Diagnostik im Dialog der Roche Diagnostics Deutschland GmbH - Aktuelle Herausforderungen der Transfusionsmedizin
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Diagnostik im Dialog Ausgabe 60 • 06/2019 der Roche Diagnostics Deutschland GmbH Aktuelle Herausforderungen der Transfusionsmedizin
Diagnostik im Dialog • Ausgabe 60 • 06/2019 Sehr geehrte Leserin, sehr geehrter Leser, die Urlaubszeit beginnt und damit begeben sondern aus patientenzentrierten Gründen. sich auch wieder diverse Krankheitserreger „Patient Blood Management“ heißt dieses auf Reisen. Als blinde Passagiere können sie Konzept mit dem Ziel, die patienteneigenen neue Lebensräume erreichen und besiedeln. Blutressourcen zu stärken. Das hohe globale Migrationsaufkommen för- Vernetzt wie wir sind, haben wir zuneh- dert zusätzlich die „Umsiedelung“ von Keimen mend mit vormals exotischen Krankheitser- und darüber hinaus von ethnisch bedingten regen zu kämpfen, schaffen es andererseits Blutgruppenantigenen. Globalisierung stellt aber nicht, heimische Infektionskrankheiten die Transfusionsmedizin vor erhebliche Her- durch konsequentes Impfverhalten zu elimi- ausforderungen und bedarf regulatorischer nieren. Mangelnde Impfbereitschaft ist eine Konsequenzen im Blutspendewesen. Ein wei- ebenfalls globale Herausforderung - für Ute Reimann terer aktueller Fokus der Transfusionsmedizin Medizin und Gesundheitspolitik. Chefredakteurin „Diagnostik im Dialog“ liegt auf dem sparsamen Umgang mit Fremd- Ich wünsche Ihnen beim Lesen dieser Aus- blut – vornehmlich nicht aus ökonomischen gabe viel Spaß und Erkenntnisgewinn. Inhalt 3 [Medizin] Patient Blood Management 7 [Medizin] Globalisierung – Herausforderungen für die Transfusionsmedizin 11 [Gesundheitspolitik] Hepatitis E und Transfusionsmedizin – Bundesoberbehörde ordnet Blutspenderscreening ab 2020 an 14 [Gesundheitspolitik] Mangelnde Impfbereitschaft – Globale Bedrohung unserer Gesundheit 18 [Medizin] Hypertensive Schwangerschaftserkrankungen – Neue Leitlinie für Diagnose und Therapie 20 [Medizin – Für Sie gelesen] Erweiterte Aussage des sFlt-1/PlGF-Quotienten 21 [Produkte & Services] Launch cobas® pro integrated solutions Veranstaltungen und Kongresse Link zur Website: www.roche.de/diagnostics-veranstaltungen Impressum Herausgeber V.i.S.d.P. (Chefredaktion) Roche Diagnostics Deutschland GmbH Telefon +49 621 759 0 Ute Reimann Geschäftsführer Christian Paetzke Telefax +49 621 759 2890 Kommunikation Sandhofer Straße 116 Registergericht AG Mannheim HRB 708167 68305 Mannheim USt.Nr. DE268638091 Die dargestellten Inhalte der Gastautoren geben die subjektive Einschätzung der Autoren wieder. Die Roche Diagnostics Deutschland GmbH übernimmt keine Gewähr für die Richtigkeit dieser Informationen. © 2019 Roche Diagnostics. Alle Rechte vorbehalten. COBAS, ELECSYS sind Marken von Roche. Andere Marken sind Marken der jeweiligen Eigentümer.
Medizin | Patient Blood Management | Diagnostik im Dialog • Ausgabe 60 • 06/2019 Patient Blood Management Prof. Dr. Patrick Meybohm, Anahita Regaei, Mona Jung-König, Sandra Ohm, Prof. Dr. Dr. Kai Zacharowski, Klinik für Anästhesiologie, Schmerztherapie und Intensivmedizin, Universitätsklinikum Frankfurt Vorschnellen Griff zum Blutbeutel vermeiden. shutterstock/Komsan Loonprom Es steht außer Frage, die Bluttransfusion Bei Massivblutungen oder chirurgischen Ebenso wenig überrascht es, dass die Anzahl kann eine essentielle und lebensrettende Risikoeingriffen mit akuter Blutung und kri- transfundierter Blutkonserven deutschland-, Maßnahme sein. Vielfach jedoch erfolgt der tischem Hämoglobin-Abfall ist die Verabrei- europa- und weltweit stark divergiert. Wer- Griff zum Blutbeutel vorschnell oder gar pro- chung allogener* Erythrozytenkonzentrate den bei uns durchschnittlich 50 Einheiten phylaktisch. "Patient Blood Management" (EK) oft eine essentielle Maßnahme. Getreu (PBM) macht sich als multidimensiona- des kaum hinterfragten Dogmas eines O Übertragungen von Bakterien, Viren, les klinisches Konzept für einen rationalen durchweg positiven Effekts von Bluttrans- Parasiten oder Prionen Umgang mit Blutprodukten stark und ver- fusionen wird jedoch vielfach vorschnell, O Transfusionsassoziierte Volumenüberladung bessert so die Sicherheit der Patienten. Ziel teils sogar prophylaktisch, zum Blutbeutel O Zitrat-Überladung ist, die patienteneigenen Blutressourcen prä- gegriffen. Tatsächlich jedoch stellt die EK- O Allergische Transfusionsreaktion operativ zu stärken und intra- sowie postope- Transfusion eine „Mini-Transplantation des O Febrile nicht-hämolytische Transfusions- reaktion rativ durch den Einsatz fremdblutsparender flüssigen Organs Blut“ mit immunologi- O Transfusionsassoziierte akute Lungen- Maßnahmen zu schonen. Die Transfusion schen und nicht-immunologischen Risiken insuffizienz von Fremdblut erfolgt nur noch bei geprüf- dar (Tab. 1). O Hämolytische Transfusionsreaktion ter Indikation. So werden weniger Patienten O Transfusionsassoziierte Graft-versus-Host- den potentiellen Risiken einer Bluttransfu- Aufgrund der gängigen Praxis überrascht Erkrankung sion ausgesetzt. Zunehmend mehr Kliniken es wenig, dass die Fremdbluttransfusion in O Transfusionsassoziierte Immunmodulation in Deutschland und Europa setzen das von vielen Ländern auf den Spitzenplätzen der Tab. 1: Risiken einer Transfusion mit Erythro- der WHO seit 2010 geforderte Konzept um.1 zu häufig genutzten Therapien vertreten ist.2 zytenkonzentraten 3
Medizin | Patient Blood Management | Diagnostik im Dialog • Ausgabe 60 • 06/2019 Präoperative Anämie – stärkster Prädiktor einer perioperativen shutterstock/Olena Yakobchuk Fremdbluttransfusion. pro 1000 Einwohner (und damit mehr als unterstützen. Im Rahmen eines Pilotpro- O Reduktion des EK-Verbrauchs um 39 % in jedem anderen europäischen Land) trans- jektes nutzen beispielsweise seit dem Jahr O Verkürzung der mittleren Krankenhaus- fundiert, sind es in den Niederlanden nur 34 2013 die Universitätsklinika Frankfurt, verweildauer um einen halben Tag Einheiten pro 1000 Einwohner. Bonn, Münster und Kiel dieses Konzept O Reduktion postoperativer Komplikatio- und haben gleichzeitig den Grundstein für nen um 20 % PBM – sicher und rationell das deutsche „Patient-Blood-Management- O Reduktion der Sterblichkeit im Kranken- PBM ist ein mehrdimensionales, evidenz- Netzwerk“ gelegt. haus um 11 % basiertes klinisches Konzept mit großem Potential, den medizinischen und ökono- Belegt durch eine wissenschaftliche Begleit- Dem im Jahr 2014 am Universitätsklinikum mischen Herausforderungen gerecht zu evaluation des Pilotprojekts und die Daten- Frankfurt gegründeten deutschen „Patient- werden. Das