CHRONIK EINES FUSSBALL TRIKOTS - ein Trikot erzählt aufgezeichnet von Susana Girgulski Baron

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CHRONIK EINES FUSSBALL TRIKOTS - ein Trikot erzählt aufgezeichnet von Susana Girgulski Baron
CHRONIK EINES FUSSBALL TRIKOTS – ein Trikot erzählt
       aufgezeichnet von Susana Girgulski Baron

Ich bin ein ganz besonderes Fußball-Trikot.
Und das schon seit meiner Entstehung in einer kleinen geheimen Werkstatt,
in der ein deutsches Mädchen mich unter großen Mühen angefertigt hat.
Ganz besonders an mir ist der blaue Davidstern, der seinem zukünftigen
Träger Hoffnung in einer düsteren Zukunft geben sollte.
Es war das Jahr 1936, als das Team von Bar Kochba Frankfurt Meister des
Makkabi Cup wurde. Das war ein sehr anspruchsvoller Wettbewerb, bei dem
die besten jüdischen Fußballmannschaften aus den verschiedenen Städten
Deutschlands zusammenkamen: 1936 allerdings nur noch die Clubs, die unter
dem NS-Regime weiterarbeiten durften….
Bereits im folgenden Jahr wurden meinem Träger alle Rechte auf seine
deutsche Staatsbürgerschaft genommen.
Genau in dieser schrecklichen Zeit wurde ich erschaffen.

Ich bin ein blaues Baumwoll-T-Shirt mit weißem Kragen und Manschetten,
auf dem zwei gestickte Aufnäher unter dem blauen Stern hervorstechen:
einer in hebräischen Buchstaben mit der Aufschrift: Makkabi und daneben
ein kleines Dreieck, das das Jahr 1937 kennzeichnet, das Datum, an dem ICH
dem Spieler MAX GIRGULSKI zugewiesen wurde.

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CHRONIK EINES FUSSBALL TRIKOTS - ein Trikot erzählt aufgezeichnet von Susana Girgulski Baron
Für die Preisverleihung beim Makkabi Cup wurden wir Trikots in
alphabetischer Reihenfolge auf einem Tisch ausgestellt.
Der Clubpräsident war der Hauptredner. Auf dem Hintergrund bereits
sichtbarer Vorboten des kommenden Grauens sprach er die Spieler mit
emotionalen Worten an und forderte sie auf, dieses neue Trikot stets mit
Stolz zu tragen; auf der Jagd nach dem Sieg auf dem Spielfeld sollten wir
Trikots wie ihre zweite Haut sein.
Ich hatte zuvor nie darüber nachgedacht, aber mit den Jahren wurde mir
immer bewusster, dass ein Trikot tatsächlich zum untrennbaren Teil eines
Athleten wird.
Jeder Spieler wurde aufgefordert, das brandneue Champion-Shirt in Besitz zu
nehmen, während die Attribute jedes einzelnen erwähnt wurden. Als ich an
der Reihe war, sah ich Max zum ersten Mal: ein großer, schlanker junger
Mann: Max Girgulski war ein talentierter 23-jähriger Spieler, der wegen
seiner jüdischen Abstammung aus seinem Verein „Eintracht Frankfurt“,
vertrieben worden war; ein Verein, zu dem er seit seiner Kindheit gehört
hatte, seit seinem Eintritt in die Kinderliga.
Von diesem Moment an identifizierte ich mich mit dem Schmerz und der
Wut, die er erlitten haben muss, als er sein angestammtes Eintracht-Trikot
ausziehen musste. Aber ich erinnerte mich auch, dass sich beim Schließen
einer Tür oft ein Fenster öffnet. Und ich staune immer noch darüber, dass
ich seit nunmehr achtzig Jahren am Leben bin.
Ich frage mich, warum dieser junge Mann im folgenden Jahr, 1938,
beschlossen hat, mich auf seinen Flug ins ferne Argentinien mitzunehmen:
ein Neuanfang in eine ungewisse Situation hinein - mit dem verzweifelten
Wunsch, sein Leben zu retten. Welche Gefühle habe ich in ihm geweckt,
damit er sich unter den wenigen Gegenständen, die er bei sich haben durfte,
für mich entschied? Könnte es ihm in den Sinn gekommen sein, dass hätte er
mich meinem Schicksal überlassen, mein blauer Stern auf meiner Brust
höchstwahrscheinlich zerstört worden wäre? Oder gar verbrannt, wie die
Texte großer jüdischer Denker und Schriftsteller am 10. Mai 1933 auf dem
Römerberg in Frankfurt? Oder wollte er sich nicht von mir trennen, weil ich
Erinnerungen an seine Mutter weckte? Seine Mutter, die mich stopfen
musste nach einer Auseinandersetzung mit einem Streikposten? Oder
symbolisierte sein Hemd trotz allem den Triumph über die Barbarei?

