Das Gespenst Boko haram - Nigeria nach dem Anschlag auf die UN-Zentrale

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PERSPEKTIVE | FES NIGERIA

                Das Gespenst Boko Haram
   Nigeria nach dem Anschlag auf die UN-Zentrale

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                                                                             Oktober 2011

n Der Selbstmordanschlag auf die Zentrale der Vereinten Nationen in Nigerias Hauptstadt Ab-
   uja markiert eine neue Dimension des Terrorismus in dem ölreichen Staat. Regierung und
   Sicherheitskräfte wirken trotz zur Schau gestellter Entschlossenheit hilflos.

n Informationen über die islamistische Sekte »Boko Haram«, die sich zu dem Anschlag bekannt
   haben soll, sind spärlich. Ihre Entwicklung zur international vernetzten Terrororganisation ist
   nicht hinreichend belegt. Das Bekenntnis ist mit Vorsicht zu behandeln.

n Die Regierung muss dringend Perspektiven für die Bevölkerung, insbesondere im verarmten
   Norden des Landes, schaffen und die korrupten und ineffizienten Sicherheitskräfte refor-
   mieren. Die bisherige Strategie der »harten Hand« gegen Gewalt aus Nigerias Peripherie ist
   gescheitert.
Thomas Mättig | Das Gespenst Boko Haram

                                             Einleitung               lizisten sowie religiöse Führer und Gläubige (Musli-
                                                                      me und Christen) angegriffen.
Am Freitag, dem 26. August 2011 wurde das Gebäude
der Vereinten Nationen (UN) in der nigerianischen Haupt-         3.   Zum ersten Mal wurde nun tatsächlich ein Selbst-
stadt Abuja von einem Selbstmordanschlag erschüttert.                 mordanschlag in Nigeria verübt – bei dem Anschlag
Der Täter raste mit einem mit Sprengstoff beladenen                   auf die NPF könnte die Bombe vorzeitig detoniert
Wagen durch die Ausgangsschleusen des hochgesicher-                   sein. Dies erschüttert das Selbstverständnis des Lan-
ten Komplexes und detonierte die Bombe im Eingangs-                   des, das sich bislang vor islamistischem Terrorismus
bereich. 24 Menschen kamen dabei ums Leben, mehr als                  nach dem Muster des Nahen Osten sicher wähnte.
70 wurden verletzt. Das UN-Gebäude liegt in der Nähe
zahlreicher internationaler Botschaften – unter anderem
der US-Botschaft – und ist Sitz der in Nigeria arbeitenden       Anschläge in Abuja, Frustration
UN-Organisationen.                                               in der Bevölkerung

