Das Kreuz: Nicht Verbergung, sondern Offenbarung Gottes

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NR. 97 | 01 2011

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Das Kreuz:
Nicht Verbergung,
sondern Offenbarung Gottes                                                                                    Karl-Heinz Menke

U
        nsere Zeit ist so schnelllebig, dass   er – ist die christliche Symbolisierung           Benedikt XVI., betont, dass der ntl. bezeug-
        die Äußerungen des islamischen         Gottes durch das Kreuz Blasphemie.                te Jesus alles sprengt, was ein jüdischer
        Schriftstellers Navid Kermani              Wo das Christentum an Jesus ablesen           Rabbi sagen kann. Neusner versetzt sich in
über das Kreuz im Allgemeinen und über         will, wer Gott ist und wie Gott ist, verbietet    die Hörer der Bergpredigt Jesu und ist ent-
eine bestimmte Kreuzesdarstellung im           der Islam mit seinem Bilderverbot jede            setzt; denn hier – so urteilt er als Jude –
Besonderen schon wieder weithin verges-        geschöpfliche Repräsentation Gottes. Wo           steht nicht irgendeine Interpretation der
sen sind. Leider wurde in den Medien           das Christentum über die Vereinbarkeit            Tora auf dem Spiel, sondern der Mono-
kaum oder gar nicht nach dem theologi-         von Gerechtigkeit und Barmherzigkeit,             theismus Israels. Er stimmt Papst Benedikt
schen Grund der umstrittenen Sätze des         von Allmacht und Liebe nachdenkt, pre-            ausdrücklich zu, wenn der schreibt: „Der
Literaten gefragt, sondern eher oberfläch-     digt der Islam die absolute Transzendenz          Streit zwischen Jesus und den jüdischen
lich über Kriterien und Grenzen der Tole-      des ganz anderen Gottes, der seinen Wil-          Autoritäten seiner Zeit geht letztlich nicht
ranz debattiert. Die Wortwahl Kermanis         len, nicht aber sein Wesen mitteilt. Der          um diese oder jene einzelne Gesetzesver-
hat Einfühlungsvermögen und Respekt            Bonner Patrologe Ernst Dassmann hat die           letzung, sondern um den Anspruch Jesu, ex
vor den Ausdrucksformen des Christen-          Vermutung geäußert, dass der Islam den            auctoritate divina zu handeln, ja, diese
tums vermissen lassen. Doch seine klaren       gordischen Knoten einer immer kompli-             auctoritas selbst zu sein. ‚Ich und der Vater
Verdikte sind für die christliche Theologie    zierter erscheinenden Christologie mit            sind eins’ (Joh 10,30).“2
auch eine Chance, die Mitte des Christen-      der Degradierung Jesu zu einem bloßen                 Jesus ist nicht trotz, sondern wegen
tums neu sehen zu lernen.                      Propheten kurzerhand zerschlagen hat.             seines wahren Menschseins die reale
    Kermani bezeichnet schon die bloße         Und das habe wie eine Befreiung gewirkt;          Offenbarkeit des innertrinitarischen Soh-
Tatsache, dass Christen mit dem Kreuz          anders sei die flächendeckende Verdräng-          nes. Indem er in jeder Phase seines
bzw. dem Kreuzzeichen Gott darstellen,         ung des Christentums aus seinen Stamm-            Lebens von sich fort auf den Vater ver-
als abwegig, wörtlich: „als „barbarisch“,      landen kaum erklärbar.                            weist, lebt er sein Menschsein als Selbst-
als „Gotteslästerung und Idolatrie“1. Die          Einerseits unterscheiden die ntl. Schrif-     unterscheidung von Gott3. Das Gegenteil
Darstellung des Gekreuzigten durch             ten Jesus von dem Gott, den er Vater nennt.       dieser Selbstunterscheidung ist die Sün-
Guido Reni (1575-1642) in der römi-            Andererseits lässt Johannes ihn sagen: „Ich       de; denn der Sünder will selbst Gott sein.
schen Kirche San Lorenzo in Lucina             und der Vater sind eins.“ (Joh 10,30). Und:       Er will sich nicht von Gott sagen lassen,
scheint aus seiner Sicht anzudeuten,           „Wer mich gesehen hat, hat den Vater gese-        was gut und was böse ist; er will autonom
dass der Gott repräsentierende Jesus           hen.“ (Joh 14,9b). Und: „Niemand kommt            und autark sein. Aber der Mensch ist nicht
vom Kreuz gar nicht berührt worden ist.        zum Vater außer durch mich.“ (Joh 14,6b).         Gott; er wird im tiefsten Sinne dieses Wor-
Kurzum: Kermani interpretiert Renis            Jesus weiß sich vom Vater gesandt und             tes „un-menschlich“, wenn er sich nicht
Crucifixus im Sinne einer doketischen          betet zu ihm, indem er zwischen dem Wil-          mehr von Gott unterscheidet. Die Ursün-
Christologie. Bekanntlich setzt die isla-      len des Vaters und dem eigenen Willen             de ist das Gott-sein-Wollen, die Verweige-
mische Tradition voraus, dass Jesus gar        unterscheidet (Lk 22,42). Aber Jesus wird         rung der Selbstunterscheidung von Gott,
nicht gelitten hat und erst recht nicht        auch als ‚der alleinige Retter‘ (Apg 4,12), als   die Verweigerung des Gehorsams gegen-
am Kreuz gestorben ist (Sure 4,157f);          ‚der Herr aller Menschen‘ (Röm 10,12), als        über Gott. Jesus lebt als wahrer Mensch
dahinter steht die Überzeugung, dass           ‚der Herr der Herrlichkeit‘ (1 Kor 2,8), als      das Gegenteil der Sünde. Er lebt dieselbe
nicht einmal ein Prophet, geschweige           ‚der Erste und der Letzte‘ (Offb 1,17; 22,13)     Selbstunterscheidung vom Vater, die der
denn Allah selbst durch einen Gekreu-          und als ‚wahrer Gott‘ (Joh 20,28; 1 Joh 5,20)     innertrinitarische Sohn ist. So ist er perso-
zigten darstellbar ist. Kermani will           bezeichnet. Jacob Neusner, Professor für          nal identisch mit dem ewigen Sohn. Des-
sagen: Gott ist doch das Gegenteil von         Geschichte und Theologie des Judentums            halb bedeutet die Selbstoffenbarung Got-
Ohnmacht und Passivität, das Gegenteil         am Bard College in New York, bekannt              tes im Christusereignis nicht so etwas wie
von Leid und Tod. Deshalb – so folgert         geworden durch seinen Dialog mit Papst            das freiwillige Abstreifen aller göttlichen

