Die Bibliotheken, die Welt der Bücher und die heutigen Trends: Haben traditionelle bibliothekarische Angebote überhaupt noch eine Zukunft?
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Bibliotheksdienst 2022; 56(3–4): 227–239 Urs Bisig Die Bibliotheken, die Welt der Bücher und die heutigen Trends: Haben traditionelle bibliothekarische Angebote überhaupt noch eine Zukunft? Libraries, the World of Books, Current Trends – What Future is There for Traditional Library Services? https://doi.org/10.1515/bd-2022-0035 Zusammenfassung: Mit der fortschreitenden Digitalisierung wächst der Informa- tionssektor immer schneller, die Orientierung darin wird immer schwieriger und anspruchsvoller, und der Komfort für die druckaffinen Leser nimmt ständig ab. Im Beitrag wird gezeigt, wie das Bibliothekswesen mithelfen kann, diese Entwick- lung besser zu bewältigen. Der Autor ist der Meinung, das Ziel der Bibliotheken sollte nicht nur sein, möglichst bald Teil der E-Welt zu werden, sondern vor allem auch, diese intelligent zu ergänzen. Schlüsselwörter: Bibliothek, Digitalisierung, E-First-Politik, Kritik Abstract: Ongoing digitization sees the information sector growing faster and faster, the lack of orientation increases, and users interested in print products are more and more inconvenienced. The paper explores ways in which the library system could better cope with these developments. It is the author’s belief that the purpose of libraries is not just to quickly become part of the ever-expanding e-world, but to complement this world in intelligent ways. Keywords: Library, digitization, e-first policy, criticism Urs Bisig: urs.bi@bluewin.ch Open Access. © 2022 Urs Bisig, publiziert von De Gruyter. Dieses Werk ist lizensiert unter einer Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz.
228 Urs Bisig 1 Fragestellung Wollten Sie auch schon mal ein Buch ausleihen und dann gab es das gesuchte Werk in Ihrer Bibliothek „nur“ in E-Form und Sie haben sich darüber geärgert? Oder war es bei Ihnen gerade umgekehrt: Sie bekamen ein gedrucktes Buch, hätten aber die E-Form – aus welchen Gründen auch immer – bevorzugt? Das Erstere kommt immer häufiger vor, denn die Digitalisierung durchdringt die Bibliothekswelt immer mehr. Seit einiger Zeit herrscht eine eigentliche Digi- talisierungseuphorie: E-Medien sind in, P-Medien (Printmedien) out. Das Ideal vieler bibliothekarischer Entscheidungsträger scheint es zu sein, möglichst bald möglichst viel digital im Netz anbieten zu können, wobei gedruckte Werke höchs- tens noch als Ergänzung vorgesehen sind.1 Wer die Begeisterung für das Digitale nicht teilt ist von gestern, nein von vorgestern. Diese Bibliothekare wollen nicht mehr viel mit Büchern zu tun haben. Selbst das Wort „Buch“ ist schon verdächtig und wird von einigen Bibliotheksverantwortlichen nur noch ungern verwendet. So schaffte es beispielsweise die Zentralbibliothek Zürich in ihrem letzten Flyer „WissensWelt“, in dem sie ihre verschiedenen Dienstleistungen anpries, das Wort „Buch“ kein einziges Mal zu erwähnen.2 Für die einseitige Bevorzugung des Digitalen bei der an und für sich begrü- ßenswerten Annäherung der Bibliotheken an die E-Welt gibt es u. a. folgende Gründe: – Im Gegensatz zu früher, als die historischen Wissenschaften die Biblio- thekswelt prägten, sind es heute die empirischen Wissenschaften (STM-Be- reich und Teile der Sozialwissenschaften), welche das Bibliothekswesen stark beeinflussen. Für diese Fächer ist Schnelligkeit ein ausschlaggeben- der Faktor, weshalb in diesem Bereich die E-Medien unverzichtbar sind. Die empirischen Wissenschaften gelten auch als die Disziplinen, deren Nutzen für die moderne Gesellschaft und Wirtschaft leicht nachvollzogen werden kann, weshalb deren Leitbildfunktion auch im Bibliothekswesen vielen Ver- antwortlichen als gerechtfertigt erscheint. – Der (fast) totale Medienwandel in vielen Wissenschaften erleichtert auch die Suche von zahlreichen Entscheidungsträgern nach einem zeitgemäßen Image für ihre Institution: Mit viel Elektronik und möglichst wenig Papier hoffen sie, ihre Bibliothek an den Mainstream andocken zu können und damit das Ansehen ihres Hauses in der Öffentlichkeit zu steigern. Keiner/ 1 Z. B. Bibliotheken: Weg damit! Interview von Michael Furger mit Rafael Ball. In: NZZ am Sonn- tag vom 07.02.2016, S. 25, https://nzzas.nzz.ch/hintergrund/bibliotheken-und-buecher-weg- damit-meint-rafael-ball-ld.147683 [Zugriff: 14.02.2022]. 2 WissensWelt. Die Zentralbibliothek Zürich entdecken. Zürich.