hat die WHO bereits im Jahr analyse von knapp 130 000 stationären Pati- Blood-Management-Netzwerk“ gehören 2010 anerkannt.1 PBM unterstützt das medi- enten, erwies sich die Implementierung von mittlerweile mehr als 100 Kliniken an. Sie zinische Personal bei einer korrekten Indi- PBM als gleichzeitig sicher und mit bis zu werden durch das Frankfurter PBM-Team kationsstellung von Fremdblutpräparaten, 50 % weniger EK-Transfusionen als äußerst bei der Umsetzung der erforderlichen Maß- hält Alternativtherapien bereit und fördert rationell.3 Vor kurzem wurde erstmalig eine nahmen unterstützt. Darüber hinaus ent- die interdisziplinäre Zusammenarbeit. Metaanalyse von 17 PBM-Studien mit mehr standen 2016 das „European PBM Network“ als 200 000 Patienten publiziert.4 Die Ergeb- und 2017 das „World PBM Network“. Um Die Anwendung von PBM im klinischen nisse sind eindrucksvoll: möglichst jedes Krankenhaus in die Lage Alltag beruht vor allem bei chirurgischen Patienten auf drei Säulen (Abb. 1): O Präoperatives Anämiemanagement O Minimierung der perioperativen Blut- Patient verluste und mehr Nutzung fremdblut- Blood sparender Maßnahmen Management Das Drei-Säulen-Konzept O Rationaler Einsatz von Blutkonserven auf Basis einer adäquaten Beurteilung und Ausschöpfung der patienteneigenen Frühe Detektion und Minimierung des Rationaler Einsatz von Blut- Anämietoleranz. Behandlung einer ggf. vor- Blutverlustes und konserven handenen Anämie vor elek- vermehrte Nutzung tiven Eingriffen mit hohem fremdblutsparender Trotz des stetig zunehmenden wissenschaft- Transfusionsrisiko Maßnahmen lichen und öffentlichen Interesses verläuft die Umsetzung der PBM-Maßnahmen bis- her schleppend. Neue Studienerkenntnisse Abb. 1: Die drei Säulen des Patient-Blood-Management-Konzepts (Quelle: Universitätsklinikum werden die Implementierung jedoch weiter Frankfurt, modifiziert) 4
Medizin | Patient Blood Management | Diagnostik im Dialog • Ausgabe 60 • 06/2019 zu versetzen, das PBM-Konzept zu imple- Blutentnahmen weiter verloren. Häufig Diese Herangehensweise hat v. a. bei stark mentieren, wurden auf Basis der drei PBM- führt dies zu einer im Krankenhaus erwor- blutenden Patienten großes Potential und Säulen mehr als 100 Einzelmaßnahmen benen Anämie. Dies ist insbesondere bei sollte am besten durch ein standardisier- formuliert, deren Anwendung den finan- Intensivpatienten relevant, bei denen ein tes Massivblutungs-Protokoll koordiniert ziellen, personellen und strukturellen Vor- wöchentlicher Blutverlust von bis zu 500 ml sein. aussetzungen jeweils individuell angepasst beobachtet werden kann (≈ Volumen zweier werden kann.5 EKs)! Es überrascht demnach nicht, dass Zu Behandlungsbeginn muss die adäquate die auf Intensivstation ohnehin hohe Anä- chirurgische Blutstillung stehen. Vor einer Präoperatives Anämiemanagement mieprävalenz innerhalb einer Woche nach nachfolgenden Algorithmus-basierten Im Vorfeld einer Operation leiden etwa 30 % Aufnahme auf über 90 % steigt. Durch Therapie der Hämorrhagie und Koagulo- der Patienten an einer Anämie (WHO-Defi- kleinere Blutentnahmeröhrchen, eine opti- pathie, sollten die physiologischen Rah- nition: Hämoglobinwert (Hb) = ♀ < 12 g/dl, mierte Entnahmefrequenz sowie eine stren- menbedingungen einer optimalen Hämo- ♂ < 13 g/dl). Anämie ist ein eigenständi- gere Indikationsstellung zur Blutentnahme, stase sichergestellt sein (u. a. pH > 7,2; ger und unabhängiger Risikofaktor für lassen sich iatrogene Blutverluste relativ ionisiertes Calcium > 1,0 mmol/mol; postoperative Komplikationen und höhere leicht reduzieren – bei gleichbleibender Körperkerntemperatur > 36°C). Die Gerin- postoperative Sterblichkeit. Zusätzlich stellt diagnostischer Qualität. nungsdiagnostik kann durch den Einsatz die Anämie den stärksten Prädiktor für eine aggregometrischer oder viskoelastischer perioperative Fremdbluttransfusion dar – Minimierung perioperativer Blutverluste Methoden, die eine detaillierte Überwa- wobei diese häufig nur Resultat einer unzu- Perioperative Blutverluste müssen mög- chung des Gerinnungsprozesses in nahezu reichenden präoperativen Vorbereitung des lichst gering und patienteneigene Blutre- Echtzeit ermöglichen, unterstützt werden. Patienten ist. serven möglichst groß gehalten werden. Sie registrieren abfallende Gerinnungsfak- In ca. 30 % aller Fälle ist Eisenmangel Ursa- che der Blutarmut. Dieser lässt sich präope- rativ einfach und kurzfristig korrigieren Notfall Geplanter Eingriff (> 24 h Zeit) – beispielswiese durch intravenöse Eisen- supplementation. Sind die Ursachen der Transfusions- Transfusions- Anämie anderer Genese, kann die Gabe von wahrscheinlichkeit < 10 % wahrscheinlichkeit > 10 % Vitamin B12, Folsäure oder Erythropoetin indiziert sein. Für einen optimalen Behand- ♀ ♂ Hb ≥13 g/dl ♀ ♂ Hb 10 % Eisenstatus sowie einem erwarteten Blutverlust > 500 ml im Fokus von Diagnostik und Therapie ste- hen. Wenn indiziert, erfolgt eine Algorith- Kein Eisenmangel Kein Eisenmangel Transferrinsättigung Eisenmangel mus-basierte präoperative Anämiekorrektur optimal < 20 % Anämie anderer (Abb. 2). vorbereitet oder Genese Ferritin < 100 ng/ml (< 300 ng/ml Auf diese Weise lassen sich die patienten- Operation bei Herzinsuffizienz/ eigenen Ressourcen optimieren und der chron. Niereninsuff.) spätere Fremdblutbedarf automatisch und einfach reduzieren. Die Einrichtung einer Eisen (intravenös) Ggf. internis- tisches Konsil Anämie-Ambulanz kann das präoperative für spezielle Anämiemanagement maßgeblich fördern. Diagnostik/ Therapie Prävention vor erworbener Anämie Im perioperativen Verlauf geht das Blutvo- Abb. 2: Algorithmus zum präoperativen Anämiemanagement (Quelle: Universitätsklinikum Frankfurt, lumen des Patienten durch diagnostische modifiziert) 5