1) Navid Kermani, Warum hast du uns verlassen?, in: Neue Züricher Zeitung vom 14.3.2009.
2) J. Ratzinger, Die Vielfalt der Religionen und der Eine Bund, Bad Tölz 42005, 36f.
3) Dazu: W. Pannenberg, Systematische Theologie, Bd. II, Göttingen 1991, 365-440.

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Eigenschaften, sondern im Gegenteil die           anders ist als so, wie er sich in Jesus, und      ist, nämlich den Gegensatz zwischen der
Identität der geschichtlich gelebten              zwar dem Gekreuzigten, geoffenbart hat;           Allmacht des opfernden Vaters und der
Selbstunterscheidung Jesu vom Vater mit           dass Gott sich mit keinen anderen Mitteln         Ohnmacht des geopferten Sohnes. Wer für
der innertrinitarischen Selbstunterschei-         als denen der gekreuzigten Liebe durch-           möglich hält, dass der Vater den Kreuzes-
dung des Sohnes vom Vater. Kurzum:                setzt; dass Gott der Vater nicht denkbar ist      tod seines Sohnes als Ausgleich für die
„Gott entschlägt sich in seiner Erniedri-         ohne den in Jesus ansichtigen Sohn; und           Sünde seit Adam wollte; und wer außer-
gung nicht seiner Gottheit, sondern               dass der in Jesus ansichtige Sohn nicht           dem für möglich hält, dass der Vater den
bestätigt sie gerade darin.“4                     denkbar ist ohne seine Beziehung zum              unschuldigen Sohn ersatzweise für die
     So kompliziert Trinitätstheologie und        Vater. Kurzum: Der in Jesus offenbare Gott        Sünder sterben ließ, obwohl er dies hätte
Christologie auch scheinen, das Anliegen,         ist nicht einerseits der Vater und anderer-       verhindern können, der vertritt nicht nur
das dahinter steht, ist ganz einfach: Es          seits der Sohn, sondern die wechselseitige        eine antibiblische Theologie, sondern
geht darum, dass Gott nicht anders                Hingabe des Einen an den Anderen6.                auch eine theologische Rechtfertigung
gedacht werden darf als Jesus; genauer                 Die für den christlichen Glauben             von Gewalt.
gesagt, nicht anders als die Sohnesbezie-         schlechthin entscheidende Frage „Was                   In der Menschwerdung und Kreuzi-
hung Jesu zu seinem „Abba“. Es geht               hat der Erlöser vor nunmehr zweitausend           gung des Sohnes setzt sich der Vater mit
darum, dass Jesus als wahrer Mensch die-          Jahren für alle Menschen aller Zeiten             und in seinem Sohn dem Hass der Sünder
selbe Beziehung zu Gott dem Vater lebt,           getan?“ wird erst da zutreffend beantwor-         aus. Der Vater kann den Kreuzestod des
die der innertrinitarische Sohn ist. Es geht      tet, wo man von der unseligen Vorstellung         Sohnes ebenso wenig verhindern wie der
insbesondere darum, dass Gott nicht               Abschied nimmt, Gott der Vater habe               Gekreuzigte selbst. Nicht nur dem Sohn,
anders allmächtig ist als der gekreuzigte         gleichsam vom Himmel her zugeschaut,              sondern auch dem Vater gelten die Worte:
Jesus, dem seine Henker zurufen: „Hilf dir        wie sein Sohn – durch das Ereignis der            „Hilf dir doch selbst und steig herab vom
doch selbst und steig herab vom Kreuz!“           Inkarnation auf die Seite der Menschen            Kreuz!“ (Mk 15,30). Denn der trinitarische
(Mk 15,30). Wäre Gott an und für sich auf         getreten – ersatzweise die Sünden der             Gott ist als die Beziehung des Vaters zum
andere Weise mächtig als Jesus der                Brüder und Schwestern am Kreuz                    Sohn und des Sohnes zum Vater jene
Gekreuzigte, dann wäre Jesus nicht die            gesühnt habe (Satisfaktionstheorie). Ein-         Liebe, die sich eher kreuzigen lässt als
Selbstoffenbarung Gottes; und dann                mal abgesehen von der Frage, warum der            irgendetwas, und mag es das objektiv
würde der Koran zu Recht fragen, warum            Kreuzestod des Unschuldigen die Sünde             Beste sein, zu erzwingen. Es ist erstaun-
der allmächtige Gott seinen geliebten             der Schuldigen sühnen soll, ist Jesus             lich, dass die christliche Ikonographie zu
Propheten nicht vor der Schande des               Christus in dieser Theorie nicht die              derselben Zeit, in der die scholastische
Kreuzestodes bewahrt hat. Das gerade ist          Selbstoffenbarung Gottes, sondern das             Theologie ihre Satisfaktionstheorie kon-
die Mitte, die Quintessenz aller christli-        Objekt eines Vaters, der jederzeit die Kreu-      struierte, mit der Darstellung des soge-
chen Theologie, dass Jesus auch und gera-         zigung des Sohnes zulassen oder verhin-           nannten „Gnadenstuhls“ ein Bild etabliert
de am Kreuz die Selbstoffenbarung Gottes          dern kann. Selbst wenn man betont, dass           hat, in dem die Selbsthingabe des Sohnes
ist. Papst Benedikt kleidet diesen Sachver-       es bei der Opferung des Sohnes nicht um           in der Einheit des Heiligen Geistes (in den
halt in das Bekenntnis: „Der brennende            die Befriedigung der Gerechtigkeit des            Gnadenstuhldarstellungen meistens als
Dornbusch ist das Kreuz. Der höchste              Vaters, sondern um die Wiederherstellung          Taube zwischen dem Antlitz des Vaters
Offenbarungsanspruch, das ‚Ich bin es’            der Ehre des Sünders ging, wird die Satis-        und dem Antlitz des Gekreuzigten darge-
und das Kreuz Jesu sind untrennbar.“5             faktionstheorie nicht besser. Denn auch           stellt) zugleich die Selbsthingabe des Va-
     Darin unterscheidet sich das Chris-          so verstanden trägt sie einen Gegensatz in        ters ist7. Und wenn der Evangelist Markus
tentum radikal vom Islam: dass Gott nicht         Gott hinein, der ganz und gar unbiblisch          einen heidnischen Hauptmann unter