Die Bibliotheken, die Welt der Bücher und die heutigen Trends 229 keine von ihnen möchte die allerneuesten Trends verpassen und als altmo- disch gelten. Die Kritik von einigen „ewiggestrigen“ Bücherfreunden3 ist für sie weit weniger gravierend als das Bild in der Öffentlichkeit von Bibliotheken als antiquierte, angestaubte Bücherlager. – Schließlich seien noch die global tätigen Großverlage und Tech-Giganten erwähnt, die mit ihren digitalen Angeboten versuchen, die Informationswelt immer mehr zu dominieren und die Bibliotheken an sich zu binden. Ihnen ist es nicht gleichgültig, wie diese den Medienwandel angehen. Je verunsicherter die Bibliotheken sind, desto eher wird es den internationalen Großkonzernen gelingen, diese von sich abhängig zu machen. Leidtragende in diesem Powerplay sind neben den druckaffinen Nutzerinnen und Nutzern vor allem die kleinen und mittelgroßen Verlage, für die nicht mehr so viele finanzielle Ressourcen zur Verfügung stehen, nachdem viel Geld für all die E-Book-Pakete und anderen Spezialangebote der Großen ausgegeben worden ist. Heutzutage werden die Bibliotheken mit solchen Paketen regelrecht „geflutet“ und ihr Literaturangebot wird dadurch – und auch wegen der zunehmenden Aus- lagerung (von Teilen) der Erwerbung – immer uniformer. „Die Ware gleicht sich von Kiel bis Konstanz“4 und darüber hinaus, wobei der Anteil des Gedruckten an den neu zugänglichen Texten (fast) überall merklich zurückgeht. Eine weitere Folge dieser Entwicklung ist, dass in unserem Bereich heute auch in den allgemeinen Fachzeitschriften, nicht nur in den spezialisierten, vielen Fachbüchern und an den Tagungen in der Regel die Digitalisierung im Zentrum steht. Über klassische Themen wie Kataloge und gedruckte Bücher wird nicht mehr so häufig geschrieben und gesprochen, und wenn, dann manchmal gar abwertend. Ein Außenstehender könnte meinen, es gäbe für uns keine anderen Probleme mehr. Deshalb stellt sich schon die Frage: Ist diese Entwicklung gerechtfertigt? Haben die traditionellen bibliothekarischen Angebote ausgespielt und wirklich keine Zukunft mehr – oder vielleicht doch? 3 Vgl. z. B. Hagner, Michael: Zur Sache des Buches. 2. überarb. Aufl. Göttingen 2015 oder Yogeshwar, Ranga: Original oder digital. Schriftliches Kulturgut ist ein Schatz und eine Ver- pflichtung. In: BuB 67 (2015), S. 60–64, oder Knoche, Michael: Die Idee der Bibliothek und ihre Zukunft. Göttingen 2018. 4 Knoche (Anm. 3) S. 27.
