Geographien des Ein- und Ausschlusses: Strafvollzug und -prozesse im Kontext der Aufarbeitung von Beteiligungshandlungen im syrischen Bürgerkrieg
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Geogr. Helv., 76, 205–219, 2021
https://doi.org/10.5194/gh-76-205-2021
© Author(s) 2021. This work is distributed under
the Creative Commons Attribution 4.0 License.
Geographien des Ein- und Ausschlusses: Strafvollzug
und -prozesse im Kontext der Aufarbeitung von
Beteiligungshandlungen im syrischen Bürgerkrieg
Sarah Klosterkamp
Geographisches Institut der Universität Bonn, 53115 Bonn, Deutschland
Correspondence: Sarah Klosterkamp (s.klosterkamp@uni-bonn.de)
Received: 31 July 2020 – Revised: 23 April 2021 – Accepted: 23 April 2021 – Published: 10 May 2021
Kurzfassung. Based on an ethnographic study of anti-terror trials at higher regional appeal courts in Germany,
conducted in 2015–2020, this article examines the interrelation between the German penal system and criminal
trials as mutually constitutive, governmentally guided, and highly secured elements of a state-induced and Islam-
centred terrorism prevention. This includes the physical nature of the courthouses, as well as discourses of risk
inscribed within them, which are linked to corresponding racialized and gender-rendered readings of the ,need
for custody‘. Under the auspices of a ,new penology‘ and legitimized as an elimination of ,state-endangering
actions‘, two logics emerge in the course of these proceedings that emphasize either a ,rectification of the re-
formable‘ or a ,confinement of the incorrigible‘, illustrating how a reshaped field of crime control and criminal
justice can currently be observed that makes permanent incarceration the guarantor of a promise of security.
1 Einleitung der Notwendigkeit von Strafprozessen und -vollzug für eine
gesamtgesellschaftliche Gefahrenminimierung rechtsstaatli-
Spätestens seit Beginn der 2000er Jahre gab es nicht nur in cher Lesart rückte (vgl. Zöller, 2014; Graebsch, 2018), bildet
Deutschland, sondern auch in seinen europäischen Nachbar- den Ausgangspunkt dieses Beitrags.
ländern Ausreisebewegungen von Menschen, die sich auf- Basierend auf einer Gerichtsethnographie während der
grund einer antiimperialen Haltung, der Ablehnung ,westli- Jahre 2015 bis 2020 sowie einer Foucault’schen Perspekti-
cher‘ Lebensweisen oder aber aus dem Wunsch nach einem ve auf Strafprozesse zeige ich zum einen, auf welche Wei-
politischen Systemwandel heraus in den Ländern des Mittle- se und mit welchen Mitteln die Verknüpfung staatlicher Ge-
ren und Nahen Ostens auch gewaltvoll für eine andere Zu- fahrenabwehr mit bestimmten Körpern, ihren intersektional
kunft nach ihren Vorstellungen einsetzten und bereit waren, verschränkten Lesarten und daraus abgeleiteten Gefahren-
hierfür im Zweifel ihr Leben zu lassen. Sie taten dies zumeist potenzialen durch Gerichtsverfahren hervorgebracht, legiti-
an der Seite von Vereinigungen, die von ihren Herkunftsor- miert und wirkmächtig wird. Zum anderen arbeite ich in An-
ten als ,islamistisch‘ klassifiziert und dementsprechend im lehnung an Garlands Unterscheidung zwischen einer ,Krimi-
Zuge von Antiterrormaßnahmen auch strafrechtlich verfolgt nologie des Selbst‘ vs. einer ,Kriminologie des Anderen‘ die
wurden. Doch erst 2014, mit der Gründung des sog. ,Islami- paradigmatische Bedeutung dieser Verfahren für die aktuelle
schen Staates‘, den ersten Anschlägen auf europäischem Bo- Entwicklung und Transformation von Strafhaft heraus. Die-
den, einer Vielzahl an staatlich begleiteten oder induzierten se steht unter dem Signum von Sicherheit und ist seit einigen
Aus- und Einreisen im Spannungsfeld von Asyl und Flucht, Jahren richtungsgebend für Art und Umfang des deutschen
wurde der deutschen Justiz bewusst, welch personell wie ka- Strafvollzugs.
pazitär vielschichtiges Problem auf sie zukommen würde. Hierfür werden zentrale Elemente der Transformation
Dieses ,Problem‘, das in den Folgejahren medial wie po- skizziert (Abschnitt 2) sowie daran anschließend die juri-
litisch ins Zentrum der Debatte um die Frage nach geeig- dischen, disziplinaren und gouvernementalen Dimensionen
neten Resozialisierungs- und Integrationsmaßnahmen sowie staatlicher Gefahrenabwehr vorgestellt, die für das Rechts-
Published by Copernicus Publications for the Geographisch-Ethnographische Gesellschaft Zürich & Association Suisse de Géographie.
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subjekt ,Terrorist:in‘ konstitutiv sind: (1) die gesellschaft- zugrunde liegen, keineswegs neu. Im Zusammenhang mit
lichen Risikonarrative, die sie anleiten (Abschnitt 3.1), den damit verbundenen, sicherheitsbegründeten bis profi-
(2) die durch sie begründete sicherheitsbetonte Architek- torientierten Internierungstendenzen finden sie seit länge-
tur deutscher Staatsschutzsäle (Abschnitt 3.2) und (3) die rem noch drastischere Entsprechungen, gerade in anglo-
zur Haftprüfung, Verurteilung oder Bewährungsprüfung amerikanischen Diskussions- und Gesellschaftsformationen
(vor-)geführten Körper und ihre normativ-diskursiven Lesar- (vgl. Rhodes, 2004; Gilmore, 2007; Turner, 2014; Dübgen
ten (Abschnitt 3.3). Im Abschnitt 4 werden mittels eines Ver- und Mattutat, 2017; Herbert, 2019). Bemerkenswerterwei-
gleichs die daraus resultierenden unterschiedlichen Bewer- se verweist auch die bundesdeutsche Debatte bei der Fra-
tungslogiken einer ,Besserung der Besserungsfähigen‘ (Ab- ge nach der Verhältnismäßigkeit der Sicherungsverwahrung
schnitt 4.1) vs. einer ,Unschädlichmachung der Unverbesser- bei der stetigen Zunahme ,dauerhaft verwahrungsbedürfti-
lichen‘ (Abschnitt 4.2) zur Diskussion gestellt. Diese Logi- ger‘ Körper (vgl. Abb. 1) auf ähnliche Begründungslogiken
ken münden in räumliche wie rechtliche, temporäre vs. dau- und Abwehrreflexe – trotz anderer Rechts- und Verwahrtra-
erhafte Haft- und Externalisierungsweisen. Der Beitrag endet dition. Auch hierzulande ist die Frage nach einer Ausweitung
mit einem Fazit, in dem sein Argument noch einmal zusam- oder Eindämmung des Maßregelvollzugs (§ 63 bzw. § 64 des
mengefasst präsentiert wird. Strafgesetzbuches – StGB) und seiner entmündigenden Ten-
denzen bis heute immer wieder Gegenstand öffentlicher wie
wissenschaftlicher Debatten (vgl. Gericke und Kallert, 2007;
2 Haft und Haftbedingungen im Spiegel staatlicher Dübgen und Mattutat, 2017; Brazzell, 2018). Ihnen zugrun-
Gefahrenabwehr de liegen Einzelschicksale wie das von Gustl Mollat, der zu
Unrecht sicherungsverwahrt wurde, oder die wiederkehren-
Wie Garland einst konstatierte, wird die Gesellschaft heute de Diskussion um einen angemessenen Umgang mit Sexual-
stärker denn je durch Verbrechenskontrolle und Strafjustiz straftäter:innen.