4) H. U. v. Balthasar, Mysterium Paschale, in: Mysterium Salutis, Bd. III/2, hg. v. J. Feiner u. M. Löhrer, Einsiedeln 1969, 133-319; 183.
5) J. Ratzinger / Benedikt XVI., Jesus von Nazareth, Bd. I. Von der Taufe im Jordan bis zur Verklärung, Freiburg 2007, 401.
6) Der Evangelist Lukas ersetzt die letzte Paradosis des Sohnes durch den Vater, den Verlassenheitsruf des Sohnes am Kreuz (Mk 15,34; nach Ps
   22,2), durch die letzte Paradosis des Sohnes, der seinen Geist in die Hände des Vaters übergibt (Lk 23,46; nach Ps 31,6). „Dass Gott der Vater
   den Sohn ausliefert (‚nicht verschont’) ist seine Liebe zu uns (Röm 8,32; Joh 3,16), ist aber auch Liebe Christi zu uns (Röm 8,35; Gal 2,20; Eph
   5,1), und zwar so, dass in der freien Selbsthingabe Christi (Joh 10,18) die absolute Liebe des Vaters kundwerden soll.“ (Balthasar, Mysterium
   Paschale, 201).
7) Dazu: R. Feldmeier, Der Gekreuzigte im „Gnadenstuhl“. Exegetische Überlegungen zu Mk 15,37-39 und deren Bedeutung für die Vorstellung
   der göttlichen Gegenwart und Herrschaft, in: M. Philonenko (Hg.), Le Trône de Dieu [WUNT 69], Tübingen 1993, 213-232.

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             „Christen bekennen sich zu einem Gott, der sich lieber kreuzigen lässt
                    als irgendetwas mit Gewalt zu erzwingen.“

