Deep time Heimat. Die prähistorischen Landschaften des Deutschen Reichs - Artikel - Sciendo
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Artikel Patrick Stoffel* Deep time Heimat. Die prähistorischen Landschaften des Deutschen Reichs © 2020 Patrick Stoffel, licensee De Gruyter Open. This work is licensed under the Creative Commons Attribution-NonCommercial-NoDerivatives 3.0 License
32 10.2478/kwg-2020-0023 | 5. Jahrgang 2020 Heft 1: 31–42 Abstract: Im Deutschen Reich avancierte die Landschaft zum zentralen Medium des Heimaterlebens. Dabei erfuhr die Heimat mittels der Erfahrung von fremden und exotischen Landschaften in den Kolonien eine nie dagewesene räumliche Expansion: aus der Ferne konnte die Nation selbst zur Heimat werden. Während diese räumliche ‚Dehnbarkeit‘ der Heimat (und deren identitätsstiftende Funktion) schon seit Längerem Gegenstand der Forschung ist, erfuhr die zeitliche Dimension der Heimat bislang wenig Aufmerksamkeit. Obwohl die Entdeckung und Entfaltung der geologischen Zeitskala im 19. Jahrhundert neue, unvorstellbar große Zeiträume bereitstellte, blieben der Heimat scheinbar enge zeitliche Grenzen gesetzt. Dieser Beitrag zeigt anlässlich der Untersuchung populärwissenschaftlicher Schriften aus den Jahren 1898–1931 von Alfred Götze und Wilhelm Bölsche, dass im Deutschen Reich parallel zur räumlichen Expansion der Heimat auch eine zeitliche Expansion erfolgte, die über die Verortung der Heimat in der ‚guten alten Zeit‘ weit hinausreichte und über die Ur- und Frühgeschichte bis tief in die Erdgeschichte ausgriff. Im Medium prähistorischer Landschaften erschloss sich den Zeitgenossen eine in zwei Versionen vorliegende deep time Heimat. Eine nationalistische deep time Heimat verortete die nationale Einheit in der Tiefe der Zeit und beförderte damit ein umfassenderes und zugleich abstrakteres, ein ,nationales‘ Heimaterleben. Eine imperialistische deep time Heimat diente als Anschauungsfall für den ‚Kampf ums Dasein‘ und wies die Expansion der Heimat als einzig möglichen Weg zu ihrer Bewahrung aus. In the German Reich, the landscape became the central medium to experience Heimat. The exotic landscapes the colonies provided led to an unprecedented spatial expansion: from a distance, the nation itself could become Heimat. While this spatial ‘extensibility’ as well as its capability to establish identity has long been the subject of research, so far the temporal dimension of Heimat has received little attention. The new and unimaginably long periods of time the discovery and exposition of the geological time scale in the 19th century provided seemed not to affect the Heimat. Examining popular scientific writings from the years 1898–1931 by Alfred Götze and Wilhelm Bölsche, this article shows that in the German Reich along with the spatial expansion of Heimat a temporal expansion took place. Including prehistory and earth history, this temporal expansion reached far beyond locating the Heimat in the ‘good old days’. In the medium of prehistoric landscapes, the contemporaries could experience two versions of a deep time Heimat. A nationalist deep time Heimat localized national unity in the depths of time, thus promoting a more comprehensive and at the same time more abstract ‘national’ Heimat. An imperialist deep time Heimat helped to expose the ‘struggle for existence’ and promoted the expansion of the Heimat as the only possible way to preserve it. Keywords: Urzeit, Deep-Time, Popular Science, Heimat und Erdgeschichte, Imperialismus, Nationa- lismus *Dr. Patrick Stoffel, Leuphana Universität Lüneburg, Institut für Geschichtswissenschaft und Literarische Kulturen, Professur für Kulturgeschichte des Wissens, E-Mail: Patrick.Stoffel@leuphana.de I W illy Hellpach. Vom Heimweh lebens der populären „Blut-und-Boden“-Ideologie nach exotischen Landschaften zu entziehen. Dem zeitgenössischen Diskurs, der die Grenzen zwischen geistiger und biologischer „Heimat“, schrieb Willy Hellpach, „erlebt der Milieuabhängigkeit gerade auch mittels des Hei- schlichte Mensch erst in der Fremde“ (1935, 219). matbegriffs immer weiter auflöste (vgl. Güttler Dieser eine, prägnante Satz reichte dem Medi- 2017), wollte und konnte er sich jedoch nicht ver- ziner, Psychologen und Politiker Willy Hellpach weigern. Der vierten, unter dem Titel Geopsyche (1877–1955), der über viele Jahrzehnte hinweg erschienenen Auflage der erstmals 1911 unter den Einfluss von Wetter, Klima und Landschaft, dem Titel Die geopsychischen Erscheinungen ver- später auch des Bodens, auf das Seelenleben des öffentlichten Ergebnisse seiner Arbeit fügte er ein Menschen erforschte, den Vorgang des Heimater- neues, mit dem Einfluss des Bodens beschäftigtes
Kulturwissenschaftliche Zeitschrift - 1/2020 33 Kapitel hinzu, in welchem er die „Aufhellung der mat hervorbringt. Eine Landschaft aber vermag Bodenwesenhaftigkeit des Menschen“ als „eine der Mensch erst dort zu erblicken, so Hellpach, der großartigsten wissenschaftlichen Aufgaben wo ihm die Natur nicht länger Ressource ist, des 20. Jahrhunderts“ auswies. Er sah aber für „ohne jeden Nutzzweck“ (1935, 201). Ein derart die „Bodenhörigkeit“ der Lebewesen als zentralen als Landschaft erblicktes Stück Erde macht einen Lehrsatz der „Blut-und-Boden“-Ideologie, wie er „Eindruck“ auf den Menschen, ein Vorgang, den vom Anthropologen und Rassentheoretiker Egon Hellpach vom „Einfluss“ nehmen, wie er Grund- Freiherr von Eickstedt in den Satz „Keine Homi- lage des „Bodenhörigkeit“-Denkens ist, geschie- nidenform verläßt ungestraft ihre angestammte den wissen willl (1935, 202). Das Landschaftser- Umwelt“ gepresst wurde, keinerlei wissenschaft- leben bedarf daher eines synthetischen Sehens, liche Belege (Hellpach 1935, 197 f.). Im Gegen- womit die Landschaft unter den Eigenschaften teil wird ‚Heimat‘, wie Hellpach schreibt, oft erst der natürlichen Umwelt eine Sonderstellung ein- in der