Umgebung wahrnehmbare Phänome-
ne und Sachverhalte, die im Mittelpunkt stehen. Sammeln – als Modus der Auseinanderset-

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zung mit der Sache – vollzieht sich dabei als organischer Prozess, und zwar potentiell in den
Phasen Wahrnehmen, insbesondere Beobachten, Finden, Sich zu eigen machen, Aneignen
(das Sammeln im engeren Sinne) und/oder sich in Beziehung setzen zur Sache und Be-
stimmen. Diese Phasen lassen sich jeweils beschreiben: In Bezug auf die Phase des Beo-
bachtens und Findens bspw. lässt sich feststellen, dass Kinder auf Primarstufenebene in
besonderem Maße zur Differenzierung befähigte Beobachter sind. Viele Phänomene sind
den Kindern noch unbekannt und daher bestimmungsbedürftig. Dadurch werden die Kinder
auf vieles aufmerksam – sie finden überall etwas und sammeln es. Die Phase des Sam-
melns im engeren Sinne beinhaltet, dass die Kinder die gefundenen Sachen um sich haben
und in ihre eigene Existenz integrieren wollen; sie wollen sie sich zu eigen machen. Während
der Phase des Bestimmens – als Rekonstruktionsprozess von besonderer Bedeutung für
den je individuellen Bildungsprozess – treten bei Kindern vor allem Fragen auf, die Indikato-
ren dafür sind, dass die Kinder versuchen, zu Interpretationen über die Phänomene zu ge-
langen. Im Vordergrund stehen dabei Fragen nach der Strukturerkenntnis („Was ist das?“)
und nach der Zuordnung („Was blüht denn da?“) sowie nach der Ausprägung (Fragen nach
dem „Wie“). Durch diese Fragen nach Struktur, Zuordnung und Ausprägung scheint ein In-
Beziehung-Setzen und emotional-ästhetisches Erleben begünstigt zu werden. Beim Vorgang
des Bestimmens wird etwas Unbekanntes, das unmittelbar wahrgenommen wird, in etwas
Bekanntes transformiert. Das Erleben von Bestimmungsprozessen scheint die Autonomiebil-
dung von Kindern stark zu begünstigen. Sammelaktivitäten von Kindern sind oftmals perso-
nenabhängig. Daraus lässt sich schließen, dass das dialogische und wertschätzende Beglei-
ten von Sammlungsprozessen eine wesentliche Anforderung an Lehrkräfte stellt, wenn ent-
sprechende Projekte erfolgreich in Bezug auf Bildungsprozesse sein sollen. Gleichzeitig
scheint es wichtig zu sein, den Kindern aufzuzeigen, dass Erschließungsprozesse nicht nur
etwa Erwachsenen oder speziell Begabten möglich sind.
    Beim Ansatz datenbasierte Modellierungen (vgl. Kap. 2) sind es abstraktere Daten, die
gesammelt und/oder bearbeitet werden. Bei der Sichtung von aktuellen Citizen Science-
Projekten fällt auf, dass sich entsprechende Projekte eher an Jugendliche, Studierende oder
Erwachsene richten, nicht aber an jüngere Kinder und/oder Familien. Die Projekte stellen oft
hohe Anforderungen an das Vorwissen und Können – sie enthalten nur dann Bildungspoten-
tial, wenn ein Verständnis der Inhalte vorhanden ist. Im Zentrum steht nicht das unmittelbare
Wahrnehmen und das Sammeln von Daten sondern das modellhafte Explorieren mit Daten
und somit Fragen der Datenverarbeitung, der Datenordnung und -strukturierung. Insbeson-
dere Projekte, die zum Zwecke der umfangreichen Berechnung oder Datenspeicherung initi-
iert wurden, betreffen nicht das eigentliche Bedeutungserschließen, sondern die Datenver-
waltung. Dies ist auch aufgrund des aktuellen Zeitgeists erklärbar: Immer mehr Daten kön-
nen gespeichert werden. Entsprechend stellt sich verstärkt die Frage „Was macht man mit
den vielen Daten?“ und die Angst entsteht, es könnten wichtige Daten verloren gehen.
Grundsätzlich ergibt sich für das Bildungssystem die Frage, auf welche Weise für Bildungs-
prozesse auf Primarstufenebene die Vermittlung von Daten und der Umgang mit Datenver-
waltung an die Vermittlung von Erschließungskompetenz anschließen sollte.
    Vor dem Hintergrund von Forderungen nach nachhaltigem Kompetenzerwerb von Schüle-
rInnen, Nachwuchsproblemen in (natur-)wissenschaftlichen und technischen Berufen sowie
internationalen Testergebnisberichten von Schulleistungen steht auch im Fall des Citizen-
Science-Ansatzes die Frage im Zentrum, wie auf Primarstufenebene (Natur-)Wissenschaft
vermittelt werden soll und ob bzw. wie dieser Ansatz für die Sachunterrichtsdidaktik genutzt
werden kann. Die Auseinandersetzung mit zwei exemplarischen Citizen Science-Projekten
und die Konfrontation dieser Überlegungen mit Erkenntnissen bezüglich kindlichen Sam-

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melns deuten darauf hin, dass der Citizen Science-Ansatz Bildung durch sinnlich erlebbare
Erfahrung mit Ausrichtung auf den Zugang des Sammelns in besonderem Maße für die Pri-
marstufe geeignet sein könnte. Allein wegen des bei der Recherche feststellbaren Kontinu-
ums an unterschiedlichen Konzepten im durch die beiden Pole (erfahrungsbasierte Naturer-
kundung sowie Modellierung und Umgang mit Daten) gekennzeichneten Feld muss aber
festgehalten werden, dass es notwendig ist, bestehende Citizen Science-Projekte in der
Phase ihrer Umsetzung näher zu untersuchen und im Hinblick auf die thesenhaft aufgestell-
ten Bildungspotentiale und –risiken zu prüfen. In Anbetracht der ansteigenden Zahl der in
Citizen Science-Projekte involvierten Menschen, darunter auch SchülerInnen, sollte dieses in
der Zunahme befindliche Konzept von Forschung nicht weiter vernachlässigt werden.

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                      Frau Schumann

                      ist seit 2013 Dozentin für die Didaktik des Sachunterrichts und ihre
                      Disziplinen an der PH der Fachhochschule Nordwestschweiz.

                      Herr Favre

                      ist seit 2008 Leiter der Professur Didaktik des Sachunterrichts und ihre
                      Disziplinen an der PH der Fachhochschule Nordwestschweiz.

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