dem Kreuz die Worte sprechen lässt:             aber gerade so – im Modus wehrloser              denfall und jede weitere Sünde zwischen
„Wahrhaftig, das war Gottes Sohn.“ (Mk          Liebe – stärker war als der Tod.                 Gott und dem Menschen aufgerissen hat.
15,39), dann heißt das doch: Der Sohn ist           Was ist gemeint mit diesem Bekennt-          Das von Israel aus dem religionsge-
in seinem Leiden und Sterben nicht nur          nis, dass Christi Liebe stärker war als der      schichtlichen Umfeld übernommene Bild
Objekt der ihn kreuzigenden Gewalt, son-        Tod? – Ganz offensichtlich ist hier nicht        von der Scheol stellt uns Menschen vor
dern in der Selbsthingabe an den Vater          die Rede vom physischen Tod, sondern             Augen, die getrennt sind von allem, was
auch Subjekt der Liebe des Vaters zu den        von dem eigentlichen Tod, der die Tren-          wirkliches Leben ist. Weil sie keine Bezie-
Sündern8.                                       nung von Gott ist. Vor dem Sündenfall            hung zu Gott und zueinander haben, ist
    Natürlich ist die Frage berechtigt:         Adams bezeichnet der physische Tod den           ihr Leben nur so etwas wie der Schatten
Wenn Gottes Macht nicht anders                  Übergang des Menschen in das ewige               des Wirklichen. Wer die Scheol erfährt,
gedacht werden darf als die Macht des-          Leben der Gemeinschaft mit Gott. Durch           versinkt nicht einfach ins Nichts, wohl
sen, den man wegen seiner Ohnmacht              den Sündenfall jedoch wird der physische         aber in den Zustand absoluter Sinn-, Zeit-
verspottet, was kann er dann; um was            Tod zum Realsymbol der „Weltsünde“               und Zukunftslosigkeit („Gott-losigkeit“ in
kann man ihn noch bitten; was noch von          bzw. des „Ortes“, an dem Gott nicht ist,         des Wortes ursprünglicher Bedeutung).
ihm erwarten?                                   der Scheol bzw. des Hades.                           Weil Jesus – als wahrer Mensch, „in
    Die Antwort auf diese Frage ist der             Israel beschreibt JHWH als den Gott          allem uns gleich außer der Sünde“ (Hebr
Osterglaube; d. h. der Glaube daran, dass       unbedingter Heiligkeit; deshalb ist die          4,15) – dieselbe Beziehung zu Gott seinem
nicht die Henker Jesu das letzte Wort           Sünde das, was JHWH unbedingt nicht              Vater lebt, die der innertrinitarische Sohn
behalten haben, sondern Er, der schein-         will. Zwischen Gott und dem Sünder kann          von Ewigkeit her ist, ist er die Anwesen-
bar ein für alle Mal am Kreuz Erledigte.        es keine Gemeinschaft geben. Der Sün-            heit Gottes in Raum und Zeit, in Welt und
    Wenn die Christenheit an jedem Kar-         denfall ist aus der Sicht Israels die Katas-     Geschichte. Und weil Jesus auch in sei-
freitag in der Todesstunde Jesu aufgefor-       trophe schlechthin. Denn weil der Schöp-         nem physischen Sterben in Beziehung
dert wird, ein Kreuz zu küssen, dann nicht      fer dem Menschen nicht nur scheinbare,           bleibt zu seinem Vater, gelangt der Vater
irgendein Kreuz; das wäre pervers; nein,        sondern wirkliche Freiheit geschenkt hat,        (JHWH) durch seinen Abstieg zu den
das Kreuz Jesu, dessen Liebe das Kreuz          kann er das Nein des Sünders nicht ver-          Toten dahin, wo das mit ihm völlig Unver-
nicht beseitigt, aber besiegt hat. Christen     hindern oder gar ungeschehen machen.             einbare ist, der „Ort der Sünde“, die
bekennen mit der Kreuzverehrung etwas           Die Folgen der pervertierten Freiheit des        „Scheol“. So wahr das wirkliche Totsein
Ungeheuerliches. Denn sie bekennen sich         Menschen sind eine Wirklichkeit, die             des Gekreuzigten ist9, so wahr ist auch das
zu einem Gott, der sich in Jesus Christus,      JHWH – wenn er einmal die Schöpfung              Fortbestehen der hypostatischen Union
und zwar dem Gekreuzigten, als er selbst        realisiert und mit wirklicher Freiheit           des toten Jesus mit dem innertrinitari-
offenbart hat. Sie bekennen sich zu einem       begabt hat – nicht auslöschen kann. Nur          schen Sohn. Der bis zur Passivität des
Gott, der sich lieber kreuzigen lässt als       unter dieser Voraussetzung kann man              wirklichen Totseins reichende Gehorsam
irgendetwas mit Gewalt zu erzwingen; der        ermessen, welchen Graben Adams Sün-              des Sohnes trägt das Leben nur dann in

8) Über die Untrennbarkeit des Handelns Gottes vom Handeln Jesu im Markusevangelum: A. Weihs, Die Deutung des Todes Jesu im Markus-
   evangelium. Eine exegetische Studie zu den Leidens- und Auferstehungsansagen, Würzburg 2003, 551-576. – Teile der jüngeren Exegese
   erkennen einen nicht nur kompositorischen, sondern auch theologischen Zusammenhang zwischen den drei Gottessohnprädikationen des
   Markusevangeliums in der Taufszene (Mk 1,11), in der Verklärungsszene (Mk 9,7) und durch den heidnischen Hauptmann unter dem Kreuz
   (Mk 15,39).
9) Die sogenannte Karsamstagstheologie Hans Urs von Balthasars gipfelt in dem Satz: „Wenn ohne den Sohn niemand den Vater sehen kann
   (Joh 1,18), niemand zum Vater kommen kann (Joh 14,6), der Vater für keinen offenbar sein kann (Mt 11,27), dann wird, wenn der Sohn, das
   Wort des Vaters, tot ist, niemand Gott sehen, von ihm hören, zu ihm gelangen. Und es gibt diesen Tag, wo der Sohn tot und damit Gott unzu-
   gänglich ist. Ja, um dieses Tages willen ist […] Gott Mensch geworden.“ (Balthasar, Mysterium Paschale, 159). Denn gerade da, wo Gott nicht
   mehr offenbar ist als der Lebendige, nicht einmal mehr als der Gekreuzigte, sondern als der nur noch Verfügte, als der mit den Toten Tote,
   eben da besiegt er den Tod, und zwar den eigentlichen Tod, der identisch ist mit der Scheol. Dieser Sieg geschieht nicht im Modus des Kamp-
   fes oder des Triumphes, auch nicht im Bild der Osterikone des Ostens; denn der dem Vater gehorsame Sohn ist am Karsamstag nicht der
   Herabsteiger, während die, zu denen er herabsteigt, die Scheol-Gefangenen sind. Selbst da, wo der erste Petrusbrief vom Hingang des Erlö-
   sers in das Gefängnis der vormals Ungehorsamen (1 Petr 3,18-20) und von der Frohen Botschaft des Erlösers an die Toten spricht (1 Petr 4,6),
   wird das passive Mitsein des Gekreuzigten mit den vom Tod Gefangenen vorausgesetzt, bevor der Auferweckte im Bild des universalen Ver-
   kündigers zum Herrn der ganzen Schöpfung (Kol 1,23) proklamiert werden kann. Am Karsamstag ist Christus selbst Toter unter den Scheol-
   Toten. Balthasar (ebd. 247) spricht vom nackten Gehorsam des am Kreuz Sterbenden. Sein Eintritt in die Scheol erfolgt nicht in der doketi-
   schen Weise einer nur gespielten oder scheinbaren Übernahme des Todes.