Fremde erlebt, und zwar gerade aufgrund nimmt. ihres Verlustes. ‚Heimat‘ steht folglich sympto- Mit seinem geopsychischen Zugang zum Hei- matisch für das Aufbrechen der – ohne Gang in materleben kommt Hellpach zum gleichen Ergeb- die Fremde – unhinterfragten Einheit von Person nis wie viele seiner Zeitgenossen auf anderen und Umwelt. Heimat, muss man mit Willy Hell- Wegen auch. Als organisches Fundament und pach feststellen, ist prekär. wesentlicher Ausdruck heimatlicher bzw. natio- Hellpach ist heute weitgehend vergessen. Der naler Identität (wobei Heimat und Nation sowohl mit der Geschichte der Umweltpsychologie ver- deckungsgleich als auch verschieden sein konn- traute Rudolf Miller sieht den zentralen Grund ten) fungierte im Deutschen Reich, wie Thomas hierfür darin, dass er in seinem Denken dem aus- M. Lekan mit Imagining the Nation in Nature gehenden 19. Jahrhundert verhaftet blieb, was (2004) dargelegt hat, die Landschaft. zu „kategorialen Unschärfen und nicht opera- Aber nicht alle Landschaften nehmen, so Hell- tionalisierbaren Konstrukten“ führte (2018, 338). pach, den gleichen Einfluss: „Unter den Arten Gerade hierin aber liegt der Wert seiner Arbeit für von Fremde ist es die exotische Landschaft, die einen kulturgeschichtlichen Zugang zum Heimat- das einfache Gemüt am elementarsten packt und erleben im Deutschen Reich, diesem diffusen Vor- seinem Heimweh eine oft siegreiche Widerkraft gang, der sich um 1900 ebenso wenig wie heute entgegenstellt.“ (1935, 219) Speziell die exoti- durch begriffliche Schärfe auszeichnet. sche Landschaft dient also nicht allein als Kon- Wenn Hellpachs Heimatbegriff darin vom zeit- trastfolie, vor der die gewohnte, aber verlorene genössischen Diskurs abwich, dass er sich von Landschaft als Heimat kenntlich wird, sondern sie deterministischen Milieutheorien distanzierte, wie kann das hieraus resultierende Heimweh über- sie infolge von Friedrich Ratzels Anthropogeo- winden und selbst zur ersehnten Heimat werden. graphie von zahlreichen Zeitgenossen vertreten Hellpach fährt fort: wurden, so stimmte er mit ihm in dem Aspekt überein, dass er in der Landschaft das zentrale Es gibt eine Art Heimweh nach exotischen Landschaf- ten, sei es, daß sie im Fluge vorüberzogen, sei es, daß Medium des Heimaterlebens erkannte: „[S]ehr man sich in ihnen wie in einer neuen Heimat einge- oft steht die heimatliche Landschaft durchaus richtet hatte; viele Nordländer sind das Heimweh nach im Vordergrunde dieses Erlebnisses.“ (Hellpach Sonnigkeit und Farbigkeit der Mittelmeernatur nie 1935, 219) Landschaft zählt Hellpach neben Wet- wieder losgeworden. (1935, 219) ter, Klima und Boden zu den wesentlichen Eigen- schaften der natürlichen Umwelt. Diese bildet Habe das Heimweh nach einem ‚Platz an der zusammen mit Gemeinschaft, Kultur und Technik Sonne‘ zu Goethes Zeiten noch auf einer Reise die drei Umwelten, in die der Mensch eingelas- in den „mittelmeerische[n] Süden“ gestillt sen ist. Das Heimaterleben resultiert bei Hellpach werden können, führe die Reise den Heimweh- folglich nicht primär aus dem Verlust (bzw. dem geplagten heute in die Tropen. Damit übernimmt Wechsel) der sozialen oder der kulturell-techni- die ‚fremde, exotische Landschaft‘ in Hellpachs schen, als vielmehr aus dem Verlust der natürli- Studie exakt jene doppelte Funktion, die der His- chen Umwelt. Und von deren Eigenschaften ist es toriker Jens Jäger (2009) den deutschen Kolonien wiederum die (veränderte) Landschaft, die Hei- um 1900 innewohnen sah: als Kontrastfolie, vor
34 10.2478/kwg-2020-0023 | 5. Jahrgang 2020 Heft 1: 31–42 der die gewohnte, aber verlorene Landschaft als muss. Dieses Konzept einer in naher Zukunft zu Heimat kenntlich wird, und als mögliche zukünf- realisierenden Heimat gewann mit dem Eintritt tige Heimat. in das Zeitalter des Imperialismus zusehends an Das prekäre Heimaterleben ist bei Hellpach Gewicht. Christian Geulen (2003, 51), der sich zuvorderst Resultat räumlicher Mobilität, mit der mit der Frage der Dehnbarkeit der ‚Heimat‘ im die als natürlich gedachte Einheit von Person und Zeitalter des Imperialismus befasste, unterschied Umwelt aufgelöst und damit infrage gestellt, aber einen älteren, im Nationalstaat gipfelnden Natio- eben auch verhandelbar wird. Mit den kolonialen nalismus vom modernen, imperialistischen Natio- Territorien des Deutschen Reichs, dessen kolonia- nalismus wie folgt: „An die Stelle der Erfindung len Bestrebungen mit dem Verlust der Kolonien einer nationalen Vergangenheit trat die Projek- infolge des Ersten Weltkriegs mitnichten endeten, tion einer nationalen Zukunft, an die Stelle des erfuhr das Heimaterleben eine immense räum- (möglichen) Kriegs gegen nationale Feinde trat liche Ausdehnung. Hierfür bedurfte es gar nicht der ewige und alltägliche Kampf der Rassen, und der massenhaften Ausreise von Deutschen in die an die Stelle nationaler Integration und Abgren- Kolonien – was tatsächlich nicht der Fall war –, zung trat die koloniale Expansion und Eroberung.“ es reichte die erfolgte massenmediale Verbrei- Der historische Imperialismus mag zwar zu sei- tung von Bildern aus und von den Kolonien (vgl. nem Ende gekommen sein, im Genre der science Jäger 2010). Aus dem Blickwinkel der Kolonien fiction sieht Geulen (2003, 37) die von ihm für aber erfuhr auch der Raum, der als Heimat ange- das Zeitalter des Imperialismus ausgemachte sprochen wurde, eine immense Ausdehnung. Entgrenzung der Heimat weiter vorangetrieben. Während für viele Deutsche das Heimaterleben In den unendlichen Weiten des deep space „wird eine überschaubare, lokal eng umrissene räum- die Suche nach dem Eigenen in der Fremde zur liche Ausdehnung besaß, und die Nation lediglich eigentlichen Heimat, ist Expansion alles“. als Zusammenschluss einer Vielzahl von lokalen Das Heimaterleben im Deutschen Reich erfuhr, Heimaten wahrgenommen wurde, konnte aus der das hat die Forschung hinlänglich