Medizin | Patient Blood Management | Diagnostik im Dialog • Ausgabe 60 • 06/2019 shutterstock/ wk1003mike Häufige diagnostische Blutentnahmen – shutterstock/ Sherry Yates Young eine Ursache iatrogener Anämien. toren und eignen sich auch zur Steuerung Tatsächlich können Patienten mit normaler cen zu schonen. Denn auch für die Zukunft der Gerinnungstherapie. Herz-Kreislauf-Funktion niedrigere Hb- müssen dann, wenn eine adäquate Patien- Werte (6–8 g/dl) sehr gut kompensieren und tenversorgung nur mittels Bluttransfusion Maschinelle Autotransfusion tolerieren. Die Indikation einer Bluttransfu- realisierbar ist, genügend Blutkonserven In vielen Fällen lassen sich durch maschi- sion ist dann nicht gegeben und Patienten vorhanden sein. nelle Autotransfusion unnötige irreversible werden nicht unnötigerweise vermeidbaren * Allogen: Fremdspende (ggü. autolog – Blutverluste reduzieren. Darunter ist das Risiken ausgesetzt. Folglich sollte vor jeder Eigenspende) intraoperative Auffangen, Reinigen und Transfusion eine umfassende Risiko-Nut- Zurückführen von Wundblut als autologe zen-Analyse stehen und mit Hinblick auf Literatur Transfusion zu verstehen, was unnötige transfusionsassoziierte Risiken eine ratio- 1 WHO Global Forum for Blood Safety: Patient Blood Management (2011); Fremdbluttransfusionen vermieden hilft. nale Transfusionsstrategie anvisiert werden. https://www.who.int/bloodsafety/events/gfbs_01_pbm_ concept_paper.pdf Der Einsatz dieser effektiven Methode ist Bisher ließ sich kein Vorteil einer liberalen 2 Callum JL et al: Transfusion (2014); 54:2344–2352 bereits ab einem geschätzten intraopera- (Ziel-Hb-Wert 9–11 g/dl) gegenüber einer 3 Meybohm P et al: Ann Surg. (2016); 264(2):203–211. doi: 10.1097/SLA.0000000000001747 tiven Blutverlust von 500 ml medizinisch restriktiven Transfusionsstrategie (Ziel-Hb- 4 Althoff FC et al: Ann Surg. (2018); Nov 9. doi: 10.1097/SLA.0000000000003095. [Epub ahead of print] und ökonomisch sinnvoll. Kontraindika- Wert 7–9 g/dl) zeigen. Interessanterweise 5 Meybohm P et al: Transfusion Medicine Reviews (2017); 31:62–71 toren, wie Infektion oder Kontamination sinkt die Anzahl transfundierter EKs bereits 6 Bundesärztekammer (2017): https://www.bundesaerzte- des Eigenblutes, müssen vor Rückfüh- durch die Einführung (elektronischer) kammer.de/aerzte/medizinethik/wissenschaftlicher-beirat/ veroeffentlichungen/haemotherapie-transfusionsmedizin/ rung sicher ausgeschlossen werden. Bei Anforderungsformulare mit integrierter richtlinie/ Tumorpatienten wäre eine Aufbereitung Entscheidungshilfe. Die verpflichtende des Wundblutes durch Bestrahlung oder Angabe des Transfusionsgrundes auf diesen Korrespondenzadresse zukünftig durch leukozytendepletierende Formularen kann den Umgang mit Fremd- Filter denkbar. Dies sollte bereits aktuell blut weiter vereinfachen. bei Patienten mit schwieriger Antikörper-/ Blutgruppenkonstellation erfolgen. Fazit Das primäre Ziel des PBM ist die Steigerung Rationale Transfusionstrigger der Patientensicherheit. Dies wird erreicht, Therapeutisches Ziel einer Bluttransfu- indem patienteneigene Blutressourcen prä- sion ist die Vermeidung einer anämischen operativ gestärkt und inter- sowie postope- Hypoxie und nicht ausschließlich die rativ geschont werden. Gleichzeitig werden Prof. Dr. med. Patrick Meybohm Korrektur des Hb-Wertes. Entsprechend perioperative Bluttransfusionen reduziert Stellv. Direktor der Klinik für empfiehlt die Bundesärztekammer eine und weniger Patienten den potentiellen Anästhesiologie, Intensivmedizin multifaktorielle Indikationsstellung. 6 Sie Gefahren einer Fremdbluttransfusion aus- und Schmerztherapie Universitätsklinikum Frankfurt berücksichtigt die individuelle Anämie- gesetzt. Ein sensiblerer Umgang mit Blut- Theodor-Stern-Kai 7 toleranz, den akuten klinischen Zustand präparaten kann darüber hinaus helfen, die 60590 Frankfurt am Main des Patienten sowie den physiologischen als Folge des demographischen Wandels patientbloodmanagement@kgu.de Transfusionstrigger. knapper werdenden wertvollen Blutressour- www.patientbloodmanagement.de 6
Medizin | Globalisierung und Transfusionsmedizin | Diagnostik im Dialog • Ausgabe 60 • 06/2019 Globalisierung Herausforderungen für die Transfusionsmedizin Dr. Volkmar Schottstedt, Schottstedt Lab-Consulting, Iserlohn shutterstock/Lumella+adike In 80 Tagen um die Welt? Mit modernen tische Grippe 1957, die Hongkong-Grippe ECDC (European Center for Disease Pre- Transportmitteln geht es heute schneller. Die 1968, SARS 2003 und die Schweinegrippe vention and Control) hat elf Pathogene mit WHO hat seit 1990 eine Versiebenfachung 2009 sind weitere Beispiele. einem potenziellen Risiko für die Bevöl- des Reiseverkehrs und eine Versechsfachung kerung und die Blutversorgung in Europa des Welthandels mit steigender Tendenz fest- Nach dem 2. Weltkrieg wuchs die Zuver- definiert (Tab 1).4 gestellt.1 Als blinde Passagiere können z. B. sicht, Infektionskrankheiten mehr und Insekten und Krankheitserreger mitreisen mehr besiegen zu können, etwa durch bes- Ausschlaggebend für die Renaissance „alter“ und sich bei günstigen Voraussetzungen in sere Hygiene, Antibiotika oder Impfungen.2 und das Auftreten „neuer“ humaner Infekti- neuen Lebensräumen ansiedeln. Auch mit Spätestens jedoch mit der HIV-Pandemie onen und deren Verbreitung sind Faktoren den aktuellen Flüchtlingsströmen migrieren setzte Anfang der 80iger Jahre ein Umden- wie Tourismus, Migration und Welthandel Viren, Bakterien, Parasiten sowie ethnisch ken ein. Weitere bisher unbekannte Erreger basierte Blutgruppenantigenkonstellatio- (z. B. HTLV I/II, FMSE-Virus, HCV-Virus) nen. Unter diesen sich schnell verändernden wurden entdeckt. O West-Nil-Virus Bedingungen ist die sichere und zeitgerechte O Dengue-Virus Versorgung mit Blutprodukten eine Heraus- 1999 traf das zu den Arboviren* gehörende O Leishmania forderung für die Transfusionsmedizin. West-Nil-Virus (WNV), ausgehend von der (intrazelluläre protozoische Parasiten) Ostküste Amerikas, auf eine immunologisch O Chikungunya-Virus Globalisierung von Infektionen naive Vogel- und Menschenpopulation und O Plasmodien (Auslöser Malaria) Die Ausbreitung von Infektionskrankheiten konnte sich schnell auf dem nordamerika- O Frühsommer-Meningoenzephalitis-Virus ist kein Phänomen der Neuzeit. Die Cholera nischen Kontinent nach Westen ausbreiten.3 O Borrelien verbreitete sich Anfang des 19. Jahrhunderts In den letzten Jahren hat sich das WNV in O Krim-Kongo-Virus durch russische Truppen vom indischen Teilen Südeuropas etabliert. 2018 wurde es O Usutu-Virus Subkontinent aus über Asien, Ostafrika, erstmals auch im Osten Deutschlands bei O Babesien Europa über fast die ganze Welt. Die spa- wenigen Wild- und Zoovögeln sowie Pfer- O Trypanosoma cruzi (einzelliger Parasit; Auslöser der Chagas-Krankheit) nische Grippe fegte Ende des 1. Weltkriegs den nachgewiesen. Auch andere Arboviren über den europäischen Kontinent und for- wie Chikungunya, Dengue und Zika haben Tab. 1: Erreger mit Risikopotenzial für die derte rund 50 Mio. Todesopfer. Die Asia- in letzter Zeit für Schlagzeilen gesorgt. Die Bevölkerung/Blutversorgung in Europa 7