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                                    „Christus richtet den Sünder durch eine Liebe,
                                                  wie sie abgründiger nicht gedacht werden kann.“

den Tod, wenn durch seine Passivität die       Gekreuzigten. Um zu verstehen, dass die         heit“ vermutlich tiefer als jeder Sünder sie
Aktivität des Vaters in die Scheol gelangt.    gekreuzigte Liebe das denkbar radikalste        jemals erleiden kann13. Seine richtende
Die Osterliturgie preist Jesus als den, „der   Gericht ist, genügt ein Beispiel zwischen-      Liebe begegnet dem Sünder also gewis-
im Tod [gemeint ist der physische Tod]         menschlicher Grunderfahrungen. Folgen-          sermaßen nicht „von oben“, sondern „von
den Tod [gemeint ist die Scheol, die Tren-     de Anekdote12 aus dem Leben von Papst           unten“. Christus richtet den Sünder durch
nung von Gott] besiegt hat“. Das heißt:        Johannes XXIII. ist als wahr verbürgt: Es       eine Liebe, wie sie abgründiger (kenoti-
Mit dem Abstieg des einen Menschen, der        war in der Zeit, da er noch Patriarch von       scher) nicht gedacht werden kann. Der
auch als Toter der vom Vater ungetrennte       Venedig war. Eines Tages hörte er davon,        Richter ist kein anderer als der Gekreuzig-
Sohn bleibt, ist der Hiatus zwischen           dass einer seiner Pfarrer dem Alkohol ver-      te; und der Sieger ist kein anderer als der
Leben (Gott) und Tod (Sünde) ein für alle      fallen sei. Giuseppe Roncalli machte sich       Durchbohrte.
Mal aufgehoben.                                zusammen mit seinem Sekretär auf, um                Der trinitarische Gott erzwingt nichts;
    Im Vergleich zur Scheol erscheint die      den Mitbruder aufzusuchen. Im Pfarr-            er hat dem Menschen wirkliche Freiheit
neutestamentlich bezeugte Hölle als Pro-       haus traf er ihn nicht an. Man verwies den      geschenkt; deshalb lässt er sich von den
dukt der Erlösung. Denn sie ist der Zu-        Erzbischof an das Stammlokal des Pfar-          Konsequenzen seines Geschenkes wirk-
stand all derer, welche die ausgestreckte      rers. Der ging hin, schickte seinen Sekretär    lich betreffen, und zwar so unbedingt,
Hand des Erlösers ablehnen. Die Hölle ist      hinein. Der kam mit dem Pfarrer zurück.         dass das Drama der Weltgeschichte offen
also eine Weise der Kommunikation mit          Und der Patriarch sagte zu ihm: „Ich muss       bleibt. Zwar hat Christus den Nexus zwi-
Christus; die Scheol hingegen ist die Ver-     mit dir reden. Hast du Zeit für mich?“          schen dem physischen Tod und dem Tod
unmöglichung jedweder, auch der negati-        Beide gingen zum nahe gelegenen Pfarr-          der Trennung von Gott (Scheol) für alle
ven Kommunikation mit Gott. Wenn die           haus. Dort sagte Roncalli: „Mitbruder, es       Menschen aller Zeiten und also ein für
Osterliturgie fragt: „Tod, wo ist dein Sieg,   ist wieder Zeit bei mir. Nimm mir bitte die     alle Mal aufgehoben, damit aber den Aus-
Tod, wo ist dein Stachel?“, dann meint sie     Beichte ab.“ Und dann beichtete der             gang der Geschichte nicht vorweggenom-
die Scheol. Hans Urs von Balthasar             Patriarch bei seinem zum Säufer gewor-          men oder vorausbestimmt. Denn er ist
bezeichnet den am Kreuz Gestorbenen als        denen Mitbruder. Der gab seinem Bischof         nicht nur der Sieger über die Scheol, son-
den Einen, der im Hiatus zwischen Gott         die Lossprechung. Roncalli dankte ihm,          dern auch der Weg zum Vater; letzteres
und Sünde so versinkt, „dass der Hiatus in     erwähnte das Gebrechen des Priesters mit        aber nur für jeden, der freiwillig „Ja“ sagt
ihm versinkt“10. Nach dem Osterereignis        keinem Wort und fuhr nach Hause. Nichts         zu Ihm. Die Hölle der Ablehnung des
gibt es keine Scheol mehr, sondern nur         weckt ein Gewissen gründlicher als un-          Christusgeschenkes bleibt möglich. Wir
noch die Hölle derer, welche die in Chris-     verdiente Güte. Jedenfalls soll der besagte     dürfen zwar hoffen, dass die Hölle leer
tus offenbar gewordene Liebe des trinita-      Priester nie wieder getrunken haben.            geliebt wird. Aber wir können uns dessen
rischen Gottes verweigern. Diese Verwei-           Die kenotische Liebe des Gekreuzig-         nicht sicher sein. Zwar wäre das Verblei-
gerung ist jederzeit revidierbar. Denn seit    ten richtet tiefer als jede bloße Strafe oder   ben auch nur eines einzigen Menschen
Ostern ist Christus als von mir Bejahter       Abrechnung. In Christus begegnet der            im Zustand der Verweigerung (Hölle) eine
mein Himmel; als von mir Ersehnter mein        Sünder dem Gegenteil seiner selbst. Und         ungeheure Tragödie nicht nur für den Ver-
Purgatorium; als von mir Verweigerter die      dies nicht im Modus der die Lüge entblö-        weigerer, sondern auch für die Commu-
Hölle. Selbst die Hölle – so formuliert        ßenden Wahrheit, sondern gleichsam              nio Sanctorum und besonders für Gott
Hans Urs von Balthasar11 – gehört seit         „von unten“. Christus lässt sich vom Hass       selbst. Doch erzwingen kann die in Chris-
Ostern nicht mehr der Scheol, sondern          der Sünder verwunden, ohne aufzuhören,          tus offenbare Liebe Gottes nichts, nicht
Christus.                                      den ihn kreuzigenden Sünder zu lieben.          einmal das Ja-Wort eines einzigen Men-
    Indem sich der Vater in seinem Sohn        Ja, er geht dem Sünder nach bis in das          schen.
dem Hass des Sünders aussetzt, offenbart       Gefängnis seiner Trennung von Gott. Auf             Der trinitarische Gott wartet auf das
er beides zugleich: den Abgrund der            Grund seiner singulären Vertrautheit mit        freie Ja jedes Einzelnen; und sein Warten
geschöpflichen Freiheit und die Identität      dem Vater erfährt der in die Scheol herab-      ist nicht passiv; es trägt die Signatur des
seines Gerichtes mit der Liebe des             steigende Christus die „Gott-Verlassen-         Kreuzes. Deshalb hat Balthasar seine