gezeigt, mit- Ferne die Nation selbst, das Deutsche Reich, zur tels der Erfahrung – und sei sie auch nur medial Heimat werden (vgl. Petri 2001, 106). vermittelt – von Fremde und Exotik in den Kolo- Wenn die Verortung von ‚Heimat‘ entlang nien eine nie dagewesene räumliche Expansion. der Dimensionen von Raum, Zeit und Identität Den zeitlichen Grenzen der Heimat hingegen hat erfolgt (vgl. Gebhard/Geisler/Schröter 2007, 10), die Forschung wenig Aufmerksamkeit gewidmet. dann liegt Hellpachs Betonung, wie in den aller- Obwohl die Entdeckung und Entfaltung der geo- meisten Überlegungen zur Heimat, auf der iden- logischen Zeitskala im 19. Jahrhundert neue, titätsstiftenden Funktion des Raumes. Die zeitli- unvorstellbar große Zeiträume bereitstellte, blie- che Dimension wird von Hellpach (1935, 218) nur ben der Heimat scheinbar enge zeitliche Grenzen implizit angesprochen. Die in der Fremde als ver- gesetzt. Im Folgenden möchte ich mithilfe zweier loren empfundene Heimat ist hier wie so oft in Fallbeispiele – Alfred Götzes szenischem Vortrag der Kindheit angesiedelt, in der ‚guten alten Zeit‘ Die Urzeit des Menschen (1898) und den populär- vor dem Eintritt ins Erwachsenenalter, in der die wissenschaftlichen Schriften Die Deutsche Land- Umwelt noch als selbstverständlich gegeben und schaft in Vergangenheit und Gegenwart (1915) stabil erfahren wurde. Mit Blick auf diese gängige und Das Leben der Urwelt (1931) von Wilhelm zeitliche Verortung ließe sich von ‚Heimat‘ als Bölsche – der Frage nachgehen, ob im Deutschen einem generationellen Konzept sprechen, des- Reich parallel zur räumlichen Expansion der Hei- sen zeitlicher Horizont die Lebensspanne eines mat auch eine zeitliche Expansion erfolgte, die Menschen umfasst und dessen Gehalt von jeder über die Verortung der Heimat in der nahen Ver- Generation neu bestimmt wird. Was bei Hell- gangenheit, insbesondere der Kindheit, hinaus- pach in der Rede vom „Heimweh nach exotischen reicht. Kann analog zur Rede von der Heimat im Landschaften“ aber auch anklingt, ist die zeitli- deep space von einer Heimat in der deep time che Verortung der Heimat in der nahen Zukunft. gesprochen werden? Und falls eine solche Heimat Heimat ist in dieser Konzeption nicht prekär auf- in den unvorstellbar großen Zeiträumen der geo- grund der Tatsache, dass sie bereits verloren logischen Zeitskala tatsächlich gefunden wurde, ist, sondern, weil sie erst noch realisiert werden welche Funktion kam ihr zu? Wiesen prähistori-
Kulturwissenschaftliche Zeitschrift - 1/2020 35 sche Landschaften genügend „Exotik“ auf, ermög- zu jenem Zeitpunkt reichte, „wo er in unserer lichten sie ein Erleben von Fremdheit in einem Heimat in das volle Licht der Geschichte eintritt“ ausreichenden Maße, um aus der zeitlichen Dis- (Götze 1898, 4). Die Koordinaten dieser Zeitreise tanz die Gegenwart als Heimat neu bewusst erle- entnahm Götze (1898, 4f.) nicht der „spekula- ben zu lassen? Und handelte es sich, um bei der tiven“ Evolutionstheorie, sondern der „empiri- Unterscheidung von Geulen zu bleiben, um die schen“ Spatenforschung. Es sind folglich die im Erfindung einer nationalen Vergangenheit zwecks Boden verwahrten Spuren und Artefakte mensch- Identitätsstiftung im Rahmen des alten Nationa- licher Kultur, die an diesem Abend den Weg in lismus, oder wurde die Suche nach dem Eigenen die frühesten Tage der Heimat weisen. Ein Wis- in der deep time im imperialistischen Sinne zur sen davon, was die ‚Heimat‘ in ihrer räumlichen eigentlichen Heimat? Ausdehnung umfasst, wird dabei vorausgesetzt. Die Grenzen des heimatlichen Bodens müssen bereits abgesteckt sein, um im Erdreich nach seiner Tiefendimension graben zu können. Was II A lfred Götze. Graben nach der nicht bedeutet, dass sich die Vorstellung, die sich Urheimat die Zuhörer und Leser von der ‚Heimat‘ machten, durch ihre Erkundung in der Zeit nicht ändern Am Montag, den 12. Dezember 1898, abends um konnte (und sollte). 8 Uhr lud das Theater der Urania in der Tauben- Das erste und älteste Bild aus der Heimat straße in Berlin zu einem „Scenischen Vortrag“ zeigt eine Ansiedelung bei Taubach in Thürin- mit dem Titel Die Urzeit des Menschen. Bilder aus gen im Diluvium und reicht damit verschie- den frühesten Tagen unserer Heimat. Geschrie- denen Schätzungen zufolge zwischen 20’000 ben hat in Alfred Götze (1865–1948), ein junger und 364’000 Jahre zurück in die Vergangenheit Prähistoriker, der 1891 in Jena als erster in Ur- (Götze 1898, 15). Die Technik für die genauere und Frühgeschichte promovierte, 1894 an den Bestimmung absoluter Zeitmaße sollte erst das Grabungen in Troja teilnahm und im Anschluss 20. Jahrhundert liefern. Das ausgerechnet süd- eine Stelle als Assistent in der Prähistorischen östlich von Weimar in Thüringen, diesem zentra- Abteilung des Königlichen Museums für Völker- len Schauplatz deutscher Geschichte und Kultur, kunde zu Berlin annahm (vgl. Büttner 1999). die Anfänge menschlichen Lebens in der ‚Heimat‘ Die Dioramen zu den 14 Bildern des „Scenischen verortet sind, verspricht eine ungebrochene Kon- Vortrags“, die mittels Lichteffekten und aufwen- tinuität von menschlichen Aktivitäten und ihrer diger Bühnentechnik die Urzeit eindrucksvoll in geographischen Verortung von der Altsteinzeit Szene setzten, stammten von den Malern Hein- bis ins 19. Jahrhundert. Die diluviale Landschaft rich Harder und Wilhelm Kranz.1 Diese beiden aber wich vom gegenwärtigen Landschaftsbild haben mit ihren Darstellungen prähistorischer als zentralem Träger von heimatlicher Identität Landschaften und Lebewesen für die Urania, ver- deutlich ab. Wo „jetzt das Dorf Taubach liegt“, schiedene populärwissenschaftliche Schriftenrei- beginnt der Vortrag, und spielt damit gleich zu hen, massenmediale Formate wie Sammelkarten Beginn mit der disruptiven Kraft langer Zeit- sowie Auftragsarbeiten u.a. für das Deutsche räume, „zog sich damals ein langgestreckter Bin- Museum in