Der Schatz des Bluesjägers - Norient

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Der Schatz des Bluesjägers | norient.com                                  26 Mar 2024 08:03:21

    Der Schatz des Bluesjägers
    by Christoph Fellmann

    Alan Lomax reiste ein halbes Jahrhundert lang durch die USA,
    die Karibik und Europa – und sammelte dabei 17'400 Blues-
    und Folksongs. Jetzt wird sein einzigartiges Musikarchiv im
    Internet frei zugänglich.
    Er nannte es eine Jagd, und sie trieb ihn schon als jungen Mann in die Nacht
    und hinüber ins schwarze Ghetto von Austin. «Wäre ich erwischt worden»,
    schrieb er später in seinen Memoiren, «man hätte mich vermutlich von der
    Universität geschmissen.» Aber Alan Lomax, Student der Philosophie, blieb
    dem Blues auf den Fersen. Es waren die 30er-Jahre, und die schwarze Musik
    erlebte in den USA eine erste Blütezeit, als prekäre Tonspur der
    Depressionszeit. Robert Johnson streifte durchs Land und sang seine Lieder
    über den Teufel und die Höllenhunde, die er am Strassenrand sah. Als Lomax,
    mittlerweile ein Angestellter der Library of Congress, ihn 1939 suchte, fand er
    nur noch Johnsons Mutter, die sagte: «Little Robert, he dead.» Doch die Jagd
    ging weiter. Alan Lomax suchte, wenn nicht nach dem Mann, so doch nach
    seinem Sound. Und fand, auf einer Baumwollfarm im Mississippi-Delta, einen
    jungen Musiker, der sich Muddy Waters nannte und eine verstörend gute

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    Slidegitarre spielte. Lomax überredete ihn, seinem portablen Aufnahmegerät
    vorzuspielen und produzierte so die ersten Platten des Bluessängers, der
    zehn Jahre später, nun in Chicago, seine Gitarre an den Strom anschliessen
    und den Blues und die Populärmusik revolutionieren würde. Das war im
    Sommer 1941, und nach den ersten Sessions mit Muddy Waters war Alan
    Lomax, dem gerade mal 26-jährigen Texaner, der Platz in der
    Musikgeschichte nicht mehr zu nehmen.

    In der Kirche und im Knast
    Nun, Alan Lomax hat auch wegweisende Aufnahmen mit den Folksängern
    Woody Guthrie und Leadbelly gemacht. Und doch wäre es falsch, seine
    Verdienste nur an den Platten zu messen, die er mit diesen musikhistorischen
    Schwergewichten eingespielt hat. Auch nach 1942, als er nicht mehr für die
    Library of Congress unterwegs war, die US-amerikanische Nationalbibliothek,
    durchkämmte er rastlos die Südstaaten. Lomax besuchte die Gottesdienste
    und die härtesten Gefängnisse des schwarzen Amerika, und er stiess noch in
    den 70er-Jahren in entlegenen Hügeln auf Reste archaischer Trommel- und
    Flötenmusik, die direkt aus Afrika importiert schien.

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    Das ekstatische Schreien der Priester, die Sprechgesänge der
    aneinandergeketteten Sträflinge oder der wehe Singsang eines einsamen
    Baumwollpflückers: Diese Aufnahmen erzählen direkt aus der
    afroamerikanischen Erfahrung, bevor diese auf den Zungen der
    professionellen Bluessänger und Gospelquartette zum einflussreichsten
    Musikstil des vergangenen Jahrhunderts wurde. «Im Süden, wo ich aufwuchs,
    waren die meisten Leute davon überzeugt, dass die Schwarzen glücklich
    seien», schrieb Alan Lomax in seinen Memoiren («The Land Where the Blues
    Began», 1993): «Schwarze, die über die monströsen Ironien redeten, denen
    sie täglich ausgesetzt waren: Sie riskierten ihren Job, wenn nicht ihr Leben.»

    Mit seinem mobilen Aufnahmegerät, glaubte Alan Lomax, sei es ihm
    wenigstens ansatzweise gelungen, in diese «Zone des Schweigens»
    vorzudringen und den Schweigenden eine Stimme zu geben. In seinem Buch
    zitierte er einen verarmten schwarzen Pächter, der für seinen Landlord nur ein
    gefrorenes Lächeln übrighatte, im Mikrofon aber eine Gelegenheit erkannte,
    sich an den amerikanischen Präsidenten zu wenden: «Also hören Sie zu, Mr.
    President, ich möchte, dass Sie wissen, dass man uns hier unten im Süden
    nicht gut behandelt.»