Medizin | Globalisierung und Transfusionsmedizin | Diagnostik im Dialog • Ausgabe 60 • 06/2019 in Verbindung mit einer empfänglichen lands oder die autochthonen Dengue-Fälle O Erreger im Blut nachweisbar? humanen ggf. auch immunsupprimier- z. B. in Spanien und Frankreich unterstrei- O Prävalenz/Inzidenz? ten Population. Mit dem internationalen chen die Notwendigkeit eines Risikoma- O Prophylaxe möglich? Luftverkehr kann sich ein hochkontagiöses nagements. Tab. 2 zeigt wesentliche Krite- O Symptomlose Träger? Pathogen innerhalb weniger Tage weltweit rien für die Bewertung von Erregern in der O Labordiagnostik möglich? verbreiten, wie die SARS-Epidemie ein- Transfusionsmedizin.10 O Erreger überlebt in Blutkomponenten? drucksvoll gezeigt hat. Durch Umwelt- O Erreger ist intravenös übertragbar? und Klimaveränderungen entstehen neue Entscheidend ist das Wechselspiel aus öko- O Immunstatus der Empfänger? Lebensräume für herkömmliche Vektoren** logischen, klimatischen Veränderungen und O Schwere der Erkrankung/Komplikationen? (z. B. Asiatische Tigermücke, Abb. 1),3,5,6 aber weiteren Faktoren sowie deren Einfluss auf O Therapierbarkeit/Prognose? auch die Adaptation von Pathogenen an Vektoren von Infektionen und Erregern Tab. 2: Bewertungskriterien der transfusions- neue Vektoren (z. B. an bei uns heimische exakt zu erfassen.11 Dies geschieht z. B. medizinischen Relevanz von Infektionen Mückenarten) kann ihre Verbreitung för- durch saisonale Surveillance-Maßnahmen dern. Antigendrifts oder -shifts*** können und eine Meldepflicht von Erkrankungen.12 übergreifende Zusammenarbeit. 16–19 Aus zu gesteigerter Pathogenität und Überwin- Bereits 2012 hat die ECDC z. B. Empfehlun- den Ergebnissen lassen sich gezielte prä- dung von Speziesbarrieren führen. Beispiele gen zur Surveillance von und zum Vorgehen ventive Maßnahmen ableiten (s. unten).4,20 sind die Vogel- und Schweinegrippe. beim Auftreten von WNV-Infektionen in Auch die rechtzeitige (Weiter-)Entwicklung, Zusammenhang mit der Blutsicherheit gege- Zulassung und Produktion bisher nicht in Risiken für die Transfusionsmedizin ben.13 Weiterhin hat sie das E3-Netzwerk für der Transfusionsmedizin eingesetzter Labor- Nicht jede Infektion hat für die Transfusions- die EU-weite Erfassung, Forschung und den tests und des ggf. erforderlichen Equipments sicherheit die gleiche Bedeutung. Coxiellen Informationsaustausch über Umweltein- sollte berücksichtigt werden. In der seit (Q-Fieber) oder Influenzaviren beispiels- flüsse und deren Auswirkungen auf Infekti- 26.05.17 EU-weit gültigen IVD-Verordnung weise spielen hier kaum eine Rolle.7,8 Ande- onskrankheiten geschaffen. Ziel ist die Ent- sind alle infektiologischen Tests, die für den rerseits zeigte der Chikungunya-Ausbruch wicklung eines Frühwarnsystems.14,15 Freigabeentscheid von Blut, Blutbestand- 2017 in Rom die gravierenden Auswirkun- teilen, Zellen, Geweben oder Organen zum gen transfusionsmedizinisch relevanter Zur Abschätzung eines Erreger-bedingten Einsatz kommen, in der höchsten Risiko- Infektionen auf die Blutversorgung.9 Auch Risikos für die Transfusionsmedizin exis- klasse D eingestuft. Bei der Konformitäts- die o. g. WNV-Infektion im Osten Deutsch- tieren verschiedene Modelle für die länder- bewertung sind daher die höchsten Anfor- derungen mit entsprechendem Zeitbedarf zu erfüllen. etabliert eingeführt Risikomindernde Maßnahmen nicht vorkommend keine Daten Es gibt verschiedene Maßnahmen zur Verbesserung des Sicherheitsprofils von Blutkomponenten. Die Spenderauswahl- kriterien und die verpflichtend durch- zuführenden Laboruntersuchungen zum Erkennen (potenziell) infektiöser Spenden sind in Deutschland auf der Basis von EU- Direktiven durch das Transfusionsgesetz, die Hämotherapierichtlinien sowie Stu- fenpläne des Paul-Ehrlich-Instituts (PEI) festgelegt. Bei sich ändernden und beson- deren epidemiologischen Situationen müs- sen weitere, dem Risiko angepasste Maß- nahmen ergriffen werden.21 Seit 1.10.2018 sind die Blutspendedienste in Deutschland verpflichtet, Aufenthalte von Spendern in Abb. 1: Verbreitung der Asiatischen Tigermücke (Aedes albopictus) in Europa; vom PEI regelmäßig aktualisierten Aus- Quelle: ECDC und EFSA, die dargestellten Daten wurden durch das VectorNet-Projekt gesammelt. © EuroGeographics; © UN-FAO; © Turkstat. Stand 1. Juni 2018 ECDC (mod aus 6). breitungsgebieten bestimmter Infektionen 8
Medizin | Globalisierung und Transfusionsmedizin | Diagnostik im Dialog • Ausgabe 60 • 06/2019 Verschiedene Ethnizitäten zeigen erhebliche Unterschiede in den shutterstock/Max Topchii Blutgruppenantigenmustern. shutterstock/ bei der Spendertauglichkeitsbeurteilung zu schem Plasma und tiefgefrorenen Erythro- tete und Asylsuchende, die nach Deutsch- berücksichtigen (Datenbank Spenderrück- zytenkonzentraten ist erst nach mindestens land kommen, häufig und z. T. erhebliche stellung). Flankierend veröffentlicht der vier Monaten und aktuell bestimmten, Unterschiede zu Europäern. Beispielsweise Arbeitskreis Blut beim Bundesministerium unauffälligen Untersuchungsergebnissen sind variante Allele im ohnehin komple- für Gesundheit regelmäßig Stellungnahmen des Spenders vorgesehen. xen Rhesus-Faktor-System als sog. DAU zu Infektionserregern und deren Bedeutung O Pathogenreduktion: Entsprechende Ver- („D afrikanischen Ursprungs“) bekannt. 26 für die Transfusionsmedizin.22 fahren könnten der Königsweg werden. Nach Gabe von Erythrozyten europäischer Für Thrombozytenkonzentrate wird die Spender können Afrikaner gegen die für sie Risikomindernde Maßnahmen sind: Pathogenreduktion z. B. flächendeckend fremden, jedoch hochfrequent in Europa O Spenderausschluss (temporär/ in der Schweiz eingesetzt. Für Erythro- vorkommenden Antigene irreguläre Anti- permanent): Der Spenderausschluss zytenkonzentrate und für Vollblut sind körper bilden. Diese Antikörper sind oft bei Krankheits-/Expositionsverdacht Verfahren in der Entwicklung. Nachteile nur in Speziallaboratorien mit limitiert zur ist unter Versorgungsgesichtspunkten der zur Zeit noch kostenintensiven Maß- Verfügung stehenden Reagenzien und Test- natürlich nur möglich, wenn der Anteil nahme sind u. a. eine teilweise erreger- erythrozyten zu differenzieren. Bei weite- betroffener Blutspender klein ist. spezifisch unterschiedliche Effizienz der ren Transfusionen muss antigenkompatibles O Labortestung: Eine Alternative zum Spen- Abreicherung bzw. mögliche Schäden Blut verabreicht werden, um antikörperver- derausschluss ist die Testung auf Anwesen- der therapeutisch wirksamen Bestand- mittelte Transfusionsreaktionen zu vermei- heit der Krankheitserreger im Blut.7,23 teile, über deren klinische Relevanz kon- den. Blutspender aus unseren Breiten besit- Dieser Tatsache Rechnung tragend wurde trovers diskutiert wird.24,25 zen allerdings kaum die dafür benötigten z. B. im WNV-Stufenplan des PEI nach Therapeutische Plasmen, die mittels Antigenkonstellationen. 