Der Tod Jesu im Spiegel seiner "letzten Worte" vom Kreuz
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Der Tod Jesu im Spiegel seiner »letzten Worte« vom Kreuz* Michael Theobald »Sterbeworte haben eine überdurchschnittlich hohe Überlebenschance«, heißt es im Vorwort zu einem amerikanischen Dictionary of Last Words.1 Warum das so ist, ist leicht begreiflich. In einem »letzten Wort«, das ein Mensch – zumal ein bedeutender – in seiner Sterbestunde spricht, verdichtet sich die Wahrheit seines Lebens, und sie verdichtet sich so, dass die Nachwelt in ihm die Summe dieses Lebens wie in einem kostbaren Gefäß aufbewahrt sieht. Authentisch ist ein solches Wort nicht unbedingt deshalb, weil der Verstorbene es tatsächlich so und nicht anders gesprochen hat, son- dern weil es im Rückblick das im Tod erfüllte Leben in eine geglückte Pointe bannt. Oft genug sagt man deshalb, dass dieses oder jenes »letzte Wort«, auch wenn es vom Ver- storbenen selbst nicht gesprochen worden sein sollte, doch gut erfunden sei. Beides, die besondere »Form« solcher »letzten Worte« wie ihr Hervorgehen aus dem gelebten Le- ben hat Walter Benjamin in seinem berühmten Essay »Der Erzähler« (1936) in einer tiefsinnigen Passage bedacht. Er schreibt: »Sterben, einstmals ein öffentlicher Vorgang im Leben des Einzelnen und ein höchst exempla- rischer (man denke an die Bilder des Mittelalters, auf denen das Sterbebett sich in einen Thron verwandelt hat, dem durch weitgeöffnete Türen des Sterbehauses das Volk sich entgegen drängt) – sterben wird im Verlauf der Neuzeit aus der Merkwelt der Lebenden immer weiter herausge- drängt. Ehemals kein Haus, kaum ein Zimmer, in dem nicht schon einmal jemand gestorben war. […] Heute sind die Bürger in Räumen, welche rein vom Sterben geblieben sind, Trocken- wohner der Ewigkeit, und werden, wenn es mit ihnen zu Ende geht, von den Erben in Sanatorien oder in Krankenhäusern verstaut. Nun ist es aber an dem, daß nicht etwa nur das Wissen oder die Weisheit des Menschen[,] sondern vor allem sein gelebtes Leben – und das ist der Stoff, aus dem die Geschichten werden – tradierbare Form am ersten am Sterbenden annimmt. So wie im Innern des Menschen mit dem Ablauf des Lebens eine Folge von Bildern sich in Bewegung setzt – bestehend aus den Ansichten der eigenen Person, unter denen er, ohne es inne zu werden, sich selber begegnet ist – so geht mit einem Mal in seinen Mienen und Blicken das Unvergessliche * Der Text gibt den mit Anmerkungen versehenen Vortrag wieder, der am 19. September 2009 vor der Mitgliederversammlung des Katholischen Bibelwerks im Caritas-Pirckheimer-Haus/Nürnberg gehalten wurde. Ich danke meinem Assistenten, Herrn Dipl. theol. Christoph Schaefer, für mancherlei Hilfen bei der Ausarbeitung. 1 Edward Le Comte, Dictionary of Last Words, New York 1955, VII, zitiert in: K. S. Guthke, Letzte Worte. Variationen über ein Thema der Kulturgeschichte des Westens, München 1990, 15.
2 Michael Theobald auf und teilt allem, was ihn betraf, die Autorität mit, die auch der ärmste Schächer im Sterben für die Lebenden um ihn her besitzt. Am Ursprung des Erzählten steht diese Autorität«2. Erst am Ende des Lebens, meint hier Walter Benjamin, formt sich die Lebenserzählung im Rückblick zu einem Ganzen. In »Mienen und Blicken«, aber auch in Bildern, die vor dem inneren Auge aufsteigen, geht im Angesicht des Todes auf einmal »Unvergessli- ches« auf und gewinnt in »letzten Worten« »tradierbare Form«. Benjamin resümiert: »Der Tod ist die Sanktion von allem, was der Erzähler berichten kann. Vom Tode hat er seine Autorität geliehen.«3 In der Kultur (nicht nur) des Westens spielen »letzte Worte«, ultima verba, last words in Anekdote, Biographie und Geschichtsschreibung seit alters eine bemerkens- werte Rolle4. Die Formpalette ist schon in der Antike breit. »Abschiedsreden« kennen wir aus dem Alten Testament mit seinen Sterbeszenen der Patriarchen und Könige5 wie vor allem aus frühjüdischen Schriften6, ultima verba in Gestalt pointierter Aussprüche bedeutender Persönlichkeiten eher aus der griechisch-hellenistischen und lateinischen Literatur7. Das rabbinische Schrifttum setzt mit dem Vermächtnischarakter der Ster- berede von Rabbinen die biblische Tradition fort8. Das Neue Testament steht an einer Schnittstelle: Neben beeindruckenden Beispielen für die Gattung »Abschiedsrede« oder Testament (vgl. Lk 22,14–38; Joh 13,31–17,26; Apg 20,18–35) bietet es mit den sieben »letzten Worten« Jesu vom Kreuz die berühmtesten ultima verba der Literatur- geschichte9. Für Theologie und Frömmigkeit waren sie schon immer wichtig, erlangten 2 W. Benjamin, Der Erzähler. Betrachtungen zum Werk Nikolai Lesskows, in: Orient und Occident, NF, Okt. 1936, 16–33, Nachdruck in: ders., Gesammelte Schriften II/2 (Hrsg. von R. Tiedemann und H. Schwep- penhäuser), Frankfurt 1977, 438–465, 449 f. (kursiv von mir). 3 Ebd. 4 Außer Guthke, Letzte Worte (Anm. 1) vgl. auch M. Augustin, Mehr nicht! Letzte Augenblicke berühmter Frauen und Männer, Zürich 2000; W. Fuld, Lexikon der letzten Worte. Letzte Botschaften berühmter Männer und Frauen von Konrad Adenauer bis Emiliano Zapata, München 2002; H. Halter, Ich habe meine Sache getan. Leben und letzte Worte berühmter Frauen und Männer, Berlin 2007. 5 Vgl. Gen 27 (der Tod Isaaks), Gen 49 (der Tod Jakobs), Dtn 33 (der Tod des Mose) und 2Sam 23; 1Kön 2 (der Tod Davids). 6 Vgl. etwa Jub 7,20–39; 10,14–17; 20–23; 35 f.; AssMos; Test XII; slavHen 1–3; 13–20; äthHen 81–91: 4Esr 14; Test Hiob; Test Abr; Test Isaak etc.; J. Becker, Das Evangelium nach Johannes (ÖTK 4/2), Gütersloh 31991, 523–529 (»Die Gattung des literarischen Testaments«). 7 Vgl. W. Schmidt, De ultimis morientium verbis, Diss. phil. Marburg 1914; A. Ronconi, Exitus illustrium virorum, in: RAC 6 (1966) 1258–1268; vgl. auch M. Reiser, Sprache und literarische Formen des Neuen Testaments (UTB 2197), Paderborn 2001, 163. – Tacitus, Hist I 41, nennt das »letzte Wort« extrema vox. 8 Vgl. A.J. Saldarini, Last Words and Deathbed Scenes in Rabbinic Literature, in: JQR 68 (1977) 28–45; J. Neusner, Death-Scenes and Farewell Stories. An Aspect of the Master-Disciple Relationship in Mark and in some Talmudic Tales, in: HThR 79 (1986) 187–197. 9 Exegetische Studien zu allen sieben Worten sind selten: W. Bauer, Das Leben Jesu im Zeitalter der neute- stamentlichen Apokryphen, Tübingen 1909, 220–226; J. Wilkinson, The Seven Word from the Cross, in: SJT 17 (1964) 69–82; S.J. Kistemaker, Seven Words from the Cross, in: WTJ 38 (1976) 182–191; A.M. Schwemer, Jesu letzte Worte am Kreuz (Mk 15,34; Lk 23,46; Joh 19,28 ff., in: ThBeitr 29 (1998) 5–29; vgl. auch F.-G. Untergassmair, Art. Kreuzesworte Jesu. I. Biblisch, in: LThK3 6 (1997) 457 f.; Lit. zu den einzelnen Worten vgl. unten. – Erbauliche oder frömmigkeitsgeschichtliche Arbeiten: K. Hautz, Die sieben Worte Jesu am Kreuze, Diss. Wien 1953; J. Dover, The Words of the Crucified, London 1967; M. Meyer, Die sieben Worte