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    Als Alan Lomax im Sommer 2002 starb, hinterliess er eine riesige Sammlung
    von Aufnahmen. 150 000 Meter Film, 5000 Fotos. Und 17 400 Songs. Eine
    Auswahl wurde über die Jahre in prallen Schallplattenserien veröffentlicht, die
    «Southern Journey» oder «Sounds of the South» hiessen und
    zwischenzeitlich auch auf CD erhältlich waren. Doch seit kurzem ist das
    Archiv im Internet vollständig und frei zugänglich. Der Verein Cultural Equity,
    geführt von einer Lomax-Tochter, hat die Aufnahmen digitalisiert und bietet
    sie als Stream (nicht als Download) an. Zwar fehlen die Songs, die Lomax bis
    1942 für die Library of Congress produziert hat, aber das schmälert nicht den

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    Wert der Sammlung. Denn erstens sind die erwähnten Aufnahmen von
    Muddy Waters oder Woody Guthrie aus anderen Quellen gut greifbar, und
    zweitens wollte Lomax nicht in erster Linie die besten Künstler überliefern,
    sondern, wie er selber sagte, den «breiten Strom afroamerikanischer
    Folklore».

    Und wie der sich schliesslich in den Blues verengte: «Yeah», diktierte ihm
    Memphis Slim ins Mikrofon, «der Blues ist eine Art von Rache». Vielleicht
    hatte das intuitiv auch die amerikanische Bundespolizei begriffen. Jedenfalls
    legte das FBI schon 1942 eine Akte über Alan Lomax an, die in vier
    Jahrzehnten auf 800 Seiten wuchs. Die antikommunistische Paranoia traf
    also auch den Musikethnologen, der sich durch schludrige Bekleidung
    verdächtig gemacht hatte, durch sein «erratisches, künstlerisches
    Temperament», vor allem aber wohl durch seine Neugier auf den Alltag und
    die Kultur der verarmten, werktätigen Landbevölkerung. Die Befragungen
    durch das FBI waren einer der Gründe, warum Alan Lomax um 1950 nach
    London zog (was ihm, wie die BBC erst nach seinem Tod enthüllte, die
    Bespitzelung durch den britischen Geheimdienst eintrug).

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    Die Rache des Blues

    Von der englischen Hauptstadt aus reiste Lomax durch Irland, Schottland,
    Spanien, Italien und Portugal und dokumentierte auch dort, am liebsten in
    den Dörfern, die Tänze und die Lieder der lokalen Bevölkerung. In seinem
    Archiv findet man erschütternd schöne Gesänge – suchen Sie nach «Black Is
    the Colour of My True Love's Hair» der Irin Robin Roberts! – ebenso wie
    manch eine Kuriosität: John MacDonald etwa, der Alan Lomax im
    schottischen Inverness ein paar Dudelsackmelodien vorsang. Wonach der
    Sammler suchte, waren keine ländertypischen, sondern lokale Stile. So
    dokumentierte er 1952/53 in Spanien just das folkloristische Patchwork, das
    Franco zugunsten einer nationalen Volkskultur zerschlagen wollte.

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    1958 kehrte Alan Lomax in den Süden der USA zurück. Er jagte wieder den
    Blues. Und stellte dabei fest, dass der Blues auch ihn gejagt hatte. Die
    schwarze Bevölkerung des Südens wisse schon lange, was es heisse,
    wurzellos und entfremdet zu leben; mit dem Gefühl, ein Gebrauchsgegestand
    zu sein und kein Mensch. In der Moderne, schrieb er in seinen Memoiren, lerne
    es nun auch das weisse Amerika: «Was das ist, der Blues.»

    Christoph Fellmann (* 1970), lebt in Luzern, arbeitet in einem Teilzeitpensum als
    Musikredaktor beim Tages Anzeiger in Zürich. Daneben arbeitet er als freier

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    Journalist und Texter.

    → published on april 27, 2012

    → last updated on july 30, 2020

    → topics

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            ethnomusicology
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