27 Hinzu kommt, Aufenthalt in Endemiegebieten alternativ SD (Solvent-Detergent)-Verfahren dass unter Migranten chronisch transfusi- eine Spenderrückstellung von 28 Tagen pathogenreduziert wurden, lassen sich onsbedürftige Patienten z. B. wegen ausge- oder eine Testung des Spenderblutes mit alternativ zu quarantänegelagerten prägter Thalassämie oder Sichelzellanämie der WNV-PCR (definierte Mindest- Produkten einsetzen. In die indus- sind.28 Zur Vermeidung von Alloimmuni- empfindlichkeit von 250 Kopien WNV- trielle Herstellung plasmabasierter sierungen sollte bei diesen Patienten, soweit RNA/ml) vorgeschrieben.21 Der beliebigen Blutprodukte (z. B. Gerinnungsfakto- möglich, antigenkompatibel transfundiert Ausweitung des zu testenden Erregerspek- renkonzentrate, Immunglobuline) sind werden. Das erschwert die Blutbereitstel- trums sind allerdings aus technischen und Virusabreicherungsverfahren seit Jah- lung zusätzlich. ökonomischen Gründen Grenzen gesetzt. ren integriert.7 Die Erfahrungen bele- O Leukozytendepletion: Sie wurde 2001 für gen ein hohes Sicherheitsprofil bei der Um die Versorgung von Angehörigen Erythrozyten- und Thrombozytenkon- Verhinderung transfusionsassoziierter anderer Ethnizitäten mit erythrozytä- zentrate eingeführt und reduziert als Infektionen. ren Blutkomponenten sicher zu stellen, Nebeneffekt intrazellulär in Leukozyten sind regelmäßig spendende Personen aus enthaltene Pathogene (z. B. CMV). Seltene Blutgruppenantigenmuster entsprechenden Herkunftsgebieten uner- O Quarantänelagerung: Die Freigabe von Blutgruppenantigenmuster spiegeln die lässlich. Das gilt analog für die hier nicht nicht pathogeninaktiviertem therapeuti- Ethnizität wider. Insofern zeigen Geflüch- betrachtete Stammzelltransplantation. 9
Medizin | Globalisierung und Transfusionsmedizin | Diagnostik im Dialog • Ausgabe 60 • 06/2019 Erfolgskritische Voraussetzungen sind eine kultursensible Werbung und die Ansprache potenzieller Spender in einer ihnen vertrau- ten Sprache. Nachgedacht werden muss auch über die laut Hämotherapierichtlinien beste- hende Rückstellungsfrist von vier Jahren bei Regelmäßige Blutspender Geburt bzw. Aufwachsen in einem Malaria- Endemiegebiet bzw. einem Aufenthalt dort außereuropäischer über sechs Monate. Ethnizitäten sind unerlässlich. shutterstock/Pressmaster Bei Spendern anderer Ethnizitäten ist die Phänotypisierung möglichst vieler Blut- gruppensysteme empfehlenswert. Damit lassen sich für Patienten mit irregulären Antikörpern auch gegen hochfrequent in Europa vorkommende Antigene zeitnah ausreichend kompatible Spender finden.29,30 Ausblick 15 Semenza JC: Int J Environ Res Public Health (2015); 12:6333–6351 Die Globalisierung stellt auch die Transfu- 16 Oei W et al: Transfusion (2013); 53:1421–1428 17 Oei W et al: Transfusion (2016); 56:2108–2114 Um diese und andere Herausforderungen sionsmedizin vor anspruchsvolle Aufgaben. 18 Mapako T et al: BMC Infectious Diseases (2016); 16: https://doi.org/10.1186/s12879-016-1452-z zu bewältigen, wurde z. B. das Projekt Neue Ideen und Lösungsansätze sowie die 19 Kiely P et al: Transf Med Rev (2017); 31:54–164 "BluStar.NRW" gegründet. Es engagiert notwendige Flexibilität sind vorhanden – 20 Semenza JC et al: Env Health (2016); 15:125–136 21 https://www.pei.de/DE/arzneimittelsicherheit-vigilanz/ sich für die Gewinnung und Typisie- gute Voraussetzungen, um auch diese Her- haemovigilanz/abgeschlossene-verfahren-bescheide/ abgeschlossene-verfahren-haemovigilanz-node. rung von Flüchtlingen und Migranten als ausforderungen zu meistern. html#doc8077436bodyText31 22 https://www.rki.de/DE/Content/Kommissionen/AK_Blut/ potenzielle Blut- und Stammzellspender. Stellungnahmen/stellungnahmen_node.html 23 Seed CR: ISBT Science Series (2014); 9:6–13 Gefördert mit Mitteln des Europäischen * Arboviren (arthropod-borne viruses): Viren, die 24 Seifried E et al: Blood Transfus (2011); 9:371–376 Fonds für regionale Entwicklung konnten durch Arthropoden (Gliederfüßer wie Moskitos, 25 Schlenke P: Transfus Med Hemoth (2014); 41:309–325 26 Ahrens N: Trillium Diagnostik (2017); bis in die Sommermonate 2018 ca. 1300 Sandfliegen und Zecken) übertragen werden. https://www.trillium.de/zeitschriften/trillium-diagnostik/ trillium-diagnostik-ausgaben-2017/td-12017/schwer- Blutspender und mehr als 500 Stammzell- ** Vektor: Organismus, der einen Erreger von einem punkt-migration-und-medizin/ethnische-unterschiede-in- der-immunhaematologie.html spender aus 30 Ländern registriert und Wirtsorganismus zu einem anderen transportiert. 27 Wagner FF: hämotherapie (2016); 26:25–31 untersucht werden. Darunter befinden ***Antigendrift: langsame, kontinuierliche und 28 Kunz BJ et al: Pediatric Blood & Cancer (2017); 64: https://doi.org/10.1002/pbc.26550 sich auch Personen mit bei uns sehr sel- zufällige Veränderung (Punktmutationen) von immu- 29 Wagner FF et al: Transf Med Hemoth (2018); 45:225–237 nitätsbildenden Oberflächenstrukturen von Viren. 30 Khan J et al: Transf Med Hemoth (2018); 45:271–276 tenen Phänotypen.31,32 31 Reimer T et al: hämotherapie (2018); 31:38–40 Antigenshift: genomischer Segmentaustausch 32 Lenz V et al: Poster PS-2A-3: 51. Jahrestagung der DGTI zwischen Virusstämmen. September 2018 33 Seltsam A: hämotherapie (2016); 26:19–24 In den letzten Jahren wird die Differenzie- 34 Chou ST: Transfusion (2018); 58: 2469–2471 rung von Antikörpern gegen hochfrequente Blutgruppenmerkmale durch zunehmend verfügbare, lösliche rekombinante Blut- Literatur 1 European Commission (2013: Specific contract Korrespondenzadresse gruppenproteine (rBGP) erleichtert. Nach No. EAHC/2013/Health/24 2 Kurth R: hämotherapie (2003); 1:6–12 Zusatz des spezifischen rBGPs werden die 3 Zappa A et al: Blood Transf (2009); 7:167–171 Antigenbindungsstellen des Antikörpers im 4 Pajares Herraiz AL: Biomed J Sci&Tech Res (2017); 1(2): https://biomedres.us/pdfs/BJSTR.MS.ID.000167.pdf Patientenplasma blockiert und der Anti- 5 Semenza JC et al: FEMS Microbiol Letters (2018); 365(2): https://doi.org/10.1093/femsle/fnx244 körper kann nicht mehr an die entspre- 6 https://ecdc.europa.eu/en/publications-data/aedes- albopictus-current-known-distribution-june-2018 chenden Testerythrozytenantigene binden. 7 van Kraaij MG et al: Transfusion (2013); 53:716–721 8 AK Blut Stellungnahme Influenzaviren: Bgbl (2007); Durch die fehlende Agglutination ist der 50:1184–1191 Antikörper entsprechend der Spezifität des 9 Pirelli L et al: Transfusion (2018); 59: https://doi.org/10.1111/trf.14892 rBGPs nachgewiesen.33 Weiterhin sind erste 10 Dodd RY: Br J Hem (2012); 159:135–142 11 Lindgren E et al: Science (2012); 336:418-419 Dr. med. Volkmar Schottstedt Versuche mit immortalisierten erythroiden 12 Gossner CM et al: Eurosurveill (2017); 22(18): Schottstedt Lab-Consulting https://doi.org/10.2807/1560-7917.ES.2017.22.18.30526 Progenitorzellen zur Produktion von Test- 13 https://ec.europa.eu/health/sites/health/files/blood_tis- Brieger Str. 15 erythrozyten mit seltenen Antigenmustern sues_organs/docs/wnv_preparedness_plan_2012.pdf 58640 Iserlohn 14 Semenza JC et al: PLOS Negl Trop Dis (2013): schoconsultant@t-online.de vielversprechend.34 https://doi.org/10.1371/journal.pntd.0002323 10