Der Tod Jesu im Spiegel seiner »letzten Worte« vom Kreuz 3 größere Wirkung aber vor allem seit dem Mittelalter, spätestens seit dem 16. Jh. auch über das Medium der Musik10. Zur Annäherung an das Thema beginnen wir zunächst mit der Betrachtung ausge- wählter ultima verba der antiken Literatur. Sie zeigen, dass die Gattung immer schon dazu diente, eine ganze Lebens- oder Weltansicht in einen einzigen Ausspruch zu ban- nen (1). Sodann vergegenwärtigen wir uns die Tradition der sieben Worte Jesu als Kom- position, wie sie sich unter dem Vorzeichen der Evangelienharmonien schon im zweiten Jahrhundert herausgebildet hat und seitdem prägend wurde (2). Drittens wenden wir uns der diachronen Frage zu: Welche der überlieferten letzten Worte Jesu sind sekundär, welche primär? Enthielt bereits die älteste Passionserzählung hinter den Evangelien ein ultimum verbum? Wenn ja, welches? (3.1) Schließlich: Können wir auf dieser Basis et- was darüber ausmachen, ob Jesus am Kreuz ein derartiges Wort gesprochen hat? (3.2) Der letzte große Teil unserer Überlegungen ist dann der Frage gewidmet, welches Ver- ständnis des Todes Jesu seine letzten Worte in den Evangelien jeweils widerspiegeln (4). 1. Das Leben eine Komödie, eine Krankheit oder was es sonst mit ihm auf sich hat – ultima verba in der antiken Literatur »Nemo moriturus praesumitur mentiri« – »von keinem Sterbenden ist anzunehmen, dass er lügt«, lautet eine alte Maxime11. Zu ihr passt, was Friedrich Nietzsche in der »Fröhlichen Wissenschaft« unter dem Stichwort »Letzte Worte« zu Kaiser Augustus notierte: »Man wird sich erinnern, dass der Kaiser Augustus, jener fürchterliche Mensch, der sich ebenso in der Gewalt hatte und der ebenso schweigen konnte wie ir- gend ein weiser Sokrates, mit seinem letzten Worte indiscret gegen sich selber wurde: er ließ zum ersten Male seine Maske fallen, als er zu verstehen gab, dass er eine Maske getragen und eine Komödie gespielt habe – er hatte den Vater des Vaterlandes und die Jesu am Kreuz, Göttingen 1995; H. Gross, Die Sieben Letzten Worte unseres Erlösers am Kreuze. Eine theo- logische Betrachtung, in: Die Sieben letzten Worte Jesu in der Musik – Handschriften und Drucke aus der Bischöflichen Zentralbibliothek Regensburg (Katalog zur Ausstellung in der Bischöflichen Zentralbibliothek), Regensburg 2001, 11–13; G. Lange, »Mein Gott, warum …?« Der Verlassenheitsschrei Jesu am Kreuz als bildgeschichtliches Problem – in praktisch-theologischer Arbeit, in: H. Baldur/G. Berghaus (Hrsg.), Kreuzun- gen. Christliche Existenz im Diskurs (FS H. Luthe), Mühlheim/Ruhr 2002, 175–196; P. Niskansen, The Last Words of Jesus, in: Homiletic and pastoral review 102 (2002) 23–25; F.-J. Steinmetz, Leben aus dem Tod? Die sieben Worte Jesu am Kreuz, in: Geist und Leben 75 (2002) 117–131; M. van Wijnkoop Lüthi, Die sieben Kreuzesworte im Spannungsfeld musikalischer Harmonie und theologischer Dissonanz, in: C. Klein/S. Tob- ler (Hrsg.), Spannweite: Theologische Forschung und kirchliches Wirken (FS H. Klein), Bukarest 2005, 312– 325; L. Resch, Hingabe bis zum äußersten. Jesu Gebet am Kreuz, in: EuA 83 (2007) 309–312. 10 Eine umfassende Bestandsaufnahme bei K. Langrock, Die Sieben Worte Jesu am Kreuz. Ein Beitrag zur Geschichte der Passionskomposition, Essen 1987; vgl. außerdem P. Kreyssig, Die Sieben letzten Worte des Er- lösers am Kreuz, in: Zwischen Bach und Mozart. Vorträge des Europäischen Musikfestes Stuttgart 1988 (Schriftenreihe der Internationalen Bachakademie Stuttgart 4), Kassel 1994, 184–196; R. Dittrich, Die Sieben letzten Worte Jesu in der Musik – Ein Überblick in Beispielen, in: Worte (Katalog Regensburg) (Anm. 9) 14–56. 11 Vgl. Guthke, Worte (Anm. 1) 35.187.
4 Michael Theobald Weisheit auf dem Throne gespielt, gut bis zur Illusion! Plaudite amici, comoedia finita est!«12 – »Klatschet Beifall, Freunde, die Komödie ist zu Ende!« Mit diesem Wort an der Rampe verabschiedet sich der Hauptdarsteller eines ganzen nach ihm benannten Zeitalters und tritt von der Bühne ab. Das Leben eine Komödie?! Nichts als »Eitelkeit« und »Schwatzhaftigkeit« erkennt Nietzsche in diesem Wort, »und recht das Gegenstück zum sterbenden Sokrates!«13 Diesem hat Platon in der Erzählung von seinem Tod im Phaidon ein literarisches Denkmal gesetzt. Vergegenwärtigen wir uns kurz, was er dem Phaidon in den Mund legt, der mit seinen Worten auch Echekrates, der beim Sterben des Sokrates nicht dabei war, an dieser Stunde teilhaben lassen will: Als […] Sokrates den Menschen sah [der ihm den Trank reichen sollte], sprach er [zu ihm]: Wohl, Bester, denn du verstehst es ja, wie muss man es machen? – Nichts weiter, sagte er, als wenn du getrunken hast, herumgehen, bis dir die Schenkel schwer werden, und dann dich niederlegen, so wird es schon wirken. Damit reichte er dem Sokrates den Becher, und dieser nahm ihn, und ganz getrost, o Eche- krates, ohne im mindesten zu zittern oder Farbe oder Gesichtszüge zu verändern, sondern, wie er pflegte, ganz gerade den Menschen ansehend, fragte er ihn: Was meinst du von dem Trank wegen einer Spendung? Darf man eine machen oder nicht? – Wir bereiten nur soviel, o Sokrates, antwortete er, als wir glauben, dass hinreichend sein wird. – Ich verstehe, sagte Sokrates. Beten aber darf man doch zu den Göttern und muss es, dass die Wanderung von hier dorthin glücklich sein möge, worum denn auch ich hiermit bete, und so möge es geschehen. Und wie er dies gesagt, setzte er an, und ganz frisch und unverdrossen trank er aus. Als die Anwesenden ihre Tränen nicht mehr zurückhalten konnten – heißt es in der Erzählung des Phaidon weiter – sprach Sokrates: Was macht ihr doch, ihr wunderbaren Leute! Ich habe vorzüglich deswegen die Weiber weggeschickt, dass sie dergleichen nicht begehen möchten; denn ich habe immer gehört, man müsse stille sein, wenn einer stirbt. Also haltet euch ruhig und wacker. Als wir das hörten, schämten wir uns und hielten inne mit Weinen. Er aber ging umher, und als er merkte, dass ihm die Schenkel schwer wurden, legte er sich gerade hin auf den Rücken, denn so hatte es ihm der Mensch geheißen. Darauf berührte ihn eben dieser, der ihm das Gift gegeben hatte, von Zeit zu Zeit und untersuchte seine Füße und Schenkel. Dann drückte er ihm den Fuß stark und fragte, ob er es fühle; er sagte nein. Und darauf die Knie, und so ging er immer höher hinauf und zeigte uns, wie er erkaltete und erstarrte. Darauf berührte er ihn noch einmal und sagte, wenn ihm das bis ans Herz käme, dann würde er hin sein. Als ihm nun schon der Unterleib fast ganz kalt war, da enthüllte er sich, denn er lag verhüllt, und sagte, und das waren seine letzten Worte: O Kriton, wir sind dem Asklepios einen Hahn schuldig, 12 F. Nietzsche, Die Fröhliche Wissenschaft, Nr. 36, in: G. Colli/M. Montinari (Hrsg.), Nietzsche. Werke. Kritische Gesamtausgabe, Bd. V/2, Berlin u. a. 1973, 79. Dem Augustus-Wort stellt er das des Nero zur Seite: qualis artifex pereo. 13 Ebd.