bestimmt und folgt dabei eben jenen „Kulturen der Kontrol- Während solche ambivalenten Zusammenhänge von Straf-
le“ (Garland, 2008:74), die in ihrer punitiven Ausrichtung für verfolgung und -vollzug vermehrt auch Eingang in die
die Verwahrung des Einzelnen besonders wirkmächtig sind. deutschsprachige Geographie gefunden haben – beispiels-
Beispielhaft für diese seit mehreren Jahrzehnten kontinu- weise im Zusammenhang mit der Analyse von Haftum-
ierlich fortschreitende Transformation der Sanktionierungs- ständen im Kontext lebenslanger Freiheitsstrafen Richter et
und Verwahrungsumstände sind eine präventionsorientier- al., 2017) sowie staats- und strafrechtlichen Dimensionen
te Ausweitung polizeilicher Befugnisse sowie eine zuneh- von Versicherheitlichung (Hannah, 2006; Belina, 2009; Korf,
mende Risikoorientierung im nationalen wie internationa- 2009) oder unter Thematisierung der komplexen Verschnei-
len Strafrecht, welche die Implementierung einer Strate- dung von Armut als Ursache für Freiheitsentzug (Il-Tschung
gie der Kriminalitätsbekämpfung vorantreibt und konsoli- et al., 2017; Marquardt, 2019) –, stellte sich die gesellschaft-
diert, die sich nicht mehr (nur) auf die Abwehr konkreter liche Relevanz dieser vielfältigen Geographien des Ein- und
Gefahren oder die Aufklärung von vorangegangenen Straf- Ausschlusses in den vergangenen Jahren nicht zuletzt auch
taten beschränkt, sondern zunehmend algorithmenbasierte vor dem Hintergrund der juristischen Aufarbeitung nationa-
Präventions- und Verwahrungsmechanismen weit im Vorfeld ler wie internationaler Beteiligungsformen im Kontext des
tatsächlich begangener Straftaten propagiert (vgl. Krasmann, syrischen Bürgerkrieges paradigmatisch zur Schau (Klos-
2006:234; Munk, 2017). Diese Entwicklung überschneidet terkamp und Reuber, 2017). Paradigmatisch, weil hier die
sich mit ,westlichen‘ Risikonarrativen einer „globalized fear Feindfigur des ,islamistischen Terroristen‘ exakt jene Grenz-
of terror“ (Pain, 2009; Reuber und Strüver, 2012), und dies ziehung zwischen ,Regel‘ und ,Ausnahme‘, ,Innen‘ und ,Au-
spätestens seit der Zunahme (a) von islamistischen Anschlä- ßen‘ markiert, die für die fortschreitende Transformation von
gen in Europa und (b) den vermehrten Migrationsbewegun- Rechtsstaatlichkeit und Strafhaft unter dem Signum von Si-
gen aus den Krisen- und Konfliktregionen des Nahen Ostens. cherheit bezeichnend ist. Dies betont auch Krasmann im
Sie lässt außenpolitische Belange und Fragen der inneren Si- Kontext des ,Feindstrafrechts‘ (vgl. Krasmann, 2006:235).
cherheit vermehrt unter xenophoben, antimuslimischen Vor- Zwar gibt die Rechtsprechung im Zuge der Anwendung des
zeichen zum Gegenstand weiterer Debatten und Sagbarkei- neu eingeführten und ausgeweiteten § 129a des StGB sowie
ten im Feld der Kontrolle und Sicherheit werden (vgl. BT- seine Erweiterung um Taten im Ausland durch Hinzunah-
Drucksache 19/15668, 2019; Zöller, 2014). me des internationalen Völkerstrafrechts (nach § 1 VStGB)
Gerade in jüngerer Zeit warnen immer mehr Kolleg:innen vor, einen Ausschluss aus der Gesellschaft und eine Elimi-
der kritischen Geographie, Soziologie und Kriminologie vor nierung von politischen Feinden als Ausnahme zu regeln.
den vielfältigen Gefahren und Auswirkungen solcher Ten- Aber es ist „nicht die Ausnahme, die sich der Regel entzieht,
denzen (vgl. Belina, 2016; Dübgen und Mattutat, 2017; es ist die Regel, die, indem sie sich aufhebt, der Ausnah-
Loick, 2018; Egbert und Krasmann, 2019; Keitzel, 2020). me stattgibt“ (Agamben, 2002:28) und entlang neoorienta-
Dabei sind die Argumente, die dem aktuellen Trend po- listischer ,Freund‘- vs. ,Feind‘-Unterscheidungen durch das
lizeilicher Strafverfolgung und staatlicher Gefahrenabwehr Recht ihre Legitimation erfährt (vgl. Krasmann, 2006:235;
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Abb. 1. Strafgefangene und Sicherheitsverwahrte nach Altersgruppe sowie nach Art des Vollzugs (1995–2019).
Klosterkamp, 2020; sowie zur rechtlichen Einordnung: Zöl- ihnen verbundenen Haft- und Abschiebemodalitäten nach-
ler, 2014:403; Schlepper, 2014). zeichnen. So wurden im Rahmen eigener gerichtsethnogra-
Inwiefern eine solche Regelhaftigkeit bei der Abwehr ,ter- phischer Arbeiten mehr als 26 Prozesse vor fünf Oberlan-
roristischer Gefahrenlagen‘ in der Bundesrepublik bereits desgerichten (Düsseldorf, Stuttgart, Hamburg, München und
eingetreten ist und in Anlehnung an Simon als „Governing Celle) und zwei Landgerichten (Hamburg und Köln) an mehr
through Crime“ (2007) beschrieben werden könnte, verdeut- als 200 Präsenztagen teilnehmend beobachtet, protokolliert
licht die Zusammensetzung der Verwahrungsformen in deut- und im Hinblick auf ihre Anklageschriften, Verfahrensver-
schen Haftanstalten (vgl. Abb. 2). Während die Anzahl der läufe und Verurteilungen qualitativ ausgewertet1 . Die Proto-
inhaftierten Personen in der Tendenz insgesamt rückläufig kolle, die damit verbundenen Aktenbestandteile und die in
ist, befindet sich rund ein Fünftel der Grundgesamtheit in der Erhebung triangulierten Beobachtungen2 sind die Daten-
Untersuchungshaft (ebd.; vgl. auch Dübgen und Mattutat, grundlage, auf der die nachfolgenden Ausführungen basie-
2017:90). Ein überdurchschnittlich hoher Anteil der Unter- ren. Anhand ihrer zeige ich, dass die staatliche Gefahren-
suchungshaftinsass:innen sind dabei Angeklagte und hinrei- abwehr im Kontext des ,islamistischen Terrorismus‘ nicht
chend Verdächtige im Bereich der oben genannten Staats- zuletzt auch als Ausdruck einer rassifizierenden und verge-
schutzverfahren. Es sind gerade diese Verfahren, ihre beson- schlechtlichten Polizier- und Pönalisierungspraxis verstan-
deren Bestimmungen und die mit ihnen einhergehende über- den werden kann. Bei dieser Praxis wird in besonderer Wei-
durchschnittliche Verweildauer innerhalb der Haftanstalten, se die Anklage und temporäre Verwahrung vorrangig deklas-
die den Rechtsstaat in den letzten Jahren in besonderer Wei- sierter, migrantisch-männlich gelesener Personen begünstigt.
se herausforderten und trotz der Existenz unterschiedlicher
Risiko- und Gefahrenkonjunkturen eine besondere Aufmerk- 1 Für allgemeine Hinweise zum Projekt siehe auch: Kloster-
samkeit erfuhren. kamp und Reuber (2017), für eine methodische und forschungs-
Mit der Zunahme der Fälle und ihrer öffentlichen Prä- ethische Reflektion dieser Arbeit siehe: Faria et al. (2020), Klos-
senz mehrten sich auch die Forderungen nach härteren Stra- terkamp (2020).
fen und/oder aufenthaltsrechtlichen Konsequenzen (vgl. BT- 2 Trianguliert wurden die Prozessbeobachtungen in den oben ge-
Drucksache 19/20201, 2020; Zöller, 2014). Dass diese For- nannten Verfahren mit Aufenthalten in ethnographischen Neben-
derungen am Ende auch rechtswirksam vollzogen wurden, schauplätzen des Projektes, beispielsweise der Eröffnungsfeier am
lässt sich an einer vergleichenden Analyse deutscher Staats- OLG Stuttgart, Einladungen in Anwaltskanzleien oder den vielen
schutzverfahren aus den Jahren 2015 bis 2020 und den mit gemeinsamen Aufenthalten mit Familienangehörigen und ander-
weitig Assoziierten in den Wartebereichen der Gerichte.