230 Urs Bisig 2 A uch Bücher sind und bleiben wichtig Bevor wir zu den eigentlichen Aufgaben der Bibliotheken kommen, vergegenwär- tigen wir uns die heutige Lage im Informationssektor: Das Info-Meer wächst und wächst und zwar immer schneller; es wird immer unübersichtlicher und komple- xer. Deshalb wird es für viele Menschen immer schwieriger und anspruchsvoller, sich darin kompetent – und nicht nur irgendwie – zurechtzufinden. Um den Überblick zu bewahren, sollten wir uns die klassische Grobeinteilung der Fachtexte in Erinnerung rufen. Die einfachste Unterteilung ist diejenige nach der Länge der Texte. Dabei können wir folgende drei Ebenen unterscheiden: Kürzesttexte Kurzinformationen, gefunden mithilfe einer einfachen Suche im Internet, bzw. aus Nachschlagewerken und Enzyklopädien, heute am bekanntesten die Wikipedia; für Schnellinformationen zu einem Thema. Kurztexte Aufsätze: Studien und Essays; geeignet für die Mitteilung von neuen Erkenntnissen und/oder die aktuelle Diskussion. Langtexte Bücher: Monografien und redigierte Textsammlungen; gerne benutzt für die Orientierung in einem Gebiet und/oder für die Erörterung eines Problems. Eine solche Einteilung hat natürlich immer auch etwas Willkürliches, denn die Textarten sind nicht starr, sondern fließen ineinander über. Dennoch kann die Unterteilung mithelfen, das Informationschaos besser in den Griff zu bekommen. Alle drei Ebenen sind wichtig und haben ihre spezifische Aufgabe. Im Folgenden soll der Fokus vor allem auf die Langtexte gelegt werden, für deren Zugänglichkeit und Auffindbarkeit traditionellerweise die Bibliotheken die Hauptverantwortung tragen. Die Ebene der Langtexte ist zentral und besonders wichtig für die vertiefte Auseinandersetzung mit einem Thema. Das Buch bietet in der Regel einen guten Überblick über einen Gegenstand und/oder beschäftigt sich ausführlich mit einer Frage, bzw. einem Fragekomplex in einem mehr oder weniger großen Bereich, wobei das auf ganz unterschiedlichem Anspruchsniveau sein kann. Auch die Glaubwürdigkeit einer Publikation ist von Bedeutung, die u. a. von der Seriosität des Verbreiters einer Information abhängt. Diese Kriterien werden immer wichti- ger in Zeiten der zunehmenden Unübersichtlichkeit und der Fake News. Bei den Informationsträgern lassen sich zurzeit zwei widersprüchliche Ten- denzen beobachten: Einerseits eine rasante Entwicklung der E-Welt, anderseits ein zähes Überleben der gedruckten Werke. Die P-Medien sind nämlich, vor allem im Bereich der Langtexte, noch lange nicht tot, sondern sie leben – wenn auch in etwas reduziertem Umfang – munter weiter. Der Medienwandel findet zwar statt,
Die Bibliotheken, die Welt der Bücher und die heutigen Trends 231 aber nicht total wie letztes Mal vor über 500 Jahren beim Übergang vom handge- schriebenen zum gedruckten Buch, sondern er ist eher vergleichbar mit dem Auf- kommen der Autos, die zwar der Eisenbahn immer größere Konkurrenz machten, diese jedoch (mindestens bei uns in Mitteleuropa) nie vollständig verdrängt und ersetzt haben; im Zusammenhang mit dem steigenden Umweltbewusstsein kommt es heute gar zu einem eigentlichen Revival der Bahnen. Ein Grund für die Beliebtheit von gedruckten Werken trotz der E-Welt und deren Möglichkeiten ist der größere Lesekomfort, den sie besonders beim ver- tieften Lesen bieten und den viele zu schätzen wissen. Ebenso mögen es zahl- reiche Menschen, einmal nicht ständig auf einen Bildschirm schauen zu müssen, sondern zur Abwechslung einen Text auch mal physisch zu erleben. Und dann spricht die größere Vielfalt des Gedruckten die Leute an: Printmedien haben eine eigene Individualität, während die meisten Veröffentlichungen auf dem Bild- schirm recht monoton daherkommen. Alles Gründe, weshalb selbst an der EDV interessierte Leserinnen und Leser ab und zu Gedrucktes vorziehen, was sich u. a. im breiten Printangebot im IT-Bereich zeigt. Sogar P-Books über E-Books sind keine Seltenheit.5 Ein weitere Ursache für das hartnäckige Überleben der analogen Texte ist die Aufwertung des Buches durch die digitalen Medien, „denn wenn in Zukunft etwas überhaupt gedruckt wird, so bedeutet das doch, dass es besonders wichtig sein muss.“6 Dies ist auch ein Grund, weshalb viele Autorinnen und Autoren von Langtexten ihr Werk nach der großen Arbeit nicht auf der gleichen Stufe sehen möchten wie die Texte im Internet. Das gedruckte Buch gilt nämlich in breiten Kreisen immer noch als das Premiumprodukt der Informationswelt. Printmedien werden uns deshalb noch lange begleiten. Den Durchschnittsleser, die Durchschnittsleserin gibt es jedoch nicht, die Nutzertypen sind sehr verschieden: Es gibt Menschen, die mehr technikaffin und andere, die mehr druckaffin sind. Für viele kommt es auch auf die Länge der Texte an; Langtextleser bevorzugen häufig P-Medien, Kurztextleser E-Medien.7 Am ver- breitetsten sind wahrscheinlich die „Switcher“, also Menschen, die sich in beiden Welten mehr oder weniger wohl fühlen. Ihr präferiertes Medium ist abhängig vom 5 Z. B. Ward, Suzanne M.; Freeman, Robert S.; Nixon, Judith M. (eds.): Academic e-books. Publishers, librarians and users. West Lafayette (IN) 2016, oder Graf, Dorothee; Fadeeva, Yuliya; Falkenstein-Feldhoff, Katrin (Hrsg.): Bücher im Open Access. Ein Zukunftsmodell für die Geistes- und Sozialwissenschaften? Opladen 2020. 6 Aussage von Katharina Blarer zitiert in Wirz, Tanja: Ein Buch, ein Thema. In: Journal. Die Zeitung der Universität Zürich 41 (2011/Februar) 1, S. 2. 7 Vgl. z. B. die Nutzer*innenbefragung 2020 der Deutschen Nationalbibliothek – Ergebnisbe- richt, https://www.dnb.de/SharedDocs/Downloads/DE/Benutzung/nutzerumfrage2020Ergebns ibericht.pdf? S. 4, Punkt 4. [Zugriff: 14.02.2022].