Gesundheitspolitik | Hepatitis E und Transfusionsmedizin | Diagnostik im Dialog • Ausgabe 60 • 06/2019 Hepatitis E und Transfusionsmedizin Bundesoberbehörde ordnet Blutspenderscreening ab 2020 an Prof. Dr. Michael Schmidt, Deutsches Rotes Kreuz, Blutspendedienst Institut Frankfurt shutterstock/smolaw Transfusionsbedingte Infektionen mit dem Publizierte Beispiele der. In einem Fall trat bei einem 47-jähri- Hepatitis-E-Virus (HEV) sind phylogene- Im Jahr 2004 erschien ein erster Bericht über gen immunsupprimierten Mann nach sechs tisch belegt. Hohe HEV-Inzidenzraten bei eine transfusionsbedingte Infektion mit HEV.1 Monaten eine HEV-Infektion auf. Die HEV- Blutspendern und Beschreibungen klinisch Ein 67 Jahre alter Patient erhielt bei einer Konzentration im Thrombozytapherese- gravierender Infektionen bekräftigen einen Herzoperation 14 FFPs, 8 EKs und 1 TK*. produkt betrug hier lediglich 120 IU/ml. Im dringenden Handlungsbedarf für die Trans- Vor der Operation war der Patient negativ für anderen Fall, einem 71-jährigen, ebenfalls fusionsmedizin. Ab dem 1. Januar 2020 ist HEV. 40 Tage postoperativ ließen sich sowohl immunsupprimierten Mann, kam es dagegen für alle zellulären Blutprodukte und ein Jahr das Virus selbst als auch Antikörper (IgM und trotz höherer HEV-Konzentration (490 IU/ später auch für therapeutisches Plasma das IgG) gegen HEV nachweisen. Phylogenetische ml) nicht zur Infektion. Dieses Beispiel zeigt Screening auf HEV bei Blutspendern gesetz- Untersuchungen belegten den transfusions- deutlich, dass es in der Risikobetrachtung für lich vorgeschrieben. medizinischen Zusammenhang. eine minimale Infektionsdosis sowohl auf die Viruskonzentration im Blutprodukt als auch Damit ein Virus transfusionsmedizinische Die eindrucksvolle Arbeit von Hewitt et al. auf den Immunstatus des Patienten ankommt. Relevanz besitzt, müssen folgende Bedin- aus dem Jahr 20142 belegte über Rückverfol- gungen vorliegen: gungsuntersuchungen bei 79 HEV-positiven In diesem Zusammenhang haben Kamps et O Die Infektion muss mit einer asympto- Mehrfachspendern die große Bedeutung des al. von der Bundesoberbehörde eine risikoba- matischen Periode beginnen, da klinisch HEV für die Transfusionsmedizin. Bei 18 sierte Analyse durchgeführt.4 Danach lassen symptomatische Spender nicht zur von insgesamt 43 untersuchten transfun- sich bei einem Spenderscreening mit einer Spende zugelassen werden. dierten Patienten (42 %) konnte HEV nach- analytischen Sensitivität von 2000 IU/ml O In der asymptomatischen Periode gewiesen und der transfusionsmedizinische 80 % aller HEV-Infektionen nachweisen. Die muss eine Virämie vorliegen. Zusammenhang hergestellt werden. Simulationsstudie der Arbeitsgruppe zeigt, O Die Infektion muss mit einem dass jede Teststrategie zu einer Risikomin- schwerwiegenden Krankheitsbild Huzly et al.3 beschrieben zwei HEV-positive derung nicht jedoch zu einer vollständigen verbunden sein. Thrombozytapheresen** von einem Spen- Risikoeliminierung führt. 11
Gesundheitspolitik | Hepatitis E und Transfusionsmedizin | Diagnostik im Dialog • Ausgabe 60 • 06/2019 Aktuelle Screeningmaßnahmen Zunächst wird eine analytische Sensitivi- Dokument der Bundesoberbehörde, dass Der Blutspendedienst Baden-Wuerttem- tät von maximal 2000 IU/ml (95 % level of bei einem Spenderscreening in Minipools berg/Hessen hat bereits im Oktober 2018 detection (LOD)) festgesetzt. Da der Stufen- von mehr als 48 Spenden pro Pool zusätz- eine selektive Spendertestung auf HEV plan jedoch die verlässliche Detektion von lich zu den Assaykontrollen eine externe eingeführt und untersucht darüber hinaus 2000 IU/ml vorsieht, fordert ein zusätzliches Laufkontrolle mit einer Konzentration von seit 2014 alle Spenden des Österreichi- schen Roten Kreuzes auf HEV. Die maxi- male Poolgröße beträgt 96 Spenden pro 2000 Minipool. Abb. 1 zeigt die vergleichbare 1800 Inzidenzrate vom Blutspendedienst Baden- Wuerttemberg/Hessen bzw. vom Österrei- 1600 chischen Roten Kreuz bei identischen Scree- Inzidenzrate (1/N) 1400 ningbedingungen (96er-Poolverfahren und 1200 Verwendung des cobas HEV Assays von 1000 Roche Diagnostics). Dies lässt auch auf 800 vergleichbare Infektionsrisiken in beiden Ländern schließen. 600 400 Die sehr hohe Inzidenzrate von ca. 1:1700 200 belegt zum einen die dringende Notwen- 0 digkeit eines HEV-Spenderscreenings. DRK ÖRK Verglichen damit liegen die Inzidenzraten 1717 1784 etablierter Screeningparameter, wie z. B. HIV-1 (ca. 1:100 000 in Deutschland) oder Abb. 1: Inzidenzrate HEV in Deutschland und Österreich. Untersucht wurden von 2014 bis 2016 im HCV (1:15 000) signifikant niedriger. Zum Österreichischen Roten Kreuz (ÖRK) 157 070 Spenden auf HEV im 96er-Minipool-Verfahren. 88 dieser Proben waren positiv. Bei entsprechenden Untersuchungen des Deutschen Roten Kreuzes (DRK) Baden- anderen bedeutet die hohe Inzidenzrate, Württemberg/Hessen von Oktober bis Dezember 2018 wurden aus 5150 Spenden drei HEV-positive Pro- dass es neben Blutprodukten weitere Quel- ben identifiziert. (Quelle: M. Schmidt) len für HEV-Infektionen geben muss. Das größte Infektionsrisiko liegt im Verzehr von unzureichend erhitztem Schweinefleisch. Viruslast (IU/ml) Abb. 2 zeigt eine Untersuchung von 34 HEV-NAT-positiven Spenden auf HEV- IgM- und IgG-Antikörper im Blutspende- dienst Baden-Wuerttemberg/Hessen. In 25 dieser 34 Spenden (73,5 %) wurden keine entsprechenden Antikörper nachgewiesen – ein Hinweis darauf, dass es sich in der Regel um akute HEV-Infektionen handelt. IgG/IgM negativ Gesetzliche Regelungen IgG reaktiv Mit dem Stufenplanbescheid der Bun- IgG/IgM reaktiv desoberbehörde vom 05.02.2019 wird für IgM reaktiv alle zellulären Blutprodukte das Spender- screening auf HEV ab dem 01.01.2020 Abb. 2: Nachweis von HEV-Antikörpern bei HEV-NAT-positiven Spenden. In einer ersten Evaluati- onsstudie (2012 bis 2014) wurden 34 HEV-NAT-positive Spenden auf HEV-IgM- und IgG-Antikörper unter- und für das therapeutische Plasma ab dem sucht. Bei Spenden mit einem blauen Balken (25/34; 73,5 %) konnten keine Antikörper nachgewiesen wer- 01.01.2021 verbindlich vorgeschrieben. den. (Quelle: M. Schmidt) 12