Wenig später erreichte die BBC und andere Medienhäu-             Der Anschlag auf die UN stellt den bisherigen Höhe-
sern ein Bekenntnis der islamistischen Sekte »Jama‘atu           punkt einer Reihe von Bombenattentaten dar, die seit
ahlus sunnah lid da‘awati wal jihad«, allgemein bekannt          Oktober letzten Jahres Abuja erschüttern. Gewaltsame
unter dem Namen »Boko Haram« (etwa »Westliche Bil-               Konflikte hatten sich bislang in Nigerias Peripherie abge-
dung ist Sünde«, die Sekte selbst weist diesen Namen             spielt – mit wechselnden Schauplätzen. Während in den
allerdings zurück). Ein Sprecher der Gruppe erklärte, die        achtziger Jahren in Nigerias Norden die religiös inspirier-
UN, die USA und der nigerianische Staat seien Verbünde-          ten »Maitatsine«-Unruhen hochkochten, verlagerte sich
te im Kampf gegen Nigerias Muslime und daher Ziel des            der Schwerpunkt in der vergangenen Dekade auf das
Angriffs. Weitere Anschläge würden folgen.                       Niger-Delta, wo Rebellengruppen einen halbkriminellen
                                                                 Aufstand gegen den Staat und die dort tätigen Ölfir-
Der Anschlag am 26. August bedeutet in mehrfacher                men führten. Mit einem Bombenanschlag am 1. Okto-
Hinsicht eine neue Qualität des Terrors in Nigeria:              ber 2010, dem 50. Unabhängigkeitstag Nigerias, wurde
                                                                 zum ersten Mal ein Konflikt gewaltsam in die Hauptstadt
1.   Zum ersten Mal wurde ein internationales Ziel ange-         getragen. Zu dem Anschlag bekannte sich die im Niger-
     griffen, nachdem der Terror Ende letzten Jahres in          Delta aktive Gruppe MEND (Movement for the Emanci-
     die nigerianische Hauptstadt getragen wurde. Die            pation of the Niger Delta / Bewegung für die Befreiung
     UN, internationale Botschaften und ausländische             des Niger-Deltas, auch wenn es sich hier offensichtlich
     Organisationen wähnten sich bislang in relativer Si-        um eine Splittergruppe handelte). Obwohl der Prozess
     cherheit. Nigeria hatte lediglich Anschläge auf Ein-        gegen die Hintermänner gegenwärtig läuft, sind die ge-
     richtungen internationaler Ölkonzerne im Ölförder-          nauen Umstände noch immer unklar.
     gebiet des Niger-Delta erlebt.
                                                                 Am Sylvesterabend desselben Jahres explodierte in ei-
2.   Die Hochrangigkeit des Ziels und die Präzision des          nem Biergarten unweit der Militärkasernen der Haupt-
     Angriffs waren bislang unerreicht. Für den Angriff          stadt eine weitere Bombe. Für diesen Anschlag wurde
     auf das Hauptquartier der Nigerianischen Polizei            »Boko Haram« verantwortlich gemacht, aber auch hier
     (Nigerian Police Force, NPF) im Juni in Abuja wurde         ist die Faktenlage unübersichtlich. Der Anschlag auf das
     noch die Inkompetenz der Sicherheitskräfte verant-          Hauptquartier der NPF, bei dem ein mit Sprengstoff be-
     wortlich gemacht. Der Anschlag auf das UN-Gebäu-            ladenes Auto offenbar im Konvoi des Generalinspekteurs
     de unterstreicht jedoch die Operationsfähigkeit der         auf das Gelände gefahren war, bevor es explodierte,
     Terroristen. Sollte tatsächlich »Boko Haram« dafür          sorgte am 16. Juni 2011 für Entsetzen. Dass es möglich
     verantwortlich sein (siehe unten), würde dies einen         war, im Zentrum des nigerianischen Sicherheitsapparates
     Quantensprung darstellen. Die Gruppe hatte noch             zuzuschlagen, schockierte Nigerias politisches Establish-
     vor ca. zwölf Monaten von Motorrädern aus mit               ment. Auch dieser Anschlag wird »Boko Haram« zuge-
     Handfeuerwaffen oder primitiven Sprengsätzen Po-            schrieben.

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Thomas Mättig | Das Gespenst Boko Haram