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Abb. 2. Anzahl der Gefangenen und Verwahrten in den Justizvollzugsanstalten in Deutschland (2005–2019).
Dies ist die Folge eines komplexen Zusammenspiels aus kon- ren Beschaffenheit der Arenen ihrer rechtsprechenden Praxis
statierter Notwendigkeit sowie multiplen Wirkungszusam- (Abschnitt 3.2) vor allem die in ihnen wirkmächtig werden-
menhängen juridischer, disziplinarer und gouvernementaler den polizeilichen Vorfeldermittlungen und damit einherge-
Macht und dadurch angeleiteter Formen des institutionellen henden Fokussierungen auf bestimmte, ,fremd‘, ,andersartig‘
Ein- und Ausschlusses (Abschnitt 3). oder ,ideologisch-fundamental‘ gelesene Körper(-Praktiken)
Zum anderen wird durch die Hinzunahme der Si- (Abschnitt 3.3), die entscheidend für die Sanktionierungs-
cherungsverwahrung und der Möglichkeit asylrechtlicher und Verwahrungslogiken der staatlich-induzierten Gefahren-
(Folge-)Maßnahmen im Kontext dieser Verfahren eine Aus- abwehr sind, die aus ihnen hervorgehen.
weitung der Haftdauer bzw. (national-)staatliche Ausgren-
zungen sowohl ermöglicht als auch punitiv-praktisch vollzo-
3.1 Die diskursiv-normative Dimension: Strafvollzug und
gen, wodurch nicht zuletzt das ,resozialisierbare Eigene‘ vom
Strafverfahren als ,notwendiges‘ Mittel im Kampf
,bedrohlichen Anderen‘ auch mit und durch Haft klassifiziert
gegen den internationalen Terrorismus
und festgeschrieben wird (Abschnitt 4).
Handlungsleitend sowohl für die Art und Weise, wie Ge-
richtsgebäude im Bereich des Staatsschutzes ausgestaltet
3 Dimensionen staatlicher Gefahrenabwehr sind, als auch für die Frage, wer in diesen Arenen als ,Gefahr
für die innere und äußere Sicherheit‘ gelesen und angerufen
Wie im vorangegangenen Abschnitt aufgezeigt, verschiebt wird, sind jene (Risiko-)Diskurse, die im Nachgang zu 9/11
sich mit der strategischen Fokussierung auf die Vorwegnah- eine besondere Wirkmächtigkeit entfaltet haben (vgl. Reu-
me einer Gefahr häufig ihr Gegenstand – dies nicht zuletzt ber und Strüver, 2012; Klosterkamp und Reuber, 2017). Als
da, wo die Gefahr klassifiziert und eingehegt wird. Dies „globalized fear“ (Pain, 2009:467) vor terroristischen An-
gilt in besonderer Weise für Institutionen des gesellschaft- schlägen finden sie dabei nicht nur Eingang in die Legitima-
lichen Ein- und Ausschlusses, beispielsweise Gefängnisse tionsschablonen internationaler Interventions- und Verteidi-
und die ihnen vor- und nachgelagerten Rechtsinstanzen in gungskriege des globalen Westens, sondern werden als (geo-
Form von Gerichten, in denen die Aushandlung und Anru- )kulturell wie (geo-)politisch aufgeladene Sicherheits- und
fung von (Un-)Freiheit und (Un-)Sicherheit gleichermaßen Risikonormierungen (vgl. Hannah, 2006; Korf, 2009) auch
als Foucault’sche Instrumente einer ,Fremd‘- und ,Selbstfüh- national-staatlich herangezogen, und zwar für die Errichtung
rung‘ gelesen werden können (Foucault, 1994 [1976]:16 f., und Inbetriebnahme entsprechender Sonderbauten. So heißt
2004 [1977–1978]), die letztendlich als ,Dispositive der es in einer der ersten Kosten-Nutzen-Evaluationen der Au-
Macht‘ (Foucault, 1978:119 f.) zu einem Regieren und Ein- ßenstelle des Oberlandesgerichtes Düsseldorfs:
hegen pönalisierungsbedürftiger Rechtssubjekte führt (Si-
mon, 2007). Dieses Wechselspiel aus juridischer, diszipli- In der Vergangenheit sind wiederholt Stimmen laut
narer und gouvernementaler Macht wird aktuell vor allem geworden wie: Ist ein solch kostspieliges Prozess-
im Bereich der juristischen Aufarbeitung in- wie ausländi- gebäude überhaupt erforderlich? Ist ein solcher
scher Beteiligungshandlungen im Kontext des Syrienkrieges Bau in Zeiten knapper Kassen überhaupt zu verant-
offenkundig. So sind es neben den Risikonarrativen eines worten? Diese Fragen muss ich uneingeschränkt
,islamistischen Terrorismus‘ (Abschnitt 3.1), der besonde- mit ,ja‘ beantworten. Die tragischen Ereignisse des
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11. September 2001 haben uns die immense Ge- geschoben oder resozialisiert werde, um „Deutschlands Stra-
fährdungslage globalen Ausmaßes klar und deut- ßen, Weihnachtsmärkte und Konzertsäle jetzt und in Zukunft
lich vor Augen geführt [. . . ]. Auch in diesen Fällen wieder zu sicheren, [zu] angstfreien Plätzen werden zu las-
hat die Justiz die Aufgabe, den staatlichen Straf- sen“ (M3, 3. Juli 2018:14). Wie dieser Legitimationsrhetorik
anspruch durchzusetzen. [. . . ]. Dazu gehört es aber in Plädoyers und Anklageschriften der Exekutive4 entnom-
auch, die Sicherheit der Prozessbeteiligten und der men werden kann, geht es immer auch um die Reifizierung
von diesen Verfahren betroffenen Bevölkerung zu der Notwendigkeit der Verfahren selbst, die mit jedem Ur-
garantieren. Diese Sicherheit kann es nicht zum teil und jedem Vorzeigen und Benennen sanktionierungsbe-
Nulltarif geben (Paulsen, 2006:95). dürftiger Individuen ein Staatsschutzverfahren zu einem be-
sonders wirksamen Instrument zur Herstellung nationaler Si-
Diese normativ-diskursiven Logiken der Herstellungsbe- cherheit werden lässt (D7, 23. November 2016:3 f.).
dingungen von Sicherheit durch die umfassende Bekämp- Die systematische Gesamtheit aus ,Bedingungen‘, ,Ereig-
fung eines als ,islamistisch‘ verstandenen Terrorismus im In- nissen‘ und ,Dingen‘ definiert Foucault als „Archiv“ (Fou-
und Ausland wiederholen sich ständig. Sie werden nicht nur cault, 1981 [1969]:186 f.). Das Archiv formiert für die Be-
für die Legitimation besonders umfangreicher Steuerausga- dingungen von Aussagen einen Rahmen, der zu erklären
ben herangezogen, sondern sind auch das zentrale Begrün- hilft, warum Aussagen in aller Klarheit ausgesprochen, an-
dungsmoment der staatlichen Einhegung derjenigen, die die dere dagegen niemals explizit werden (vgl. ebd.). Als ,Ka-
Ordnung und Sicherheit zu gefährden drohen. Betont wird talysator des Sagbaren‘ besteht es im Bereich des Staats-
die Dringlichkeit „einer konsequenten und effektiven Straf- chutzes aus eben jener normativ-diskursiven Risikonormie-
verfolgung etwaiger Anschläge im In- und Ausland“ (D6, rung eines als ,islamistisch‘ verstandenen ,Terrorismus‘, der
6. September 2016:4)3 . Dabei wurde nicht zuletzt vor allem durch emotional-affektiv aufgeladene, (geo-)kulturelle und
seine prominenteste Ausgeburt, der selbsternannte ,Islami- (geo-)politische Leit- und Feindbilder des ,Eigenen‘ und des
sche Staat‘ (IS), zur Zielscheibe und Orientierungsgröße für ,Fremden‘ und der Fokussierung auf sie bedienende Körper
die Sanktionierungs-, Beurteilungs- und Verwahrungspraxis verstärkt wird. Durch das spezifische Zusammenspiel von
seiner Mitglieder und Sympathisant:innen. Quasi zur Stan- disziplinierender Architektur und Subjektanrufungen wirken
dardeinleitung entsprechender Urteilsbegründungen der ver- diese Horizonte des Sag- und Erwartbaren in den Arenen
gangenen fünf Jahre avancierte, dass der IS, „wie keine an- richterlicher Wahrheitssuche zum anderen auch an der Ko-
dere Organisation in jüngster Zeit, dem internationalen Ter- Konstitution des Rechtssubjekts ,Terrorist‘ mit. Hier kumu-
rorismus ein neues Gesicht“ (D7, 23. November 2016:2) ge- lieren sie und leiten so die dauerhafte Verwahrung der einen
geben habe. Nun ist es genau diese Organisation, obwohl nur und eine zumindest für möglich erachtete Resozialisierung
eine unter vielen, die nach den einstürzenden Türmen des der anderen als staatliche Einhegung ,abstrakter‘ Gefahren
World Trade Centers mit ihren wehenden schwarzen Fah- an (vgl. Simon und Feeley, 1992:452; Simon, 2007).