Gesundheitspolitik | Hepatitis E und Transfusionsmedizin | Diagnostik im Dialog • Ausgabe 60 • 06/2019 Hohe Inzidenzraten des HEV belegen die Dringlichkeit eines shutterstock/Kateryna Kon Spenderscreenings. shutterstock/Byjeng 6000 IU/ml mitgeführt werden muss (Anfor- Infektionen eine asymptomatische Periode * FFP: Fresh Frozen Plasma; EK: Erythrozytenkonzentrat; derungen an die Validierung bzw. den Rou- von ca. 40 Tagen besteht und Infizierte nach TK: Thrombozytenkonzentrat tinebetrieb von Nukleinsäure-Amplifika- ca. zehn Tagen virämisch sind. Ferner gibt es tions-Techniken (NATs) zum Nachweis von zahlreiche Fallberichte von klinisch schwer- ** Thrombozytapherese: Entfernung der Virusnukleinsäuren in Spenderblut). wiegenden HEV-Infektionen. 5 Deutsch- Thrombozyten aus einer Blutspende, die restlichen Blutbestandteile werden transfundiert. land folgt mit der gesetzlichen Anordnung Parallel zur gesetzlichen Einführung von des HEV-Spenderscreenings Ländern wie HEV in das Spenderscreening wird es zum Großbritannien oder Japan und auch in 01.01.2020 auch eine Neuregelung der vielen anderen Ländern steht diese Rege- Voten des Arbeitskreises Blut zum Rück- lung unmittelbar bevor. Somit ist mit einer verfolgungsverfahren geben. Gegenwärtig ist globalen Einführung von HEV in das Spen- Literatur geplant, HEV-positive Spender für mindes- derscreening zu rechnen. Die Ergänzung des 1 Matsubayashi K et al: Transfusion (2004); 44(6):934–940 2 Hewitt PE et al: Lancet (2014); 384(9956):1766–1773 tens vier Wochen zu sperren und bei einer Blutspenderscreenings durch einen weiteren 3 Huzly D et al: Euro Surveill (2014); 19(21) erneuten Spende danach mit einer analyti- NAT-Parameter stellt auch die Bedeutung 4 Kamp C et al: Vox Sang (2018); 113(8):811–813 5 Ahmad BS et al: J Pak Med Assoc (2018); 68(9): schen Sensitivität von 50 IU/ml (95 % LOD) dieser Nachweismethode für die Sicherheit 1397–1399 6 Ziegler U et al: Antiviral Res (2019); 162:39–43 zu untersuchen. von Blutprodukten in den Vordergrund. Bei HEV-positiven Mehrfachspendern ist Weitere Kandidaten zu prüfen, ob in den vier Wochen vor der Im Sommer 2018 wurde das West-Nil-Virus auffälligen Probe weitere Spenden geleistet (WNV) in Deutschland bei einem Bart- wurden. Diese Vorspenden sind ebenfalls kauz nachgewiesen,6 in Europa, vor allem mit einer erhöhten Sensitivität von 50 IU/ml der Türkei, Griechenland und Norditalien zu untersuchen. Da das Infektionsrisiko für war eine starke Ausbreitung zu verzeich- HEV durch die Nahrungskette unabhängig nen. Somit könnte in naher Zukunft auch vom Blutspenderscreening bestehen bleibt, WNV zu einer Infektionsgefahr durch Blut- Korrespondenzadresse rechnet der Blutspendedienst Baden-Wuert- spenden und Blutprodukte in Deutschland temberg/Hessen nach dem 01.01.2020 mit werden. Weitere Gefahren drohen durch Prof. Dr. med. Michael Schmidt Bereichsleiter Spenderscreening jährlich ca. 300 bis 400 Rückverfolgungs- Infektionen mit Chikungunya, Dengue Bereichsleiter Qualitätsmanagement verfahren. oder Zika Viren. All diese Risiken lassen Deutsches Rotes Kreuz sich durch ein erweitertes Spenderscreening Blutspendedienst Institut Frankfurt Sandhofstraße 1 Im Hinblick auf die oben postulierte Trias mit zusätzlichen NAT-Methoden reduzie- 60528 Frankfurt für transfusionsmedizinisch relevante Viren, ren. Höchste Priorität ist die Sicherheit von m.schmidt@blutspende.de ist eindeutig nachgewiesen, dass bei HEV- Blutprodukten heute und in der Zukunft. 13
Gesundheitspolitik | Mangelnde Impfbereitschaft | Diagnostik im Dialog • Ausgabe 60 • 06/2019 Mangelnde Impfbereitschaft Globale Bedrohung unserer Gesundheit Prof. Dr. Dr. Sabine Wicker, Universitätsklinikum Frankfurt Immunisierungen gehören zu den erfolgreichsten Präventionsmaßnahmen der Medizin. shutterstock/ADfoto Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) Die aktuellen Masernausbrüche der vergange- und weitere 1,5 Millionen ließen sich durch hat vor wenigen Monaten die Vermeidung nen Monate zeigen deutlich, dass Maßnahmen eine höhere Impfbereitschaft vermeiden. Als oder Verzögerung von Impfungen in die Liste zur Erhöhung der Impfquoten erforderlich unrühmliches Beispiel verweist die WHO der zehn wichtigsten globalen Gesundheits- sind. Wer sich nicht impfen lässt, riskiert nicht auf den weltweiten Anstieg (ca. 30 %) der bedrohungen aufgenommen. 1 Damit geht nur seine eigene, sondern auch die Gesundheit Maserninfektionen. Die Erkrankung ist zwi- aus WHO-Sicht von Impfgegnern ein ähn- seines Umfeldes. Gefährdet sind insbeson- schenzeitlich auch in jene Länder zurückge- lich dramatisches Risiko für die weltweite dere Menschen, die sich aufgrund ihres Alters kehrt, die kurz davor standen, diese Infek- Gesundheit aus wie von Antibiotikaresis- (Neugeborene), einer Grunderkrankung (z. B. tion zu eliminieren.1 tenzen, Viren wie Ebola, HIV und Dengue, Immunsuppression) oder Schwangerschaft dem Klimawandel und der Luftverschmut- (hier: Lebendimpfstoffe) nicht impfen lassen Tab. 1 dokumentiert nach Zahlen des Robert zung. Wie konnte es dazu kommen, gehören können sowie Menschen, bei denen die Impf- Koch-Institutes (RKI) die Häufigkeit impf- Immunisierungen doch seit langer Zeit zu effektivität aufgrund ihres Alters (Immunsenes- präventabler Infektionen in Deutschland seit den erfolgreichsten Präventionsmaßnah- zenz bei Senioren) oder einer Grunderkran- der Jahrtausendwende. Die Daten des Cen- men der Medizin. Warum reagieren Men- kung (z. B. Immunsuppression) verringert ist. ters for Disease Control and Prevention aus schen auf Impfangebote heutzutage oftmals den USA belegen die beeindruckend hohe zurückhaltend, gar ablehnend – so ganz Impfen ist somit eine medizinische und Effektivität von Impfungen (Tab. 2) – diese anders als z. B. bei der Verfügbarkeit eines soziale Entscheidung. Man lässt sich imp- kann jedoch nur durch konsequente Umset- neuen Hoffnungsträgers in der Onkologie? fen, um sich selbst und verantwortungsvoll zung von Impfempfehlungen überhaupt zum Die Gründe dafür liegen in den „5 C“. Ein auch andere zu schützen. Impfen ist sozusa- Tragen kommen. Modell zur Gegensteuerung bedient sich gen gelebte Sozialkompetenz. der „5 A“. Eines steht fest: Der Kampf gegen Gemäß Infektionsschutzgesetz hat in impfpräventable Infektionen lässt sich nur Impfschutz: Ungenutzte Potenziale Deutschland die Ständige Impfkommission gewinnen, wenn alle an einem Strang ziehen. Impfungen verhindern laut WHO jedes Jahr (STIKO) beim RKI die Aufgabe, Empfeh- Impfen ist gelebte Sozialkompetenz. weltweit zwei bis drei Millionen Todesfälle lungen zur Durchführung von Schutzimp- 14