232 Urs Bisig Problem, bzw. der Fragestellung. Ein gutes Beispiel dafür ist Hagner, der sich in seinem Werk „Zur Sache des Buches“ vehement für das gedruckte Buch einsetzt, dessen Anmerkungsapparat jedoch zahlreiche Hinweise auf Netzpublikationen enthält.8 Und als letztes sei noch auf die beiden Wissenswelten hingewiesen, auf den STM-Bereich (und die empirischen Sozialwissenschaften) einerseits und auf die Geistes- und Kulturwissenschaften anderseits, die sich in ihrem Denken und in ihrer Methodik grundlegend unterscheiden.9 Auch das Publikationsverhalten ist in beiden Bereichen verschieden: Während empirisch tätige Wissenschaftler möglichst viele Kurztexte in angesehenen Zeitschriften zu veröffentlichen suchen, möchten Geistes- und Kulturwissenschaftler ihre Erkenntnisse traditionellerweise gerne auch einmal in einem Buch über einen renommierten Verlag verbreiten. Ein Grund dafür ist, dass für diese Fachleute oft auch der Kontext wichtig ist und nicht nur die allerneuesten Forschungsergebnisse in einem klar abgrenzbaren, engen Bereich. Auch ist die Halbwertszeit ihres Wissens, bzw. ihrer Überlegungen in der Regel deutlich länger als die Erkenntnisse im Bereich ihrer empirisch arbeitenden Kolleginnen und Kollegen. Außerdem möchten die meisten Buchautorinnen und -autoren die Lesenden auch sprachlich ansprechen und nicht nur schnell Fakten mitteilen. Schließlich gibt es hier vermehrt noch die „Konkurrenz“ von Persön- lichkeiten außerhalb der akademischen Welt, die ihre (zum Teil originellen) Über- legungen, wenn möglich, (auch) in gedruckter Form publizieren. Deshalb kann man sich schon fragen: Wie sollen die Bibliotheken auf diese widersprüchliche Entwicklung reagieren? Sollen sie sich möglichst schnell und umfassend in die E-Welt integrieren oder im Gegenteil versuchen, diese auch zu ergänzen? 3 D ie Bibliotheken, das Buch und andere Herausforderungen Auch wenn die Bibliotheken heute nicht mehr die alleinigen Stützen der Informa- tionswelt sind, so können sie sehr wohl ein Big Player dort bleiben, wenn es ihnen gelingt, den Nutzerinnen und Nutzern einen Mehrwert zu bieten. Besonders stark sind die Bibliotheken im Bereich der Orientierungshilfen und des Komforts, wo 8 Hagner (Anm. 3) S. 251–280. 9 Unter vielen anderen vgl. Snow, Charles P.: Die zwei Kulturen. Literarische und naturwissen- schaftliche Intelligenz. Stuttgart 1967.
