Deep time Heimat. Die prähistorischen Landschaften des Deutschen Reichs - Artikel - Sciendo

Die Seite wird erstellt Ansgar-Maximilian Mann
 
WEITER LESEN
Deep time Heimat. Die prähistorischen Landschaften des Deutschen Reichs - Artikel - Sciendo
Artikel
Patrick Stoffel*

Deep time Heimat.
Die prähistorischen Landschaften
des Deutschen Reichs

     © 2020 Patrick Stoffel, licensee De Gruyter Open. This work is licensed under the Creative Commons Attribution-NonCommercial-NoDerivatives 3.0 License
32                                                           10.2478/kwg-2020-0023 | 5. Jahrgang 2020 Heft 1: 31–42

Abstract: Im Deutschen Reich avancierte die Landschaft zum zentralen Medium des Heimaterlebens.
Dabei erfuhr die Heimat mittels der Erfahrung von fremden und exotischen Landschaften in den Kolonien
eine nie dagewesene räumliche Expansion: aus der Ferne konnte die Nation selbst zur Heimat werden.
Während diese räumliche ‚Dehnbarkeit‘ der Heimat (und deren identitätsstiftende Funktion) schon
seit Längerem Gegenstand der Forschung ist, erfuhr die zeitliche Dimension der Heimat bislang wenig
Aufmerksamkeit. Obwohl die Entdeckung und Entfaltung der geologischen Zeitskala im 19. Jahrhundert
neue, unvorstellbar große Zeiträume bereitstellte, blieben der Heimat scheinbar enge zeitliche Grenzen
gesetzt. Dieser Beitrag zeigt anlässlich der Untersuchung populärwissenschaftlicher Schriften aus den
Jahren 1898–1931 von Alfred Götze und Wilhelm Bölsche, dass im Deutschen Reich parallel zur räumlichen
Expansion der Heimat auch eine zeitliche Expansion erfolgte, die über die Verortung der Heimat in der
‚guten alten Zeit‘ weit hinausreichte und über die Ur- und Frühgeschichte bis tief in die Erdgeschichte
ausgriff. Im Medium prähistorischer Landschaften erschloss sich den Zeitgenossen eine in zwei Versionen
vorliegende deep time Heimat. Eine nationalistische deep time Heimat verortete die nationale Einheit in
der Tiefe der Zeit und beförderte damit ein umfassenderes und zugleich abstrakteres, ein ,nationales‘
Heimaterleben. Eine imperialistische deep time Heimat diente als Anschauungsfall für den ‚Kampf ums
Dasein‘ und wies die Expansion der Heimat als einzig möglichen Weg zu ihrer Bewahrung aus.

In the German Reich, the landscape became the central medium to experience Heimat. The exotic
landscapes the colonies provided led to an unprecedented spatial expansion: from a distance, the nation
itself could become Heimat. While this spatial ‘extensibility’ as well as its capability to establish identity has
long been the subject of research, so far the temporal dimension of Heimat has received little attention.
The new and unimaginably long periods of time the discovery and exposition of the geological time scale
in the 19th century provided seemed not to affect the Heimat. Examining popular scientific writings from
the years 1898–1931 by Alfred Götze and Wilhelm Bölsche, this article shows that in the German Reich
along with the spatial expansion of Heimat a temporal expansion took place. Including prehistory and
earth history, this temporal expansion reached far beyond locating the Heimat in the ‘good old days’. In
the medium of prehistoric landscapes, the contemporaries could experience two versions of a deep time
Heimat. A nationalist deep time Heimat localized national unity in the depths of time, thus promoting a
more comprehensive and at the same time more abstract ‘national’ Heimat. An imperialist deep time
Heimat helped to expose the ‘struggle for existence’ and promoted the expansion of the Heimat as the
only possible way to preserve it.

Keywords: Urzeit, Deep-Time, Popular Science, Heimat und Erdgeschichte, Imperialismus, Nationa-
lismus

*Dr. Patrick Stoffel, Leuphana Universität Lüneburg, Institut für Geschichtswissenschaft und Literarische Kulturen,
Professur für Kulturgeschichte des Wissens, E-Mail: Patrick.Stoffel@leuphana.de

I W
   illy Hellpach. Vom Heimweh                              lebens der populären „Blut-und-Boden“-Ideologie
  nach exotischen Landschaften                              zu entziehen. Dem zeitgenössischen Diskurs, der
                                                            die Grenzen zwischen geistiger und biologischer
„Heimat“, schrieb Willy Hellpach, „erlebt der               Milieuabhängigkeit gerade auch mittels des Hei-
schlichte Mensch erst in der Fremde“ (1935, 219).           matbegriffs immer weiter auflöste (vgl. Güttler
Dieser eine, prägnante Satz reichte dem Medi-               2017), wollte und konnte er sich jedoch nicht ver-
ziner, Psychologen und Politiker Willy Hellpach             weigern. Der vierten, unter dem Titel Geopsyche
(1877–1955), der über viele Jahrzehnte hinweg               erschienenen Auflage der erstmals 1911 unter
den Einfluss von Wetter, Klima und Landschaft,              dem Titel Die geopsychischen Erscheinungen ver-
später auch des Bodens, auf das Seelenleben des             öffentlichten Ergebnisse seiner Arbeit fügte er ein
Menschen erforschte, den Vorgang des Heimater-              neues, mit dem Einfluss des Bodens beschäftigtes
Kulturwissenschaftliche Zeitschrift - 1/2020                                                                 33