Der Tod Jesu im Spiegel seiner »letzten Worte« vom Kreuz 5 entrichtet ihm den, und versäumt es ja nicht. – Das soll geschehen, sagte Kriton, sieh aber zu, ob du noch sonst etwas zu sagen hast. Als Kriton dies fragte, antwortete er aber nichts mehr, sondern bald darauf zuckte er, und der Mensch deckte ihn auf; da waren seine Augen gebrochen. Als Kriton das sah, schloss er ihm Mund und Augen14. Drei religiöse Elemente enthält der Text: Trank-Spende an einen Gott; Gebet zu den Göttern; Opfer an Asklepios (die letzten Worte). Ein Grund für das von Sokrates erbe- tene Opfer an den Gott der Heilkunde und der Ärzte wird nicht angegeben. »Der Leser, angeregt, ihn hinzuzudenken, kann ihn nur in den vorangegangenen Gesprächen über die Unsterblichkeit finden«15. So wird er in der Weihegabe des Hahns, den Kranke nach ihrer Genesung dem Asklepios gewöhnlich anboten, ein »Sinnbild« dafür sehen, dass Sokrates sich nun »von den Übeln dieses Lebens geheilt fühlte und die Genesung, näm- lich die Befreiung der Seele vom Körper im anderen Leben, zu erreichen im Begriff war«16. Das wird sehr anschaulich erzählt: Als Sokrates sein letztes Wort spricht, ist sein Körper schon fast ganz vom Gift gelähmt und seine Seele dabei, sich von ihm zu trennen und hinüber in die Ewigkeit zu »wandern«. Für das Verständnis des platonischen Dialogs als ganzen ist diese seine Abschlussszene fundamental. Sie zeigt nämlich, »dass Sokrates nicht nur nach dem Lebensideal zu leben verstand, das er gepredigt hatte, sondern dass er auch den Tod mit der Heiterkeit und Erwartung des künftigen Lebens anzunehmen wusste, die ihm allein aus dem Glauben an die Unsterblichkeit zufließen konnte«17. Die Nachwirkung der platonischen Szene in der Antike war groß. Sie wurde zum »Archetypos einer langen Überlieferung«18, für die der Tod des Seneca, den Kaiser Nero wegen angeblicher Verstrickung in eine Verschwörung gegen ihn zum Selbstmord zwang, nur das bekannteste Beispiel ist. Tacitus (ann. 15,64) erzählt, der Philosoph habe, nachdem er sich die Adern geöffnet hätte und durch den Blutverlust schon ganz geschwächt gewesen sei, nach dem Schierlingsbecher verlangt – »offensichtlich ein rein literarisches, aus Platon übernommenes Motiv, das zu dem geschichtlichen Detail des Verblutens einfach addiert ist«19. Zuletzt sei er, so Tacitus weiter, »in ein Bassin mit heißem Wasser« gestiegen, »wobei er die zunächststehenden Sklaven besprengte und hinzufügte, er weihe dieses Nass Iuppiter, dem Befreier«. Auch das ist eine bewusste 14 Platon, Phaidon 117a-118a. Übersetzung von F. Schleiermacher, in: K. Hülser (Hrsg.), Platon. Sämtli- che Werke. Bd. IV, Frankfurt 1991, 345.347. 15 R. Hirzel, Der Dialog. Ein literarhistorischer Versuch. Erster Theil, Leipzig 1895, 195. 16 G. Reale, Die Begründung der abendländischen Metaphysik: Phaidon und Menon, in: T. Kobusch/ B. Mojsisch (Hrsg.), Platon. Seine Dialoge in der Sicht neuer Forschungen, Darmstadt 1996, 64–80, 70. Hirzel, Dialog (Anm. 15) 195: Der Tod ist »Heilung von allen irdischen Leiden«. 17 Reale, Begründung (Anm. 16) 70. 18 Ronconi, Exitus (Anm. 7) 1258; er verweist u. a. auf Plutarch, Cato Min. 68,2/70,4, den Tod des Cato Uticensis, der, bevor er sich selbst tötet, im Phaidon liest; vgl. auch C. Gnilka, Ultima Verba, in: JbAC 22 (1979) 5–21; G. Sterling, Mors philosophi: The Death of Jesus in Luke, in: HThR 94 (2001) 383–402, 387–390. 19 Ronconi, Exitus (Anm. 7) 1259.
6 Michael Theobald imitatio des Sokrates, der von dem ihm gereichten Gift zuerst ein Trankopfer darbrin- gen wollte, es aber nicht konnte, weil die Flüssigkeit zu knapp bemessen war, so dass er sich mit einem Gebet an die Götter begnügte. Dieses Trankopfer holt jetzt Seneca nach, wobei seine Widmung an Jupiter Liberator das letzte Wort des Sokrates und den in ihm enthaltenen Gedanken auf greift, dass der Tod eine Heilung bzw. Befreiung darstellt20. Die Gattung der »letzten Worte« hat auch Eingang in die jüdisch-hellenistische Li- teratur gefunden. Ein Beispiel dafür ist der Schluss der Erzählung vom Martyrium des Eleazar, 4Makk 6,26-30. Dort heißt es: 26 a Als er (sc. Eleazar) schon bis auf die Knochen verbrannt war b und im Begriff war, das Bewusstsein zu verlieren, c erhob er seine Augen zu Gott und sprach: 27 a Du weißt, Gott, b obgleich es mir freistand, mich zu retten, c sterbe ich in feurigen Qualen um des Gesetzes willen. 28 a Sei gnädig deinem Volk, b indem du an unserer Bestrafung (stellvertretend) für sie (ὑπὲρ αὐτῶν) Genügen findest. 29 a Zu einem Reinigungsopfer für sie (καθάρσιον αὐτῶν) mache mein Blut, b und als Ersatz für ihr Leben (ἀντίψυχον αὐτῶν) nimm mein Leben (τὴν ἐμὴν ψυχήν). 30 a Nachdem er dies gesagt hatte, b starb der heilige Mann in edler Haltung unter Martern c und widerstand bis zu den Qualen des Todes mithilfe der Denkkraft (τῷ λογισμῷ) um des Gesetzes willen.21 Eleazar stirbt mit einem Gebet auf den Lippen22. Er stirbt aus Treue zur Tora und bittet Gott darum, er möge seinen Tod als stellvertretendes »Reinigungsopfer« für das ganze Volk annehmen. So sehr damit seine »letzten Worte« in Israels Glauben integriert 20 In diese Richtung deutet auch ein anderes Detail der Tacitus-Erzählung: Statius Annaeus, der Mann, den Seneca beauftragt hätte, »das längst vorbereitete Gift zu holen, mit dem die vom Volksgericht der Athener Verurteilten hingerichtet wurden«, hätte »sich ihm schon lange durch seine treue Freundschaft und seine ärztliche Kunst bewährt«. 21 Übersetzung nach LXX deutsch. Vgl. auch 2Makk 6,30; außerdem 2Makk 7,37 f.: »Ich aber gebe wie (meine) Brüder Leib und Leben hin für die Gesetze der Väter und rufe Gott an, dass er bald (seinem) Volk milde gestimmt werde und dich unter Prüfungen und Geißeln bekennen lasse, dass allein er Gott ist. In mir aber und meinen Brüdern möge der Zorn des Allmächtigen, der zu Recht über unser ganzes Geschlecht ge- kommen ist, zum Stehen kommen« (es handelt sich freilich nur um einen Gebetsbericht). Vgl. auch Schwe- mer, Worte (Anm. 9) 13 f.; T. Rajak, Dying for the Law. The Martyr’s Portrait in Jewish-Greek Literature, in: M.J. Edwards/S. Swain (Hrsg.), Portraits: Biographical Representation in the Greek and Latin Literature of the Roman Empire, Oxford 1997, 39–67. 22 Die Bedeutung des Bittgebets erhellt daraus, dass der Verfasser es in seiner Schlussreflexion 4Makk 17,20–22 als von Gott erfüllt aufgreift: »Sie also, die sich heiligten um Gottes willen, fanden verdiente Ehre […] dadurch, dass um ihretwillen die Feinde unser Volk nicht überwältigen konnten, […] und unser Vater- land gereinigt wurde, sind sie doch zu einer Art Ersatzleistung für die Sünden des Volkes geworden. Durch das Blut jener Frommen und ihren sühnenden Tod hat die göttliche Vorsehung das zuvor schwer heimge- suchte Israel gerettet.«