10) Balthasar, Mysterium Paschale, 171.
11) Ebd. 249.
12) Entnommen aus: K. Müller, Gott am Rande, Regensburg 1999, 184.
13) Vgl. Balthasar, Mysterium Paschale, 207.

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NR. 97 | 01 2011

                                      „Keiner kann das Geschenk der gekreuzigten Liebe
                                                         privatistisch für sich selbst empfangen.“

Kreuzestheologie durch Gestalten veran-             er erkennt, dass eine verordnete Gerech-            den Leib Christi, die Kirche, an meinem
schaulicht, die seine radikale Hoffnung             tigkeit die Liebe zerstört, desto tiefer            Fleische, was von den Bedrängnissen
auf das Leer-Lieben jeder Hölle teilen. In          erkennt er das Wesen der christlichen               Christi noch aussteht“ (Kol 1,24). Dieses
Dostojewskijs Romanen bedeutet das                  Hoffnung als Stellvertretung; erkennt er            Wort darf nicht additiv verstanden wer-
Wort „Hölle“ nicht die Verlorenheit eines           eine Hoffnung, die den Anderen niemals              den. Denn wie gesagt: Die inklusive Stell-
anderen Gliedes Christi, sondern die den            aufgibt, weil sie nie „mit ihm fertig“ ist16.       vertretung der Christen setzt die exklusive
Heiligen abverlangte Teilnahme am                       Die exklusive Stellvertretung des für           Stellvertretung des Hingangs Jesu an das
Abstieg des Erlösers in die Verweigerung            alle Menschen in die Scheol Herabgestie-            Kreuz und zu den Toten als Bedingung
der Verzweifelten14. Ähnlich radikal wen-           genen bedingt die inklusive Stellvertre-            ihrer eigenen Möglichkeiten voraus. Aber
det sich Léon Bloy gegen „die blöde                 tung der so von ihm Beschenkten. Bal-               unter dieser Voraussetzung gilt dann
Moral“ eines Klerus, der auf gesicherten            thasar spricht von der „Kirche aus dem              auch, dass der Christ durch, mit und in
Pfründen den Opfern eines erbarmungs-               Kreuz“17 und von der „mit Christus                  Christus Berge versetzen und Höllen auf-
losen Kapitalismus Gottvertrauen predigt,           gekreuzigten Kirche“18. Er will damit               brechen kann.
statt sich selbst allen voran in die Armut          sagen: Keiner kann das Geschenk der                     Balthasar unterstreicht die Unter-
zu werfen. Als Sekretär des 1855 konver-            gekreuzigten Liebe privatistisch für sich           schiedlichkeit der Gestalten inklusiver
tierten Dichters Jules Barbey d’Aurevilly           selbst empfangen; Christusgemeinschaft              Stellvertretung. Da ist „die Verheißung
findet er zum Glauben an die Gemein-                gibt es nur im Modus der Inklusion in sein          an Petrus, mitgekreuzigt zu werden“
schaft der Heiligen, an den unsichtbaren            Für-Leiden. Dabei geht es nicht um eine             (Joh 21,19); oder „die Johannes und
Zusammenhang zwischen Erlösung und                  oberflächliche Solidarität, um psychologi-          Maria gegebene Gnade, unter dem
Leiden, zwischen dem Leiden Christi und             sche Anempfindung oder bloße Nachah-                Kreuz zu stehen“; oder bei Paulus „die
dem unschuldigen Leiden unzähliger                  mung, sondern um die biblisch durch-                Predigt mit der ganzen Existenz“19. Und
Heiliger, zwischen der Schuld des Einen             gängig bezeugte Tatsache, dass Christus             relativ selten, aber alle Jahrhunderte
und der gekreuzigten Liebe des Anderen.             jedes einzelnen Christen bedürfen will,             des Christentums begleitend, gibt es
Charles Péguy, dem Balthasar die m. E.              um auch die Verhärtetsten seiner Brüder             auch Sendungen, die teilhaben lassen
schönste Darstellung seines „Fächers der            und Schwestern zu retten. Die trinitari-            an der Erfahrung des Karsamstags. „Die
laikalen Stile“ des Christseins gewidmet            sche, in der Kenosis des Karfreitags und            große Therese kann gelegentlich solche
hat15, tritt als junger Mensch aus der Kir-         Karsamstags offenbare Liebe degradiert              Höllenqualen streifen, Johannes vom
che aus, weil er die Lehre von einem Him-           ihre Adressaten nicht zu bloßen Empfän-             Kreuz beschreibt sie ausführlich. Die
mel der Glücklichen, der über der Hölle             gern, sondern will Mit-Liebende. Diesen             kleine Therese spricht von einem
der Unglücklichen errichtet ist, für einen          Sachverhalt der Inklusion in den stellver-          unterirdischen Gang, in dem sie, ohne
bourgeoisen Aberwitz hält. Er wird Kom-             tretenden Gang des Erlösers zum Kreuz               zu wissen, wohin sie geht und wie
munist, weil er nicht glücklich sein will,          und zu den Toten meint Paulus, wenn er              lange sie dort auszuharren habe,
solange auch nur einer seiner Brüder oder           seine eigene Sendung mit den Worten                 dahinschreitet.“20. Adrienne von Speyr
Schwestern unglücklich ist. Aber je mehr            beschreibt: „Ich erstatte ergänzend für             „war Konvertitin, Ärztin, geistig kern-