Kapitel hinzu, in welchem er die „Aufhellung der      mat hervorbringt. Eine Landschaft aber vermag
Bodenwesenhaftigkeit des Menschen“ als „eine          der Mensch erst dort zu erblicken, so Hellpach,
der großartigsten wissenschaftlichen Aufgaben         wo ihm die Natur nicht länger Ressource ist,
des 20. Jahrhunderts“ auswies. Er sah aber für        „ohne jeden Nutzzweck“ (1935, 201). Ein derart
die „Bodenhörigkeit“ der Lebewesen als zentralen      als Landschaft erblicktes Stück Erde macht einen
Lehrsatz der „Blut-und-Boden“-Ideologie, wie er       „Eindruck“ auf den Menschen, ein Vorgang, den
vom Anthropologen und Rassentheoretiker Egon          Hellpach vom „Einfluss“ nehmen, wie er Grund-
Freiherr von Eickstedt in den Satz „Keine Homi-       lage des „Bodenhörigkeit“-Denkens ist, geschie-
nidenform verläßt ungestraft ihre angestammte         den wissen willl (1935, 202). Das Landschaftser-
Umwelt“ gepresst wurde, keinerlei wissenschaft-       leben bedarf daher eines synthetischen Sehens,
liche Belege (Hellpach 1935, 197 f.). Im Gegen-       womit die Landschaft unter den Eigenschaften
teil wird ‚Heimat‘, wie Hellpach schreibt, oft erst   der natürlichen Umwelt eine Sonderstellung ein-
in der Fremde erlebt, und zwar gerade aufgrund        nimmt.
ihres Verlustes. ‚Heimat‘ steht folglich sympto-          Mit seinem geopsychischen Zugang zum Hei-
matisch für das Aufbrechen der – ohne Gang in         materleben kommt Hellpach zum gleichen Ergeb-
die Fremde – unhinterfragten Einheit von Person       nis wie viele seiner Zeitgenossen auf anderen
und Umwelt. Heimat, muss man mit Willy Hell-          Wegen auch. Als organisches Fundament und
pach feststellen, ist prekär.                         wesentlicher Ausdruck heimatlicher bzw. natio-
     Hellpach ist heute weitgehend vergessen. Der     naler Identität (wobei Heimat und Nation sowohl
mit der Geschichte der Umweltpsychologie ver-         deckungsgleich als auch verschieden sein konn-
traute Rudolf Miller sieht den zentralen Grund        ten) fungierte im Deutschen Reich, wie Thomas
hierfür darin, dass er in seinem Denken dem aus-      M. Lekan mit Imagining the Nation in Nature
gehenden 19. Jahrhundert verhaftet blieb, was         (2004) dargelegt hat, die Landschaft.
zu „kategorialen Unschärfen und nicht opera-              Aber nicht alle Landschaften nehmen, so Hell-
tionalisierbaren Konstrukten“ führte (2018, 338).     pach, den gleichen Einfluss: „Unter den Arten
Gerade hierin aber liegt der Wert seiner Arbeit für   von Fremde ist es die exotische Landschaft, die
einen kulturgeschichtlichen Zugang zum Heimat-        das einfache Gemüt am elementarsten packt und
erleben im Deutschen Reich, diesem diffusen Vor-      seinem Heimweh eine oft siegreiche Widerkraft
gang, der sich um 1900 ebenso wenig wie heute         entgegenstellt.“ (1935, 219) Speziell die exoti-
durch begriffliche Schärfe auszeichnet.               sche Landschaft dient also nicht allein als Kon-
     Wenn Hellpachs Heimatbegriff darin vom zeit-     trastfolie, vor der die gewohnte, aber verlorene
genössischen Diskurs abwich, dass er sich von         Landschaft als Heimat kenntlich wird, sondern sie
deterministischen Milieutheorien distanzierte, wie    kann das hieraus resultierende Heimweh über-
sie infolge von Friedrich Ratzels Anthropogeo-        winden und selbst zur ersehnten Heimat werden.
graphie von zahlreichen Zeitgenossen vertreten        Hellpach fährt fort:
wurden, so stimmte er mit ihm in dem Aspekt
überein, dass er in der Landschaft das zentrale          Es gibt eine Art Heimweh nach exotischen Landschaf-
                                                         ten, sei es, daß sie im Fluge vorüberzogen, sei es, daß
Medium des Heimaterlebens erkannte: „[S]ehr
                                                         man sich in ihnen wie in einer neuen Heimat einge-
oft steht die heimatliche Landschaft durchaus            richtet hatte; viele Nordländer sind das Heimweh nach
im Vordergrunde dieses Erlebnisses.“ (Hellpach           Sonnigkeit und Farbigkeit der Mittelmeernatur nie
1935, 219) Landschaft zählt Hellpach neben Wet-          wieder losgeworden. (1935, 219)
ter, Klima und Boden zu den wesentlichen Eigen-
schaften der natürlichen Umwelt. Diese bildet         Habe das Heimweh nach einem ‚Platz an der
zusammen mit Gemeinschaft, Kultur und Technik         Sonne‘ zu Goethes Zeiten noch auf einer Reise
die drei Umwelten, in die der Mensch eingelas-        in den „mittelmeerische[n] Süden“ gestillt
sen ist. Das Heimaterleben resultiert bei Hellpach    werden können, führe die Reise den Heimweh-
folglich nicht primär aus dem Verlust (bzw. dem       geplagten heute in die Tropen. Damit übernimmt
Wechsel) der sozialen oder der kulturell-techni-      die ‚fremde, exotische Landschaft‘ in Hellpachs
schen, als vielmehr aus dem Verlust der natürli-      Studie exakt jene doppelte Funktion, die der His-
chen Umwelt. Und von deren Eigenschaften ist es       toriker Jens Jäger (2009) den deutschen Kolonien
wiederum die (veränderte) Landschaft, die Hei-        um 1900 innewohnen sah: als Kontrastfolie, vor
34                                                    10.2478/kwg-2020-0023 | 5. Jahrgang 2020 Heft 1: 31–42