München und das Aquarium Berlin nensee hin“ (Götze 1898, 6). Die an seinem Ufer die Urzeitimagination im Deutschen Reich maß- lagernden Menschen jagten Hirsche, Rehe und geblich geprägt. In der Druckfassung des Vor- Wildschweine, aber eben auch Elefanten, Nashör- trags, die im gleichen Jahr auch im Verlag der ner und Höhlenlöwen. In diesem und in den fol- Urania erschien, finden sich die an diesem Abend genden Bildern bricht immer wieder das Fremde gezeigten Bilder nicht abgedruckt. und Exotische der heimatlichen Landschaft aus Der Vortrag nahm seine Zuhörer mit auf eine den frühesten Tagen in die als bekannt voraus- imaginäre Zeitreise, die vom ersten gesicherten gesetzte ‚Heimat‘ der Zuhörer und Leser ein. Im Auftritt des Menschen in der Erdgeschichte bis Vortrag selbst kam durch die Wahl der Bilder und mittels ihrer Erläuterung die Heimat und damit 1 Zur technisch-medialen Beschaffenheit der ‚Scenischen verbunden das Heimaterleben in drei verschiede- Vorträge‘ an der Urania vgl. Becker 2011, 289-292. nen räumlichen Ausdehnungen und Intensitäten
36 10.2478/kwg-2020-0023 | 5. Jahrgang 2020 Heft 1: 31–42 vor. 1) ‚Unser Norden‘ als flächenmäßig kleinste, Interesse am Germanenmythos feststellen. Die aber am intensivsten als solche erlebte ‚Heimat‘, Heimatbewegung des ausgehenden 19. Jahrhun- in der sich viele der Zuhörer in der Taubenstraße derts machte in ihrer die Vergangenheit verklä- in Berlin wiederfinden durften. 2) ‚Deutschland‘, renden Reaktion auf die Moderne nicht Halt beim seit 1871 Nationalstaat unter Führung ebenjenes deutschen Dörfchen in vorindustriellen Zeiten. ‚Nordens‘, nämlich Preußens, die im europäischen Auf der Suche nach natürlichen Verhältnissen Vergleich spät Realität gewordene nationale Hei- wandte sie sich auch dem Germanenmythos zu, mat. 3) Die Vorstellung des deutschen Sprach- wie er von Götze im Bild des Germanendorfes raums als Heimat, die Bilder aus Österreich und aufgegriffen und fortgeschrieben wurde. Das Bild der Schweiz mit einschließt. zeigt das Germanendorf kurz bevor „Deutschland Die Irritation der als bekannt vorausgesetzten aus der geschichtslosen Ruhe eines prähistori- ‚Heimat‘ durch die Bilder aus den frühesten Tagen schen Volkes hinaustritt auf den Schauplatz der ebenjener Heimat endet erst mit dem zehnten Weltgeschichte, auf dem es unter Strömen von Bild. Dieses zeigt ein nordöstlich vom Harz liegen- Blut die größten Kulturaufgaben unseres Erdtei- des, also in ‚unserem Norden‘ beheimatetes Ger- les zu lösen berufen war […]“ (Götze 1898, 48). manendorf: „Im Schatten mächtiger Eichen liegt Es ist alles vorhanden, was den Germanenmythos friedlich das Dorf da und reckt seine Strohdächer im Rahmen der nationalistischen Vereinnahmung empor. Man könnte glauben, ein deutsches Dörf- um 1900 auszeichnet.2 Germanen und Deutsche chen aus dem 19. Jahrhundert zu erblicken […]“ werden gleichgesetzt, es handelt sich um „unsere (Götze 1898, 46). Hier finden sich zwei der wirk- germanischen Vorfahren“ (Götze 1898, 45). Die mächtigsten Heimatvorstellungen um 1900 über- Germanen sind ein noch naturhaftes, d.h. jugend- blendet. Einmal sehen wir eine Dorfidylle, wie sie liches Volk, das sich durch einen „Überschuß die Heimatliteratur des späten 19. Jahrhunderts von Lebenskraft“ auszeichnet (Götze 1898, 48). hervorbrachte, die ‚Heimat‘ unter dem Druck von Gerade weil sie noch nicht in die Geschichte ein- Industrialisierung und Urbanisierung bevorzugt in getreten sind und damit vor allen Verwerfungen vorindustriellen Produktions- und Lebensweisen und Überformungen der deutschen Geschichte und damit in einer verloren gegangenen Vergan- existierten, bieten sich die Germanen allen Deut- genheit verortete, die für viele Zuhörer und Leser schen als gemeinsame Vorfahren an. Ihre ‚Urhei- aber zugleich noch erlebte oder zumindest vom mat‘ wurde in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhun- Hörensagen bekannte Kindheit war. Diese Vergan- derts von vielen Anthropologen und Archäologen genheit konnte aber gerade in Deutschland auch neu im mittleren oder nördlichen Europa, und bis in ein imaginiertes „Mittelalter“ zurückreichen, nicht länger im Kaukasus verortet. Also ebendort, dessen Ständegesellschaft in Zeiten tiefgreifender wo das Deutsche Reich Gestalt angenommen hat gesellschaftlicher Transformationsprozesse Orien- und eine neue Heimat bieten möchte. Außerdem tierung und Sinn zu stiften versprach (vgl. Petri treten die Germanen „das Erbe des römischen 2001, 84-86). Diese Dorfidyllen haben einen loka- Weltreiches“ (Götze 1898, 48) an und erhalten len Charakter und gleichen sich, so verschieden damit einen weltgeschichtlichen Auftrag, den das sie auch ausfallen mochten, gerade darin, dass sie Deutsche Reich dankbar annimmt und weiter- als Heimat einen nur eng umrissenen, als natür- führt. Denn der „Kampf ums Dasein“, so endet lich gegeben erfahrenen Horizont einschließen. der Vortragsabend in der Taubenstraße, „zwingt Mit der Reichsgründung 1871 wuchs allerdings auch uns heute, für die noch immer […] über- der Druck, das Gebilde auch im Inneren zu kon- quellende und überschüssige Lebenskraft germa- solidieren und der deutschen Nation eine über nischen Volkstums neue Gebiete zur Bethätigung die lokalen und regionalen Identitäten, die vielen ihrer Lebensinteressen zu suchen“ (Götze 1898, kleinen ‚Heimaten‘ hinausgehende konsensfähige 62f.). historische Tradition, die eine ‚deutsche Heimat‘ Die Irritation der als bekannt vorausgesetz- zu geben. Heimaterleben und Nationalismus gin- ten ‚Heimat‘ durch die Bilder aus den frühesten gen mit der Gründung des Nationalstaats eine Tagen, in denen das heimatliche Erscheinungsbild innige Verbindung ein und waren fortan gleicher- maßen Gegenstand der ‚invention of tradition‘. 2 Form und Funktion des Germanenmythos im Deutschen Zu diesem Zeitpunkt lässt sich ein gesteigertes Reich sind Kipper 2002 und Wiwjorra 2006 entnommen.