Der Tod Jesu im Spiegel seiner »letzten Worte« vom Kreuz 7 sind,23 die das Buch insgesamt prägende hellenistische Vorstellungswelt ist doch deut- lich: Der Tod des Märtyrers erscheint hier als bewusste Tat seiner Freiheit, die zu setzen ihn seine »Denkkraft« instand setzt, da sie ihn frei macht gegenüber seinen Affekten. Der Tod selbst ist Übergang in die Unsterblichkeit der »Seele« bei Gott24. Halten wir fest: Ultima verba sind ein beliebtes Stilmittel in Historiographie und Biographie der hellenistisch-römischen Zeit, wobei die Rahmengattungen, in denen dieses Stilmittel Anwendung findet, naturgemäß variieren25. Fester Bestandteil sind ultima verba in Sterbeszenen, die überaus beliebt waren26. Hier dienen sie dazu, »die mutmaßliche Summe eines Lebens« »auf eine Formel« zu bringen, weshalb sie schon »sozusagen definitionsgemäß von zweifelhafter Authentizität« sind27. Vor dem Hinter- grund dieses literarischen Befunds scheint auch bei Jesu letzten Worten in der Frage ihrer Authentizität Zurückhaltung geboten. 2. Die sieben letzten Worte Jesu in der Tradition der Evangelienharmonie »Mehr als ein letztes Wort zu hinterlassen scheint geradezu zum Stil des Berühmtseins zu gehören«, meint K. Guthke28. Gleich sieben letzte Worte werden Jesus zugesprochen, wobei sich diese Zahl ergibt, wenn man die in den vier Evangelien zu findenden Worte, die Jesus vom Kreuz herab gesprochen hat, zusammenzählt. Die Zahl sieben scheint also zufällig zu sein, ist es aber nicht ganz, da man das Wort Jesu an seine Mutter und das an den geliebten Jünger als ein Wort zählen muss, will man auf die Sieben kommen. Problematisch wird die Zahl erst recht beim Gebet Lk 23,34 – »Vater, vergib ihnen, 23 H.-J. Klauck, 4. Makkabäerbuch, in: JSHRZ III (1989) 671: »Die Übernahme von Konzeptionen aus der atl. Opfertheologie und Opfersprache liegt auf der Hand«. Dennoch – so Klauck – wird man »angesichts der sonstigen Affinitäten unseres Autors zur hellenistischen Kultur im allgemeinen und zu Euripides und der Tragödie im besonderen […] nicht am stellvertretenden Sterben bei den Griechen vorbeigehen können«, zumal auch hier das »Sterben für […]« dem Volk zugedacht sein kann. 24 4Makk 18,23 heißt es von den Martyrern, dass »sie heilige und unsterbliche Seelen empfangen haben von Gott«; dazu E. Brandenburger, Fleisch und Geist. Paulus und die dualistische Weisheit (WMANT 29), Neukirchen-Vluyn 1968, 71 f. Anm. 5: »Unsterblichkeit eignet der Seele nicht nach ihrer Substanz, denn nach 18:23 wird die reine und unsterbliche Seele erst von Gott verliehen«; zur individuellen Eschatologie des Buches vgl. Klauck, 4Makk (Anm 23) 672–674. 25 Neben den Übersichten von Ronconi, Exitus (Anm. 7) und Gnilka, Verba (Anm. 18), vgl. noch E. Stauffer, Abschiedsreden, in: RAC 1 (1950) 29–35; K. Berger, Hellenistische Gattungen und das Neue Testament, in: ANRW II 23,2, Berlin 1984, 1031–1432, 1257–1259; ders., Formgeschichte des Neuen Testa- ments, Heidelberg 1984, 75.77.349 f. 26 Gnilka, Verba (Anm. 18) 5: »Nicht zu Unrecht hat man gesagt, dass die beiden Hauptwerke des Tacitus aus einer endlosen Kette dargestellten Sterbens bestünden«. 27 Guthke, Worte (Anm. 1) 160: Verba ultima sind »unentbehrlich für biographische und historiographi- sche Intentionen«. 28 Guthke, Worte (Anm. 1) 78.
8 Michael Theobald denn sie wissen nicht, was sie tun« –; das Wort fehlt in wichtigen alten Textzeugen und könnte deshalb nachgetragen sein29. J.A Whitlark und M.C. Parsons meinten jüngst, dieses ursprünglich mündlich tradierte Jesus- Wort30 sei erst zu dem Zeitpunkt sekundär in das Lukasevangelium hineingekommen, als man im Prozess des Vergleichens der vier Evangelien miteinander auf die Gesamtzahl der letzten Worte Jesu aufmerksam wurde und diese dann zur Zahl der Vollkommenheit – der Sieben – auffüllen wollte31. Das sei geschehen, als man mit den Widersprüchen, Wiederholungen und Doppelungen der Evangelien als ihrer Glaubwürdigkeit nicht dienlich haderte und deshalb die anerkannten Evangelien in ein einziges zu verschmelzen suchte. Die erste nachweislich be- kannte Evangelienharmonie ist die des Syrers Tatian, die – entstanden um 170 n. Chr. – für die gesamte Entwicklung der Evangelienüberlieferung und -rezeption bis in die Neuzeit hinein von nicht zu überschätzender Bedeutung ist32. Sie selbst ist nicht erhalten und lässt sich nur noch aus Sekundärzeugen rekonstruieren. Hinzu kommt, dass ein derartiges Unternehmen nie in einem ersten Wurf gelingen konnte und deshalb überall da, wo die Evangelienharmonie auf Interesse und sogar gottesdienstliche Akzeptanz stieß, zu Verbesserungen einlud. Die Folge ist eine im Osten und Westen weit verzweigte Tradition von Evangelienharmonien in Antike und Mittelalter, die in sehr vielfältiger Weise den Archetyp Tatians fortgeschrieben haben33. 29 So B.M. Metzger, A Textual Commentary on the Greek New Testament, Stuttgart 1975 (Corrected Edition), 180; Nestle27 klammert V. 34a ein; das Wort fehlt immerhin bei so wichtigen Zeugen wie P75 B D* W Θ ita,d syrs cosa,bo(mss). Angesichts dieser crux interpretum erstaunt die große Zahl der Studien zum Vers nicht: A. von Harnack, Probleme im Texte der Leidensgeschichte Jesu II: Zu Luc. 23,33.34, in: ders., Studien zur Kirchengeschichte des Neuen Testaments und der Alten Kirche I: Zur neutestamentlichen Textkritik (AKG 19), Berlin u. a. 1931, 91–98; D. Flusser, »Sie wissen nicht, was sie tun«. Geschichte eines Herren- wortes, in: P.G. Müller/W. Stenger (Hrsg.), Kontinuität und Einheit (FS F. Mußner), Freiburg 1981, 393– 410; Th.M. Bolin, A Reassessment of the Textual Problem of Luke 23:34a, in: Proceedings, Eastern Great Lakes and Midwest Biblical Societies, Vol. 12, Cincinnati 1992, 131–144; J.H. Petzer, Anti-Judaism and the Textual Problem of Luke 23:34, in: Filologia neotestamentaria 5 (1992) 199–203; J. Delobel, Luke 23,24a: A Perpetual Text-Critical Crux?, in: W.L. Petersen (Hrsg.), Sayings of Jesus. Canonical and non-canonical. Essays in Honor of Tjitze Baarda (NT.S 89), Leiden 1997, 25–36; G.P. Carras, A Pentateuchal Echo in Jesus’ Prayer on the Cross. Intertextuality between Numbers 15,22–31 and Luke 23,34a, in: C.M. Tuckett (Hrsg.), The Scriptures in the Gospels (BETL 131), Leuven 1997, 605–616; M. Blum, «… denn sie wissen nicht, was sie tun.” Zur Rezeption der Fürbitte Jesu am Kreuz (Lk 23,34a) in der antiken jüdisch-christlichen Kontro- verse (NTA.NF 46), Münster 2004, 17–28 (»Zur Textkritik«); J.A Whitlark/M.C. Parsons, The »Seven« Last Words: A Numerical Motivation for the Insertion of Luke 23.34a, in: NTS 52 (2006) 188–204. 