Das menschliche Habitat gestalten: eine Utopie? - Erfahrungen mit dem Engagement in der Kulturlandschaft

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Das menschliche Habitat gestalten: eine Utopie? - Erfahrungen mit dem Engagement in der Kulturlandschaft
Kenneth Anders und Lars Fischer                            BBE-Newsletter 21/2007

             Das menschliche Habitat gestalten: eine Utopie?
          Erfahrungen mit dem Engagement in der Kulturlandschaft

Das Oderbruch ist eine Nutzlandschaft: modern, schnörkellos, nüchtern und in seiner
jetzigen Gestalt gerade einmal 250 Jahre alt. Seit im Jahre 1753 die Stromoder in ein
neues Bett verlegt wurde, ticken die Uhren für Menschen, Pflanzen und Tiere hier
anders. Die Traditionen reichen also nicht so weit zurück wie im Schwarzwald oder auf
Rügen. Liest man die Kirchenbücher, die daher oftmals „nur“ bis in die Zeit der
Erbauung der Gotteshäuser am Ende des 18. Jahrhunderts zurückreichen, findet man
die Namen der ersten Kolonisten. Viele sind auch heute noch im Oderbruch verbreitet.
Da die Verlegung der Oder ein Werk der Obrigkeit war, hat der Staat seither eine
besondere Verantwortung in dieser Region wahrnehmen müssen. Der
Landschaftswasserhaushalt erfordert bis heute einen großen Regelungsaufwand, immer
wiederkehrende Hochwasser müssen abgewehrt oder, im Unglücksfall, deren Folgen
bewältigt werden. Lange Zeit war dies wegen der Bedeutung des Oderbruchs für die
Landwirtschaft auch im volkswirtschaftlichen Interesse, aber spätestens seit Aufnahme
des Oderbruchs in die Europäischen Gemeinschaft könnte der Staat auch gut und gern
auf die hier produzierten Zuckerrüben und die sonstigen Feldfrüchte verzichten. Er hält
sich noch an seine alten Verpflichtungen, beinahe denkt man: aus alter Gewohnheit.
Immerhin hat ja das 1997er Hochwasser noch einmal die nationale Aufmerksamkeit für
das Oderbruch mobilisiert und in der Folge eine Akzeptanz für gigantische
Deichsanierungsmaßnahmen geschaffen, die die Landschaft nie hätte allein bewältigen
können. Aber wird das so bleiben? Und ist es überhaupt eine gute Strategie, sich auf die
dauerhaft schirmende Hand des Staates zu verlassen? Peter Fritz Mengel, der
Herausgeber des bis heute fundiertesten Buches über das Oderbruch, wusste schon
1931: „Die letzte und beste Hilfe wird dem Oderbruche aber nicht von außen, von keiner
noch so wohlmeinenden Staatsregierung kommen können. Ständige Hilfe von außen
führt zur Verweichlichung und Bevormundung. Unversiegbare Kraft strömt nur aus
Selbstverantwortung und Selbstverwaltung, aus freiwilliger Unterordnung zum Wohle
des Ganzen.“ Der Tonfall klingt etwas martialisch und lässt die dreißiger Jahre des 20.
Jahrhunderts nachklingen – der Kern ist aber ganz sachlicher Art. Aus den Worten des
damaligen Landrats spricht weniger eine prophetische Voraussicht des bevorstehenden
Bedeutungsverlustes der eigenen Landschaft als vielmehr eine einfache Einsicht:
Besser, sicherer und schöner ist es doch, wenn sich die Leute um sich selbst kümmern.
Nun könnte man erleichtert abwinken und einwenden, dass die Leute dies ja längst tun
und schon immer getan haben. Immerhin; jeder verrichtet sein Tagwerk, sofern er nach
dem Zusammenbruch der alten, sozialistischen Planwirtschaft noch eines hat: Der
Das menschliche Habitat gestalten: eine Utopie? - Erfahrungen mit dem Engagement in der Kulturlandschaft
Bauer pflügt sein Feld, die Ärztin behandelt ihre Patienten, der Pfarrer umsorgt die
Seelen, die Lehrerin unterrichtet die Kinder. Wie in jeder anderen ländlichen Region gibt
es zudem die üblichen Formen der Selbstorganisation: die kommunale
Selbstverwaltung, die freiwilligen Feuerwehren, die Kirchen, die Sportvereine und die
Chöre. Was will man mehr? Für den Rest sollte doch der Staat zuständig sein. Und so
hört man es auch allerorten im Oderbruch: Die Politiker müssten sich mal was einfallen
lassen, sonst saufen wir hier alle noch ab.
Die Politiker werden nicht und sie können es auch nicht. Das Oderbruch hat seine
volkswirtschaftliche Notwendigkeit eingebüßt, es wird von niemandem mehr gebraucht
als von seinen Bewohnern selbst. Soll es in der jetzigen Form (also als trockengelegter
Flusspolder) überleben, muss es sich selbst eine neue Aufgabe geben. Die
Landwirtschaft war und ist gegenüber anderen möglichen Formen, ein Land zu nutzen
(Forstwirtschaft, Tourismus, Naturschutz oder Fischerei) übermächtig. Nun, da sie nicht
einmal mehr ein Zehntel der Menschen beschäftigen kann, fehlen andere Zweige, die in
diese Lücke ranken und den Menschen einen Halt geben könnten. Das ist nicht nur eine
Frage der Beschäftigung, es betrifft die gesamten Vorstellungen vom Leben im
Oderbruch. Wie soll es als Lebensland seiner Bewohner, als ihr Habitat, das sie seit
Langem besiedeln, aussehen, welche Spielregeln für das Zusammenleben sollen
herrschen, welche Chancen gibt es?