nen, bewaffneten Menschen auf Pickup-Trucks und gelade-
nen Maschinengewehren als prominenteste Referenz interna-
tionalen Terrorismus Einzug in die ,große Erzählung‘ natio- 3.2 ,Form follows function‘: Die baulich-materielle
naler Regulations-, Präventions- und Verteidigungsansinnen Dimension von Staatsschutzprozessen
im Namen einer ,Gefahrenabwehr‘ hält, die auch „vor den
Diese Einhegung wird durch gesellschaftliche Institutionen
eigenen Landesgrenzen keinen Halt machen k[ö]nn]e/und
des Ein- und Ausschlusses materialisiert. Zu ihnen gehö-
d[ü]rf[e]“ (M2, 6. September 2016:69).
ren die Justizvollzugsanstalten und die mit ihnen legitima-
Die Vielfältigkeit seines Wirkens, die besondere Brutalität
torisch wie prozessual eng verwobenen Strafprozessgebäu-
seiner Anschläge sowie die (juristische) Betonung der Ge-
de des Staatsschutzes. Zumeist angesiedelt an den Rändern
wissheit, dass neben etlichen ausländischen auch eine Viel-
der Stadt sowie versehen mit Hubschrauberlandeplätzen,
zahl deutscher Staatsbürger:innen in seinen Reihen zu finden
verschiedenen Ein- und Ausfahrtsschneisen, Kontroll- und
ist, deren länderübergreifende Vernetzung und zunehmende
Wachposten sowie meterhohen, mehrfachreihigen Flucht-
Rückkehr in ihre jeweiligen Ursprungsländer bereits seit län-
und Zugangsbarrieren, eint beide Gebäudearten eine sicher-
gerem beobachtet und strafrechtlich verfolgt wird, sind ge-
heitsbetonte Architektur, die sich gerade in den letzten Jah-
rade jene diskursiven Knotenpunkte, die Verfahren im Be-
ren vermehrt auf die (temporäre) Verwahrung und Verbrin-
reich des Staatsschutzes zu einer gesellschaftlichen Notwen-
gung hinreichend Verdächtiger solcher Terrorismusverfah-
digkeit werden lassen. Es geht um die Beteuerung, dass das
ren sowie der Gewährleistung der damit in Verbindung ste-
Schädliche unschädlich gemacht, lange genug verwahrt, ab-
henden verschärften Sicherheitsregularien auszurichten hatte
3 Diese Referenz bezieht sich auf das dieser Publikation zugrun- (vgl. Abb. 3, Bild 1). Aufgrund der Fülle an Verfahren und
de liegende Datenmaterial unter Angabe der internen, hier anony-
misierten Verweisstruktur mit Nennung von Datum und Seitenzahl 4 Hier ausgeführt durch den Generalbundesanwalt, der polizei-
des jeweiligen Transkripts bzw. Aktenbestandteils im Kontext der liche Ermittlungen im Bereich des Staatsschutzes anleitet und vor
ausgewerteten Staatsschutzverfahren. den Staatsschutzsenaten Klage führt.
https://doi.org/10.5194/gh-76-205-2021 Geogr. Helv., 76, 205–219, 2021210 S. Klosterkamp: Geographien des Ein- und Ausschlusses Abb. 3. Sicherheit und Architektur – Staatsschutzgebäude in Deutschland. Hier: das Oberlandesgericht Düsseldorf (links und rechts) sowie das Oberlandesgericht Stuttgart-Stammheim (mittig). dem daraus resultierenden Umstand, dass nur wenige Haftan- festiert und die den Prozess richterlicher ,Wahrheitsfindung‘ stalten diese Sicherheitsbestimmungen (inkl. der gesonder- und Sanktionierung ko-konstitutiv begleiten und anleiten: So ten Umschluss-, Transport- und Besuchsregularien) für die sei neben der Höhe und Ausgestaltung etwaiger Bepolste- in der Regel mehr als ein Jahr andauernde Untersuchungs- rungen, Arm- und Rückenlehnen sowie das An- und Able- haft erfüllen (können), müssen viele der Untersuchungshaf- gen von Hand- und Fußfesseln (nach richterlicher Anord- tinsass:innen mehrmals die Woche umverlegt oder zu den je- nung) auch auf symbolisch-funktionale Kleidungs- und Aus- weiligen Prozessgebäuden gesondert transportiert werden – rüstungsgegenstände verwiesen (beispielsweise Schlagstö- sei es für das eigene Gerichtsverfahren, laufende Haftprü- cke und Sicherheitswesten für Bedienstete sowie der Einlass fungsentscheidungen oder weil sie im Zuge einer Aussage mit Schreibunterlagen, Getränk und Elektronik nur für Jour- in anderen Verfahren als Zeug:innen (vor-)geführt werden. nalist:innen, nicht aber für Angehörige), in denen sich die Wie Alex Jeffrey betont, sind es dabei nicht nur die vorgegebenen Rollenzuweisungen und damit verbundenen öffentlich-sichtbaren Insignien der Kontrolle und Überwa- (De-)Privilegierungen auch physisch bis in den Gerichtssaal chung, sondern auch eine „series of unseen infrastructures“ hinein pausen. Sie dienen im Sinne einer „Macht der mil- (Jeffrey, 2019:565), die den besonderen Charakter staatli- den Mittel“ (Foucault, [1976] 1994:173 f.) öffentlichkeits- cher Straf- und Verwahrungsprozeduren und ihre machtge- wirksam als Subjektivierungs- und Distinktionsvorlagen für ladene, rechtsprechende Praxis begleiten, unterstützen und ,Staat‘ vs. ,Delinquent:in‘ im Verhandlungssaal sowie ,Ver- verstärken. Wirkmächtig und erfahrbar wird dies durch ein trauten‘ vs. ,Misstrauten‘ im Besucherraum. Zusammenspiel aus Gepäck- und Personenkontrolle beim Die Gebäude sind allerdings nicht nur in ihrer inneren, Einlass, durch ein von verbautem Spiegelglas und Kame- sondern auch in ihrer äußeren Funktion der materialisier- ras evoziertes Gefühl permanenter Überwachung sowie ganz te Ausnahmezustand einer „Geographie der Angst“ (Korf, allgemein einer Omnipräsenz der „technology that facilita- 2009:152). Sowohl hinsichtlich ihrer architektonischen Aus- tes [. . . ] the recording of ambient noise in the wider court gestaltung als auch bei der Frage nach dem ,Wo‘ ihrer Er- building, and the silencing effect of the securitized plastic richtung werden verhaltenssteuernde Aspekte einer zu diszi- dock“ (ebd.) im Saalinneren, die in besonderer Weise zur plinierenden Bevölkerung baulich berücksichtigt und in der Selbst- und Fremdführung der Anwesenden sowie der zur tagtäglichen Ausführung bedient. So hieß es beispielsweise Verhandlung vorgeführten ,delinquenten Anderen‘ beitragen bei der Eröffnungsfeier des Prozessgebäudes am Oberlan- (vgl. Abb. 3, Bild 2 + 3). Während gerade der letzte Um- desgericht Stuttgart-Stammheim im Mai 2019, dass nicht zu- stand, das Panzerglas, in deutschen Staatschutzprozessge- letzt deswegen für einen Neubau in unmittelbarer Nähe zur bäuden die Angeklagten in mehrfacher Hinsicht von dem gleichnamigen Justizvollzugsanstalt entschieden worden sei, Rest des Saals abtrennt, sie abschirmt und als solches von weil „allein diese Stadtrandlage [. . . ] davon ab[halte], dass Organen der Rechtspflege immer wieder als besonderes Hin- allzu viel Protest, allzu viel Demonstrationen, allzu viel Auf- dernis und Wesensmerkmal dieser Verfahren hervorgehoben lauf da sind, das ist ja ganz anders, wenn man die Verfah- wird (D4, 3. Februar 2016:1; D7, 5. Oktober 2017), kön- ren in unserem Stammhaus in der Innenstadt [durchführe]“ nen dieser Aufzählung aus der Vielzahl der Prozesse wei- (M5, 29. Juni 2019:5). Was die physische Distanz zur Stadt tere Aspekte hinzugefügt werden, in denen sich die Zur- für die gouvernementale Sicherung nach Außen bewirken schaustellung staatlicher Macht auch materiell-baulich mani- soll, verspricht man sich auch für das Innere des Gebäudes, Geogr. Helv., 76, 205–219, 2021 https://doi.org/10.5194/gh-76-205-2021
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und zwar durch die funktionale Trennung der Personengrup- lich finanzierten Gebäuden Deutschlands mit muslimischem
pen und Zugangsbereiche: Publikumsverkehr gänzlich unbeachtet blieben (D12, 8. Ju-
li 2018), beispielsweise in Schulen oder Asylunterkünften.