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Im Laufe der Jahre verschwanden die „Made in Germany“ - Kleider aus dem
Kleiderschrank von Max und wurden ersetzt durch „Made in Argentina“.
Aber ich und das Album mit alten Fotografien sowie eine Goldmedaille für
gewonnene Meisterschaften blieben erhalten. Ich muss zugeben, ich habe
nie einen privilegierten Platz innerhalb des Hauses eingenommen, aber mein
Besitzer wusste, wo er mich finden konnte, wenn die Nostalgie vergangener
Zeiten ihn packte. Ich war zwar auf den Boden einer Schublade verbannt,
aber jedes Mal, wenn ich meine Adresse änderte, was unzählige Male
geschah, war ich immer Teil des Umzugs.
Ich dachte, mein Leben würde auf den Kopf gestellt, als mein langjähriger
Gefährte Max starb. Ich befürchtete, die Frau von Max würde mich in den
Kleiderhaufen stecken, den sie dem Burzaco-Pflegeheim spendete. Aber das
war nicht so. Warum wolltest du mich nicht loswerden? Warum bin ich am
Leben geblieben und nicht als nutzloses Objekt eliminiert worden?
Was lässt die Menschen so sehr an Erinnerungen an die Toten festhalten?
Eines Tages beschloss die Witwe Carmen, damals bereits etwa
fünfundsiebzig-jährig, zu ihrer Tochter Susana zu ziehen und verschenkte
deshalb alles Überflüssige - außer Max‘ Fotoalbum. Wieder drangen Angst
und Verzweiflung in mich ein: Würde ich nun doch im Müll oder bei den
Kleiderspenden enden?
Aber noch einmal geschah ein Wunder. Max‘ Sohn Rony brachte mich zu
seinem Haus und ich nahm einen Platz in einer Kommode ein, verpackt in
einer transparenten Plastikfolie, die mich vor Motten und der Feuchtigkeit
von Buenos Aires schützen sollte.
Wenn ich nachdenklich werde, schweife ich ab und frage mich, ob ich noch
eine Mission zu erfüllen habe.
Oder ist mein blauer Stern zu mächtig, um verlassen zu werden?

Als mein letzter Schutzwächter starb, entschied dessen Frau, dass es nur fair
sei, mich ihrer Schwägerin zu geben, Maxens Tochter Susana. Und so machte
ich meine zweite Flugreise, dieses Mal von Argentinien nach Chile.
Mit großer Bewunderung wurde ich den Kindern und Enkeln vorgestellt:
Ich war der Star, das Trikot, das der berühmte Fußball-Großvater getragen
hatte; Großvater Max, der in River Plate gespielt hatte, nachdem er nach
Buenos Aires gekommen war. Ich war dieses sagenumwobene Hemd, das in
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Chile noch niemand gesehen hatte: ein lebendiges Zeugnis der dunkelsten
und dramatischsten Jahre in der Geschichte des 20. Jahrhunderts, aber mit
einem Happy End für seine Nachkommen.
Ich traf mich wieder mit dem Fotoalbum, wo ich mich in Schwarz und Weiß
auf Max ' Körper sehe, obwohl ich doch blau bin.
Mit meinem Stern konnte Max weiter Fußball spielen bei Makkabi Frankfurt,
als der Nationalsozialismus ihm auf den Fersen war und Eintracht Frankfurt,
sein geliebter deutscher Stamm-Verein, ihn aus seinen Reihen geworfen
hatte. Mit mir erzielte er ein unvergessliches Mittelfeldtor, das bei den Fans
eine Euphorie auslöste. Gemeinsam genossen wir die Leidenschaft für
Fußball und waren ein Herz und eine Haut. Ich bin also noch am Leben und
auf wundersame Weise nicht in der heutigen Wegwerfwelt verschwunden.