                                                                  Abb.1: Dass diese Ruine
                                                                  einmal     ein     hübsches
                                                                  Neubauernhaus war, gebaut
                                                                  aus Sand, etwas Kalk und
                                                                  viel Optimismus, sieht man
                                                                  ihr heute kaum noch an.
                                                                  Wenn eine Landschaft wie
                                                                  das     Oderbruch     Krisen
                                                                  überwinden will, benötigt es
                                                                  viel Engagement durch seine
                                                                  Bewohner.

Das Nachdenken über diese Fragen oszilliert zwischen existenzieller Notwendigkeit und
blanker Utopie, es handelt vom Überleben im ländlichen Raum und zugleich von den
Ansprüchen der Menschen an ihr Gemeinwesen. Diese Dinge liegen jenseits des
täglichen Geschäfts, sie bedürfen des Engagements für die eigene Landschaft. Der
Bauer muss mehr bestellen als seinen Acker, der Pfarrer muss sich um mehr sorgen als
um seine Seelen, die Lehrer müssen mehr im Blick haben als ihre Schule. Eine
Landschaft, die eine Krise überwinden will, sollte sich als Solidarverband begreifen, die
vermeintlich Starken müssen Verantwortung übernehmen und zugleich die Grenzen
ihrer Fähigkeit erkennen, die Landschaft zu steuern. Erst dann können auch die
Beiträge der „Schwachen“ geachtet werden. Aus einer gewachsenen Agrarbevölkerung
muss eine Zivilgesellschaft werden. Jeder noch so kleine Beitrag zur Entwicklung der
Landschaft kann am Ende entscheidend sein. Es sind Spielräume für regionale
Wertschöpfungen zu suchen, kulturelle Initiativen in Wert zu setzen - alles, was an
Wissen und Fähigkeit in der Landschaft steckt, muss geborgen werden. Dabei gilt die
Annahme, dass die Antwort auf die Frage nach dem Schicksal der eigenen Landschaft
bereits jetzt in dieser Landschaft enthalten ist. Nur müssen die Bausteine aufgefunden,
neu gewichtet und zusammengesetzt werden. Es ist eine Aufgabe wie ein Puzzle, das
nur von vielen Menschen gelöst werden kann.
Aber wer will eine solche Anstrengung mobilisieren? Das Oderbruch als naturräumlich
und kulturell extrem begrenzte Landschaft hat keine Steuerungsinstitution, es gehört
Räumen an, die weit über seine Grenzen (und Probleme) hinaus ragen. Viele Menschen
engagieren sich – aber ihr Engagement bündelt sich nicht von allein zur gemeinsamen
Gestaltung des Habitats.
Vor diesem Hintergrund entstand 2004 die Idee, für das Oderbruch eine Werkstatt
einzurichten, einen Raum, in dem all jene Menschen mit ihrem Wissen und ihren
Perspektiven eine Repräsentanz bekommen, die sich für die Landschaft engagieren
wollen: Landwirte, die ihre Böden und Schlagstrukturen beschreiben, Bürgerinitiativen,
die ihre Anliegen darstellen, Bürgermeister, die ihre Niederlagen und Erfolge schildern,
Naturschützer, die zeigen, was sie schützenswert finden, Künstler, die uns die
Landschaft mit ihren Sichtweisen neu interpretieren. In Form einer ständig wachsenden
und sich ändernden Ausstellung, ähnlich den Länderpavillons auf den
Weltausstellungen, sollten die Bausteine für die Zukunft des Oderbruchs gesammelt und
bearbeitet werden. Der Name des Projekts: Oderbruchpavillon. Hier sollte dann auch
der Platz sein, an dem die Auseinandersetzungen über den Einsatz der Gentechnik im
Oderbruch, über den geplanten Bau neuer Straßen, über Chancen der
Direktvermarktung oder über die Steuerung des Grundwassers geführt werden. Zugleich
sollte dieser Raum die Besonderheit und Schönheit der Landschaft verdeutlichen und
sinnfällig machen – und so auch für Besucher und Gäste von außen einen attraktiven
Einstieg in die Landschaft bilden.
Die Idee scheiterte, zumindest, was ihre materielle Umsetzung anbelangt. Es ist bis
heute nicht gelungen, einen Partner für die Umsetzung des Projektes zu finden. Nach
Stunden und Tagen in Amtszimmern und Büros kann man resümieren – die Idee ist
auch von den meisten Akteuren bis heute nicht verstanden worden. Zudem befürchteten
viele, ihre angestammten Rechte in einem so offen gehaltenen Prozess ohne Not zur
Disposition zu stellen. „Wat bringt mir dit?“ war die mit verschränkten Armen
vorgetragene Frage der Prokuristin eines der großen Landwirtschaftsbetriebe im
Oderbruch. Diese Frage war nicht in der gleichen Prägnanz zu beantworten.
Also emigrierten wir in die Virtualität – ins Internet. Unter www.oderbruchpavillon.de
entsteht seit drei Jahren eine selbst finanzierte Internetausstellung, die nach wie vor auf
ihre materielle Realisierung im Raum lauert, allerdings schon jetzt regelmäßig zu
zahlreichen Veranstaltungen ins echte Leben tritt. Begonnen hat es mit Porträts von
Akteuren in der Landschaft in Text und Foto. Nach und nach konnten wir andere
Menschen überreden, selbst Beiträge über ihr Wissen, über ihre Sichtweisen, Sorgen
oder Träume zu verfassen. Seither wächst das Portal fast von allein und wird von vielen
genutzt, die sich über das Oderbruch informieren wollen. Für uns ist es die Grundlage
der weiteren Arbeit in der Landschaft – mit jedem Baustein wird der Boden, auf dem wir
gehen, ein Stück sicherer.
Der Oderbruchpavillon hat noch eine weitere Funktion – einmal stattgefundene
Ereignisse oder Initiativen können hier dokumentiert und so vor dem Vergessen bewahrt
werden. So veranstalteten wir 2006 ein Liederfest, bei dem wir die Bewohner des
Oderbruchs baten, ein Lied für ihre Landschaft zu singen – Chöre und Bands kamen,
Sängerinnen und Sänger wetteiferten um das schönste Lied. Wenn man es hinterher im
Oderbruchpavillon aufbewahrt, hat man das Gefühl, dass es nicht der Versenkung
anheim fällt.