Die Anschläge spielen sich in einem Klima wachsender             liche Meldungen. Klar ist: Die islamistisch-fundamenta-
Frustration über die Administration Präsident Goodluck           listische Sekte lehnt das »westliche« Bildungssystem ab
Jonathans ab. Jonathan, im Mai 2010 nach dem Tod sei-            und fordert die strikte Anwendung der Scharia in ganz
nes Amtsvorgängers Umaru Musa Yar’Adua vom Posten                Nordnigeria oder sogar ganz Nigeria (auch hier gehen
des Vizepräsidenten ins höchste Staatsamt aufgestiegen           die Angaben auseinander). Mitte 2011 stellte sie an-
und in den ersten weitgehend freien und fairen Wahlen            geblich einen kruden Forderungskatalog auf, in dem es
Nigerias im April 2011 mit großer Mehrheit wiederge-             auch um einen Prozess gegen die Mörder Yussufs und
wählt, wird zunehmend als wohlmeinender aber schwa-              eine Entschuldigung ehemaliger Gouverneure nördlicher
cher Präsident wahrgenommen. Die Wahlen hatten                   Bundesstaaten ging.
große Hoffnungen auf eine Transformation des Landes
freigesetzt, doch eine uninspirierte Kabinettsliste, allzu       »Boko Haram« rekrutiert sich offenbar aus perspektivlo-
bekannte Ankündigungen, man werde durch Investiti-               sen jungen Männern Nordnigerias – viele ohne formelle
onen den Stromsektor aufrichten und die Arbeitslosig-            Bildung und ohne Chance auf dem nigerianischen Ar-
keit bekämpfen sowie die schwachen und phrasenhaf-               beitsmarkt. Ihr Erfahrungshintergrund ist von Margina-
ten Reaktionen auf die Bombenanschläge ließen seine              lisierung und dem Versagen des nigerianischen Staates
Beliebtheit in der Bevölkerung abstürzen. Jonathan, ein          ebenso geprägt wie von der Enttäuschung über die aus-
Christ aus Südnigeria, steht dabei unter besonderem              bleibenden Veränderungen mit der Einführung der Scha-
Druck: Nach einem informellen Abkommen in der Regie-             ria in etlichen nördlichen Bundesstaaten nach 1999. Die-
rungspartei hätte noch bis 2015 ein nordnigerianischer           ser Schritt war von vielen strenggläubigen Muslimen mit
Muslim die Präsidentschaft innehaben sollen. Dass Jo-            der Hoffnung verbunden gewesen, das Ende der Kor-
nathan bei den Wahlen 2011 überhaupt kandidiert hat,             ruption und Ungerechtigkeit in Nigeria sei eingeläutet –
hat ihm die Gegnerschaft von Teilen der nördlichen Elite         Hoffnungen, die sich nicht erfüllt haben. Offenbar speist
eingebracht. Nicht zuletzt deswegen wird das Gerücht             sich die Gruppe auch aus den Reihen von Koranschülern
gestreut, die Anschläge besäßen die Unterstützung von            und arbeitslosen Universitätsabsolventen Nordnigerias
Politikern aus dem nördlichen Establishment.                     sowie aus dem benachbarten Tschad. Zudem wird an-
                                                                 genommen, dass es wohlhabende und gut ausgebildete
                                                                 Unterstützer in Nordnigeria gibt.
   »Boko Haram«: Mehr Fragen als Antworten
                                                                 Es ist faktisch unmöglich, aufgrund der Informationslage
Über »Boko Haram« ist nur sehr wenig bekannt. Die                ein präzises Bild »Boko Harams« zu zeichnen. Die Ein-
Gruppe hat ihre Basis im Nordosten des Landes, einer             schätzungen von – zumal ausländischen – Terrorismusex-
muslimisch geprägten und selbst für nigerianische Ver-           perten sind daher mit großer Vorsicht zu behandeln. Zum
hältnisse armen Region. Ihr Ursprung liegt weitgehend            gegenwärtigen Zeitpunkt ist nicht einmal klar, ob es sich
im Dunkeln – einige Quellen gehen von einer Gründung             um eine kohärente Gruppe handelt, oder ob es eine Auf-
um 1995 aus, andere datieren sie um 2002. Ebenso gibt            splitterung gab – wobei es Hinweise auf Letzteres gibt.
es widersprüchliche Angaben darüber, wann sie ihren              Ebenso wenig ist über ihre internationalen Verbindungen
gewaltsamen Kampf gegen den Staat aufnahm. Es gibt               bekannt, auch wenn viele in der wachsenden Professio-
Hinweise auf Anschläge um das Jahr 2004, doch trat               nalität der Anschläge einen Hinweis auf Verbindungen
»Boko Haram« erstmals um 2009 massiv ins öffentliche             zu Al Qaida, Al Qaida im Islamischen Maghreb (AQIM)
Bewusstsein, als sie die nigerianischen Sicherheitskräfte        oder den somalischen Al Shabab sehen wollen. Für eine
in den nordöstlichen Bundesstaaten Bauchi, Borno, Yobe           Verbindung mit AQIM spricht auch die Entführung eines
und Kano in wochenlange Kämpfe verwickelten. Dabei               Italieners und eines Engländers , die sich gegenwärtig in
wurden offenbar über 800 Menschen getötet. Der An-               der Gewalt von AQIM befinden sollen, in Nordnigeria.
führer der Sekte, Mohammed Yusuf, ein charismatischer
salafistischer Prediger, wurde in diesem Zusammenhang            Gegenwärtig werden der Gruppe etliche Anschläge und
offensichtlich in Polizeigewahrsam hingerichtet.                 kriminelle Akte zugeschrieben, darunter spektakuläre
                                                                 Banküberfälle (wie am 25. August in Adawama State in
Auch über die Ziele »Boko Harams« gibt es widersprüch-           Nordnigeria) oder Bombenanschläge außerhalb ihres üb-

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Thomas Mättig | Das Gespenst Boko Haram