Die Bibliotheken, die Welt der Bücher und die heutigen Trends 233 sie den Usern verschiedene Erleichterungen anbieten können. Aus der Sicht der Tradition lassen sich acht Hauptaufgaben unterscheiden: 3.1 A ufgaben im Bereich der Orientierung 1. Eine wichtige Aufgabe von Bibliotheken ist ihre Rolle als Orientierungshelfer. Wie wir im letzten Abschnitt gesehen haben, sind für die Orientierung in der Wissenswelt, vor allem für die vertiefte Orientierung, Langtexte (Bücher) der Königsweg – für Schnellinformationen reicht in der Regel eine kurze Suche im Internet, oft genügt die Wikipedia. Auch sind Bücher in den Geistes- und Kulturwissenschaften – also in den Orientierungswissenschaften – weiterhin von großer Bedeutung, wenn auch ihre Stellung dort nicht mehr so zentral ist wie auch schon. 2. Für die Orientierung in der Welt der Langtexte braucht es gute Suchinstru- mente. Diese gelten als gut, wenn bei einem Treffer sowohl der Verlust als auch der Ballast möglichst gering ist – und zwar bei allen Fragestellungen, nicht nur bei sehr engen (z. B. Mozarts Träume). Google-nahe Suchinstru- mente haben zwar den Vorteil, dass sie „in“ sind und die Benutzer damit ver- traut; nachteilig ist hier jedoch u. a., dass nicht immer fein zwischen einer Person als Urheber und einer Person als Gegenstand unterschieden werden kann, und bei umfassenderen Themen (z. B. Psychologie/Allgemeines) die Trefferzahlen riesig werden; aber gerade solche Übersichtsdarstellungen sind es, die normalerweise in Büchern veröffentlicht, bzw. dort gesucht werden. Außerdem ist die Resultatgewinnung mithilfe von Suchmaschinen oft schwer nachvollziehbar. Deshalb sollten die traditionellen Erschließungsinstru- mente, bei denen Normierung, Strukturierung und sorgfältige Zuordnung zu einer Katalogstelle eine Rolle spielen, weiterhin gepflegt und nicht so schnell aufgegeben werden. 3. Auch die Unterstützung der Nutzerinnen und Nutzer beim Sich-Zurechtfin- den in der immer komplexer werdenden Informationswelt ist Teil des Orien- tierungsangebotes. Im Idealfall kann das Bibliothekspersonal den Usern auf allen Stufen helfen – von den Laien oder Studienanfängern bis zu den Dokto- rierenden, die ihre Dissertation in OA-(Open Access-)Form zu veröffentlichen haben. Die Bibliotheken sind ja die Institutionen, von denen erwartet wird, dass sie Informationskompetenz haben und diese auch professionell weiter- geben können. 4. Und dann ist da noch das Problem der steigenden Publikationsflut wegen der tiefer liegenden Veröffentlichungsschwelle im Internet. Walach meint dazu: „Heute kann scheinbar jeder alles veröffentlichen …, [weshalb die] Auswahl
234 Urs Bisig und [das] Filtern von Information und die Bewertung des Publizierten immer zentraler werden.“10 Das ist jedoch nicht immer ganz einfach. Denn wer ent- scheidet, ob eine freie Netzpublikation ein Qualitätsproblem hat und deshalb von der Bibliothekswelt nicht unbedingt voll berücksichtigt werden muss oder ob sie aus anderen Gründen nicht genehm ist? Dennoch werden sich die Bibliotheken – vor allem bei den Langtexten – vermehrt mit dieser Problema- tik auseinandersetzen müssen. 3.2 Aufgaben im Bereich des Komforts 1. Die Bibliotheken sind auch für den Komfort im Informationswesen zuständig. Dieser lässt sich nur selten mit einer einzigen Medienform abdecken, denn je nach Person und Fragestellung sind die Ansprüche an den Komfort verschie- den: Manchmal sind es E-Medien, manchmal P-Medien, welche den Nutzern am besten dienen. Beide Medienarten haben in der Bibliothekswelt ihre Berechtigung, was eine immer weiter verbreitete E-First-Politik jedoch außer Acht lässt. Deshalb kann man sich schon fragen: Ist es sinnvoll, primär E-Me- dien anzubieten, selbst wenn sich immer wieder zeigt, dass bei Wahlfreiheit im Langtextbereich die meisten Nutzerinnen und Nutzer das gedruckte Werk in der Regel vorziehen?11 Viele Bibliotheksverantwortliche mögen dieses Benutzerverhalten zwar bedauern, ignorieren sollten sie es jedoch nicht, auch weil die Bibliotheken hier etwas bieten könnten, was das Internet so nicht geben kann. In diesem Zusammenhang haben sich die Entscheidungsträger auch stets bewusst zu sein, dass an den Diensten der Bibliotheken nicht nur die For- schungsfront der Naturwissenschaften und der empirischen Sozialwissen- schaften interessiert ist, sondern dass der Nutzerkreis viel breiter ist. Auf Bib- liotheken angewiesen sind neben interessierten Laien – diese sind übrigens auch Wähler und Steuerzahler – Menschen in der Aus- und Weiterbildung, Generalisten, interdisziplinär Arbeitende, Praktiker, Multiplikatoren (Leh- rerinnen und Journalisten), Intellektuelle – und natürlich auch die in den Geisteswissenschaften tätigen Fachleute. Ideal wäre es deshalb, wenn die Nutzerinnen und Nutzer selber entscheiden könnten, welches Medium sie konsultieren möchten. 10 Walach, Harald: Psychologie. Wissenschaftstheorie, philosophische Grundlagen und Geschichte. Ein Lehrbuch. 3. überarb. und erw. Aufl. Stuttgart 2013, S. 66. 11 Vgl. Anm. 7.