                                                                   Abb.2: Die Teilnehmer beim
                                                                        Oderbruch-Liederwettstreit
                                                                   2006 in Kienitz am Hafen.
                                                                   Jung und alt, laut und leise,
                                                                   komisch und verhalten: wie
                                                                   vielfältig die musikalischen
                                                                   Zugänge       zur      eigenen
                                                                   Landschaft sind, hätte vor
                                                                   dem Tag kaum jemand
                                                                   erwartet.

Ähnlich ging es mit einer Radtour, die wir im Jahr 2007 gemeinsam mit dem ZALF
Müncheberg im Rahmen von Kulturland Brandenburg über verschiedene „Wasserorte“
im Oderbruch entwickelt haben. Wenn die gedruckten Karten einmal vergriffen sind, wird
man sich die Route immer noch aus dem Netz herunterladen können.
Der Oderbruchpavillon, obwohl ohne starken Partner, ohne prominente Schirmherren
und ohne öffentliche Unterstützung, hat inzwischen viele kleine Partner und Unterstützer
gewonnen. Es ist ein Stück Engagement für die eigene Landschaft, ein Versuch
ländlicher Selbstorganisation jenseits des täglichen Geschäfts – genau auf halber
Strecke zwischen blanker Utopie und bitterer Notwendigkeit.

Dr. Kenneth Anders und Lars Fischer sind Kulturhistoriker, bzw. -wissenschaftler und
„Raumerforscher“, die gemeinsam ein „Büro für Landschaftskommunikation“ in
Freienwalde betreiben.

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Dr. Kenneth Anders                          Lars Fischer
Neutornow 54                                Schicklerstr. 47
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kenneth.anders@online.de                    fischer.lars@online.de
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