Kulturwissenschaftliche Zeitschrift - 1/2020 37 sich mehrfach radikal wandelte, endet mit dem wand inszeniert und den Zuschauern vor Augen Auftritt des germanischen Volkes auf der Bühne geführt wurde, zeigte sich prekär: zerrissen zwi- der Weltgeschichte. Hier hat die Landschaft eine schen einem tief in der Zeit verorteten natürli- Form angenommen, deren Kontinuität bis zur chen Lebensraum, der nicht ungestraft verlassen einsetzenden Industrialisierung im 19. Jahrhun- wird, und ihrer für die Zukunft nicht nur mögli- dert als ungebrochen vorgestellt wird, weswegen chen, sondern gar geforderten Erweiterung. das Germanendorf einem deutschen Dörfchen aus dem 19. Jahrhundert zum Verwechseln ähn- lich sieht. Die Entwicklung, die sich in den Bildern III Wilhelm Bölsche. aus den frühesten Tagen vollzieht, kann als ein Erwachen der ‚Heimat‘ zu der ihr eigenen Form Rekonstruktion der deutschen beschrieben werden, die endlich in der ‚Urheimat‘ Landschaftsseele der Germanen einen bleibenden Ausdruck findet. Die imaginäre Zeitreise in die ferne Vergangen- Als 1915 Die Deutsche Landschaft in Vergangen- heit hilft, die Heimat der Deutschen verstanden heit und Gegenwart des Schriftstellers Wilhelm als nationale Einheit in der Tiefe der Zeit zu ver- Bölsche (1861–1939) erschien, hatte die Heimat orten und damit zu stabilisieren. In der ‚Urheimat‘ unter dem Eindruck des ersten Kriegsjahres an findet die von Rolf Petri für das Deutsche Reich klaren Konturen gewonnen. „Heimat“, schreibt ausgemachte gleichermaßen inflationäre Verwen- der Herausgeber und Direktor der Urania Franz dung des Wortes Heimat und des Präfixes Ur-, Goerke in seinem Vorwort, „das ist Dein Vater- das von der Sehnsucht nach einem „jenseits der land, das hast Du zu schützen gegen Deine Zeitgrenze liegenden Ort ohne Ent-Fremdendes Feinde und Neider ringsum“. Zu diesem Zweck und Un-Eigentliches“ (2001, 92) zeugt, zusam- sollten über 130 Bilder von der „deutsche[n] men. Die Landschaft, die bei Götze erst einmal Landschaft in ihrer unendlichen Vielseitigkeit“ Zeugnis von einem radikalen historischen Wan- im Leser „Heimat und Heimatliebe“ hervorrufen del ablegt, wird mit dem Eintreten der Germanen (Bölsche 1915a, 5). Ob den Soldaten im Schützen- in die Geschichte in Natur überführt. Die ‚Urhei- graben beim Gedanken an die Heimat tatsächlich mat‘ wird zum „versteinerte[n] Ort“ (2001, 92). die unendliche Vielseitigkeit des Vaterlands vor Widerspruchsfrei ist diese von Götze im heimat- Augen gestanden hat, und nicht vielmehr das lichen Boden geborgene deep time Heimat des- Lokalkolorit ihres Geburtsortes, darf bezweifelt wegen nicht. Sie beinhaltet sowohl Elemente des werden, aber zumindest an der Heimatfront galt alten, im Nationalstaat gipfelnden Nationalismus, es, Nation und Heimat zur Deckung zu bringen als auch des modernen, imperialistischen Natio- und die Heimat in den Dienst des Krieg führenden nalismus. Es wird zeitgleich eine nationale Ver- Vaterlands zu stellen. Hierzu musste dieses deut- gangenheit erfunden und eine nationale Zukunft sche Vaterland an konkreter, sinnlicher Gestalt in Aussicht gestellt, die im alltäglichen Kampf gewinnen, und die Landschaft schien Goerke und ums Dasein nur aus kolonialer Expansion und Bölsche hierfür das richtige Medium zu sein. Sie Eroberung bestehen kann. Eine von Götze aus- richtet den Blick in die Vergangenheit und stellt die gemachte „geheimnisvolle Sehnsucht nach dem „Fragen nach dem ‚Woher‘ allen Seins und allen Süden“ (1898, 61) treibt den Germanen/Deut- Werdens“ (Bölsche 1915a, 5) – und beantwortet schen zwar immer wieder an die Sonne, womit sie zugleich. In diesen ersten Jahrzehnten des sich die kolonialen Bestrebungen des Deutschen 20. Jahrhunderts vermittelt die Landschaft nicht Reichs bestätigt sehen durften, aber dort, wo die mehr allein, wie das Stephan Günzel in seinen Germanen im Zuge der Völkerwanderung tat- Überlegungen zur Landschaft als historisch wan- sächlich ihre ‚Urheimat‘ verlassen und in Richtung delbarem Medium formulierte, „eine Gestalt des Süden wandern, verlieren sie laut Götze „wie Nationalen, sondern ist zum eigentlichen Sitz der eine auf fremden Boden verpflanzte Blume ihre Volksseele geworden: die Landschaft ist Heimat“ Kraft und gehen über kurz oder lang zu Grunde“ (2007, 238). (1898, 57). Die Heimat, die an diesem Abend im Hatte Götze noch jene Zeiträume im Blick, Theater der Urania mit großem technischen Auf- aus denen Spuren menschlicher Tätigkeit über-