der die gewohnte, aber verlorene Landschaft als       muss. Dieses Konzept einer in naher Zukunft zu
Heimat kenntlich wird, und als mögliche zukünf-       realisierenden Heimat gewann mit dem Eintritt
tige Heimat.                                          in das Zeitalter des Imperialismus zusehends an
     Das prekäre Heimaterleben ist bei Hellpach       Gewicht. Christian Geulen (2003, 51), der sich
zuvorderst Resultat räumlicher Mobilität, mit der     mit der Frage der Dehnbarkeit der ‚Heimat‘ im
die als natürlich gedachte Einheit von Person und     Zeitalter des Imperialismus befasste, unterschied
Umwelt aufgelöst und damit infrage gestellt, aber     einen älteren, im Nationalstaat gipfelnden Natio-
eben auch verhandelbar wird. Mit den kolonialen       nalismus vom modernen, imperialistischen Natio-
Territorien des Deutschen Reichs, dessen kolonia-     nalismus wie folgt: „An die Stelle der Erfindung
len Bestrebungen mit dem Verlust der Kolonien         einer nationalen Vergangenheit trat die Projek-
infolge des Ersten Weltkriegs mitnichten endeten,     tion einer nationalen Zukunft, an die Stelle des
erfuhr das Heimaterleben eine immense räum-           (möglichen) Kriegs gegen nationale Feinde trat
liche Ausdehnung. Hierfür bedurfte es gar nicht       der ewige und alltägliche Kampf der Rassen, und
der massenhaften Ausreise von Deutschen in die        an die Stelle nationaler Integration und Abgren-
Kolonien – was tatsächlich nicht der Fall war –,      zung trat die koloniale Expansion und Eroberung.“
es reichte die erfolgte massenmediale Verbrei-        Der historische Imperialismus mag zwar zu sei-
tung von Bildern aus und von den Kolonien (vgl.       nem Ende gekommen sein, im Genre der science
Jäger 2010). Aus dem Blickwinkel der Kolonien         fiction sieht Geulen (2003, 37) die von ihm für
aber erfuhr auch der Raum, der als Heimat ange-       das Zeitalter des Imperialismus ausgemachte
sprochen wurde, eine immense Ausdehnung.              Entgrenzung der Heimat weiter vorangetrieben.
Während für viele Deutsche das Heimaterleben          In den unendlichen Weiten des deep space „wird
eine überschaubare, lokal eng umrissene räum-         die Suche nach dem Eigenen in der Fremde zur
liche Ausdehnung besaß, und die Nation lediglich      eigentlichen Heimat, ist Expansion alles“.
als Zusammenschluss einer Vielzahl von lokalen             Das Heimaterleben im Deutschen Reich erfuhr,
Heimaten wahrgenommen wurde, konnte aus der           das hat die Forschung hinlänglich gezeigt, mit-
Ferne die Nation selbst, das Deutsche Reich, zur      tels der Erfahrung – und sei sie auch nur medial
Heimat werden (vgl. Petri 2001, 106).                 vermittelt – von Fremde und Exotik in den Kolo-
     Wenn die Verortung von ‚Heimat‘ entlang          nien eine nie dagewesene räumliche Expansion.
der Dimensionen von Raum, Zeit und Identität          Den zeitlichen Grenzen der Heimat hingegen hat
erfolgt (vgl. Gebhard/Geisler/Schröter 2007, 10),     die Forschung wenig Aufmerksamkeit gewidmet.
dann liegt Hellpachs Betonung, wie in den aller-      Obwohl die Entdeckung und Entfaltung der geo-
meisten Überlegungen zur Heimat, auf der iden-        logischen Zeitskala im 19. Jahrhundert neue,
titätsstiftenden Funktion des Raumes. Die zeitli-     unvorstellbar große Zeiträume bereitstellte, blie-
che Dimension wird von Hellpach (1935, 218) nur       ben der Heimat scheinbar enge zeitliche Grenzen
implizit angesprochen. Die in der Fremde als ver-     gesetzt. Im Folgenden möchte ich mithilfe zweier
loren empfundene Heimat ist hier wie so oft in        Fallbeispiele – Alfred Götzes szenischem Vortrag
der Kindheit angesiedelt, in der ‚guten alten Zeit‘   Die Urzeit des Menschen (1898) und den populär-
vor dem Eintritt ins Erwachsenenalter, in der die     wissenschaftlichen Schriften Die Deutsche Land-
Umwelt noch als selbstverständlich gegeben und        schaft in Vergangenheit und Gegenwart (1915)
stabil erfahren wurde. Mit Blick auf diese gängige    und Das Leben der Urwelt (1931) von Wilhelm
zeitliche Verortung ließe sich von ‚Heimat‘ als       Bölsche – der Frage nachgehen, ob im Deutschen
einem generationellen Konzept sprechen, des-          Reich parallel zur räumlichen Expansion der Hei-
sen zeitlicher Horizont die Lebensspanne eines        mat auch eine zeitliche Expansion erfolgte, die
Menschen umfasst und dessen Gehalt von jeder          über die Verortung der Heimat in der nahen Ver-
Generation neu bestimmt wird. Was bei Hell-           gangenheit, insbesondere der Kindheit, hinaus-
pach in der Rede vom „Heimweh nach exotischen         reicht. Kann analog zur Rede von der Heimat im
Landschaften“ aber auch anklingt, ist die zeitli-     deep space von einer Heimat in der deep time
che Verortung der Heimat in der nahen Zukunft.        gesprochen werden? Und falls eine solche Heimat
Heimat ist in dieser Konzeption nicht prekär auf-     in den unvorstellbar großen Zeiträumen der geo-
grund der Tatsache, dass sie bereits verloren         logischen Zeitskala tatsächlich gefunden wurde,
ist, sondern, weil sie erst noch realisiert werden    welche Funktion kam ihr zu? Wiesen prähistori-
Kulturwissenschaftliche Zeitschrift - 1/2020                                                              35

sche Landschaften genügend „Exotik“ auf, ermög-           zu jenem Zeitpunkt reichte, „wo er in unserer
lichten sie ein Erleben von Fremdheit in einem            Heimat in das volle Licht der Geschichte eintritt“
ausreichenden Maße, um aus der zeitlichen Dis-            (Götze 1898, 4). Die Koordinaten dieser Zeitreise
tanz die Gegenwart als Heimat neu bewusst erle-           entnahm Götze (1898, 4f.) nicht der „spekula-
ben zu lassen? Und handelte es sich, um bei der           tiven“ Evolutionstheorie, sondern der „empiri-
Unterscheidung von Geulen zu bleiben, um die              schen“ Spatenforschung. Es sind folglich die im
Erfindung einer nationalen Vergangenheit zwecks           Boden verwahrten Spuren und Artefakte mensch-
Identitätsstiftung im Rahmen des alten Nationa-           licher Kultur, die an diesem Abend den Weg in
lismus, oder wurde die Suche nach dem Eigenen             die frühesten Tage der Heimat weisen. Ein Wis-
in der deep time im imperialistischen Sinne zur           sen davon, was die ‚Heimat‘ in ihrer räumlichen
eigentlichen Heimat?                                      Ausdehnung umfasst, wird dabei vorausgesetzt.
                                                          Die Grenzen des heimatlichen Bodens müssen
                                                          bereits abgesteckt sein, um im Erdreich nach
                                                          seiner Tiefendimension graben zu können. Was
II A
    lfred Götze. Graben nach der
                                                          nicht bedeutet, dass sich die Vorstellung, die sich
   Urheimat                                               die Zuhörer und Leser von der ‚Heimat‘ machten,
                                                          durch ihre Erkundung in der Zeit nicht ändern
Am Montag, den 12. Dezember 1898, abends um               konnte (und sollte).
8 Uhr lud das Theater der Urania in der Tauben-               Das erste und älteste Bild aus der Heimat
straße in Berlin zu einem „Scenischen Vortrag“            zeigt eine Ansiedelung bei Taubach in Thürin-
mit dem Titel Die Urzeit des Menschen. Bilder aus         gen im Diluvium und reicht damit verschie-
den frühesten Tagen unserer Heimat. Geschrie-             denen Schätzungen zufolge zwischen 20’000
ben hat in Alfred Götze (1865–1948), ein junger           und 364’000 Jahre zurück in die Vergangenheit
Prähistoriker, der 1891 in Jena als erster in Ur-         (Götze 1898, 15). Die Technik für die genauere
und Frühgeschichte promovierte, 1894 an den               Bestimmung absoluter Zeitmaße sollte erst das
Grabungen in Troja teilnahm und im Anschluss              20. Jahrhundert liefern. Das ausgerechnet süd-
eine Stelle als Assistent in der Prähistorischen          östlich von Weimar in Thüringen, diesem zentra-
Abteilung des Königlichen Museums für Völker-             len Schauplatz deutscher Geschichte und Kultur,
kunde zu Berlin annahm (vgl. Büttner 1999).               die Anfänge menschlichen Lebens in der ‚Heimat‘
Die Dioramen zu den 14 Bildern des „Scenischen            verortet sind, verspricht eine ungebrochene Kon-
Vortrags“, die mittels Lichteffekten und aufwen-          tinuität von menschlichen Aktivitäten und ihrer
diger Bühnentechnik die Urzeit eindrucksvoll in           geographischen Verortung von der Altsteinzeit
Szene setzten, stammten von den Malern Hein-              bis ins 19. Jahrhundert. Die diluviale Landschaft
rich Harder und Wilhelm Kranz.1 Diese beiden              aber wich vom gegenwärtigen Landschaftsbild
haben mit ihren Darstellungen prähistorischer             als zentralem Träger von heimatlicher Identität
Landschaften und Lebewesen für die Urania, ver-           deutlich ab. Wo „jetzt das Dorf Taubach liegt“,
schiedene populärwissenschaftliche Schriftenrei-          beginnt der Vortrag, und spielt damit gleich zu
hen, massenmediale Formate wie Sammelkarten               Beginn mit der disruptiven Kraft langer Zeit-
sowie Auftragsarbeiten u.a. für das Deutsche              räume, „zog sich damals ein langgestreckter Bin-
Museum in München und das Aquarium Berlin                 nensee hin“ (Götze 1898, 6). Die an seinem Ufer
die Urzeitimagination im Deutschen Reich maß-             lagernden Menschen jagten Hirsche, Rehe und
geblich geprägt. In der Druckfassung des Vor-             Wildschweine, aber eben auch Elefanten, Nashör-
trags, die im gleichen Jahr auch im Verlag der            ner und Höhlenlöwen. In diesem und in den fol-
Urania erschien, finden sich die an diesem Abend          genden Bildern bricht immer wieder das Fremde
gezeigten Bilder nicht abgedruckt.                        und Exotische der heimatlichen Landschaft aus
    Der Vortrag nahm seine Zuhörer mit auf eine           den frühesten Tagen in die als bekannt voraus-
imaginäre Zeitreise, die vom ersten gesicherten           gesetzte ‚Heimat‘ der Zuhörer und Leser ein. Im
Auftritt des Menschen in der Erdgeschichte bis            Vortrag selbst kam durch die Wahl der Bilder und
                                                          mittels ihrer Erläuterung die Heimat und damit
1 Zur technisch-medialen Beschaffenheit der ‚Scenischen   verbunden das Heimaterleben in drei verschiede-
Vorträge‘ an der Urania vgl. Becker 2011, 289-292.        nen räumlichen Ausdehnungen und Intensitäten
36                                                     10.2478/kwg-2020-0023 | 5. Jahrgang 2020 Heft 1: 31–42