Die Bibliotheken, die Welt der Bücher und die heutigen Trends 235 2. Zum Komfort gehören auch die Bibliotheken als Orte. Sie sind Orte des Lernens, der Begegnung und der Anregung, aber auch der Ruhe und des Denkens. Unsere hypernervöse Zeit braucht Rückzugsorte für die Geistesar- beitenden und nicht weitere Erlebniszentren für möglichst viele. Auch Sport- anlagen wurden und werden in erster Linie für die Sporttreibenden gebaut und nicht für alle. Das Ziel der Bibliotheken muss es deshalb nicht sein, Orte für alle zu werden, jedoch sollten sie Wohlfühloasen für alle bleiben, die lesen und mit dem Kopf arbeiten wollen und das unabhängig von ihrem schulischen Background. 3.3 Aufgaben in anderen Bereichen 1. Traditionellerweise sind die Bibliotheken auch dafür zuständig, dass der Zugang zum Wissen möglichst günstig, unkompliziert und vollständig ist. Leider gibt es damit bei vielen kostenpflichtigen elektronischen Publikatio- nen immer wieder Probleme, denn sie können in vielen Fällen nicht so frei wie Druckwerke zur Verfügung gestellt werden. Oft sind sie nur für die jewei- ligen Hochschulangehörigen einsehbar und/oder die Fernleihe ist erschwert bis unmöglich, was der Aufgabe von Bibliotheken widerspricht, für möglichst alle da zu sein. 2. Last but not least ist eine weitere wichtige Funktion von Bibliotheken ihre Aufgabe als Archiv, sowohl von gedruckten wie auch von digitalen Medien. Als Gedächtnisinstitutionen sind die Bibliotheken in erster Linie für den immateriellen Teil des kulturellen Erbes zuständig, das heißt, dass einmal veröffentlichte Erkenntnisse, Ideen und Gedanken nicht verloren gehen. Dazu gehört indirekt aber auch die „Hardware“, also die konkreten Bücher und Zeitschriften. Ein Forscher, eine Forscherin, die sich beispielsweise mit einem Aspekt des 18. Jahrhunderts auseinandersetzt, sollte Texte aus dieser Zeit auch ab und zu mal sehen, ja spüren können und ihnen nicht nur am Bildschirm begegnen. Um die Zugänglichkeit und Sicherheit solcher Schätze zu erhöhen, wäre es wünschenswert, wenn diese möglichst dezentral zur Ver- fügung stünden. Wie die erwähnten Punkte in der Bibliothekswelt konkret umgesetzt werden könnten, wird im nächsten Abschnitt thematisiert.
236 Urs Bisig 4 Eine mögliche Entwicklung Das Ideal ist also nicht die digitale Bibliothek, sondern die Hybridbibliothek, eine Institution, welche die E-Welt und die P-Welt gleichermassen berücksichtigt. Das geht leider nicht flächendeckend, da eine solche Umsetzung zu teuer wäre. Eine Lösung dieses Problems könnte sein, die Bibliotheken als System zu sehen: Nicht jede Institution ist hybrid, jedoch das Bibliothekswesen als Ganzes. Mit anderen Worten: Es müsste zu einer weiteren Spezialisierung entlang der (Haupt-)Infor- mationsträger kommen. Folgende Bibliothekstypen sind in diesem Zusammenhang denkbar: – Informationszentren, wo in erster Linie die E-Medien gepflegt werden und wo auch eine umfassende, professionelle Beratung und Schulung in diesem Bereich erwartet werden kann. Dort sind die User umgeben von Bildschir- men, weniger von Büchern. Diese Institutionen sehen sich als Teil der For- schungsinfrastruktur, vor allem im Bereich der STM-Fächer sowie der empi- rischen Sozialwissenschaften. Für diese Disziplinen sind Kurztexte in E-Form, Schnelligkeit und Hyperspezialisierung im Publikationsbereich typisch, was diese „Bibliotheken“ zu berücksichtigen haben. – Orientierungszentren, die sich primär den Langtexten (Büchern) widmen, zunächst einmal unabhängig vom Informationsträger. Ihr Schwerpunkt aber