lichen Operationsgebiets (wie am 24.12.2010 auf eine                       tungsanzeigen sogar den Abzug des Militärs aus dem
Kirche im zentralnigerianischen Jos). Diese Angaben sind                   Bundesstaat.
nicht immer realistisch: »Boko Haram« scheint zurzeit
überall in Nigeria zu sein – und ist doch nicht greifbar.                  Ohnehin ist die Geschichte des nigerianischen Staats eine
                                                                           des fortlaufenden Versagens: Auch zwölf Jahre nach der
Viele Nigerianer nehmen die Verlautbarungen der Si-                        (Wieder-)Einführung der Demokratie ist es nicht gelun-
cherheitskräfte über Erfolge im Kampf gegen die Sek-                       gen, der Bevölkerung eine Perspektive auf ein erträgli-
te ohnehin mit Skepsis entgegen. Nigerias Polizei und                      ches Leben zu eröffnen. Die Lebenserwartung liegt bei
Geheimdienst sind sehr schnell darin, Verdächtige zu                       nur 48 Jahren, die öffentliche Infrastruktur (insbesonde-
»produzieren« und der Öffentlichkeit vorzuführen, um                       re der Stromsektor) ist verfallen, das Bildungssystem liegt
Erfolgsmeldungen zu verbuchen. So wurden bereits am                        darnieder, ein Gesundheitssystem gibt es faktisch nicht.
1. September Fotos und Namen der angeblichen Draht-                        Stattdessen müssen die Bürger Nigerias dabei zusehen,
zieher des Anschlags auf die UN veröffentlicht. Doch die                   wie sich eine kleine Elite an den Schalthebeln der Macht
Zusammenhänge in Nigeria sind oft kompliziert, die Liste                   hemmungslos am Ölreichtum des Landes bereichert und
unaufgeklärter prominenter Morde ist lang. Wer etwa                        dies ungeniert zur Schau stellt.
für den Tod des Zeitschriftenherausgebers Dele Giwa
(1986) verantwortlich ist, ist ebenso ungeklärt wie der                    Diese beiden Elemente – die grundlegende Unzufrie-
Tod des Militärdiktators Sani Abacha (1998). Weite Tei-                    denheit mit dem nigerianischen Staat und das brutale
le der Bevölkerung sind daher sogar skeptisch, was das                     Vorgehen der Sicherheitskräfte – führen dazu, dass die
Bekenntnis der Sekte zu dem Anschlag angeht. Selbst                        Kooperation der Bevölkerung mit dem Staat gegen ge-
wenn es authentisch sein sollte, ist der tatsächliche In-                  walttätige periphere Gruppen eher gering ist – so auch
formationswert noch immer gering, solange nicht be-                        im Fall »Boko Haram«.
kannt ist, wer hinter der Gruppe steckt.

                                                                           Handlungsoptionen
                  Wenig hilfreich: Nigerias Konflikt-
                                    »Management«                           Es ist unwahrscheinlich, dass ein Amnestieprogramm
                                                                           wie im Niger-Delta (das faktisch auf ein Aufkaufen der
Auch der Konflikt mit »Boko Haram« lässt sich in ein                       Spitzen der bewaffneten Gruppen hinauslief und wohl
Muster gewalttätiger Reaktionen aus der nigerianischen                     nur temporär für Ruhe sorgen wird) im Konflikt um
Peripherie auf die fortgesetzte Marginalisierung durch                     »Boko Haram« Erfolg haben wird. Zu unklar sind die
das politische Establishment einordnen. Der nigeria-                       Hintergründe der Anschläge, zu wenig ist über die invol-
nische Staat – gleichgültig ob unter der Militärdiktatur                   vierten Personen bekannt. Das Grundproblem – Gewalt
oder der seit 1999 geltenden Demokratie – reagiert auf                     aus Nigerias ausgebeuteter Peripherie – würde wohl
diese Konflikte in der Regel mit »harter Hand« und der                     auch »Boko Haram« selbst überdauern, solange der
Entsendung von Militär. Dies war bei den Maitatsine-                       Staat praktisch keine Gerechtigkeit produziert.
Unruhen ebenso der Fall wie im Niger-Delta. Das Vorge-
hen provoziert dabei regelmässig harsche Kritik von der                    Klar ist, dass der militärische Ansatz zur Bekämpfung der
lokalen Bevölkerung, die von internationalen Menschen-                     Sekte gescheitert ist – und dass die Frustration über die
rechtsgruppen wie Amnesty International aufgenom-                          Regierung groß ist. Es wird dem Staat daher schwerfal-
men wird. So wird dem Militär im Konflikt mit »Boko                        len, bei der lokalen Bevölkerung an Glaubwürdigkeit zu
Haram« vorgeworfen, willkürlich Zivilisten erschossen                      gewinnen und sie in den Kampf gegen den Terrorismus
und vergewaltigt zu haben.1 Eine Gruppe von Führungs-                      einzubinden. Ein notwendiger Schritt dazu wäre erstens
persönlichkeiten aus Borno State, dem Hauptschauplatz                      die demokratische Reform des Sicherheitssektors, insbe-
der Auseinandersetzungen, forderte daraufhin in Zei-                       sondere der extrem korrupten und ineffizienten Polizei,
                                                                           die für außergerichtliche Erschießungen und die Erpres-
1. Amnesty International: Nigerian Security Forces in Random Killing
Following Bomb Blast, 25. Juli 2011, http://www.amnesty.org/en/news-
and-updates/nigeria-security-forces-random-killing-following-bomb-
blast-2011-07-25