vor. 1) ‚Unser Norden‘ als flächenmäßig kleinste,      Interesse am Germanenmythos feststellen. Die
aber am intensivsten als solche erlebte ‚Heimat‘,      Heimatbewegung des ausgehenden 19. Jahrhun-
in der sich viele der Zuhörer in der Taubenstraße      derts machte in ihrer die Vergangenheit verklä-
in Berlin wiederfinden durften. 2) ‚Deutschland‘,      renden Reaktion auf die Moderne nicht Halt beim
seit 1871 Nationalstaat unter Führung ebenjenes        deutschen Dörfchen in vorindustriellen Zeiten.
‚Nordens‘, nämlich Preußens, die im europäischen       Auf der Suche nach natürlichen Verhältnissen
Vergleich spät Realität gewordene nationale Hei-       wandte sie sich auch dem Germanenmythos zu,
mat. 3) Die Vorstellung des deutschen Sprach-          wie er von Götze im Bild des Germanendorfes
raums als Heimat, die Bilder aus Österreich und        aufgegriffen und fortgeschrieben wurde. Das Bild
der Schweiz mit einschließt.                           zeigt das Germanendorf kurz bevor „Deutschland
    Die Irritation der als bekannt vorausgesetzten     aus der geschichtslosen Ruhe eines prähistori-
‚Heimat‘ durch die Bilder aus den frühesten Tagen      schen Volkes hinaustritt auf den Schauplatz der
ebenjener Heimat endet erst mit dem zehnten            Weltgeschichte, auf dem es unter Strömen von
Bild. Dieses zeigt ein nordöstlich vom Harz liegen-    Blut die größten Kulturaufgaben unseres Erdtei-
des, also in ‚unserem Norden‘ beheimatetes Ger-        les zu lösen berufen war […]“ (Götze 1898, 48).
manendorf: „Im Schatten mächtiger Eichen liegt         Es ist alles vorhanden, was den Germanenmythos
friedlich das Dorf da und reckt seine Strohdächer      im Rahmen der nationalistischen Vereinnahmung
empor. Man könnte glauben, ein deutsches Dörf-         um 1900 auszeichnet.2 Germanen und Deutsche
chen aus dem 19. Jahrhundert zu erblicken […]“         werden gleichgesetzt, es handelt sich um „unsere
(Götze 1898, 46). Hier finden sich zwei der wirk-      germanischen Vorfahren“ (Götze 1898, 45). Die
mächtigsten Heimatvorstellungen um 1900 über-          Germanen sind ein noch naturhaftes, d.h. jugend-
blendet. Einmal sehen wir eine Dorfidylle, wie sie     liches Volk, das sich durch einen „Überschuß
die Heimatliteratur des späten 19. Jahrhunderts        von Lebenskraft“ auszeichnet (Götze 1898, 48).
hervorbrachte, die ‚Heimat‘ unter dem Druck von        Gerade weil sie noch nicht in die Geschichte ein-
Industrialisierung und Urbanisierung bevorzugt in      getreten sind und damit vor allen Verwerfungen
vorindustriellen Produktions- und Lebensweisen         und Überformungen der deutschen Geschichte
und damit in einer verloren gegangenen Vergan-         existierten, bieten sich die Germanen allen Deut-
genheit verortete, die für viele Zuhörer und Leser     schen als gemeinsame Vorfahren an. Ihre ‚Urhei-
aber zugleich noch erlebte oder zumindest vom          mat‘ wurde in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhun-
Hörensagen bekannte Kindheit war. Diese Vergan-        derts von vielen Anthropologen und Archäologen
genheit konnte aber gerade in Deutschland auch         neu im mittleren oder nördlichen Europa, und
bis in ein imaginiertes „Mittelalter“ zurückreichen,   nicht länger im Kaukasus verortet. Also ebendort,
dessen Ständegesellschaft in Zeiten tiefgreifender     wo das Deutsche Reich Gestalt angenommen hat
gesellschaftlicher Transformationsprozesse Orien-      und eine neue Heimat bieten möchte. Außerdem
tierung und Sinn zu stiften versprach (vgl. Petri      treten die Germanen „das Erbe des römischen
2001, 84-86). Diese Dorfidyllen haben einen loka-      Weltreiches“ (Götze 1898, 48) an und erhalten
len Charakter und gleichen sich, so verschieden        damit einen weltgeschichtlichen Auftrag, den das
sie auch ausfallen mochten, gerade darin, dass sie     Deutsche Reich dankbar annimmt und weiter-
als Heimat einen nur eng umrissenen, als natür-        führt. Denn der „Kampf ums Dasein“, so endet
lich gegeben erfahrenen Horizont einschließen.         der Vortragsabend in der Taubenstraße, „zwingt
    Mit der Reichsgründung 1871 wuchs allerdings       auch uns heute, für die noch immer […] über-
der Druck, das Gebilde auch im Inneren zu kon-         quellende und überschüssige Lebenskraft germa-
solidieren und der deutschen Nation eine über          nischen Volkstums neue Gebiete zur Bethätigung
die lokalen und regionalen Identitäten, die vielen     ihrer Lebensinteressen zu suchen“ (Götze 1898,
kleinen ‚Heimaten‘ hinausgehende konsensfähige         62f.).
historische Tradition, die eine ‚deutsche Heimat‘          Die Irritation der als bekannt vorausgesetz-
zu geben. Heimaterleben und Nationalismus gin-         ten ‚Heimat‘ durch die Bilder aus den frühesten
gen mit der Gründung des Nationalstaats eine           Tagen, in denen das heimatliche Erscheinungsbild
innige Verbindung ein und waren fortan gleicher-
maßen Gegenstand der ‚invention of tradition‘.         2 Form und Funktion des Germanenmythos im Deutschen
Zu diesem Zeitpunkt lässt sich ein gesteigertes        Reich sind Kipper 2002 und Wiwjorra 2006 entnommen.
Kulturwissenschaftliche Zeitschrift - 1/2020                                                             37