Sicher werden sie glauben, dass ich erfinde oder übertreibe und dass ich in
meinem Alter nicht mehr den richtigen Durchblick habe, aber die Wahrheit
ist: Als Maxens Tochter Susana Girgulski Baron 2015 zum Besuchsprogramm
der Stadt Frankfurt eingeladen wurde, warteten nicht nur der Direktor des
Eintracht Museums, Matthias Thoma und der Frankfurter Alon Meyer,
Präsident von Makkabi Deutschland, schon gespannt auf mich: Man wusste
tatsächlich Bescheid über mich! Warum erzähle ich dir von der Aufregung,
die ich verursacht habe, als sie mein Foto gesehen haben?
Alle Fußball-Museen hätten mich gerne aufgenommen, nicht zuletzt das
Museum der Eintracht Frankfurt….
 Erst jetzt finde ich heraus, dass ich das einzige existierende Shirt aus dieser
Zeit und auch noch ein Champion-Shirt bin. Hätten Sie gedacht, dass jemand,
der bei klarem Verstand ist, während des Krieges mit einem Fußballtrikot im
Gepäck flieht? Niemand.
Eines Tages erhielten wir - und ich sage "wir erhielten", weil ich tief in das
Thema involviert bin - eine E-mail vom Direktor des Deutschen
Fußballmuseums in Dortmund, Manuel Neukirchner, der vom Direktor des
Eintracht Museums in Frankfurt informiert worden war, dass es mich noch
gibt. Und natürlich - Er wollte mich unbedingt in seinem Museum haben.
Wir haben die Vor- und Nachteile abgewogen und sind zusammen mit der
Familie zu dem Schluss gekommen, dass dies der Ort sein sollte, an dem ich
für immer bleiben würde. Wie Sie sich vorstellen können, hatte ich gemischte
Gefühle.
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Einerseits quälte es mich, in das Land zurückzukehren, das mich ausrotten
wollte, und andererseits sorgte mich die Vorstellung, mich den neugierigen
Blicken der Besucher in einem Museum auszusetzen.
Wir wurden uns einig, dass die Übergabezeremonie am 10. November 2019
um 11.00 Uhr in Dortmund stattfinden sollte, zeitgleich mit dem Gedenken
an das Novemberpogrom 1938, die sogenannte "Kristallnacht“, ein
schreckliches Ereignis, das ich zum Glück nicht erlebt habe, sonst hätte ich
nicht diese Geschichte erzählen können.
Begleitet wurde ich von Max' Tochter Susana, ihren beiden Söhnen, Gabriel
und Daniel und dem gleichnamigen Enkel Max zu Ehren seines Urgroßvaters.
Zur zusätzlichen Sicherheit steckten sie mich in Susanas Handtasche, falls das
Reisegepäck verloren gehen sollte….
Nach acht Jahrzehnten in Deutschland anzukommen und meine
Muttersprache wieder zu hören, war sehr bewegend, aber auch
beunruhigend, da es keine leichte Aufgabe ist, den Schmerz der
Vergangenheit beiseite zu legen und sich mit der Gegenwart zu versöhnen.
Wir wurden gebeten, eine Stunde vor der Zeremonie im Museum
anzukommen, damit eine Expertin für alte Textilien mich verjüngen und
schön machen konnte…
Für diese kosmetische Prozedur arrangierte mich die fragliche Dame in ihrer
Werkstatt auf einer Schaufensterpuppe und benebelte mich mit Dampf, um
meine Falten von einundachtzig Jahren zu glätten. Als sie ihr Werk vollendet
hatte, trug sie mich in ihren Armen durch die Korridore des Museums.
Das moderne, hochtechnologisch ausgestattete Museum war voller
Menschen, die die wichtigsten Meilensteine in der Geschichte des deutschen
Fußballs ergriffen bestaunten – und nun auch mich!
An der Außenfassade stand oben in LED-Lichtern für alle Passanten auf der
Straße sichtbar: "Willkommen zur Gedenkfeier - Das Meistertrikot von Max
Girgulski". Ich war beeindruckt!
Acht Jahrzehnte waren vergangen und ich befand mich wieder auf der
Bühne, aber jetzt auf einer Schaufensterpuppe und zunächst bedeckt von
einem weißen Umhang, regungslos und nervös.

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Alle lobten einhellig meine Langlebigkeit und meine enorme Bedeutung, die
ich für das Museum und die Öffentlichkeit hätte, und dass ich in mein
Herkunftsland zurückgekehrt war, von wo ich niemals hätte gehen dürfen…

In dem Moment, als jeder mich sehen konnte, war der Applaus erschütternd
und ich spürte, wie mein Herz mitten durch den blauen Stern pulsierte….

                          Dortmund, 10. November 2019

Bearbeitung und Übertragung ins Deutsche: Till Lieberz-Groß,
Frankfurt am Main, 02 April 2020

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