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Thomas Mättig | Das Gespenst Boko Haram

sung von »Wegzoll« an Straßensperren berüchtigt ist.2                         Ausblick: Kein Ende in Sicht
Dazu gehört auch die konsequente Ahndung von Men-
schenrechtsvergehen durch die Polizei und das Militär.                        Nachdem erfolgreich zwei Hochsicherheitsziele in Abu-
Dies geschieht jedoch faktisch nicht.                                         ja angegriffen wurden, muss mit weiteren Anschlägen
                                                                              gerechnet werden. Die Sicherheitskräfte sind mit der
Ein mögliches Modell zur institutionellen Reform hat                          Herausforderung offensichtlich überfordert und können
Jonathan anhand der unabhängigen Wahlkommissi-                                den Schutz der Bevölkerung nicht garantieren. Damit
on (Independent National Electoral Commission, INEC)                          verliert der nigerianische Staat weiter an Legitimität –
selbst geschaffen. Hier ersetzte er den als korrupt wahr-                     eine gefährliche Entwicklung.
genommenen Vorsitzenden durch den bekannten und
geachteten Demokratieaktivisten Attahiru Jega, der im                         Über die unmittelbare Bekämpfung der Gefahr darf je-
April 2011 die freiesten und fairsten Wahlen in Nigerias                      doch nicht vergessen werden, dass die Beschuldigung
Geschichte durchführte. Allerdings ist die institutionel-                     Boko Harams, für die Anschläge verantwortlich zu sein,
le Reform INECs weder abgeschlossen, noch darf man                            kaum Aussagekraft besitzt, solange nur wenig über die
ignorieren, dass Jonathan hier offenbar Teile des poli-                       Gruppe bekannt ist. Noch sollte der Kontext fortgesetz-
tischen Establishments (das von der korrupten Behörde                         ter Ausbeutung und Marginalisierung der nigerianischen
profitiert hatte) gegen sich aufgebracht hat.                                 Peripherie, insbesondere des Nordens, vergessen wer-
                                                                              den.
Von ähnlichen Reformversuchen im Sicherheitssektor
ist bislang wenig zu spüren. Exemplarisch dafür ist das                       Die Wahlen im April hatten zumindest in Teilen des Lan-
Festhalten Jonathans an dem ineffizienten Generalins-                         des die Hoffnung auf demokratischen Fortschritt ge-
pekteur der Polizei, der sich nach dem Anschlag auf das                       weckt und dem Präsidenten die Chance zur notwendi-
Hauptquartier wochenlang mit Rücktrittsforderungen                            gen Transformation von Politik und Wirtschaft eröffnet.
aus den Medien und Teilen des Sicherheitsapparats kon-                        Diese Chance muss er mit größerer Entschlossenheit als
frontiert sah.                                                                bisher wahrnehmen. Insbesondere die Reform des Si-
                                                                              cherheitssektors und die Schaffung von Arbeitsplätzen
Zweitens besteht die größte Herausforderung in der                            sollten Vorrang haben. Doch die Regierung wirkt orien-
sozialen und ökonomischen Lage in Nordnigeria. Ar-                            tierungslos.
mut ist dort weitverbreitet, die Geburtenrate hoch, das
Bildungsniveau niedrig, Perspektiven für Beschäftigung
praktisch nicht vorhanden. Die Administration müsste
die wirtschaftliche Entwicklung dieser Region dringend
ernst nehmen, doch dazu benötigt sie nicht nur politi-
schen Willen, sondern auch Geschick und die Unterstüt-
zung lokaler Politeliten. Nichts davon ist gegenwärtig
erkennbar.

2. Human Rights Watch: Everyone’s in the Game. Corruption and Human
Rights Abuses in the Nigeria Police Force. August 2010, http://www.hrw.
org/node/92390

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Über den Autor                                                  Impressum

Thomas Mättig leitet das Landesbüro der FES in Abuja, Ni-       Friedrich-Ebert-Stiftung
geria.                                                          Internationale Entwicklungszusammenarbeit | Referat Afrika
                                                                Hiroshimastr. 17 | 10785 Berlin | Deutschland

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                                                                Michèle Auga, Leiterin, Referat Afrika

                                                                Tel.: ++49-30-269-35-7464 | Fax: ++49-30-269-35-9217
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Die in dieser Publikation zum Ausdruck gebrachten Ansichten                                          ISBN 978-3-86872-941-2
sind nicht notwendigerweise die der Friedrich-Ebert-Stiftung.
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