sich mehrfach radikal wandelte, endet mit dem          wand inszeniert und den Zuschauern vor Augen
Auftritt des germanischen Volkes auf der Bühne         geführt wurde, zeigte sich prekär: zerrissen zwi-
der Weltgeschichte. Hier hat die Landschaft eine       schen einem tief in der Zeit verorteten natürli-
Form angenommen, deren Kontinuität bis zur             chen Lebensraum, der nicht ungestraft verlassen
einsetzenden Industrialisierung im 19. Jahrhun-        wird, und ihrer für die Zukunft nicht nur mögli-
dert als ungebrochen vorgestellt wird, weswegen        chen, sondern gar geforderten Erweiterung.
das Germanendorf einem deutschen Dörfchen
aus dem 19. Jahrhundert zum Verwechseln ähn-
lich sieht. Die Entwicklung, die sich in den Bildern
                                                       III Wilhelm Bölsche.
aus den frühesten Tagen vollzieht, kann als ein
Erwachen der ‚Heimat‘ zu der ihr eigenen Form
                                                            Rekonstruktion der deutschen
beschrieben werden, die endlich in der ‚Urheimat‘           Landschaftsseele
der Germanen einen bleibenden Ausdruck findet.
Die imaginäre Zeitreise in die ferne Vergangen-        Als 1915 Die Deutsche Landschaft in Vergangen-
heit hilft, die Heimat der Deutschen verstanden        heit und Gegenwart des Schriftstellers Wilhelm
als nationale Einheit in der Tiefe der Zeit zu ver-    Bölsche (1861–1939) erschien, hatte die Heimat
orten und damit zu stabilisieren. In der ‚Urheimat‘    unter dem Eindruck des ersten Kriegsjahres an
findet die von Rolf Petri für das Deutsche Reich       klaren Konturen gewonnen. „Heimat“, schreibt
ausgemachte gleichermaßen inflationäre Verwen-         der Herausgeber und Direktor der Urania Franz
dung des Wortes Heimat und des Präfixes Ur-,           Goerke in seinem Vorwort, „das ist Dein Vater-
das von der Sehnsucht nach einem „jenseits der         land, das hast Du zu schützen gegen Deine
Zeitgrenze liegenden Ort ohne Ent-Fremdendes           Feinde und Neider ringsum“. Zu diesem Zweck
und Un-Eigentliches“ (2001, 92) zeugt, zusam-          sollten über 130 Bilder von der „deutsche[n]
men. Die Landschaft, die bei Götze erst einmal         Landschaft in ihrer unendlichen Vielseitigkeit“
Zeugnis von einem radikalen historischen Wan-          im Leser „Heimat und Heimatliebe“ hervorrufen
del ablegt, wird mit dem Eintreten der Germanen        (Bölsche 1915a, 5). Ob den Soldaten im Schützen-
in die Geschichte in Natur überführt. Die ‚Urhei-      graben beim Gedanken an die Heimat tatsächlich
mat‘ wird zum „versteinerte[n] Ort“ (2001, 92).        die unendliche Vielseitigkeit des Vaterlands vor
Widerspruchsfrei ist diese von Götze im heimat-        Augen gestanden hat, und nicht vielmehr das
lichen Boden geborgene deep time Heimat des-           Lokalkolorit ihres Geburtsortes, darf bezweifelt
wegen nicht. Sie beinhaltet sowohl Elemente des        werden, aber zumindest an der Heimatfront galt
alten, im Nationalstaat gipfelnden Nationalismus,      es, Nation und Heimat zur Deckung zu bringen
als auch des modernen, imperialistischen Natio-        und die Heimat in den Dienst des Krieg führenden
nalismus. Es wird zeitgleich eine nationale Ver-       Vaterlands zu stellen. Hierzu musste dieses deut-
gangenheit erfunden und eine nationale Zukunft         sche Vaterland an konkreter, sinnlicher Gestalt
in Aussicht gestellt, die im alltäglichen Kampf        gewinnen, und die Landschaft schien Goerke und
ums Dasein nur aus kolonialer Expansion und            Bölsche hierfür das richtige Medium zu sein. Sie
Eroberung bestehen kann. Eine von Götze aus-           richtet den Blick in die Vergangenheit und stellt die
gemachte „geheimnisvolle Sehnsucht nach dem            „Fragen nach dem ‚Woher‘ allen Seins und allen
Süden“ (1898, 61) treibt den Germanen/Deut-            Werdens“ (Bölsche 1915a, 5) – und beantwortet
schen zwar immer wieder an die Sonne, womit            sie zugleich. In diesen ersten Jahrzehnten des
sich die kolonialen Bestrebungen des Deutschen         20. Jahrhunderts vermittelt die Landschaft nicht
Reichs bestätigt sehen durften, aber dort, wo die      mehr allein, wie das Stephan Günzel in seinen
Germanen im Zuge der Völkerwanderung tat-              Überlegungen zur Landschaft als historisch wan-
sächlich ihre ‚Urheimat‘ verlassen und in Richtung     delbarem Medium formulierte, „eine Gestalt des
Süden wandern, verlieren sie laut Götze „wie           Nationalen, sondern ist zum eigentlichen Sitz der
eine auf fremden Boden verpflanzte Blume ihre          Volksseele geworden: die Landschaft ist Heimat“
Kraft und gehen über kurz oder lang zu Grunde“         (2007, 238).
(1898, 57). Die Heimat, die an diesem Abend im             Hatte Götze noch jene Zeiträume im Blick,
Theater der Urania mit großem technischen Auf-         aus denen Spuren menschlicher Tätigkeit über-
38                                                              10.2478/kwg-2020-0023 | 5. Jahrgang 2020 Heft 1: 31–42