Das zugrunde liegende Konzept war völlige Ver-
Die Zusammenschau dieser Alltags- und Erfahrungswel-
änderung der öffentlichen und nicht-öffentlichen
ten sowie die dichte Beschreibung der auf unterschiedlichen
Bereiche. Das heißt, in der Regel kommt KEI-
Ebenen wirkmächtigen, panoptischen Risikonormierungen
NER aus dem öffentlichen Bereich in den nicht-
und -einhegungen ermöglicht „[. . . ] an understanding of the
öffentlichen Bereich. Das sind einfach Sicherheits-
dynamism of architecture, not as a static form but as a series
überlegungen. Deswegen auch diese Wand [deutet
of processes that enmesh the material, corporeal and affec-
auf das Panzerglas]. Im Altbau war da nichts. Das
tive“ (Jeffrey, 2019:570). Diese produktiven ,Mechanismen
heißt, wenn da Skandale befürchtet wurden, muss-
der Macht‘ bezeichnet Foucault als „Mikrophysik“ (vgl. Fou-
te man mit zehn, fünfzehn Wachmeistern den Be-
cault, 1994 [1976]:38, 40, 178, 191, 207). Sie begründen
reich von Zuschauern und Gericht absichern. Heu-
– wie im Folgenden verdeutlicht werden soll – nicht zu-
te kann diese Gefahr unter Umständen selbst bei
letzt auch die unterschiedlichen (gouvernementalen) Herstel-
sicherheitsrelevanten Verfahren mit ein oder zwei
lungsweisen von Subjektkonstitutionen in und durch diese
Wachmeistern verfolgt werden (ebd.).
Verfahren. Sie sind in der Form von „Mikropraktiken“ (ebd.)
Während sich damit die beiden größten bundesdeutschen allgegenwärtig, die – gemeinsam mit den genannten Risiko-
Standorte Düsseldorf und Stuttgart in ihrer Foucault’schen diskursen – die Strafverfolgung der hier Angeklagten und
Ausrichtung eines hierarchisch wie funktionell aufgeteilten, Verurteilten anleiten.
panoptischen Disziplinarraums (Foucault, 1994 [1976]: 183,
187, 191, 251 ff., 2004 [1977–1978]:76) grundlegend äh- 3.3 ,Die Körper der Verurteilten‘: Zur rassifizierten und
neln, die das Ziel der Minimierung von Unordnung verfolgt, vergeschlechtlichten Dimension staatlicher
eint beide Gebäude noch ein weiteres Element dieser si- Gefahrenabwehr
cherheitsbedachten wie Sicherheit hervorbringenden Form
staatlicher Rechtsprechung. Denn obwohl diese hochgesi- So wie die antizipierte Zuschauer:innenschaft in den Verfah-
cherten Prozesssäle prinzipiell für Verfahren gegen alle For- ren ist auch die für eine Verurteilung zu überprüfende Person
men von staatlich definiertem Terrorismus Anwendung fin- in der Regel eine ,männliche‘ und vorwiegend ,muslimisch-
den, wurde in ihrer älteren, aber auch jüngeren Ausgestaltung migrantisch‘ gelesene. Während dieser Umstand zum einen
wohl vor allem an ein dezidiert muslimisch-praktizierendes der generellen Tendenz deutscher Haft- und Verwahranstal-
und genuin ,männliches‘ Publikum gedacht. So sind auf den ten entspricht, in denen überproportional mehr Männer als
Herrentoiletten sowohl in dem Düsseldorfer Prozessgebäu- Frauen sowie mehr deklassierte als privilegierte Menschen
de von 2004 als auch im Stammheimer Neubau Gelegenhei- freiheitsentziehend verwahrt werden (vgl. Abb. 2; Il-Tschung
ten für rituelle Fußwaschungen verbaut (vgl. Abb. 3, Bild 4). et al., 2017; sowie für den Zusammenhang von Geschlecht
Sie veranschaulichen, wie sich stereotype Zuschreibungen und Strafvollzug: Rodriguez et al., 2006; Schliehe, 2014),
nicht zuletzt bis in die architektonische Ausgestaltung der verdeutlicht er auch im Hinblick auf die mit ihm verbun-
Sanitärräume pausen. Bei der teilnehmenden Beobachtung denen Techniken des Polizierens das, was Singelnstein als
und während gemeinsamer Pausenaufenthalte kommentier- „Confirmation Bias“ (Singelnstein, 2016:830) für die Ar-
ten dies die vorrangig muslimisch-praktizierenden weibli- beit deutscher Strafverfolgungsbehörden und ihre gerichts-
chen Besucherinnen unter Verweis auf das Fehlen von Pen- relevanten ,Outcomes‘ konstatiert: So würden Gerichte und
dants in den Damentoiletten und der funktionalen Trennung Staatsanwaltschaften zu einem großen Teil vermehrt eben je-
zwischen ritueller Waschung und Sanitäranlagen zumeist als ne Personengruppen mit Haft- und Bewährungsstrafen be-
„widersprüchlich“ (D10, 22. Dezember 2016:1), gar „zy- legen, gegen die im Zuge von ,Rasterfahndungen‘ gezielt
nisch“ (D10, 18. Januar 2017:21) oder als „gut gemeint, aber und überproportional stark ermittelt worden sei, gepaart mit
fehlplatziert“ (D4, 25. Mai 2016:1). Viele von ihnen verwie- einem ,Preventive Policing‘, angeleitet durch polizeiliche
sen zudem darauf, dass eine adäquate Ausrichtung für Ge- Kontroll- und Risikoanalysen (ebd.). Ein Auffinden und Ver-
bete im Wartebereich nur erschwert möglich sei. Der War- urteilen potenzieller ,Normen- und Regelbrecher‘ verstärke
tebereich sei einzig für Publikumsverkehr zugänglich, aber dabei diese Tendenzen, die sich dann als Bestätigungsfehler
nicht mit Sichtelementen ausgestattet (D4, 6. April 2017). auf andere Verfahren desselben Delinquenzbereichs auswir-
Hier fühlten sie sich für das Abhalten von Gebeten ohnehin ken und hierdurch eine rassifizierende und klassenbezoge-
durch Kameras und andere Prozessbeobachter:innen unnö- ne Strafverfolgungspraxis sowohl ermöglichen als auch de-
tig beobachtet bis gestört (D4, 16. Februar 2017). Sie mach- zidiert verstärken (Singelnstein, 2016:832; sowie für Preven-
ten ferner deutlich, dass sie das (partielle) Platzieren ritueller tive Policing: Belina, 2016; Egbert und Krasmann, 2019).