30 Bauer, Leben (Anm. 9) 223 f., verweist darauf, dass das Agraphon bereits Irenäus, Origenes, Hippolyt, den Ps.-Clementinen und der syrischen Didaskalia geläufig gewesen sei; auch Kaiser Julian habe es ge- kannt; vgl. auch Flusser, Geschichte (Anm. 29) 399 ff., sowie Metzger, Commentary (Anm. 29) 180. 31 Whitlark/Parsons, Words (Anm. 29) 188–204. 32 Vgl. H.J. Vogels, Handbuch der Textkritik des Neuen Testamens, Bonn 21955, 111–115; M.-É. Bois- mard, Le Diatessaron: de Tatien à Justin (EB.NS 15), Paris 1992; B.M. Metzger, The Early Versions of the New Testament. Their Origin, Transmission, and Limitations, Oxford 1977, 10–36; W.L. Petersen, Tatian’s Diatessaron. Its Creation, Dissemination, Significance, and History in Scholarship (VChr.S 25), Leiden 1994. – Die Frage, ob bereits sein Lehrer Justin über eine Evangelienharmonie auf synoptischer Basis (ohne Joh) verfügte, ist umstritten; Petersen, Diatessaron, 513 (vgl. ders., Textual Evidence of Tatian’s Dependence upon Justin’s ΑΠΟΜΝΗΜΟΝΕΥΜΑΤΑ, in: NTS 36 [1990] 512–534), bejaht sie, G. Stanton, Jesus and Gospel, Cambridge 2004, 77, verneint sie. Bemerkenswert in unserem Zusammenhang ist aber, dass Justin, Dial 99,1 und 105,5 zwei der letzten Worte Jesu, nämlich Mk 15,34/Mt 27,46 und Lk 23,46, mit Verweis auf seine »Denkwürdigkeiten der Apostel« im selben Kontext bietet. 33 Hierzu vgl. den beeindruckenden Stammbaum der Diatessaron-Tradition in Petersen, Diatessaron (Anm. 32) 490; vgl. auch C. Burger/A. Den Hollander/U. Schmid (Hrsg.), Evangelienharmonien des Mit-
Der Tod Jesu im Spiegel seiner »letzten Worte« vom Kreuz 9 In diesem Zusammenhang verweisen nun die beiden genannten Autoren darauf, dass in den Zusammenstellungen der sieben letzten Worte Jesu ausgerechnet die Position des Gebets Lk 23,34 zunächst variierte, bis sich – der kanonischen Ordnung gemäß (bei Lukas steht es un- mittelbar nach der Notiz von der Kreuzigung Jesu) – sein erster Platz festigte. In der Tat ist seine Platzierung in der arabischen Übersetzung, einem »wertvollen Zeugen« des Diatessa- rons (Tatar) 34, erst an sechster Stelle und im Kommentar des Ps-Ephräm (Tatefr) 35 an siebenter auffällig (vgl. auch Const. App.). Die folgende Synopse zur Reihenfolge der letzten Worte Jesu in wichtigen Diatessaron-Zeugen36 kann den Befund veranschaulichen: Tatar Tatefr Const. App. Tatfuld Tat pers Harmonie des V,14,17 Samuel Pepy 11. Jh. 4. Jh. zwischen 547 n.Chr. 13. Jh. um 1400 375 und 400 Capua 37 mittelenglisch Lk 23,34 Lk 23,34 Lk 23,34 Lk 23,43 Lk 23,43 Lk 23,43 Joh 19,26.27 (Joh 19,26.27) Joh 19,26.27 Joh 19,26.27 Joh 19,26.27 Lk 23,43 Mk 15,34 / Mk 15,34 / Mk 15,34 / Mk 15,34 / Mk 15,34 / Mt 27,46 Mt 27,46 Mt 27,46 Mt 27,46 Mt 27,46 Joh 19,28 Joh 19,28 Joh 19,28 Joh 19,28 Joh 19,30 Joh 19,30 Joh 19,30 Joh 19,30 Lk 23,34 Lk 23,34 Lk 23,43 Mk 15,34 / Mt 27,46 Lk 23,46 Lk 23,46 Lk 23,46 Lk 23,46 Lk 23,46 Lk 23,46 Lk 23,34 telalters (STAR 9), Assen 2004. Unter dem Eindruck des Nominalismus verändern sich während der Refor- mation die in den Evangelienharmonien angewandten Prinzipien weg von der Verschmelzung der Periko- pen bzw. Auslassung von Parallelen etc. hin zu einer größeren Vollständigkeit des aufgenommenen Materials; grundlegend hierzu P. Hörner, Zweisträngige Tradition der Evangelienharmonie. Harmonisie- rung durch den »Tatian« und Entharmonisierung durch Georg Kreckwitz u. a. (Germanistische Texte und Studien 67), Hildesheim 2000, sowie dies. in: Erasmus Alber, Evangelienharmonie (Hrsg. von P. Hörner), Berlin 2009, 4–18. – Zur Reformationszeit vgl. auch D. Wünsch, Evangelienharmonien im Reformations- zeitalter. Ein Beitrag zur Geschichte der Leben-Jesu-Darstellungen (AKG 52), Berlin 1983. 34 So Vogels, Handbuch (Anm. 32) 115. – Vgl. auch A. Pott (Hrsg.), Tatians Diatessaron. Aus dem Ara- bischen übersetzt von E. Preuschen (mit einer einleitenden Abhandlung und textkritischen Anmerkun- gen), Heidelberg 1926. E. Nestle, The Seven Words from the Cross, in: ExpTi 10 (1899/1900) 423 f., nennt die Platzierung der Vergebensbitte erst an sechster Stelle »strange«: »What may be the reason of this ar- rangement? Is the word, ›Father, forgives them,‹ a later insertion […]?” 35 Ephraem der Syrer, Kommentar zum Diatessaron. Übersetzt und eingeleitet von C. Lange, 2 Bde. (FC 54/1.2), Turnhout 2008, Bd.2: 20,24 f. 27 (Joh 19,26 f. werden nicht direkt zitiert).30; 21,1.3; vgl. auch L. Abra- mowski, Narsai, Ephräm und Kyrill über Jesu Verlassenheitsruf Matth. 27,46, in: H.-J. Feulner (Hrsg.), Cross- road of Cultures. Studies in Liturgy and Patristics in Honor of Gabriele Winkler (OCA 260), Rom 2000, 43–67. 36 Die Passionsszene der Apostolischen Konstitutionen (3. Spalte), die sehr wahrscheinlich aus Syrien stam- men, wurde hier aufgenommen wegen der von ihr bezeugten harmonistischen Tradition, die mit ihrer Reihen- folge der drei letzten Worte Jesu an Tatar erinnert (vgl. E. Nestle, ›Father, forgive them‹, in: ExpTi 14 [1902/1903] 285–286). – Zu Tatpers, einer persischen Übersetzung des Diatessaron aus dem Syrischen, vgl. Vogels, Handbuch (Anm. 32), 115, zur mittelenglischen Harmonie des Samuel Pepy Petersen, Diatessaron (Anm. 32) 168 f. 37 E. Ranke, Codex Fuldensis. Novum Testamentum Latine Interprete Hieronymo, Marburg/Leipzig 1868; zu diesem auf Anordnung von Bischof Victor in Capua geschriebenen, heute in Fulda liegenden Codex vgl.