liefert sind, greift Bölsche auf der Suche nach der             „australische Korallensee im Umkreise des austra-
„deutsche[n] Landschaftsseele“ (1915a, 21) auch                 lischen Festlandes, Neu-Guineas und der benach-
auf jene Jahrmillionen der Erdgeschichte aus, die               barten weit in die blaue Ozeanfläche ausschwär-
ohne den Menschen ausgekommen sind:                             menden Korallenarchipele“ ein anschauliches Bild
                                                                gibt (Bölsche 1915a, 49). Dergestalt gibt die ferne
     Schauen wir mit dem Auge des Geologen nun in               Vergangenheit der Heimat Aufschluss darüber, ob
     unsere deutsche Landschaft […]. Auch diese deutsche        die im Rahmen der deutschen Expansion annek-
     Landschaftsseele hat in der unendlichen Dauer ihrer
                                                                tierten Gebiete zur zukünftigen Heimat werden
     Vorgeschichte schon eine Art solcher „Seelenwande-
     rung“ durchgemacht, auf der sie wechselnd bald mehr
                                                                können. Heimat, geben die prähistorischen Land-
     dieses, bald mehr jenes Antlitz der andern irdischen       schaften des Deutschen Reichs all jenen zu ver-
     Landschaften von heute trug. Tropenwald und Pola-          stehen, die ihre „sichtbaren Spuren noch in dem
     röde, Korallengrund und Wüste waren auch einmal bei        Heutigen“ (Bölsche 1915a, 71) zu lesen verstehen,
     uns. (1915a, 21)                                           kann soviel mehr sein, und in einem expandie-
                                                                renden Kolonialreich wird die Suche nach dem
Was Götze bereits in einzelnen, aber längst nicht               Eigenen in der Fremde zur eigentlichen Heimat.
allen Bildern seiner Urzeit des Menschen zur                    Aus diesem Grund dürfte Goerke die „Frage nach
Anwendung brachte, nämlich den veranschau-                      den Schicksalen der Erde“ in seinem Vorwort
lichenden Vergleich von prähistorischen Land-                   einigermaßen überraschend zu den wichtigsten
schaften mit ‚Bildern‘ aus der Gegenwart, wird                  Fragen überhaupt gezählt haben, die auch in
bei Bölsche zum Programm. Jede prähistorische                   Kriegszeiten „einen jeden denkenden Menschen
Deutsche Landschaft hat in der Gegenwart ihre                   beschäftigen müssen“ (Bölsche 1915a, 5).
Entsprechung. Dergestalt können Zeit und Raum                       Voraussetzung       dieser    imperialistischen
aufeinander abgebildet werden; die imaginäre                    Lektüre prähistorischer Landschaften ist die
Zeitreise in die Vergangenheit der Deutschen                    Annahme, dass Raum und Zeit ein Kontinuum
Landschaft entpuppt sich als ein Reise um den                   bilden, in dem die Rede von ‚Deutschland‘ Sinn
Globus. Das Heimweh nach dem Süden, nach                        macht. Wie abenteuerlich diese Annahme ist,
Sonne und Exotik, das neben Hellpach und Götze                  zeigt die „Erd-Karte der älteren Urwelt“, die dem
auch Bölsche den Deutschen attestiert, findet                   Text als Initiale beigegeben ist (Abb. 1).
damit ein neues Objekt der Sehnsucht: es liegt                      Die Karte zeigt den nördlichen und den süd-
nicht mehr länger „[i]rgendwo und nirgendwo fern                lichen Superkontinent zur Zeit des Devon, durch
im Süden“, sondern ist „ein Urbild unserer deut-                die Tethys voneinander getrennt. Dieser Urwelt-
schen Heimat“ (1915a, 22). Anstelle einer Reise                 karte ist eine zweite, aktuelle Weltkarte hinter-
nach Kaiser-Wilhelms-Land tut es auch ein Blick in              legt. Mittels dieses Konstrukts kann Bölsche
die Deutsche Landschaft zur Jurazeit, von der die               in der Devonzeit das Meer „über Deutschland

Abb. 1: Erd-Karte der älteren Urwelt (aus Bölsche 1915a, 21).
Kulturwissenschaftliche Zeitschrift - 1/2020                                                         39

blauen“ (1915a, 21) lassen. Nur: so richtig es ist,   burg des Preußischen Kaiserhauses thront, zeigt
dass sich überall auf dem Gebiet des Deutschen        das Frontispiz zu Das Leben der Urwelt (Abb. 3)
Reichs marine Sedimente finden, so fiktiv ist das     an ebenjener Stelle eine exotische Südseeland-
Kontinuum, das diese Kartenkonstruktion zu evo-       schaft.
zieren sucht. Was für die von Götze in den Blick           Im Vordergrund des von Hugo Wolff-Maage
genommenen Ur- und Frühgeschichtlichen Zeit-          gefertigten Bildes, das die Juraperiode zeigt, auf
räume weitgehend gilt, die territoriale Kontinuität   deren Sedimenten dereinst die Burg Hohenzol-
ihrer Spuren und Artefakte, gilt nicht gleicher-      lern thronen wird, jagen zwei Plesiosaurier, ein
maßen für die Zeiträume der Erdgeschichte. Was        erwachsenes Tier mit Nachwuchs, nach Nah-
1915 im Deutschen Reich an Sedimenten zu fin-         rung. In nuce bringt das Frontispiz zur Anschau-
den ist, konnte zur Zeit des Devon ganz woanders      ung, wofür das ‚Leben der Urwelt‘ bei Bölsche
abgelagert worden sein. Die Rede von den prä-         Modell steht: für Reproduktion und Nahrungs-
historischen Landschaften des Deutschen Reichs        aufnahme, für einen voll entfesselten, noch
ist folglich eine gewaltige Konstruktionsleistung.    nicht sozial eingehegten Kampf ums Dasein, in
Die Suggestion von territorialer Integrität über      welchem dennoch bereits der ‚Geist‘ sichtbar
alle Revolutionen der Erdgeschichte hinweg trägt      ist. Im Hintergrund rechts ist der Antagonist des
erheblich zur Naturalisierung und Stabilisierung      Plesiosaurus zu sehen, ein Ichthyosaurier. Die
politischer Ansprüche und Grenzen bei.                bei Holzmaden auf der Schwäbischen Alb, nicht
    Wie eine solche prähistorische Landschaft aus-    weit vom Hohenzollern zuhauf gefundenen fossi-
gesehen haben mag, zeigt das Frontispiz zu Böl-       len Überreste des Ichthyosaurus machten diesen
sches Das Leben der Urwelt (1931), das die Leser      zu einem echt deutschen Saurier, den Bölsche
„in fremde Zonen und Meere, zu geheimnisvollen        „natürlichen U-Boot[en]“ gleich „auf die ozeani-
Wäldern und seltsamster Tierwelt [führt], kaum        sche Erdumsegelung [sich] begeben“ lässt, um
daß wir unsere engste Heimat dafür zu verlas-         „wie tapfere Ritter gegen fremdes Sauriervolk“
sen brauchen“ (3). Es gehört zu den zahlreichen       zu ziehen, wobei sie von „Schwaben bis Indien
Werken, mit denen Bölsche wie kein anderer die        und Australien gekommen“ (1931, 94) sind.
Evolutionstheorie von Charles Darwin und deren        Diese Analogie erschöpft sich bei ihm nicht im
Adaption durch Ernst Haeckel im Deutschen Reich       Metaphorischen. Aufgrund seiner speziellen Aus-
als Weltdeutungsentwurf populär gemacht hat.          legung der Evolutionstheorie sieht er die Natur
Und zwar nicht in Form eines kalten Sozialdar-        im Ichthyosaurus tatsächlich auf niedriger Stufe
winismus, sondern in einer naturphilosophisch-        erreichen, was deutsche Ingenieurskunst mit
idealistischen Form, die den ‚Geist‘ bereits in der   dem U-Boot auf ungemein höherer Stufe wieder
Natur am Werk sieht, bis er endlich im Menschen       schaffen sollte. Weil in Bölsches Weltdeutung –
zu sich selbst kommt. Philipp Sarasin und Michael     wie er bereits in Der Mensch der Zukunft schrieb
Hagner haben Bölsches Weltsicht zutreffend als        – jedes Tier „bis zum Ichthyosaurus hinab“
„Darwin mit Goethe, Schelling und Hegel“ (2008,       (Bölsche 1915b, 63) noch einmal Mensch wird,
57) beschrieben. Weil Evolution in Bölsches Aus-      insofern dieser sich seinen Entwicklungsgang
legung dadurch „nichts anderes als die Bildungs-      vergegenwärtigt, kann der Ichthyosaurus hier
geschichte des Menschen“ ist, kann er in Das          tatsächlich zum Vorfahren des Deutschen wer-
Leben der Urwelt schreiben: „Auch in diesen Sau-      den, hat das Deutsche Reich von 1931 mitsamt
riern hat sich ein weltgeschichtlicher und geistes-   seiner Marine im „Saurierland“ (Bölsche 1931,
geschichtlicher Gedanke der Natur einmal ausge-       15) von vor Jahrmillionen seine Entsprechung.
lebt, wie er in uns schafft und wirkt.“ (Bölsche      Dergestalt transformiert die Urwelt bei Bölsche
1931, 298)                                            zu einem ins Symbolische verschobenen Schau-
    In diesem populärwissenschaftlichen Werk          platz imperialistischer Phantasmen, der Leser
rekonstruiert Bölsche die deep time Heimat, wo        braucht die „engste Heimat“ nicht zu verlassen,
er zuvor lediglich ihren Spuren nachging. Wo          um „in fremde Zonen und Meere“ (Bölsche 1931,
Die Deutsche Landschaft in Vergangenheit und          15) vorzudringen. Diese ‚Heimat‘ ist Schauplatz
Gegenwart den Hohenzollern zeigt (Abb. 2), einen      der immer gleichen Kämpfe, ob in den Tagen der
Zeugenberg der zum Juragebirge gehörenden             großen Saurier, der Germanen oder des Deut-
Schwäbischen Alb, auf dessen Gipfel die Stamm-        schen Reichs.
40                                                         10.2478/kwg-2020-0023 | 5. Jahrgang 2020 Heft 1: 31–42