14) Vgl. H. U. v. Balthasar, Die Gottesfrage des heutigen Menschen, Wien / München 1956, 186.
15) Vgl. H. U. v. Balthasar, Herrlichkeit. Eine theologische Ästhetik, Bd. II/2. Fächer der Stile. Laikale Stile, Einsiedeln 31984, 769-880.
16) Als Sozialist schreibt Péguy ein erstes Werk mit dem Titel „Jeanne d’Arc “; nach seiner Rückkehr in die katholische Kirche ein zweites mit dem
    Titel „Mystère de Jeanne d’Arc“. Balthasar bemerkt dazu: „Die sozialistische Jeanne erträgt es nicht, dass ihre Brüder ‚verlorengehen’, ‚sich ver-
    dammen’; sie kann ihre irdische Aktion nur antreten, wenn sie sich zuvor für sie hingeweiht hat bis zur Kommunion mit ihrer Verlorenheit. Diese
    wird ihr, als Preis für die vollbrachte Aktion, am Ende zuteil, da sie, aus der kirchlichen Kommunion der Heiligen ausgestoßen und den Flammen
    der Hölle in der Nacht der Seele, in der Überzeugung von ihrer eigenen Verlorenheit, überliefert, den Tod für die Brüder stirbt. Die christliche
    Jeanne des ‚Mystère’ wird nur in ihrem ersten Entschluss gezeigt, im Entschluss, sich christlich mit dem Verlorengehen ihrer Brüder nicht abzu-
    finden. Sie weiß im Gebet, dass sie gegen Gott revoltiert. Aber ohne diese Revolte, sagt sie, wird selbst ihre Messe, ihre Kommunion, ‚wurmstichig
    und hohl’. Kein Hinweis auf ‚Ergebung in den Willen Gottes’ [...] kann sie stillen. Nur eine letzte Gewissheit rettet sie aus dieser furchtbaren Not:
    die Gewissheit, in ihrer Revolte gegen die Verlorenheit unversehens auf eine innerste Stelle im Herzen Gottes gestoßen zu sein. Auch Gott ist
    nicht neutral. Auch Gott ‚findet sich nicht ab’ mit dem Unbegreiflichen, Unerträglichen, Unmöglichen.“ (Balthasar, Die Gottesfrage, 198f).
17) Balthasar, Mysterium Paschale, 219.
18) Ebd. 221.
19) Ebd. 222.
20) Ebd. 181.

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BASISARTIKEL

                        „Wer sich mit dem Kreuzzeichen bezeichnet,
                                      bekennt, dass die gekreuzigte Liebe jedes Kreuz verklären
                               und jede Hölle aufbrechen kann.“