ist das traditionelle Buch. Sie sehen sich ähnlich wie Museen, Theater und Konzertsäle vor allem als Teil der kulturellen Infrastruktur, aber auch als Zentren für die Geistes- und Kulturwissenschaften sowie als Wohlfühloasen für die Wissensarbeitenden. Mit der E-First-Politik von vielen Institutionen werden Orte, wo das gedruckte Buch noch gepflegt wird, noch exklusiver. Das heißt aber noch lange nicht, dass es in der neuen klassischen Bibliothek aussieht, wie in einer solchen Institution vor fünfzig, sechzig Jahren. Selbst- verständlich werden dort neben vielen Büchern auch Bildschirme zu sehen sein, denn diese braucht es unter anderem für die Suchinstrumente. Und zur Ergänzung des Bestandes sollten den Nutzerinnen und Nutzern „Ausflüge“ in die Welt der E-Medien ermöglicht werden, denn auch bei den Langtexten wird heute längst nicht mehr alles gedruckt, immer mehr Inhalte von älteren P-Books sind heute frei im Netz zugänglich und die Forschenden in den Geis- teswissenschaften brauchen zunehmend auch Digitalisate. – Einige große Universal- und Spezialbibliotheken schaffen es, dem Ideal (Hyb- ridbibliothek) nahe zu kommen und können in beiden Welten ein breites Angebot – und einen entsprechenden Service – zur Verfügung stellen. In der Regel sind das auch die Institutionen, die für die Langzeitarchivierung zuständig sind. Dieser Bibliothekstyp wird sich jedoch nicht so stark ausbrei- ten, weil die Kosten dafür enorm sind.
Die Bibliotheken, die Welt der Bücher und die heutigen Trends 237 – Im Bereich der Öffentlichen Bibliotheken scheint sich ein immer größerer Teil von ihnen an keinem der vorgestellten Modelle zu orientieren, sondern ent- fernt sich zunehmend von der Bibliotheks-„Familie“. Diese „Bibliotheken“ sehen ihre Zukunft immer weniger als Orte von Büchern, sondern immer mehr als moderne Freizeit- und Bildungszentren, wo der (wenn möglich digitale) Informationssektor nur noch ein Teilbereich ist. Dafür gibt es dort Escape Rooms, Makerspaces, Gaming-Ecken, Workshopräume, Tonstudios, Lounges usw. Durch eine solche Arbeitsteilung wird die Bibliothekslandschaft noch vielfältiger und bunter werden. Als Folge davon sollten sich die Bibliotheken immer weniger als Einzelkämpfer sehen, sondern müssen sich immer mehr als Teil eines Ganzen verstehen.12 Wichtig ist nicht ein Kampf um Ressourcen, sondern Kooperation und Koordination unter den Bibliotheken sowie eine umfassende Information der User über die verschiedenen Angebote. 5 Schlussbemerkungen Obwohl die Bibliotheken heute nicht mehr die exklusiven Orte des Wissens sind wie früher, so gibt es für sie weiterhin eine Menge von Aufgaben. Einige der wich- tigsten sind: – Das Bibliothekswesen bietet kostengünstige, niederschwellige Zugänge zur gesamten Informationswelt für alle – nicht nur für einen Teilbereich und nicht nur für einen ausgewählten Kreis. – Die Bibliotheken sind besonders verantwortlich für: – die Orientierung in der Info-Welt – durch Langtexte, Kataloge und Bera- tung, – den Komfort in der Info-Welt – durch Angebote von E- und P-Medien und – die Qualität in der Info-Welt – durch Auswahl. – Die Bibliotheken bieten ihre Institutionen auch als Orte an mit dem Ziel, dass sich bei ihnen möglichst viele Leute des Denkens wohl fühlen. Da heute in den meisten Fällen nicht mehr eine Institution allein das ganze Infor- mationsspektrum gut abdecken kann, wird die Spezialisierung immer wichtiger: Statt dass viele Bibliotheken versuchen, ein möglichst breites Angebot zu präsen- 12 Vgl. z. B. Knoche (Anm. 3) S. 23 und S. 119.