38 10.2478/kwg-2020-0023 | 5. Jahrgang 2020 Heft 1: 31–42 liefert sind, greift Bölsche auf der Suche nach der „australische Korallensee im Umkreise des austra- „deutsche[n] Landschaftsseele“ (1915a, 21) auch lischen Festlandes, Neu-Guineas und der benach- auf jene Jahrmillionen der Erdgeschichte aus, die barten weit in die blaue Ozeanfläche ausschwär- ohne den Menschen ausgekommen sind: menden Korallenarchipele“ ein anschauliches Bild gibt (Bölsche 1915a, 49). Dergestalt gibt die ferne Schauen wir mit dem Auge des Geologen nun in Vergangenheit der Heimat Aufschluss darüber, ob unsere deutsche Landschaft […]. Auch diese deutsche die im Rahmen der deutschen Expansion annek- Landschaftsseele hat in der unendlichen Dauer ihrer tierten Gebiete zur zukünftigen Heimat werden Vorgeschichte schon eine Art solcher „Seelenwande- rung“ durchgemacht, auf der sie wechselnd bald mehr können. Heimat, geben die prähistorischen Land- dieses, bald mehr jenes Antlitz der andern irdischen schaften des Deutschen Reichs all jenen zu ver- Landschaften von heute trug. Tropenwald und Pola- stehen, die ihre „sichtbaren Spuren noch in dem röde, Korallengrund und Wüste waren auch einmal bei Heutigen“ (Bölsche 1915a, 71) zu lesen verstehen, uns. (1915a, 21) kann soviel mehr sein, und in einem expandie- renden Kolonialreich wird die Suche nach dem Was Götze bereits in einzelnen, aber längst nicht Eigenen in der Fremde zur eigentlichen Heimat. allen Bildern seiner Urzeit des Menschen zur Aus diesem Grund dürfte Goerke die „Frage nach Anwendung brachte, nämlich den veranschau- den Schicksalen der Erde“ in seinem Vorwort lichenden Vergleich von prähistorischen Land- einigermaßen überraschend zu den wichtigsten schaften mit ‚Bildern‘ aus der Gegenwart, wird Fragen überhaupt gezählt haben, die auch in bei Bölsche zum Programm. Jede prähistorische Kriegszeiten „einen jeden denkenden Menschen Deutsche Landschaft hat in der Gegenwart ihre beschäftigen müssen“ (Bölsche 1915a, 5). Entsprechung. Dergestalt können Zeit und Raum Voraussetzung dieser imperialistischen aufeinander abgebildet werden; die imaginäre Lektüre prähistorischer Landschaften ist die Zeitreise in die Vergangenheit der Deutschen Annahme, dass Raum und Zeit ein Kontinuum Landschaft entpuppt sich als ein Reise um den bilden, in dem die Rede von ‚Deutschland‘ Sinn Globus. Das Heimweh nach dem Süden, nach macht. Wie abenteuerlich diese Annahme ist, Sonne und Exotik, das neben Hellpach und Götze zeigt die „Erd-Karte der älteren Urwelt“, die dem auch Bölsche den Deutschen attestiert, findet Text als Initiale beigegeben ist (Abb. 1). damit ein neues Objekt der Sehnsucht: es liegt Die Karte zeigt den nördlichen und den süd- nicht mehr länger „[i]rgendwo und nirgendwo fern lichen Superkontinent zur Zeit des Devon, durch im Süden“, sondern ist „ein Urbild unserer deut- die Tethys voneinander getrennt. Dieser Urwelt- schen Heimat“ (1915a, 22). Anstelle einer Reise karte ist eine zweite, aktuelle Weltkarte hinter- nach Kaiser-Wilhelms-Land tut es auch ein Blick in legt. Mittels dieses Konstrukts kann Bölsche die Deutsche Landschaft zur Jurazeit, von der die in der Devonzeit das Meer „über Deutschland Abb. 1: Erd-Karte der älteren Urwelt (aus Bölsche 1915a, 21).
Kulturwissenschaftliche Zeitschrift - 1/2020 39 blauen“ (1915a, 21) lassen. Nur: so richtig es ist, burg des Preußischen Kaiserhauses thront, zeigt dass sich überall auf dem Gebiet des Deutschen das Frontispiz zu Das Leben der Urwelt (Abb. 3) Reichs marine Sedimente finden, so fiktiv ist das an ebenjener Stelle eine exotische Südseeland- Kontinuum, das diese Kartenkonstruktion zu evo- schaft. zieren sucht. Was für die von Götze in den Blick Im Vordergrund des von Hugo Wolff-Maage genommenen Ur- und Frühgeschichtlichen Zeit- gefertigten Bildes, das die Juraperiode zeigt, auf räume weitgehend gilt, die territoriale Kontinuität deren Sedimenten dereinst die Burg Hohenzol- ihrer Spuren und Artefakte, gilt nicht gleicher- lern thronen wird, jagen zwei Plesiosaurier, ein maßen für die Zeiträume der Erdgeschichte. Was erwachsenes Tier mit Nachwuchs, nach Nah- 1915 im Deutschen Reich an Sedimenten zu fin- rung. In nuce bringt das Frontispiz zur Anschau- den ist, konnte zur Zeit des Devon ganz woanders ung, wofür das ‚Leben der Urwelt‘ bei Bölsche abgelagert worden sein. Die Rede von den prä- Modell steht: für Reproduktion und Nahrungs- historischen Landschaften des Deutschen Reichs aufnahme, für einen voll entfesselten, noch ist folglich eine gewaltige Konstruktionsleistung. nicht sozial eingehegten Kampf ums Dasein, in Die Suggestion von territorialer Integrität über welchem dennoch bereits der ‚Geist‘ sichtbar alle Revolutionen der Erdgeschichte hinweg trägt ist. Im Hintergrund rechts ist der Antagonist des erheblich zur Naturalisierung und Stabilisierung Plesiosaurus zu sehen, ein Ichthyosaurier. Die politischer