gesund, aber von einem tollkühnen                ist die jedem Menschen auf seine Weise           was mit Gewalt zu erzwingen; bekennt
Mut beseelt, für Gott und sein Werk in           gegebene Möglichkeit, „den Herrn im              aber auch, dass die gekreuzigte Liebe
der Welt alles, was sie besaß und was            eigenen Leib zu empfangen, ihm                   jedes Kreuz verklären und jede Hölle auf-
man aus ihr herausholen konnte, hin-             unsern Leib als Leib anzubieten, in              brechen kann. Wer sich mit dem Kreuz-
zugeben. Und Gott hat sie in einem               unserem Leib das Leibsein des Sohnes             zeichen bezeichnet, glaubt, dass die
furchtbaren Ernst wörtlich verstanden.           [...] fortzuführen“22.                           Scheol schon aufgehoben ist; weiß aber
Sie wurde eingeweiht in alle leiblichen               Man würde diese Einblicke in das            auch, dass der gekreuzigte und aufer-
und seelischen Schmerzen des Kreuzes,            Geheimnis der inklusiven Stellvertretung         standene Christus seiner bedürfen will,
in die letzteren vor allem, die so               völlig missverstehen, wollte man daraus          um seine Liebe zu denen zu tragen, die
schrecklich sind, dass man gern die              eine masochistische Verherrlichung des           sich noch immer einschließen in den
äußersten körperlichen Schmerzen                 Leidens ableiten. Das Kreuz ist und bleibt       Panzer ihrer Sünde.
ertrüge, wenn einem nur die unerträg-            in jedweder Form das von Gott eigentlich             Jeder Mensch ist in dieser Welt so
liche Gottverlassenheit genommen                 nicht Gewollte. Aber genauso wahr ist,           etwas wie eine Öffnung, durch die der
würde. Dieser Frau wurden immer wie-             dass die Liebe, die in Christus bis in die       in Christus inkarnierte Gott all das rea-
der die Nöte der Kirche und der Welt             Verlorenheit der Scheol herabgestiegen           lisieren kann, was seine unbedingte
gezeigt, abständige, laue Priester,              ist, das Antlitz des Kreuzes trägt. Wer diese    Liebe will. Obwohl der Vergleich einer
unzureichende, verlogene Beichten,               Liebe glaubt, erfährt den Tod nicht mehr         nichtpersonalen Wirklichkeit (des Was-
Verdunkelungen des Glaubens Unzäh-               als Trennung von Gott, sondern als Zu-           sers) mit einer personalen Wirklichkeit
liger, und dieser Anblick entflammte sie         gang zum Vater; erfährt aber auch, dass          (Jesus Christus) hinkt, möchte ich die-
so sehr, dass sie sich bedingungslos zu          dem Christen auf Grund seiner Inklusion          sen Vergleich wagen: Die in Christus
allem anbot, was erfordert wäre, um zu           in die Stellvertretung des Erlösers „ein         inkarnierte Liebe des trinitarischen
helfen. Dann wurde sie in den geistigen          härteres Kreuz“ auferlegt wird als dem           Gottes ist wie das Wasser, das in einen
Abgrund gestürzt, in das ‚Loch’, wie sie         sogenannten „natürlichen Menschen“23.            völlig ausgetrockneten Boden eindrin-
es nannte, oft tage- und nächte-, oft            Es gibt kein Christsein ohne das Tragen          gen und das überall erstorbene Leben
auch wochenlang.“21 Im Herbst 1946               der Last des Anderen.                            neu ermöglichen will. Der trockene
empfing Adrienne die Sterbesakramen-                  Nicht zufällig ist das Kreuzzeichen         Boden ist unsere Welt. Und jeder
te; aber der ihr als gewiss vorausgesag-         das Erkennungszeichen der Christen.              Mensch ist in diesem Boden eine Pore,
te Tod trat nicht ein; stattdessen fühlte        Ganz bewusst stellen Christen Kreuze             die sich für das Wasser öffnen oder sich
sie sich an der Grenze des Lebens auf-           nicht nur in Kirchen, sondern auch an            ihm verschließen kann. Je mehr Poren
gefordert, fortan nicht mehr in der              Wege und auf Gipfel und Häuser. Denn             sich – quantitativ und qualitativ be-
eigenen, sondern in einer fremden Sen-           das Kreuz ist seit Ostern das Erkennungs-        trachtet – öffnen, desto mehr kann das
dung zu leben. Was damit gemeint ist,            zeichen des Gottes, der nichts erzwingt          Wasser in diesem Boden wirken, was es
schildern die von Balthasar herausge-            und gerade so die Verneinung seiner              immer schon wirken will. Anders ge-
gebenen „Erfahrungsprotokolle“ mit               selbst, besiegt. Der österliche Christus ist     sagt: Die gekreuzigte Liebe kann jede
dem Titel „Auftragshöllen“. Sie sieht die        nicht deshalb „der Sieger“, weil er von          Sinnlosigkeit unterfassen, verwandeln,
Sünder und die Sünden, für die sie               Kreuz, Leid und Tod nicht mehr berührt           verklären, besiegen. Aber sie kann dies
stellvertretend leidet. Der theologische         wird; dann wäre er der mystisch abgeho-          nur, wenn sich – bildlich gesprochen –
Kern ihrer Erfahrungen liegt im                  bene Jesus des Navid Kermani. Doch das           möglichst viele Poren möglichst weit
Geheimnis der Gemeinschaft der Heili-            Gegenteil trifft zu: Nicht indem er sich         öffnen.
gen. Adrienne von Speyr weiß, dass ihr           von Kreuz und Leid absetzt, sondern
etwas gezeigt wird, was andere nicht             indem er sich Leid, Kreuz und Tod aus-           Prof. Dr. Karl-Heinz Menke ist Professor am
sehen; aber die Stellvertretung selbst ist       setzt, ist er „der Sieger“.                      Lehrstuhl für Dogmatik und Theologische
für sie etwas im wahrsten Sinne des                   Wer sich mit dem Kreuzzeichen               Propädeutik an der Kath.-Theol. Fakultät
Wortes Alltägliches, ist für sie Wesen           bezeichnet, bekennt damit, dass Gott             der Universität Bonn
und Mitte jeder kirchlichen Sendung,             sich lieber kreuzigen lässt als irgendet-

21) H. U. v. Balthasar, Stellvertretung: Schlüsselwort christlichen Lebens., hg. vom Informationszentrum „Berufe der Kirche“, Freiburg 1976, 3f.
22) B. Albrecht, Eine Theologie des Katholischen. Einführung in das Werk Adrienne von Speyrs, Bd. I. Durchblick in Texten, Einsiedeln 1972, 232.
23) Balthasar, Mysterium Paschale, 318.

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