Waschgelegenheiten nicht zuletzt auch deshalb als (weitere) Genau diese Tendenz zeichnet sich in besonderer Wei-
Form institutioneller Rassifizierung ansähen, weil nach ih- se auch im Bereich des Staatsschutzes ab. Wie auch Kras-
ren Erfahrungen solche Vorrichtungen in allen anderen staat- mann betont, werden hier am Ende „nicht bestimmte Per-
https://doi.org/10.5194/gh-76-205-2021 Geogr. Helv., 76, 205–219, 2021212 S. Klosterkamp: Geographien des Ein- und Ausschlusses Abb. 4. Wellen deutscher Staatsschutzverfahren vor dem Hintergrund deutscher und ausländischer Beteiligungshandlungen im Kontext des syrischen Bürgerkrieges (2015–2020). sonen [. . . ] gesucht, sondern Typen“ (Krasmann, 2006:240). mengelage aus behördlich abgeleitetem Bedrohungspotenzi- Ermöglicht und verstärkt wird diese Entwicklung durch al und konstatiertem Handlungsbedarf. Dies geschieht spä- die Rechtsauffassung selbst, die den Verfahren zugrunde testens seit der Ausweitung dieser Verfahren um Taten sy- liegt: Während Jurist:innen wie Zöller betonen, dass es rischer Staatsbürger:innen nicht unter ,objektiven‘, sondern in Deutschland „keinen Sonderstrafrahmen für Terroristen vor allem dezidiert geschlechtsbasierten sowie rassifizier- [gibt]“ (Zöller, 2014:403), gelten die sog. Vereinigungsde- ten Vorzeichen: Während von der Vielzahl der aus Deutsch- likte der §§ 129a + b StGB „als Paradebeispiel für Strafnor- land nach Syrien Ausgereisten rund 25 % weiblich und die men, die abstrakt gefährliche Verhaltensweisen im Vorfeld meisten von ihnen deutsche Staatsangehörige sind (vgl. BT- von organisierter und terroristisch motivierter Kriminalität Drucksache 19/20201, 2020:2), erschienen nur die wenigsten unter Strafe stellen“ (ebd.:406). Pönalisiert werden bestimm- trotz eigener, teils längerfristiger und ebenso relevanter Be- te Mitwirkungshandlungen in Bezug auf kriminelle sowie teiligungshandlungen als Angeklagte, sondern lediglich als terroristische Vereinigungen – im Inland und im Ausland. Zeug:innen in den entsprechenden Staatsschutzverfahren. So Wie Zöller dabei hervorhebt, würden die jeweiligen Indivi- sind von den bislang mehr als 2461 laufenden Strafverfahren duen in diesem Kontext allerdings nicht bestraft, weil sie im Kontext des syrischen Bürgerkrieges mehr als 2275 Ver- als Teil einer Gruppierung Straftaten tatsächlich begangen fahren gegen Personen mit einer anderen als der ausschließ- hätten, sondern kriminalisiert werden stattdessen Verhaltens- lich deutschen Staatbürger:innenschaft gerichtet, von denen weisen „wie die Gründung, die mitgliedschaftliche Beteili- sich lediglich 67 Verfahren auf weibliche Beschuldigte be- gung, die Unterstützung und das Werben um Mitglieder und ziehen (vgl. ebd.; BT-Drucksache 19/6684, 2018:4 f.). Mit Unterstützer für eine Vereinigung, deren Tätigkeit auf die Blick auf diese Zahlen lässt sich konstatieren: Staatsgefähr- Begehung von Straftaten gerichtet ist. Ob diese Gruppierung dender Terrorismus islamistischer Lesart ist aus Sicht von bislang überhaupt schon Straftaten begangen hat oder jemals Strafverfolgungsbehörden vor allem ein ,männliches‘ und begehen wird, spielt dabei keine Rolle“ (ebd.). ,von außen‘ importiertes Phänomen, wobei die damit zu- Relevant für die strafrechtliche Verfolgung und somit für sammenhängende Ermittlungsarbeit vorwiegend rassifizier- die entsprechende (Sicherungs-)Verwahrung ist somit nicht ten und geschlechtsbezogenen Logiken zu folgen scheint ausschließlich die Tat selbst, sondern vielmehr eine Ge- (vgl. auch: Klosterkamp, 2020:6). Geogr. Helv., 76, 205–219, 2021 https://doi.org/10.5194/gh-76-205-2021
S. Klosterkamp: Geographien des Ein- und Ausschlusses 213
Als Resultat dieser Ermittlungen lassen sich für die Jah- triebene Ängste abzubauen und präventives Handeln zu för-
re 2015 bis 2020 insgesamt drei Wellen von Anklagen im dern, [. . . ] dient [die andere] dazu, den Kriminellen zu dä-
Bereich des Staatsschutzes identifizieren, die die vorliegen- monisieren, die in der Bevölkerung verbreiteten Ängste und
den Strafverfolgungstendenzen sowie -divergenzen pointiert Ressentiments auszuagieren und Unterstützung für staatliche
zusammenfassen (vgl. Abb. 4). Ich unterteile sie nach Jahr, Strafmaßnahmen zu erhalten“ (ebd). Der durch die Verfahren
Geschlecht sowie Nationalität der jeweiligen Angeklagten: hergestellte Zuschnitt auf die intersektional unterschiedlich
Für den Zeitraum 2015 bis 2016 liegt ein Schwerpunkt positionierten (Rechts-)Subjekte führt dabei aktuell zu zwei
der Strafverfolgung auf männlichen deutschen∗5 Syrien- unterschiedlichen Logiken der Verwahrung. Sie werden im
Rückkehrern. Ab 2017 lässt sich eine zweite Welle an Ver- Folgenden als ,Besserung der Besserungsfähigen‘ bzw. ,Ver-
fahren feststellen, die vor allem mit der Verschärfung des wahrung der Unverbesserlichen‘ bezeichnet. Aufgrund die-
Konfliktgeschehens in Syrien und damit vermehrten Flucht- ser Logiken sind die Urteile damit mehr für die Gesellschaft
und Migrationsbewegungen aus Syrien, dem Irak sowie Af- und mehr als die Sanktionierung von Verbrechen: Mit ihnen
ghanistan in Verbindung zu bringen ist. Zugleich und bei wird der Bereich des Staatsschutzes verlassen und eine staat-
rückläufiger Tendenz von Anklagen gegen männliche deut- lich induzierte Bevölkerungspolitik angeleitet, die die ,Bes-
sche* Staatsangehörige kam es in den Jahren 2018 und 2019 serungsfähigen‘ von den ,Schädlichen‘ sowohl identitätspo-
zu einem politischen Richtungswechsel und somit zu einer litisch wirksam klassifiziert als auch regulierend aussortiert.