238 Urs Bisig tieren, sehen sich die meisten nur noch für einen Teilbereich zuständig. Dieser wird dann aber besonders sorgfältig und professionell gepflegt. Was die Corona-Pandemie anbelangt, so haben wir dadurch zwar verstärkt einige Vorteile der Digitalisierung13 erfahren können, die Krise hat aber auch offenbart, wie verletzlich unsere moderne Gesellschaft ist. Möglicherweise ist es nicht ein biologisches Virus, welches eine nächste größere Beeinträchtigung im Bibliotheksbetrieb auslösen wird, sondern ein Computervirus, ein Hackerangriff, eine länger andauernde Störung im Netz oder gar ein Datenverlust wegen was auch immer. Für Digitalenthusiasten ist das zwar (fast) undenkbar, aber Super- GAUs in Kernkraftwerken waren auch unmöglich bis es sie gab. Im Falle eines Worst Case werden wahrscheinlich selbst die technikaffinsten Leute froh sein, dass viele Informationen dezentral auch noch auf Papier zur Verfügung stehen und nicht nur im Netz. Und noch etwas – eher Unerwartetes – hat uns die Coronazeit gezeigt: Die gedruckten Bücher haben gar nicht ein so schlechtes Image, wie uns viele tech- nikaffine Vordenker immer wieder weismachen wollen. In Zeiten von Homeoffice und Videokonferenzen dienen vielen Leuten dekorative Bücherwände als Hinter- grund für ihr neues „Büro“.14 Umgeben von Büchern fühlen sich diese Menschen wohl und/oder sie wollen sich so als gebildet und belesen zeigen. Eine solche Inszenierung wäre jedoch fatal, gälte der Bücherbesitz heute als ein Zeichen von hoffnungsloser Rückständigkeit. Auch das Treffen der beiden Präsidenten Biden und Putin in Genf vom 16. Juni 2021 fand in einem gediegenen Bibliotheksraum statt und eben gerade nicht in einem seelenlosen Saal voller Technik.15 Bücher und andere traditionelle bibliothekarische Angebote sind also noch lange nicht obsolet, sondern im Gegenteil: Sie sind geradezu ideale Instrumente zur Ergänzung der modernen Informationswelt. Dennoch wird sich die E-Welt, vor allem auch der Open-Access-Ansatz, wahrscheinlich immer mehr ausbrei- ten. Umso wichtiger ist es dann, dass es noch Institutionen gibt, welche auch gedruckte Medien berücksichtigen und die E- und P-Welt intelligent miteinander verknüpfen. Wir sollten die beiden Bereiche nicht als unversöhnliche Gegen- sätze sehen, sondern als Teile einer Welt, der Informationswelt: Gefragt ist mehr Sowohl-als-auch- und weniger Entweder-oder-Denken. Was Walach zum Wissen- schaftsbetrieb meinte, kann ohne weiteres auch aufs Bibliothekswesen übertra- 13 Hinweise darauf u. a. in der Beitragssammlung COVID-19 trifft die Bibliothekswelt. In: b.i.t.online 23 (2020) 3, S. 239–276. 14 Klette, Kathrin: Die Bibliothek als Dekoration. In: Neue Zürcher Zeitung vom 05.02.2021, S. 16, https://www.nzz.ch/panorama/buecher-im-home-office-die-bibliothek-als-dekoration-nzz- ld.1599805 [Zugriff: 14.02.2022]. 15 https://de.wikipedia.org/wiki/Genfer_Gipfelkonferenz_(2021) [Zugriff: 14.02.2022].
Die Bibliotheken, die Welt der Bücher und die heutigen Trends 239 gen werden: „Monokulturen sind nicht nur im normalen Leben, sondern auch in der Wissenschaft hässlich und schädlich.“16 Die Bibliodiversität, also die Vielfalt in der Buchkultur, sollte deshalb von der Bibliothekswelt gepflegt und nicht igno- riert werden. Es lässt sich sogar behaupten: Je wichtiger die Ebene der Langtexte von den Bibliotheksverantwortlichen genommen wird, desto besser werden viele traditionelle Bibliotheksangebote sein. Die Bibliotheken müssen aufpassen, dass sie bei ihrer Annäherung an die E-Welt nicht zu abhängig von den internationalen Großverlagen, Tech-Giganten und weiteren gewinnorientierten Unternehmen werden. Eine gute Zusammen- arbeit mit diesen Firmen ist zwar wichtig und hilfreich, die Bibliotheken müssen jedoch ebenso schauen, dass sie möglichst unabhängige Player bleiben und ihr eigenes Profil weiterentwickeln können. Dem Bibliothekswesen wäre mehr Selbstvertrauen zu wünschen, denn es kann auch einen wertvollen Beitrag zur Bewältigung von Orientierungsproblemen in der Wissenswelt, für den Komfort im Informationssektor und zur Bekämpfung von Fake-News leisten. Urs Bisig Eierbrechtstr. 11 8053 Zürich Schweiz E-Mail: urs.bi@bluewin.ch 16 Walach (Anm. 10) S. 313.
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