Ansprüche und Grenzen bei. bei Holzmaden auf der Schwäbischen Alb, nicht Wie eine solche prähistorische Landschaft aus- weit vom Hohenzollern zuhauf gefundenen fossi- gesehen haben mag, zeigt das Frontispiz zu Böl- len Überreste des Ichthyosaurus machten diesen sches Das Leben der Urwelt (1931), das die Leser zu einem echt deutschen Saurier, den Bölsche „in fremde Zonen und Meere, zu geheimnisvollen „natürlichen U-Boot[en]“ gleich „auf die ozeani- Wäldern und seltsamster Tierwelt [führt], kaum sche Erdumsegelung [sich] begeben“ lässt, um daß wir unsere engste Heimat dafür zu verlas- „wie tapfere Ritter gegen fremdes Sauriervolk“ sen brauchen“ (3). Es gehört zu den zahlreichen zu ziehen, wobei sie von „Schwaben bis Indien Werken, mit denen Bölsche wie kein anderer die und Australien gekommen“ (1931, 94) sind. Evolutionstheorie von Charles Darwin und deren Diese Analogie erschöpft sich bei ihm nicht im Adaption durch Ernst Haeckel im Deutschen Reich Metaphorischen. Aufgrund seiner speziellen Aus- als Weltdeutungsentwurf populär gemacht hat. legung der Evolutionstheorie sieht er die Natur Und zwar nicht in Form eines kalten Sozialdar- im Ichthyosaurus tatsächlich auf niedriger Stufe winismus, sondern in einer naturphilosophisch- erreichen, was deutsche Ingenieurskunst mit idealistischen Form, die den ‚Geist‘ bereits in der dem U-Boot auf ungemein höherer Stufe wieder Natur am Werk sieht, bis er endlich im Menschen schaffen sollte. Weil in Bölsches Weltdeutung – zu sich selbst kommt. Philipp Sarasin und Michael wie er bereits in Der Mensch der Zukunft schrieb Hagner haben Bölsches Weltsicht zutreffend als – jedes Tier „bis zum Ichthyosaurus hinab“ „Darwin mit Goethe, Schelling und Hegel“ (2008, (Bölsche 1915b, 63) noch einmal Mensch wird, 57) beschrieben. Weil Evolution in Bölsches Aus- insofern dieser sich seinen Entwicklungsgang legung dadurch „nichts anderes als die Bildungs- vergegenwärtigt, kann der Ichthyosaurus hier geschichte des Menschen“ ist, kann er in Das tatsächlich zum Vorfahren des Deutschen wer- Leben der Urwelt schreiben: „Auch in diesen Sau- den, hat das Deutsche Reich von 1931 mitsamt riern hat sich ein weltgeschichtlicher und geistes- seiner Marine im „Saurierland“ (Bölsche 1931, geschichtlicher Gedanke der Natur einmal ausge- 15) von vor Jahrmillionen seine Entsprechung. lebt, wie er in uns schafft und wirkt.“ (Bölsche Dergestalt transformiert die Urwelt bei Bölsche 1931, 298) zu einem ins Symbolische verschobenen Schau- In diesem populärwissenschaftlichen Werk platz imperialistischer Phantasmen, der Leser rekonstruiert Bölsche die deep time Heimat, wo braucht die „engste Heimat“ nicht zu verlassen, er zuvor lediglich ihren Spuren nachging. Wo um „in fremde Zonen und Meere“ (Bölsche 1931, Die Deutsche Landschaft in Vergangenheit und 15) vorzudringen. Diese ‚Heimat‘ ist Schauplatz Gegenwart den Hohenzollern zeigt (Abb. 2), einen der immer gleichen Kämpfe, ob in den Tagen der Zeugenberg der zum Juragebirge gehörenden großen Saurier, der Germanen oder des Deut- Schwäbischen Alb, auf dessen Gipfel die Stamm- schen Reichs.
40 10.2478/kwg-2020-0023 | 5. Jahrgang 2020 Heft 1: 31–42 Abb. 2: Der Hohenzollern im Schwäbischen Jura (aus Bölsche 1915a, 81). IV F azit. Form und Funktion der zwar weiterhin in der Kindheit und Jugend ver- deep time Heimat ortet, aber an die Seite der individuellen Erinne- rung trat das kollektive Gedächtnis an die Kindheit Das Deutsche Reich, das haben die Fallbeispiele und das Jugendalter des Volkes und der Nation. gezeigt, sah parallel zur räumlichen auch eine Heimaterleben konnte fortan auch die ‚Urheimat‘ zeitliche Expansion der Heimat, welche über die der Germanen mit einschließen. Andererseits war nahe Vergangenheit weit hinausreichte und über die zeitliche Ausdehnung der Heimat eine Reak- die Ur- und Frühgeschichte bis tief in die Erdge- tion auf die „Tiefendimension des Lebens“ (Kugler schichte ausgriff. Die Notwendigkeit dieser zeit- 2013, 397), die Darwin mit der Formulierung seiner lichen Ausdehnung ergab sich einerseits aus der Evolutionstheorie einführte. In dem Moment, wo Reichsgründung 1871, infolge derer der deutschen diese zu einem umfassenden Weltdeutungsent- Nation eine konsensfähige historische Tradition, wurf ausgebaut wird, wie das bei Bölsche der Fall eine ‚deutsche Heimat‘ zuwachsen musste. Das war, der die Gegenwart als eine Aktualisierung des hieraus resultierende Heimaterleben im Deutschen längst Vergangenen beschrieb, galt es das ‚Leben‘ Reich war in zuvor ungekanntem Ausmaß an einen in seiner aktuellen Verfasstheit auf seinen erdge- erstarkten Nationalismus geknüpft. Heimat wurde schichtlichen Sinn hin zu befragen.