vermehrten Strafverfolgung auch deutscher∗ Frauen, die im
Nachgang eigener Syrienaufenthalte nun ebenfalls angeklagt 4.1 ,Besserung der Besserungsfähigen‘ – Zur
und verurteilt wurden. Sie bilden somit eine dritte, wenn Relationalität von Haft und Haftumständen
auch deutlich geringere Welle innerhalb dieser Typisierung,
die in der Tendenz aber bis heute weiter ansteigt (vgl. BT- Recht ist weder statisch noch persistent, sondern wandel-
Drucksache 19/11907, 2019). bar und stets abhängig von gewissen Zeitlichkeiten und den
Alle Angeklagten eint vor allem die Erfahrung, als Mit- Gegenständen, auf die es angewandt werden soll. So unter-
glieder und/oder Unterstützer:innen von Vereinigungen ge- liegt auch die Frage, ,wer‘ oder ,was‘ als Beteiligung an
lesen zu werden, die als ,terroristisch‘ klassifiziert werden. einer ,terroristischen Vereinigung‘ gemäß deutscher Recht-
Dies hatte entsprechende Ermittlungen, Durchsuchungsmaß- sprechung gilt und einer freiheitsentziehenden Verwahrung
nahmen und Vernehmungen zur Folge. Jedoch unterscheiden und Sanktionierungsmaßnahme bedarf, zeitlichen Schwan-
sich die Beschuldigtenvorgänge und Verwahrungstendenzen kungen und (Dis-)Kontinuitäten. Richtungsweisend für die
zugleich ganz grundsätzlich in der Art und Weise, inwie- Strafverfolgung von Organisationen, die als ,terroristische
fern ihre Körper in den anschließenden Gerichtsprozessen als Vereinigungen‘ klassifiziert werden, ist in Deutschland das
prinzipiell ,resozialisierbar‘ und ,mündig‘ gelesen und wel- Ministerium für Justiz und Verbraucherschutz, das entspre-
chen eben jene Potenziale in und durch diese Verfahren ab- chende Strafverfolgungsermächtigungen ausgibt, aktualisiert
gesprochen wurden. und/oder, in selteneren Fällen, verwirft. Durchgesetzt und als
Recht wirksam werden diese Strafverfolgungsermächtigun-
gen in den Arenen richterlicher Praxis. Hier fanden gerade
4 Haftbestimmungen und Hafttypologien im Bereich
in den vergangenen Jahren und im Kontext Syrien mitglied-
der Terrorismusabwehr als Vorzeichen einer New
schaftliche Beteiligungshandlungen und Unterstützungsleis-
Penology?
tungen sowohl für den ,Islamischen Staat im Irak und Groß-
syrien‘ (ISIG/IS) als auch für die Vereinigungen Anwen-
Im vorangegangenen Abschnitt wurden unter Anleitung ei-
dung, die mit ihm teils kooperierten, teils rivalisierten. Ju-
ner Foucault’schen Perspektive auf Strafverfahren die zen-
ristisch bewertet und bestraft wurden dabei nicht nur Aus-
tralen Dimensionen staatlicher Disziplinierung skizziert, die
reisen und Aufenthalte ins Ausland, sondern auch erfolg-
sich für den Staatsschutz, seiner ihn anleitenden Risikodis-
reich ausgeführte oder vereitelte Anschläge im Namen der
kurse, Bauweisen und hier vorgeführten Köper vorwiegend
Vereinigungen im deutschen Inland (vgl. beispielsweise BT-
als Antwort auf eine als ,männlich‘ und ,islamistisch‘ ima-
Drucksache 19/20201, 2020:2 f.).
ginierte Bedrohungslage formierten. Nun soll im Rückgriff
Eine Auswertung von mehr als 26 solcher Verfahren6
auf Garland (2008) und der damit verbundenen Typenbil-
unter Zuhilfenahme der ihnen zugrunde liegenden Ankla-
dung entlang empirischer Beispiele aufgezeigt werden, wie
sich in und durch Gerichtsverfahren verschiedene Momente 6 Angeklagt wurden in den 26 Verfahren zusammengenommen
einer ,Kriminologie des Selbst‘ vs. einer ,Kriminologie der insgesamt 46 Personen – 10 Frauen und 36 Männer deutscher wie
Anderen‘ (Garland, 2008:253) entfalten und durch Haft zu- ausländischer Staatsbürgerschaft. Die Fallauswahl ist damit fast er-
einander ins Verhältnis setzen. Während die eine beschwo- schöpfend in Bezug zur Gesamtanzahl aller bislang durchgeführten
ren wird, „um Kriminalität zur Routine zu machen, um über- Verfahren der Jahre 2015 bis 2020, die sich auf insgesamt 33 Staats-
schutzprozesse gegen 55 Personen beziffern lässt (vgl. beispiels-
5 ,deutsch∗ ‘ meint hier das Vorliegen der deutschen und ggfs. ei- weise BT-Drucksache 19/5648, 2018:15 sowie das Onlinearchiv des
ner weiteren Staatsbürgerschaft. Generalbundesanwalts).
https://doi.org/10.5194/gh-76-205-2021 Geogr. Helv., 76, 205–219, 2021214 S. Klosterkamp: Geographien des Ein- und Ausschlusses Abb. 5. Haftdauer und Verwahrungslogiken von am syrischen Bürgerkrieg beteiligter Personen deutscher wie ausländischer Staatsbürger- schaft der Jahre 2015–2020. gen, Prozessverläufe und der in ihren Kontext eingebette- Vereinigungen nur durch die besonders lange, intensive (ei- ten Polizier- und Verwahrstatistiken der Jahre 2015 bis 2020 gene) Einbindung in Geheimoperationen, Anschlagsplanun- zeigt: Haft- und Sanktionsbestimmungen werden in und gen oder Ausbildungsstätten durch die jeweiligen Preisge- durch diese Prozesse in mehrfacher Hinsicht relational ver- ber:innen hervorgebracht werden kann. handelt, bewertet und verfügt – je nach richterlicher Lesart Diese verschiedenen Wissensbestände um individuelle der zur Bewertung Vorgeführten. Diese Relationalität unter- Unterstützungs- und Kampfhandlungen stießen im Nach- schiedlicher Härten für vergleichbare Straftaten zeigt sich gang weitere Strafverfolgungen an. Sie wirkten sich straf- in besonderer Weise in den in anderen Verfahrenskontexten verschärfend für die neu Angeklagten und strafmildernd für als ,Kronzeugen‘ Bezeichneten. Sie bilden hier den ersten die Überbringenden aus. Gerade Letztere erhielten für ih- Grundpfeiler für den Vergleich von Haftumständen, die aus re eigenen Strafprozesse gänzlich neue Prozessvorzeichen. eben solchen Strafverfahren resultierten (vgl. Abb. 5). Wie an So wurden bereits während ihrer Untersuchungshaft, spätes- anderer Stelle bereits ausführlicher dargestellt, sind es gerade tens aber zu Prozessbeginn die Trennscheibenverordnung fal- diese Kronzeug:innen, die sich als „Prototypen der Resozia- len gelassen, die Prozesse selbst mit einer Länge von zwei lisierbarkeit“ (Klosterkamp und Reuber, 2017:265) präsen- bis zehn Verhandlungstagen erheblich verkürzt und auf ein tieren: Sie antworten, was von ihnen erwartet wird, nennen Vorführen der Angeklagten in Hand- und Fußfesseln meist bereitwillig dringend benötigte Personen- und Situationsbe- gänzlich verzichtet. Diese besonderen Lockerungen im Ab- schreibungen und präsentieren sich dezidiert ,westlich‘ ge- lauf der Verhandlungen pausten sich auch auf die jeweiligen kleidet und kooperativ. Dies tun sie auch deshalb, um sich Haft- und Verwahrungsbedingungen durch, wie die jeweili- ihr Verhalten entlang der Achsen richterlicher Erwartungen gen Strafsenate offen verbalisierten: Zwei der 46 Angeklag- durch die Organe der Rechtsprechung vergüten zu lassen – ten wurden unmittelbar nach der Urteilsverkündung mit ei- nämlich mit verkürzten Haftdauern (vgl. ebd., Abb. 5). Wo ner Bewährungsstrafe und mindestens fünf unter Auflagen die Gesetzgebung ein Strafmaß zwischen ein und zehn Jah- in die Freiheit entlassen. Für alle ,regulär‘ Verurteilten be- ren für die mitgliedschaftliche Beteiligung und Unterstüt- deutete die gesteigerte Kooperationsbereitschaft in den meis- zung von Vereinigungen, die dem terroristischen Spektrum ten Fällen zumindest eine Hafterleichterung. Unter Anwen- gemäß §§ 129a + b des StGB zugeordnet werden können, dung der ,2/3 Regelung‘ wurden mindestens sechs von ihnen vorsieht, erhielten alle der insgesamt elf sich umfänglich ein- mit der Begründung der ,guten Führung‘ frühzeitig entlas- lassenden Angeklagten deutscher* Staatsbürgerschaft nicht sen. Gute Führung bedeutete hier die persönlich-individuelle mehr als fünf Jahre. Dies geschieht trotz des Umstandes, Einpassung in die Logiken der Strafhaft und damit die Auf- dass das Wissen um Ziele, Ressourcen und Routinen der gabe westlich ausgedeuteter, ,radikal-islamistischer‘ Religi- Geogr. Helv., 76, 205–219, 2021 https://doi.org/10.5194/gh-76-205-2021
S. Klosterkamp: Geographien des Ein- und Ausschlusses 215
onspraktiken (H1, 5. Juli 2016:9; D7, 3. November 2016) sich der hiesigen Rechtsordnung in besonderer Weise als
und der Verweis auf den bewussten Verzicht salafistisch- ,deradikalisiert‘, ,geläutert‘ und ,unterstützend‘ präsentieren,
konnotierter Kleidung und daraus abgeleiteten ,positiven Re- als auch in der stärkeren Gewichtung ausländischer Haftum-
sozialisierungsprognosen‘ (D10, 6. April 2017:1). stände und daraus resultierender Hafterleichterungen im ,ei-
Diese Strafmilderungen betrafen vor allem eine Viel- genen‘, ,milderen‘ Strafvollzugssystem. Andererseits wurde
zahl der männlich-gelesenen Angeklagten der ersten die Androhung und Durchsetzung von Haft als Mittel der
Anklagewelle, die häufig die deutsche und in wenigen Fäl- Prävention und Abschreckungsinstrument gegen weitere Ta-
len noch eine weitere Staatsangehörigkeit besaßen. Darüber ten herangezogen8 . Dabei wurde das Strafziel der Resozia-
hinaus traten sie zu einem Großteil dezidiert in denjeni- lisierung – punitiv wie diskursiv als ,Besserung der Besse-
gen Verfahren ein, die sich gegen weibliche Angeklagte rungsfähigen‘ des ,Eigenen‘ – in den Vordergrund gerückt,
richteten. Viele dieser Angeklagten stützten in ihren Aus- im Gegensatz zu anderen Kontexten staatlicher Gefahrenab-
sagen das auch in westlichen Konstruktionen um ,islamis- wehr (vgl. Schlepper, 2014:169; Naucke, 2010; Dübgen und
tischen Terrorismus‘ vorhandene Image der eher ,passiven Mattutat, 2017).