10 Michael Theobald Jason A. Whitlark und Mikeal C. Parsons schließen aus ihren Beobachtungen, dass man das Gebet Lk 23,34 erst nachträglich unter die letzten Worte Jesu in der Evangelienharmonie aufgenommen hätte, von der es dann in die gewöhnlichen Lukas-Handschriften hinüberge- wandert sei. Man kann den Befund aber auch anders deuten, nämlich als Reflex der kontro- versen Überlieferungslage, die sich erst im 4./5. Jh. änderte, als das Gebet fast überall fester Bestandteil des Lukasevangeliums geworden war. Seine partielle Positionierung am Ende der Reihe in einigen Diatessaron-Zeugen dürfte im Übrigen dem Eindruck von der überragenden Bedeutung dieses jesuanischen Gebets für die Verfolger geschuldet sein. Nach allem Abwägen des Für und Wider wird man sich für die Beibehaltung des Gebets im ursprünglichen Text des Lukasevangeliums entscheiden. Abgesehen von den inter- nen Gründen, die später transparent werden38, ist vor allem wichtig, dass sich ein Mo- tiv für die so verbreitete Tilgung des Gebets in der frühen Textgeschichte angeben lässt: ein heidenchristlicher Antijudaismus, der es nicht vertrug, dass Jesus für die mörderi- schen Juden Fürbitte bei seinem Vater eingelegt haben soll39. Die Frage nach der Siebener-Reihe in der Tradition der Evangelienharmonie gibt uns nun noch die Gelegenheit, die Worte insgesamt ins Auge zu fassen, und zwar in der Reihenfolge, wie sie der im Jahr 547 fertig gestellte Codex Fuldensis (Tatfuld) zum ersten Mal bezeugt40. Sie selbst ist aber gewiss älter. Von vereinzelten Abweichungen abgese- hen, blieb sie im Mittelalter bis in die Neuzeit hinein konstant41. Wir kennen sie aus dem Vogels, Handbuch (Anm. 32) 108: »Die Hs bietet das ganze NT, hat aber statt der vier Einzelevangelien ein auf altlateinischer Grundlage ruhendes Diatessaron, das auf Tatian zurückgeht«, vgl. auch 113 sowie ders., Beiträge zur Geschichte des Diatessaron im Abendland, Münster 1919; zur jüngeren Diskussion um den Codex Fuldensis vgl. U. Schmid, Evangelienharmonien des Mittelalters: Forschungsgeschichtliche und syste- matische Aspekte, in: C. Burger u. a. (Hrsg.), Evangelienharmonien (Anm. 33) 5–8.10 f. und im selben Band ders., Lateinische Evangelienharmonien – Die Konturen der abendländischen Harmonietradition, 19–22 u. ö. 38 Vgl. unten 4.2 zur Komposition der drei Worte. – Nicht zufällig legt Lukas auch Stephanus drei letzte Worte in den Mund, Apg 7,56.59.60, von denen das zweite und dritte (in umgekehrter Reihenfolge!) Lk 23,46.34 entsprechen und das erste an Lk 22,69 anknüpft (vgl. bei E. Haenchen, Die Apostelgeschichte [KEK], Göttingen 61968, 244 Anm. 7). Da die Angleichung der beiden Sterbeszenen literarisch beabsichtigt ist, dürfte die gleiche Anzahl der ultima verba für die Ursprünglichkeit von Lk 23,34 sprechen. 39 So schon von Harnack, Probleme (Anm. 29) 91–98; Bauer, Leben (Anm. 9) 224: »Antijüdische Ten- denzen mögen dabei im Spiel gewesen sein. Der Hauptgrund war aber gewiß der, dass die auf das Jahr 70 und seine Katastrophe zurückblickenden Leser des Evangeliums fanden, Jesus hätte eine Fehlbitte getan – was doch unmöglich angenommen werden darf«; vgl. auch Flusser, Geschichte (Anm. 29) 394.410 (ur- sprünglich ein Gebet nur für die Henker, das später als Gebet für die Juden verstanden und dann spätestens im 3. Jh. aus antijudaistischen Gründen aus vielen Handschriften getilgt wurde); F. Bovon, Das Evangelium nach Lukas (Lk 19,28–24,53) (EKK III/4), Neukirchen-Vluyn 2009, 462. – J.H. Petzer, Ecleticism and the Text of the New Testament, in: P.J. Hartin/J.H. Petzer (Hrsg.), Text and Interpretation. New Approaches in the Criticism of the New Testament, New York 1991, 47–62, 54–60, sieht die Sachlage genau umgekehrt: Das nachträglich eingefügte Gebet für die Henker (westlicher Text!) wurzle in einem Antijudaismus, der die Römer, die Jesus kreuzigten, entlasten, die Juden zugleich aber belasten wollte. Diese Erklärung hängt am Verständnis des Gebets als Fürbitte ursprünglich nur für die Soldaten (vgl. unten 4.2). 40 Ranke, Codex Fuldensis (Anm. 37) 154–156. 41 Dittrich, Worte (Anm. 10) 15: »Zwar gab es zu keiner Zeit eine festgeschriebene Reihenfolge der sieben Worte«, doch die oben dokumentierte hat sich »in der Praxis herauskristallisiert«; Langrock, Worte (Anm. 10) 13. Die Worte II und III wurden aus nahe liegenden Gründen des Öfteren vertauscht: Erst sollte Jesus sich seinen Vertrauten zuwenden (= III), dann erst dem Verbrecher zu seiner Rechten (= II); so schon der Heliand (9. Jh.), Gesänge 66 f.; Tat pers; die Harmonie des Samuel Pepy; auch die einflussreiche Passions-
Der Tod Jesu im Spiegel seiner »letzten Worte« vom Kreuz 11 Passionslied »Da Jesus an dem Kreuze stund«, das bis heute in unseren Kirchen gesun- gen wird42. Seine früheste Bezeugung bietet eine Wiener Handschrift von 1494, die auch eine Melodie enthält. Auf dem Weg seiner poetischen Gestaltung durch den Hebraisten Johann Böschenstein aus Esslingen von 1515 gelangte das Lied in zahlreiche protestan- tische und katholische Gesangbücher43. Die früheste mehrstimmige Vertonung des Lie- des stammt von Ludwig Senfl (um 1520), die bekannteste ist die von Heinrich Schütz (um 1645)44. Auch dem Instrumentalwerk von Josef Haydn (1787) liegt dieselbe Abfolge der Worte Jesu zugrunde, die ihm von der spanischen Karfreitagsandacht in Cadiz her, für die er sein Werk komponierte, vorgegeben war45. Mit ihrer ausgewogenen Architek- tonik, die der Wortfolge in den Evangelien nahe kommt, hat sie sich weithin bewährt: I. Lk 23,34 Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun. Gebet II. Lk 23,43 Amen, ich sage dir, heute noch wirst du mit mir im Paradies sein. Heilszusage III. Joh 19.26.27 Frau, siehe dein Sohn! Siehe, deine Mutter! Testament IV. Mk 15,34 Mein Gott, mein Gott, wozu hast du mich verlassen? Ps 22,2 Gebet V. Joh 19,28 Mich dürstet! Ps 69,22 Schrei des Menschen harmonie des Johann Bugenhagen, Die Historia des Leydens und der Aufferstehung unsers Herrn Jhesu Christi, aus den vier Evangelien, Wittenberg 1526 (abgedruckt in: E. Mühlhaupt [Hrsg.], D. Martin Luthers Evangelien-Auslegung, 5. Teil: Die Passions- und Ostergeschichten aus allen vier Evangelien, Göttingen 4 1969, 33*-57*,48*f.), die Luther bei seinen Predigten benutzte; außerdem Paul Gerhardt. J.A. Bengel, Richtige Harmonie der vier Evangelisten […], Tübingen 21747, 569, legt sich die Voranstellung von III vor II folgendermaßen zurecht: »Nun aber ist Johannes, nachdem er die Mariam in seine Wohnung gefuehret, wieder zu dem Creuz gekommen, V. 35, und ist daher zu erachten, sie sey nicht nur vor der dreystuendigen Finsterniß von dem freyen Felde in ein Haus gefuehret worden, sondern es sey auch nach dem ersten Wort des gecreuzigten JEsu zu seinem himmlischen Vater, sein zweytes Wort an seine beym Creuz erblickte Mutter ergangen.« – Die Abschlussstellung von Joh 19,30 (= VI), eine weitere Variante der Reihe, kommt seltener vor. Die klassische Form bietet z. B. Erasmus Alber, Evangelienharmonie (Anm. 33) 197–199. 42 Vgl. »Gotteslob« Nr. 187; das »Evangelische Gesangbuch« von 1996 enthält das Lied nicht. – Das »an dem Kreuze stund« (es gibt auch die Variante »an dem Kreuze hing«) lässt an die Hoheit des romanischen Crucifixus denken. 43 Des Näheren dazu vgl. Dittrich, Worte (Anm. 10) 30–34. 44 Allerdings kreuzen sich bei ihm zwei Traditionen: Übernimmt er in den Rahmenteilen seiner Kom- position (Exordium/Conclusio) den Text des Passionslieds, so folgt er bei den sieben Worten der Tradition der Passionsharmonien. »Erstmals in der Musikgeschichte bilden die Sieben Worte – in der deutschen Übersetzung Martin Luthers – den Gegenstand einer selbständigen, nicht in den Rahmen einer Passion integrierten Komposition« (Dittrich, Worte [Anm. 10] 21). 45 Hierzu Th. Göllner, ›Die sieben Worte am Kreuz‹ bei Schütz und Haydn, München 1986; D. Haberl, »Diese Pause wurde von der Musik ausgefüllt« – Joseph Haydns Instrumentalfassung der ›Sieben letzten Worte unseres Erlösers am Kreuze‹, in: Worte (Katalog Regensburg) (Anm. 9) 57–70.