Abb. 2: Der Hohenzollern im Schwäbischen Jura (aus Bölsche 1915a, 81).

IV F
    azit. Form und Funktion der                          zwar weiterhin in der Kindheit und Jugend ver-
   deep time Heimat                                       ortet, aber an die Seite der individuellen Erinne-
                                                          rung trat das kollektive Gedächtnis an die Kindheit
Das Deutsche Reich, das haben die Fallbeispiele           und das Jugendalter des Volkes und der Nation.
gezeigt, sah parallel zur räumlichen auch eine            Heimaterleben konnte fortan auch die ‚Urheimat‘
zeitliche Expansion der Heimat, welche über die           der Germanen mit einschließen. Andererseits war
nahe Vergangenheit weit hinausreichte und über            die zeitliche Ausdehnung der Heimat eine Reak-
die Ur- und Frühgeschichte bis tief in die Erdge-         tion auf die „Tiefendimension des Lebens“ (Kugler
schichte ausgriff. Die Notwendigkeit dieser zeit-         2013, 397), die Darwin mit der Formulierung seiner
lichen Ausdehnung ergab sich einerseits aus der           Evolutionstheorie einführte. In dem Moment, wo
Reichsgründung 1871, infolge derer der deutschen          diese zu einem umfassenden Weltdeutungsent-
Nation eine konsensfähige historische Tradition,          wurf ausgebaut wird, wie das bei Bölsche der Fall
eine ‚deutsche Heimat‘ zuwachsen musste. Das              war, der die Gegenwart als eine Aktualisierung des
hieraus resultierende Heimaterleben im Deutschen          längst Vergangenen beschrieb, galt es das ‚Leben‘
Reich war in zuvor ungekanntem Ausmaß an einen            in seiner aktuellen Verfasstheit auf seinen erdge-
erstarkten Nationalismus geknüpft. Heimat wurde           schichtlichen Sinn hin zu befragen.
Kulturwissenschaftliche Zeitschrift - 1/2020                                                              41

Abb. 3: Im süddeutschen Meer der Juraperiode (aus Bölsche 1931: Frontispiz).

    Heimat, das zeigt Bölsches Die Deutsche                kündet von den tief im Boden wurzelnden natür-
Landschaft in Vergangenheit und Gegenwart ganz             lichen Ursprüngen der deutschen Nation. Autoren
klar, erschloss sich den Zeitgenossen bevorzugt            wie Götze und Bölsche, die ihre Leser dazu anlei-
im Medium der Landschaft. Die im Verlauf der               teten, die Spuren der Zeit in der heimischen Land-
zeitlichen Expansion erschlossenen prähistori-             schaft zu sehen und zu lesen, beförderten folglich
schen Landschaften des Deutschen Reichs waren              ein umfassenderes und zugleich abstrakteres, ein
ähnlich exotisch wie jene fremden Landschaften,            ,nationales‘ Heimaterleben. 2) Die imperialisti-
die im Zuge der räumlichen Expansion das deut-             sche deep time Heimat. Diese deep time Heimat
sche Kolonialreich zu bieten hatte. Ja mehr noch:          wird, gerade weil sie lange Zeiträume in den Blick
Die Reise in die Vergangenheit der Heimat war in           zu nehmen vermag, zum Anschauungsfall für den
allen Fällen zeitgleich eine Reise um den Globus.          von beiden Autoren ausgemachten ‚Kampf ums
Das Heimweh nach dem Süden, nach Sonne und                 Dasein‘. Expansion ist hierin die einzig mögliche
Exotik, das alle behandelten Autoren den Deut-             Form der Weiterentwicklung. Die ‚Heimat‘ ist also
schen attestierten, konnte somit gleichermaßen             immer schon auf ihre Erweiterung hin angelegt,
mit Bildern aus den Kolonien und aus der Vergan-           sie muss expandieren. Was ‚Heimat‘ ist, wird
genheit der Heimat gestillt werden.                        folglich erst die Zukunft zeigen.
    Es gab sie folglich, die Heimat in der deep time.          Wirklich miteinander vereinbar sind die zwei
Sie trat in zwei Versionen mit je unterschiedlichen        Konzeptionen von deep time Heimat im Deut-
Funktionen auf den Plan. 1) Die nationalistische           schen Reich nicht. Und doch scheinen sie komple-
deep time Heimat. In ihr enden die transformati-           mentäre Aufgaben wahrzunehmen, sodass weder
ven Kräfte der deep time zu einem Zeitpunkt, in            Götze noch Bölsche auf die eine oder die andere
dem Heimat ‚zu sich selbst gekommen‘ ist. Diese            Konzeption verzichten wollen. Damit die prähisto-
fortan der Zeit enthobene Urheimat hilft, die nati-        rischen Landschaften des Deutschen Reichs zum
onale Einheit in der Tiefe der Zeit zu verorten und        Medium der im Boden wurzelnden, gleichsam
damit zu stabilisieren. Diese deep time Heimat             versteinerten deep time Heimat avancieren kön-
42                                                           10.2478/kwg-2020-0023 | 5. Jahrgang 2020 Heft 1: 31–42