Gesundheitspolitik | Mangelnde Impfbereitschaft | Diagnostik im Dialog • Ausgabe 60 • 06/2019 Impfen ist eine medizinische und eine shutterstock/Oksana Shufrych shutterstock/Africa Studio soziale Entscheidung. fungen zu geben und den diesbezüglichen „zu selten, zu spät und mit regionalen z. B. durch strukturelle, organisatorische medizinischen Standard zu definieren. Die Unterschieden“. Im Zeitraum 2007 bis oder psychologische Hürden. STIKO bewertet kontinuierlich Daten zu 2017 sind als Folge davon etwa 190 000 O Calculation (Bewertung): Bedürfnis, Impfstoffen und zur Epidemiologie impfprä- Menschen an impfpräventablen Infektio- nach ausgiebiger eigener Informations- ventabler Infektionen. Für die Erarbeitung nen gestorben.3 suche, z. B. im Internet kann zu Falsch- von Impfempfehlungen wertet sie im Sinne wissen führen. Impfskeptiker haben zwar der Evidenz-basierten Medizin (EbM) wis- Die „5 C“ oftmals ein insgesamt höheres Bildungs- senschaftliche Daten aus und bedient sich Es gibt fünf typische Gründe für nicht niveau, allerdings meist keine spezifisch des Ansatzes der GRADE Working Group realisierte Impfungen (Vaccine Hesitancy). wissenschaftlich-medizinischen Vor- (Grading of Recommendations, Assessment, Sie werden in der Wissenschaft als „5 C“ kenntnisse im Kontext impfpräventabler Development and Evaluation). Die STIKO- beschrieben:4 Infektionen, um die wissenschaftliche Empfehlungen werden regelmäßig aktuali- O Confidence (Vertrauen): Oftmals fehlt Evidenz der recherchierten Informatio- siert und sind online verfügbar.2 schlichtweg das Vertrauen in die Sicher- nen bewerten zu können. heit und Effektivität von Impfungen. O Collective responsibility (Verantwortlich- Es ist eine wichtige ärztliche Aufgabe, für O Complacency (Gleichgültigkeit): Das keit für das Kollektiv): Beschreibt die einen adäquaten Impfschutz der betreuten Infektions- und Krankheitsrisiko wird Motivation, sich auch für andere impfen Patienten zu sorgen. Arztbesuche sollten nicht (mehr) als Bedrohung wahrge- zu lassen, also „Impfen als soziale Ent- regelmäßig genutzt werden, um den Impf- nommen, weil viele Erkrankungen dank scheidung“. Diese Verantwortlichkeit ist ausweis zu überprüfen und gegebenenfalls vorangegangener Impfungen nur noch nicht immer vorhanden, es herrscht ein fehlende Immunisierungen durchzufüh- selten auftreten. gewisser Egoismus, wonach man selbst ren.2 Nach Einschätzung des RKI erfolgen O Constraints (Hemmnisse): Der niedrig- geschützt ist, wenn genügend andere Schutzimpfungen in Deutschland jedoch schwellige Zugang zur Impfung fehlt, geimpft sind. Infektion 2001 2006 2011 2012 2013 2014 2015 2016 2017 2018 Masern 6198 2368 1640 186 1845 510 2604 361 1037 677 Mumps 39 73 34 43 671 987 876 908 869 703 Röteln 86 111 7 35 193 207 166 200 195 164 Varizellen Keine Daten 5840 1606 1794 10 385 24 118 24 324 25 450 22 274 20 453 Diphtherie Keine Daten Keine Daten 6 9 4 8 15 14 10 27 Pertussis 116 4626 4004 5364 12 584 16 681 13 976 22 161 26 035 20 208 Hepatitis A 2692 1535 1012 988 990 859 1144 1070 1645 1 485 Hepatitis B 3875 2537 1931 1686 1947 2403 3923 3497 3596 4 516 Influenza 2655 3915 46 261 12 032 74 860 8458 89 319 80 939 119 642 348 247 FSME 278 557 440 204 442 282 226 359 505 607 Tab. 1: Anzahl impfpräventabler Infektionen in Deutschland pro Jahr. Meldepflicht gemäß Infektionsschutzgesetz (IfSG) §7, Meldeweg über Gesundheits- amt und Landesstelle. Robert Koch-Institut, Stand 25.2.2019, https://survstat.rki.de/ 15
Gesundheitspolitik | Mangelnde Impfbereitschaft | Diagnostik im Dialog • Ausgabe 60 • 06/2019 Es ist eine wichtige ärztliche Aufgabe, für den adäquaten Impfschutz der betreuten Patienten zu sorgen. shutterstock/Alexander Raths Die „5 A“ nen Impfungen von den Krankenkassen Nutzen von Impfungen sowie die Kennt- Um Impfquoten nachhaltig steigern zu kön- bezahlt werden,6 ist es hinsichtlich finan- nis etwaiger Risiken des Impfens und nen, bedarf es unterschiedlicher Maßnah- zieller Kosten in Deutschland unproble- des Nicht-Impfens.5 Gemäß einer Studie men und Ansätze. Ein Modell dafür sind die matisch, sich impfen zu lassen. Bezüglich der Bundeszentrale für gesundheitliche „5 A“, als mögliche Stellschrauben: der nicht-finanziellen Aufwendungen gilt Aufklärung (BZgA) aus dem Jahr 2016 O Access (Zugang): Um den Aufwand zur es wiederum, für die verschiedenen Ziel- kennen beispielsweise nur 25 % der Impfung möglichst klein zu gestalten, gruppen praxistauglich und flexibel Impf- befragten Erwachsenen die seit 2010 böte sich das sog. „fachübergreifende gelegenheiten zu schaffen. Hier bieten bestehende Masern-Impfempfehlung der Impfen“ an. So könnte beispielsweise sich beispielsweise die Arbeitsmedizin an, STIKO für alle nach 1970 Geborenen, der Kinderarzt auch die Eltern oder der die oftmals Kollektive betreut, die ansons- die als Kind nur eine oder keine Masern- Gynäkologe die männlichen Partner ten keine regelmäßigen Arztkontakte impfung erhalten haben bzw. deren impfen.5 haben, oder Aktionen der öffentlichen Impfstatus unklar ist.7 O Affordability (Erschwinglichkeit): Dabei Gesundheitsdienste. Die BZgA-Studie unterstreicht auch die geht es um die Möglichkeit des Indivi- O Awareness (Bewusstsein, Wahrneh- Schlüsselrolle der Ärzteschaft bei der duums, sich die Impfung „leisten“ zu kön- mung): Damit gemeint ist das Wissen Aufklärung zu gesundheitsrelevanten nen – ökonomisch, aber auch im Hinblick des Einzelnen über empfohlene Imp- Themen. Denn nahezu alle Befrag- auf nicht-finanzielle Aspekte, wie z. B. fungen und deren Verfügbarkeit, das ten (97 %) nennen ein persönliches Zeit.5 Da die von der STIKO empfohle- Wissen um evidenzbasierte Fakten zum Gespräch mit dem Arzt als wichtigste Informationsquelle beim Thema Imp- fung. Mit etwas Abstand folgen Infor- Geschätzte Aktuell geschätzte mationen von der Krankenkasse (84 %) Infektion Morbiditätszahlen/Jahr Abnahme in der Vor-Impfära Morbiditätszahlen bzw. dem Gesundheitsamt (75 %).7 Es Masern 530 217 120 > 99 % gilt, die verschiedenen Informations- Mumps 162 344 6109 96 % quellen abgestimmt miteinander zu Röteln 47 745 7 > 99 % vernetzten. Über fachlich kompetente Varizellen 4 085 120 102 128 98 % Aufklärungskampagnen bietet sich Diphtherie 21 053 0 100 % darüber hinaus die Gelegenheit, Falsch- Pertussis 200 752 18 975 91 % informationen und Vorurteile aus dem Hepatitis A 117 333 4000 95 % Hepatitis B Weg zu räumen. 66 232 20 900 68 % (akute) O Acceptance (Befürwortung): In der Tab. 2: Anzahl impfpräventabler Infektionen in den USA vor und nach Einführung flächen- BZgA-Studie bezeichneten sich 77 % deckender Impfprogramme. Mod. nach „Vaccines Work“, http://www.immunize.org/catg.d/p4037.pdf der Befragten als Impfbefürworter. 16
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