Frauen‘. Sie zeigten sich in ihren Eigenbeschreibungen des
Grades an Beteiligungshandlungen vor allem als diejeni- 4.2 ,Verwahrung der Unverbesserlichen‘ – Haft unter
gen, die für Reproduktions- und Sorgearbeiten zuständig den Vorzeichen der Sicherungsverwahrung
waren. Somit wurden sie in und durch diese Prozesse und
die ihnen vorgeschalteten Ermittlungen tendenziell häufi- Während die Verfahren der ersten und dritten Welle, die
ger als Opfer orientalistisch gerahmter patriarchaler Zu- sich vorrangig gegen deutsche* Staatsbürger:innen richte-
stände gelesen, denn als pönalisierungsbedürftige Rechts- ten, in den meisten Fällen zu einer Relativierung der Haft-
subjekte skizziert. Dies war der Fall, obwohl sie zumin- und Strafverfolgungsumstände im Zuge glaubhafter Einlas-
dest in Teilen der Beispiele durchaus stärker in Kampf-, sungen und Läuterungsbekenntnisse führten, waren es ge-
Propaganda- und Logistiktätigkeiten eingebunden waren als rade die Verfahren der hier konstatierten ,zweiten Welle‘
die mit ihnen assoziierten Männer (vgl. bspw. Klosterkamp, ausländischer Staatsbürger, die den Rechtsstaat in besonde-
2020:7; sowie für den britischen Kontext: Sjoberg und Gen- rer Weise herausforderten. Im Zuge dieser Verfahren und
try, 2016). Entlang der Feststellungen, inwiefern tägliche unter Zuhilfenahme multipler Simultandolmetscherdienste
Gebete in der Haft verrichtet (M9, 9. September 2019:12), wurde der Austausch über (geo-)politische Auseinanderset-
eine Gesichtsbedeckung während der Verhandlungen ge- zungen und (geo-)kulturell aufgeladene Praktiken der Glau-
tragen (M10, 31. März 2017:42) und Kleinkinder von ih- bensauslegung zu einer der entscheidenden Kernfragen nach
nen betreut werden (M11, 6. April 2017:132), fanden hier Resozialisierungstendenzen und anzuleitender Verwahrungs-
vor allem das ,Nachtatverhalten‘ sowie vergeschlechtlichte form. Während im Fall vereitelter Anschläge in Düsseldorf
Rollenzuschreibungen Eingang in entsprechende Urteilsbe- und Köln die Hauptangeklagten mit sieben bzw. zehn Jah-
gründungen7 . Diese Urteilsbegründungen zielten dabei nicht ren Strafvollzug am oberen Ende des Spektrums sanktio-
nur auf eigene Beteiligungshandlungen, sondern vor allem niert und freiheitsentziehend verwahrt wurden, führten vor
auf daraus abzuleitende Resozialisierungsprognosen ab. Vie- allem der gerichtlich aufgearbeitete Anschlag in einer Edeka-
le machten darüber hinaus besondere Umstände in ande- Filiale in Hamburg-Harburg sowie ein erstes Verfahren gegen
ren, vorwiegend außereuropäischen Verwahr- und Transitla- einen nach Deutschland geflüchteten Befehlshaber einer Un-
gern (vor allem der Türkei und dem Irak) geltend. Sie führ- tergruppierung der Freien Syrischen Armee zu einer beson-
ten sowohl vor dem Oberlandesgericht Stuttgart als auch in deren Verwahrung im Zuge einer staatlich-induzierten Ge-
Düsseldorf für alle weiblichen Angeklagten zu einer zwei- fahrenabwehr.
bzw. dreifachen Verrechnung mit der insgesamt abzuleis- Sich den Regeln und Ritualen des Gerichts während
tenden Freiheitsstrafe. In den meisten Fällen bedeuteten der Verhandlungen nur widerwillig fügend (D14, 13. Ju-
sie die vorzeitige Entlassung aus dem deutschen Vollzug ni 2018:1; D17, 27. März 2020:1) und ohne einen Hin-
(vgl. Abb. 5). weis auf Reue oder partielle Zugeständnisse von Schuld,
Wie diese Beispiele zeigen, ist somit im Kontext der ,Kri- wurden ihre Taten am Ende in und durch die Arenen des
minologie des Selbst‘ (Garland, 2008:253) die Kooperati- Gerichts sowohl religiös-fundamentalistisch essenzialisiert
onsbereitschaft während der Untersuchungshaft im Allge- 8 So wurde etwa die Verurteilung eines jungen deutschen Man-
meinen und speziell die Manövrier- und Passfähigkeit im
nes, der mehrmals bei seinem Versuch der Ausreise im Schengen-
Kontext strafmildernder Performanzen und Selbstanrufun-
raum gestoppt wurde und für eben jene Versuche dieselbe Haftstra-
gen von Angeklagten richtungsgebend für die Verwahrungs- fe erhielt wie die meisten derjenigen, die sich mehrere Monate im
dauer im deutschen Rechtssystem. Haft wird hier zu einem syrischen Kriegsgebiet aufhielten, als ,Pilot-Verfahren‘ (M2, 9.Ju-
relational verhandelbaren Gut – sowohl für diejenigen, die li 2016:322) betitelt, das im Jahre 2016 ,den Horizont der Straf-
verfolgung erstmalig weit ins Vorfeld etwaiger Taten verlagerte‘
7 Die Alterspanne der weiblichen Angeklagten belief sich auf 17 (M14, 14. Juni 2016:1) und damit bereits den Versuch genauso ahn-
bis 48, die der männlichen auf 18 bis 64. det wie die Ausreise selbst.
https://doi.org/10.5194/gh-76-205-2021 Geogr. Helv., 76, 205–219, 2021Sie können auch lesen