                                                                  Konturen und Konjunkturen eines umstrittenen
nen, müssen die transformativen Kräfte der Erd-
                                                                  Konzepts. Bielefeld: transcript, S. 9-56.
geschichte im Zeitraffer vor Augen geführt wer-              Geulen, Christian (2003): „The Final Frontier…“ Heimat,
den. Dadurch wiederum gerät der feste Boden,                      Nation und Kolonie um 1900: Carl Peters. In:
auf dem die Heimat steht, in Bewegung, sodass                     Kundrus, Birthe (Hg.): Phantasiereiche. Zur Kulturge-
sie sich nur mittels Expansion erhalten lässt. Die                schichte des deutschen Kolonialismus. Frankfurt/New
                                                                  York: Campus, S. 35-55.
zeitliche Expansion der Heimat im Deutschen
                                                             Günzel, Stephan (2007): Landschaft als Medium:
Reich führt also dazu, das sich das Heimaterleben                 Historische Formen. In: Archiv für Mediengeschichte
in einer liminalen Zeitzone abspielt, gelegen zwi-                7: Stadt – Land – Fluss. Medienlandschaften,
schen dem, was die Heimat in der Vergangenheit                    S. 231-238.
geworden war, und dem, was sie zu ihrer Bewah-               Güttler, Nils (2017): Heimat und Ökologie:
rung in Zukunft werden muss. Hierin erweist sich                  Umgebungswissen in der Botanik um 1900. In:
                                                                  Huber, Florian/Wessely, Christina (Hgg.): Milieu.
die deep time Heimat als prekär.
                                                                  Umgebungen des Lebendigen in der Moderne.
                                                                  Paderborn: Wilhelm Fink, S. 105-120.
                                                             Jäger, Jens (2009): Colony as Heimat? The Formation
Literaturverzeichnis                                              of Colonial Identity in Germany around 1900. In:
                                                                  German History 27/4, S. 467-489.
Quellen                                                      Jäger, Jens (2010): Plätze an der Sonne? Europäische
                                                                  Visualisierungen kolonialer Realitäten um 1900.
Bölsche, Wilhelm (1915a): Die Deutsche Landschaft in              In: Kraft, Claudia/Lüdtke, Alf/Martschukat, Jürgen
    Vergangenheit und Gegenwart. Mit über 130 Bildern.            (Hgg.): Kolonialgeschichten. Regionale Perspektiven
    In: Goerke, Franz (Hg.). Berlin-Charlottenburg: Vita          auf ein globales Phänomen. Frankfurt/New York:
    Deutsches Verlagshaus. (= Leuchtende Stunden; 8).             Campus, S. 162-184.
Bölsche, Wilhelm (1915b): Der Mensch der Zukunft.            Kipper, Rainer (2002): Der Germanenmythos im
    Stuttgart: Kosmos, Gesellschaft der Naturfreunde.             Deutschen Kaiserreich. Formen und Funktionen
Bölsche, Wilhelm (1931): Das Leben der Urwelt. Aus den            historischer Selbstthematisierung. Göttingen:
    Tagen der großen Saurier. Leipzig: Georg Dollheimer.          Vandenhoeck & Ruprecht.
Götze, Alfred (1898): Die Urzeit des Menschen. Bilder        Kugler, Lena (2013): Die Tiefenzeit von Dingen und
    aus den frühesten Tagen unserer Heimat. Scenischer            Menschen. (Falsche) Fossilien und die „Bergwerke zu
    Vortrag. Berlin: Verlag der Gesellschaft „Urania“.            Falun“. In: Weimarer Beiträge 59/3, S. 397-415.
Hellpach, Willy (1935): Geopsyche. Die Menschenseele         Lekan, Thomas M. (2004): Imagining the Nation in
    unterm Einfluß von Wetter und Klima, Boden und                Nature. Landscape Preservation and German Identity,
    Landschaft. Vierte, völlig neu bearbeitete Auflage der        1885–1945. Cambridge, MA/London: Harvard
    „Geopsychischen Erscheinungen“. Leipzig: Wilhelm              University Press.
    Engelmann.                                               Miller, Rudolf (2018): Von Willy Hellpachs „Geopsyche“
                                                                  bis heute. Eine Spurensuche in der Psychologie.
Forschungsliteratur                                               In: Braungart, Georg/Büttner, Urs (Hgg.): Wind
                                                                  und Wetter. Kultur – Wissen – Ästhetik. Paderborn:
Becker, Kristin (2011): „Welt von Wundern“. Die Berliner          Wilhelm Fink, S. 333-356.
    Urania um 1900. In: Becker, Tobias/Littmann, Anna/       Petri, Rolf (2001): Deutsche Heimat 1850–1950. In:
    Niedbalski, Johanna (Hgg.): Die tausend Freuden               Comparativ 11/1, S. 77-127.
    der Metropole. Bielefeld: transcript, S. 283-302.        Sarasin, Philipp/Hagner, Michael (2008): Wilhelm
Büttner, Willfried (1999): Alfred Götze – Pionier                 Bölsche und der „Geist“. Populärer Darwinismus
    der Spatenforschung und der archäologischen                   in Deutschland 1887–1934. In: Nach Feierabend.
    Denkmalpflege. In: Alt-Thüringen. Jahresschrift               Zürcher Jahrbuch für Wissensgeschichte 4. Darwin.
    des Thüringischen Landesamtes für archäologische              Zürich/Berlin: diaphanes, S. 47-67.
    Denkmalpflege 33, S. 10-29.                              Wiwjorra, Ingo (2006): Der Germanenmythos.
Gebhard, Gunther/Geisler, Oliver/Schröter, Steffen                Konstruktion einer Weltanschauung in der Altertums-
    (2007): Heimatdenken: Konjunkturen und Konturen.              forschung des 19. Jahrhunderts. Darmstadt:
    Statt einer Einleitung. In: Dies. (Hgg.): Heimat.             Wissenschaftliche Buchgesellschaft.
Sie können auch lesen