12 Michael Theobald VI. Joh 19,30 Es ist vollbracht! Ruf des Gottessohns VII. Lk 23,46 Vater, in deine Hände lege ich meinen Geist! Ps 31,6 Gebet Zwei Beobachtungen seien an diese Übersicht angeschlossen46: (1) Die Reihe bietet eine eigene Dramaturgie des Sterbens Jesu, die in den diversen theologischen Kommentaren, Meditationen, Passionsandachten und Passionspredigten zu den letzten Worten Jesu über die Jahrhunderte hinweg theologisch recht unter- schiedlich entfaltet wurde47. Das Rückgrad dieser Dramaturgie sind die drei Gebete Jesu, die am Anfang, in der Mitte und am Ende der Komposition stehen und von denen das zweite und dritte aus der Schrift Israels geschöpft sind48. Diese Gebete beschreiben einen inneren Weg, der beim Willen zur Vergebung einsetzt, zur Klage gegen Gott führt und in ein letztes Einverständnis mit dem Vater einmündet. Die damit gegebene Christologie besitzt exemplarischen Charakter: Sie lädt dazu ein, auch das eigene Ster- ben im Licht des Sterbens Jesu zu sehen, vermittelt also eine Art ars moriendi in drei Etappen: Versöhnung mit den Menschen, Aufbegehren gegen Gott und schließlich die Einwilligung in das Sterben49. Bevor man aus exegetischer Sicht das je spezifische Pro- fil der Worte einklagt, insbesondere auf der Schärfe der markinischen Darstellung mit 46 Wilkinson, Words (Anm. 9) 69, bestimmt die Struktur der Reihe anders: »Three words of Intercession« (I-II-III), »Two words of Suffering« (IV-V), »Two words of Victory« (VI-VII). 47 Zur monastischen Tradition der Passionsmeditation und -predigt im Mittelalter und in der frühen Neu- zeit sowie zum liturgischen Hintergrund vgl. Dittrich, Worte (Anm. 10) 14 ff. Stellvertretend für vieles an- dere aus der Reformationszeit sei auf die schöne Meditation der Sieben Worte des Erfurter Augustiners Jo- hannes von Paltz (gestorben 1511) hingewiesen, in: ders., Die himlische funtgrub: Werke 3: Opuscula, Berlin 1989, 208–210. – Zum 19. Jh. im angelsächsischen Raum vgl. etwa I. Williams, The Gospel Narrative of Our Lord’s Passion harmonized. With Reflections, London 41850, 363–368, der die Sieben Worte »in a sevenfold character or point of view« vorstellt; darunter eine christologische Lesart im Blick auf »the mysterious attri- butes of our Blessed Lord« (in der klassischen Abfolge der Worte): »1. His Mediation and Intercession. 2. His Kingly Power. 3. The Son of Man. 4. His human Soul. 5. His human body. 6. His sinless perfection. 7. His voluntary Sacrifice«, oder eine paränetische Lesart zu christlichen Lebensführung: »1. Forgiveness of injuries. 2. Penitence. 3. Filial duty. 4. Fear of God. 5. Fulfilment of His Word. 6. Perfect obedience. 7. Resignation« etc. 48 Für das erste Gebet wird zuweilen Jes 53,12 (»er trug die Sünden der Vielen und trat für die Übeltäter ein«) als Hintergrund postuliert, was aber eher unwahrscheinlich ist: Lukas, auf den das Gebet zurückgehen dürfte, orientiert sich in der Regel an der Septuaginta, die hier anders liest (»um ihrer Sünden willen wurde er dahingegeben«); die Form des Gebets (Bitte mit Begründung) ist aber von den Psalmen her geläufig: vgl. LXX Ps 6,3; 24,16; 55,2; 56,2; 122,3. – Dittrich, Worte (Anm. 10) 17, zeigt für die musikalische Entwicklung seit dem 16. Jh., dass das vierte Wort »offenbar von Anfang an als ein Höhepunkt galt, um den sich die je drei anderen Kreuzesworte gruppierten«. 49 So im Sinne einer ars moriendi z. B. Paul Gerhard in der 15. Strophe seines Gedichts »Die sieben Worte / die der Herr JESUS am Creutz geredet. (Hör an, mein Herz die sieben Wort)«: »O wollte Gott, dass ich mein End / Auch also möchte enden! / Und meinen Geist in Gottes Hand / Und treuen Schoß hinsenden. / Ach lass, mein Hort! dein letztes Wort / Mein letztes Wort auch werden / So wird ich schön und seelig gehen / Zum Vater von der Erden« (in: Worte [Katalog Regensburg] [Anm. 9] 93).
Der Tod Jesu im Spiegel seiner »letzten Worte« vom Kreuz 13 Ps 22,2 als einzigem ultimum verbum Jesu beharrt50, das sich mit Ps 31,6 an siebenter Stelle nicht ohne weiteres verträgt, wird man die Leistung der Komposition der Sieben Worte samt der sich an sie anschließenden großen geistlichen Tradition würdigen. (2) Wer die sieben Worte meditiert, dem ersteht vor seinem inneren Auge das zentrale christliche Kultbild: der Gekreuzigte, thronend zwischen den beiden Schächern und zu Füßen seine Mutter und »der Jünger, den Jesus liebte«. Der unendlichen Einsamkeit des auf Golgotha Gekreuzigten scheint dieses Bild entrückt. Doch schon die vier Evangelis- ten sind auf dem Weg zu diesem Kultbild: Bei Markus sind noch »alle Jünger« geflohen (Mk 14,50), nur Frauen beobachten das Geschehen »von ferne« (Mk 15,40); anders Lu- kas, der neben einer großen Volksmenge, die das »Schauspiel« verfolgt, »alle Bekannten« Jesu in die Reichweite des Kreuzes rückt (seine Jünger eingeschlossen) 51 und sie zusam- men mit den Frauen »von ferne« zuschauen lässt (Lk 23,49)52. Die letzte Steigerung bietet das Vierte Evangelium mit seiner eher statuarischen Szene53: Es zeigt uns die Frauen »beim Kreuz Jesu« (Joh 19,25), unter ihnen auf einmal seine »Mutter« und einen besonders erwählten Jünger (Joh 19,26). Geht man davon aus, dass die johanneische Gemeinde sich durch diesen anonymen Jünger vertreten wähnte, dann sah sie sich auch selbst unter dem Kreuz, durch die Erzählung in die Szene hineingeholt. Später zeigen die Maler den Stifter des Kultbildes oder andere hochrangige Christen unter dem Kreuz – auf Knien an der Seite, womit allen, die vor das Kultbild treten, ihr Ort angewiesen wird: ein Ort der Anbetung und Verehrung des Gekreuzigten. Man könnte bei diesem Vorgang von einer Ästhetisierung der Wirklichkeit spre- chen54. Sie provoziert die Frage: Was verbirgt sich hinter den Ikonen unserer Evange- lien, das Markusevangelium eingeschlossen? Was geschah wirklich auf Golgotha? In welchem Elend und in welcher Einsamkeit starb der Gekreuzigte tatsächlich? 3. Sieben letzte Worte. Ist überhaupt eines von ihnen authentisch? Gegner sehen oft schärfer. So erklärte der Neuplatoniker Porphyrius (234–301/305) in seiner Schrift »Gegen die Christen«, in der er umfassend auf Widersprüche und Unge- reimtheiten zwischen den Evangelien hinwies, zu den unterschiedlichen Versionen der 50 W .Fritzen, Von Gott verlassen? Das Markusevangelium als Kommunikationsangebot für bedrängte Christen, Stuttgart 2008, 342 Anm. 98: »In allen anderen Evangelien bleiben die Worte Jesu am Kreuz nicht seine letzten; als Auferstandener richtet er seine Worte erneut an die Jünger und an die Leser […].« 51 Die Notiz von der Jüngerflucht, Mk 14,50, hat der Dritte Evangelist zwischen Lk 22,53 und 22,54 er- satzlos gestrichen. 52 Vgl. P.-G. Klumbies, Das Sterben Jesu als Schauspiel nach Lk 23,44–49, in: BZ.NF 47 (2003) 186–205. 53 Es gibt viel weniger Bewegung als bei den anderen Evangelien; von nur vier Soldaten ist die Rede, »die Juden« treten am Kreuz selbst nicht in Erscheinung. 54 Auch auf unseren Fall trifft die Beobachtung von W. Hildesheimer, Mozart, Frankfurt 1977, 370, zu: »Sterbeakt und Tod des Genies unterliegen nicht zuletzt auch der ästhetischen Zensur: Für die verehrende Nachwelt haben sie das Minimum des emphatisch Schönen zu erfüllen, des Überlieferbaren, ›letzte Worte‹, letzte Gesten.«