Kulturwissenschaftliche Zeitschrift - 1/2020 41 Abb. 3: Im süddeutschen Meer der Juraperiode (aus Bölsche 1931: Frontispiz). Heimat, das zeigt Bölsches Die Deutsche kündet von den tief im Boden wurzelnden natür- Landschaft in Vergangenheit und Gegenwart ganz lichen Ursprüngen der deutschen Nation. Autoren klar, erschloss sich den Zeitgenossen bevorzugt wie Götze und Bölsche, die ihre Leser dazu anlei- im Medium der Landschaft. Die im Verlauf der teten, die Spuren der Zeit in der heimischen Land- zeitlichen Expansion erschlossenen prähistori- schaft zu sehen und zu lesen, beförderten folglich schen Landschaften des Deutschen Reichs waren ein umfassenderes und zugleich abstrakteres, ein ähnlich exotisch wie jene fremden Landschaften, ,nationales‘ Heimaterleben. 2) Die imperialisti- die im Zuge der räumlichen Expansion das deut- sche deep time Heimat. Diese deep time Heimat sche Kolonialreich zu bieten hatte. Ja mehr noch: wird, gerade weil sie lange Zeiträume in den Blick Die Reise in die Vergangenheit der Heimat war in zu nehmen vermag, zum Anschauungsfall für den allen Fällen zeitgleich eine Reise um den Globus. von beiden Autoren ausgemachten ‚Kampf ums Das Heimweh nach dem Süden, nach Sonne und Dasein‘. Expansion ist hierin die einzig mögliche Exotik, das alle behandelten Autoren den Deut- Form der Weiterentwicklung. Die ‚Heimat‘ ist also schen attestierten, konnte somit gleichermaßen immer schon auf ihre Erweiterung hin angelegt, mit Bildern aus den Kolonien und aus der Vergan- sie muss expandieren. Was ‚Heimat‘ ist, wird genheit der Heimat gestillt werden. folglich erst die Zukunft zeigen. Es gab sie folglich, die Heimat in der deep time. Wirklich miteinander vereinbar sind die zwei Sie trat in zwei Versionen mit je unterschiedlichen Konzeptionen von deep time Heimat im Deut- Funktionen auf den Plan. 1) Die nationalistische schen Reich nicht. Und doch scheinen sie komple- deep time Heimat. In ihr enden die transformati- mentäre Aufgaben wahrzunehmen, sodass weder ven Kräfte der deep time zu einem Zeitpunkt, in Götze noch Bölsche auf die eine oder die andere dem Heimat ‚zu sich selbst gekommen‘ ist. Diese Konzeption verzichten wollen. Damit die prähisto- fortan der Zeit enthobene Urheimat hilft, die nati- rischen Landschaften des Deutschen Reichs zum onale Einheit in der Tiefe der Zeit zu verorten und Medium der im Boden wurzelnden, gleichsam damit zu stabilisieren. Diese deep time Heimat versteinerten deep time Heimat avancieren kön-
42 10.2478/kwg-2020-0023 | 5. Jahrgang 2020 Heft 1: 31–42 Konturen und Konjunkturen eines umstrittenen nen, müssen die transformativen Kräfte der Erd- Konzepts. Bielefeld: transcript, S. 9-56. geschichte im Zeitraffer vor Augen geführt wer- Geulen, Christian (2003): „The Final Frontier…“ Heimat, den. Dadurch wiederum gerät der feste Boden, Nation und Kolonie um 1900: Carl Peters. In: auf dem die Heimat steht, in Bewegung, sodass Kundrus, Birthe (Hg.): Phantasiereiche. Zur Kulturge- sie sich nur mittels Expansion erhalten lässt. Die schichte des deutschen Kolonialismus. Frankfurt/New York: Campus, S. 35-55. zeitliche Expansion der Heimat im Deutschen Günzel, Stephan (2007): Landschaft als Medium: Reich führt also dazu, das sich das Heimaterleben Historische Formen. In: Archiv für Mediengeschichte in einer liminalen Zeitzone abspielt, gelegen zwi- 7: Stadt – Land – Fluss. Medienlandschaften, schen dem, was die Heimat in der Vergangenheit S. 231-238. geworden war, und dem, was sie zu ihrer Bewah- Güttler, Nils (2017): Heimat und Ökologie: rung in Zukunft werden muss. Hierin erweist sich Umgebungswissen in der Botanik um 1900. In: Huber, Florian/Wessely, Christina (Hgg.): Milieu. die deep time Heimat als prekär. Umgebungen des Lebendigen in der Moderne. Paderborn: Wilhelm Fink, S. 105-120. Jäger, Jens (2009): Colony as Heimat? The Formation Literaturverzeichnis of Colonial Identity in Germany around 1900. In: German History 27/4, S. 467-489. Quellen Jäger, Jens (2010): Plätze an der Sonne? Europäische Visualisierungen kolonialer Realitäten um 1900. Bölsche, Wilhelm (1915a): Die Deutsche Landschaft in In: Kraft, Claudia/Lüdtke, Alf/Martschukat, Jürgen Vergangenheit und Gegenwart. Mit über 130 Bildern. (Hgg.): Kolonialgeschichten. Regionale Perspektiven In: Goerke, Franz (Hg.). Berlin-Charlottenburg: Vita auf ein globales Phänomen. Frankfurt/New York: Deutsches Verlagshaus. (= Leuchtende Stunden; 8). Campus, S. 162-184. Bölsche, Wilhelm (1915b): Der Mensch der Zukunft. Kipper, Rainer (2002): Der Germanenmythos im Stuttgart: Kosmos, Gesellschaft der Naturfreunde. Deutschen Kaiserreich. Formen und Funktionen Bölsche, Wilhelm (1931): Das Leben der Urwelt. Aus den historischer Selbstthematisierung. Göttingen: Tagen der großen Saurier. Leipzig: Georg Dollheimer. Vandenhoeck & Ruprecht. Götze, Alfred (1898): Die Urzeit des Menschen. Bilder Kugler, Lena (2013): Die Tiefenzeit von Dingen und aus den frühesten Tagen unserer Heimat. Scenischer Menschen. (Falsche) Fossilien und die „Bergwerke zu Vortrag. Berlin: Verlag der Gesellschaft „Urania“. Falun“. In: Weimarer Beiträge 59/3, S. 397-415. Hellpach, Willy (1935): Geopsyche. Die Menschenseele Lekan, Thomas M. (2004): Imagining the Nation in unterm Einfluß von Wetter und Klima, Boden und Nature. Landscape Preservation and German Identity, Landschaft. Vierte, völlig neu bearbeitete Auflage der 1885–1945. Cambridge, MA/London: Harvard „Geopsychischen Erscheinungen“. Leipzig: Wilhelm University Press. Engelmann. Miller, Rudolf (2018): Von Willy Hellpachs „Geopsyche“ bis heute. Eine Spurensuche in der Psychologie. Forschungsliteratur In: Braungart, Georg/Büttner, Urs (Hgg.): Wind und Wetter. Kultur – Wissen – Ästhetik. Paderborn: Becker, Kristin (2011): „Welt von Wundern“. Die Berliner Wilhelm Fink, S. 333-356. Urania um 1900. In: Becker, Tobias/Littmann, Anna/ Petri, Rolf (2001): Deutsche Heimat 1850–1950. In: Niedbalski, Johanna (Hgg.): Die tausend Freuden Comparativ 11/1, S. 77-127. der Metropole. Bielefeld: transcript, S. 283-302. Sarasin, Philipp/Hagner, Michael (2008): Wilhelm Büttner, Willfried (1999): Alfred Götze – Pionier Bölsche und der „Geist“. Populärer Darwinismus der Spatenforschung und der archäologischen in Deutschland 1887–1934. In: Nach Feierabend. Denkmalpflege. In: Alt-Thüringen. Jahresschrift Zürcher Jahrbuch für Wissensgeschichte 4. Darwin. des Thüringischen Landesamtes für archäologische Zürich/Berlin: diaphanes, S. 47-67. Denkmalpflege 33, S. 10-29. Wiwjorra, Ingo (2006): Der Germanenmythos. Gebhard, Gunther/Geisler, Oliver/Schröter, Steffen Konstruktion einer Weltanschauung in der Altertums- (2007): Heimatdenken: Konjunkturen und Konturen. forschung des 19. Jahrhunderts. Darmstadt: Statt einer Einleitung. In: Dies. (Hgg.): Heimat. Wissenschaftliche Buchgesellschaft.
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