14 Michael Theobald letzten Worte Jesu: Sie legten die Annahme nahe, »nicht ein einziger, sondern mehrere hätten gelitten«55. Den bei Porphyrius gegen die Glaubwürdigkeit der Evangelien ge- richteten kritischen Impuls nimmt die historisch-literarische Kritik der Neuzeit auf, arbeitet jetzt aber im Wissen um die Standortgebundenheit aller geschichtlichen Deu- tung das sehr unterschiedliche theologische Profil der Evangelien heraus, um es mit dem zu konfrontieren, was sich vernünftigerweise historisch sagen lässt. Was die letz- ten Worte Jesu betrifft, stehen zwei Fragen an: Welches Wort stand in der ältesten Passionserzählung, die unseren Evangelien noch voraus liegt? Und erlaubt uns diese älteste Quelle, über Jesu tatsächliches Sterben eine Aussage zu treffen? 3.1 Die älteste Passionserzählung – ohne ein verbum ultimum Jesu? Auszugehen ist von Ps 22,2, dem ältesten verbum ultimum Jesu – und dem einzigen im Markusevangelium. Alle übrigen Worte unterliegen m. E. schon auf Grund redaktions- kritischer Einsichten dem Verdikt sekundärer Bildung. Damit ist aber noch nicht die Frage entschieden, ob Ps 22,2 auch schon in der Markus vorgegebenen bzw. in der ältesten Pas- sionserzählung gestanden hat. R. Bultmann verneinte das. Er verwies auf die Doppelung des Motivs vom »lauten Schrei« in Mk 15,34 und 37 und erklärte: Der »laute Schrei« samt Psalmwort, der in V. 34 vorangeht, sei »offenbar« »eine sekundäre Interpretation des [nachfolgenden] wortlosen Schreis Jesu V. 34«, der älter sei56. Dabei ließ R. Bultmann sich wohl auch von der Vorstellung leiten, die älteste Passionserzählung müsse »neutral« und »(relativ) legendenfrei« gewesen sein, wozu die nüchterne Notiz vom Sterben Jesu mit einem durchdringenden unartikulierten Schrei auf seinen Lippen passen würde57. Der archaische Eindruck, den diese Notiz macht, erklärt vielleicht auch, warum der literarkri- tische Vorschlag von R. Bultmann bis heute auf Akzeptanz stößt58. Aber kannte die älteste 55 Bei A. von Harnack, Porphyrius, ›Gegen die Christen‹, 15 Bücher. Zeugnisse, Fragmente und Referate (APAW.PH 1916,1), Berlin 1916, 50 f. (Fr. 15); dazu H. Merkel, Die Widersprüche zwischen den Evangelien. Ihre polemische und apologetische Behandlung in der Alten Kirche bis zu Augustin (WUNT 13), Tübingen 1971, 15. 56 R. Bultmann, Die Geschichte der synoptischen Tradition (FRLANT.NF 12), Göttingen 81970, 295: »V. 34 ist offenbar eine nach ψ 21,2 geformte sekundäre Interpretation des wortlosen Schreis Jesu V. 37 (πάλιν fehlt V. 37, während Mt es hinzufügt!). Damit ist zugleich V. 35.36b als sekundär erwiesen«. Vgl. bereits J. Weiß, Das Markus-Evangelium, in: ders. (Hrsg.), Die Schriften des Neuen Testaments, Göttingen 1906, 206; W. Bussmann, Synoptische Studien, Erstes Heft: Zur Geschichtsquelle, Halle 1925, 19 f. (»Überliefe- rungsdubletten«); auch D. Lührmann, Das Markusevangelium (HNT 3), Tübingen 1987, 263, macht das Argument stark: »Auffällig ist bei Mk aber die doppelte Erwähnung des lauten Schreis Jesu in 34 und 37«. 57 Freilich bleibt Bultmann, Geschichte (Anm. 56) 296, vorsichtig: »Ob der einzig neutrale V. 37 einmal einen Platz in einem älteren (relativ) legendenfreien Bericht hatte, vermag man nicht zu sagen.« 58 Bultmann folgen u. a. E. Linnemann, Studien zur Passionsgeschichte (FRLANT 102), Göttingen 1970, 137.148; J. Gnilka, Das Evangelium nach Markus (Mk 8,27–16,20) (EKK II/2), Zürich/Neukirchen-Vluyn 1979, 312; Lührmann, Mk (Anm. 56) 263 f., hält es für möglich, »dass Mk (oder vielleicht eine frühere Fassung der ihm vorgegebenen Passionsgeschichte) dieses Zitat von Ps 22 erst eingebracht hat, um dadurch die bereits vorhandene Verbindung von Ps 69,22 und Tod Jesu (vgl. Joh 19,29 f.) zu erweitern […]. Angesichts der Bedeutung von Ps 22 für die Interpretation der Passion Jesu als Leiden des Gerechten ist es nicht aus- geschlossen, dass jedenfalls dessen Anfang auch in griechischsprachigen Gemeinden in Aramäisch bekannt
Der Tod Jesu im Spiegel seiner »letzten Worte« vom Kreuz 15 Passionserzählung wirklich kein letztes Wort Jesu? Und war diese Erzählung nicht immer schon theologische Deutung, also alles andere als »neutral«? Vier Argumente sprechen m. E. dafür, dass Ps 22,2 als ultimum verbum zum Urgestein der Passionserzählung gehört. Erstens legt die jüdisch-hellenistische Märtyrerliteratur die Annahme nahe, dass auch das Sterben Jesu nicht ohne ein ultimum verbum erzählt wurde. Zweitens könnte die aramäische Fassung von Ps 22,2 im griechischen Text ein Indiz der alten in Jerusa- lem entstandenen Passionserzählung sein59. Drittens – und dieses Argument übertrifft die beiden ersten an Durchschlagskraft – ist festzustellen, dass Ps 22 der Kreuzigungs- szene insgesamt den »Deutehorizont« 60 liefert. Dabei sind die impliziten Anspielungen auf den Psalm gegenläufig, wie die folgende Tabelle veranschaulichen kann: Mk 15 Ps 22 Teilung der Kleider 15,24 22,19 Kopfschütteln der Passanten 15,29 22,8 Verspottung des Gerechten 15,30–32 22,7–9 Invocatio (»Mein Gott, mein Gott«) + Wozu-Frage 15,34 22,2 B. Janowski stellt zu Recht fest, dass sich diese Gegenläufigkeit daraus ergibt, »dass im Kreu- zigungsbericht entsprechend der narrativen Chronologie die Schilderung der Feindbedräng- nis – Teilung der Kleider (V. 24), Kopfschütteln der Vorbeigehenden (V. 29) und Verspottung des Gerechten (V. 30 f.) – als der die Dramatik des Geschehens auslösende Faktor am Anfang steht, während die klagende ›Wozu‹-Frage (V. 34) am Ende der Erzählung folgt […]«61. Gehö- ren die drei ersten Elemente zur ältesten Passionserzählung – darüber bestehen m. E. kaum Zweifel62 –, dann gilt dies gewiss auch von der Klimax, der Klage Jesu am Kreuz. gewesen sein kann, wie das frühe Christentum ja auch andere Formeln von dort übernommen hat. Doch mag dies Vermutung bleiben«; ähnlich W. Reinbold, Der älteste Bericht über den Tod Jesu. Literarische Analyse und historische Kritik der Passionsdarstellungen der Evangelien (BZNW 69), Berlin/New York 1994, 168 f., der erklärt: »Der gegenteilige Nachweis kann schwerlich gelingen«. 59 L. Schenke, Der gekreuzigte Christus. Versuch einer literarkritischen und traditionsgeschichtlichen Be- stimmung der vormarkinischen Passionsgeschichte (SBS 69), Stuttgart 1974, 86.96; anders Lührmann, Mk (Anm. 56) 263 f. (vgl. dazu oben Anm. 58). – Vgl. auch Schwemer, Worte (Anm. 9) 12 f.; für H. Gese, Psalm 22 und das Neue Testament. Der älteste Bericht vom Tode Jesu und die Entstehung des Herrenmahles, in: ZThK 65 (1968) 1–22, 14, gibt es für den Verzicht auf eine Anspielung auf Ps 22,17b LXX (»sie durchgruben meine Hände und Füße«) in der Kreuzigungserzählung »keine andere Erklärung als die, dass der Psalm nicht in der LXX-Fassung, sondern aramäisch bekannt gewesen ist, was für ein sehr altes neutestamentliches Über- lieferungsstadium spricht«. 60 Lührmann, Mk (Anm. 56) 263. – Zur Rezeptionsgeschichte von Ps 22 im Frühjudentum vgl. H.-J. Fabry, Die Wirkungsgeschichte des Psalms 22, in: J. Schreiner (Hrsg.), Beiträge zur Psalmenforschung. Psalm 2 und 22 (FzB 60), Würzburg 1988, 279–317; H. Omerzu, Die Rezeption von Psalm 22 im Judentum zur Zeit des Zweiten Tempels, in: D. Sänger (Hrsg.), Psalm 22 und die Passionsgeschichten der Evangelien (BThSt 88), Neukirchen-Vluyn 2007, 33–76. 61 B. Janowski, Konfliktgespräche mit Gott. Eine Anthropologie der Psalmen, Neukirchen-Vluyn 2003, 363; vgl. bereits Gese, Psalm 22 (Anm. 59) 14–17. 62 Das an Ps 22,8 erinnernde Motiv des Kopfschüttelns, V. 29a, begegnet zwar im vorliegenden Markus- text in einem redaktionsverdächtigen Zusammenhang (V. 29b, das Wort der Spötter: »wehe dem, der den Tempel niederreißt und in drei Tagen aufbaut […]«, dürfte nachgetragen sein), wird aber zum Urgestein der Szene gehören; vgl. dazu nur Schenke, Christus (Anm. 59) 92; F. Schleritt, Der vorjohanneische Pas-
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