Die deutsche Ausgabe von Le Monde diplomatique zwischen national und international - Rekonfiguration einer journalistischen Alternative

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Recherches germaniques
                           HS 11 | 2016
                           De la Lebensreform à l’Altermondialisme

Die deutsche Ausgabe von Le Monde diplomatique
zwischen national und international –
Rekonfiguration einer journalistischen Alternative
Le Monde diplomatique allemand entre national et international —
reconfiguration d’une alternative journalistique
Le Monde diplomatique’s German issue between national and international –
a reconfiguration of a journalistic alternative

Lisa Bolz

Édition électronique
URL : http://journals.openedition.org/rg/857
DOI : 10.4000/rg.857
ISSN : 2649-860X

Éditeur
Presses universitaires de Strasbourg

Édition imprimée
Date de publication : 19 juillet 2016
Pagination : 231-245
ISBN : 978-2-86820-952-8
ISSN : 0399-1989

Référence électronique
Lisa Bolz, « Die deutsche Ausgabe von Le Monde diplomatique zwischen national und international –
Rekonfiguration einer journalistischen Alternative », Recherches germaniques [Online], HS 11 | 2016,
Online erschienen am: 05 Februar 2019, abgerufen am 18 Mai 2019. URL : http://
journals.openedition.org/rg/857 ; DOI : 10.4000/rg.857

Recherches germaniques
Die deutsche Ausgabe von Le Monde diplomatique
                zwischen national und international – Rekonfiguration
                          einer journalistischen Alternative

                                                                                       Lisa Bolz

                    Nicht ganz deutsch, aber auch nicht ganz französisch, sondern irgendwo
                dazwischen. Eine von mehreren Publikationen, die sich an einer deutsch-
                französischen Kreuzung befinden, ist die deutschsprachige Ausgabe von Le Monde
                diplomatique, eine Zeitung, die französisch klingt, aber von einer deutschen
                Redaktion für eine deutschsprachige Leserschaft geschrieben wird. Diese
                Konstellation wird von einer deutsch-französischen journalistischen Umgebung
                geprägt, denn die deutschsprachige Ausgabe von Le Monde diplomatique
                befindet sich auf der Schnittstelle zweier journalistischer Publikationen: Diese
                sind auf der einen Seite die französischsprachige Ausgabe der Zeitung und auf
                der anderen Seite die deutsche Tageszeitung taz. Diese beiden Zeitungen haben
                gemeinsam, dass sie Alternativzeitungen sind bzw. Zeitungen mit alternativen
                Tendenzen. Anhand des Beispiels der deutschsprachigen Ausgabe von Le
                Monde diplomatique soll die Betrachtung einer journalistischen Alternative
                erfolgen, die sich auf einer Kreuzung verschiedener Einflüsse befindet und eine
                journalistische Alternative neu konfiguriert.
                    Ausgehend von den journalistischen Publikationen, die im direkten
                Zusammenhang mit der deutschen Ausgabe von Le Monde diplomatique
                stehen, besonders von den Elementen, die diese Publikationen als alternative
                Zeitungen auszeichnen, wird hinterfragt, inwiefern die deutsche Ausgabe einen
                alternativen Journalismus darstellt. Ich möchte darlegen, dass die Konstruktion
                einer Gegenöffentlichkeit, die alternativen Journalismus ausmacht, nicht immer
                auf einer Kombination aus Form und Inhalt einer Zeitung beruhen muss,
                sondern sich auch ausschließlich aus einer inhaltlichen Ausrichtung entwickeln
                kann, ungeachtet der strukturellen Gegebenheiten der Publikation.

                Die deutsche Ausgabe von Le Monde diplomatique
                   Die französische Ausgabe von Le Monde diplomatique war ursprünglich
                eine Beilage der französischen Tageszeitung Le Monde. Erst im Lauf der Zeit,
                unter dem Einfluss verschiedener Chefredakteure, hat sich die Ausrichtung
                der Zeitung verändert. Schließlich löste sie sich auch institutionell von der

                                                                            RECHERCHES GERMANIQUES
                                                                                         HS 11 / 2016

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                Tageszeitung und stellt heute eine eigenständige Publikation dar. Seit 1995
                erscheint diese Zeitung auch auf Deutsch, in Deutschland als Beilage der
                Tageszeitung taz, in der Schweiz als Beilage der Wochenzeitung WOZ und
                schließlich vor allem in Deutschland als autonome Publikation1.
                    Im Fokus der Betrachtung steht hier die deutsche Ausgabe der Zeitung,
                die eine eigenständige Zeitung innerhalb der Gesamtheit der internationalen
                Ausgaben von Le Monde diplomatique darstellt2. An diesem Beispiel wird
                deutlich, wie die internationale Ausrichtung der Zeitung, d.h. die Entscheidung,
                den Schwerpunkt auf Auslandsberichterstattung zu legen, für einen bestimmten
                Zeitungsmarkt und für eine bestimmte Leserschaft umgesetzt wird. Dabei
                steht die deutsche Ausgabe stets in einer doppelten Herausforderung: Sie
                positioniert sich zwischen der französischen Zeitung, deren Namen sie trägt,
                und der deutschen Tageszeitung taz, deren Beilage sie ist, und muss die sich
                daraus ergebenden Ansprüche erfüllen und Bedingungen berücksichtigen.
                So ist die deutsche Redaktion zwar für die einzelnen Ausgaben zuständig,
                jedoch über einen Rahmenvertrag an die französische Redaktion gebunden,
                sodass beispielsweise der Großteil der Texte von der französischen Ausgabe
                übernommen und übersetzt wird. Die Tatsache, dass die deutsche Ausgabe
                auch eine Beilage ist, beeinflusst das Aussehen von Le Monde diplomatique in
                Deutschland. So fehlen Leserbriefe und Buchvorstellungen in der deutschen
                Ausgabe, weil diese bereits in der taz existieren. Gleichzeitig kann Le Monde
                diplomatique aber auch unabhängig von der taz erworben werden und
                muss ihrer deutschsprachigen Leserschaft als selbstständige Zeitung etwas
                Eigenständiges bieten können3.
                    Die Zeitung wird zwar in Deutschland publiziert, aber nur ein kleiner Teil
                der Texte wird explizit für eine deutschsprachige Leserschaft geschrieben. Der
                Großteil der Texte wurde ursprünglich für die französische Ausgabe verfasst
                und wurde den übrigen Redaktionen zur Übersetzung zur Verfügung gestellt4.

                1      Im Einzelverkauf kann die deutsche Ausgabe von Le Monde diplomatique auch in
                       Österreich erworben werden, als Abonnement ist die Zeitung weltweit erhältlich. Als
                       Beilage ist die Zeitung auch in Luxemburg und in bestimmten Gebieten Frankreichs zu
                       bekommen.
                2      Aus pragmatischen Gründen wird im Folgenden nur die deutsche Publikation
                       berücksichtigt und die Schweizer Ausgabe, die sich nur marginal von der deutschen
                       unterscheidet, vernachlässigt. Zudem ist es für die vorliegende Fragestellung uner-
                       heblich, auch die Schweizer Besonderheiten in die Analyse einzubeziehen.
                3      Die beiden deutschen Ausgaben haben jeweils auch verschiedene Titelseiten, auf denen
                       deutlich wird, um welche Ausgabe es sich handelt. Die strukturellen Gegebenheiten der
                       Versionen schlagen sich somit auch im Aussehen nieder.
                4      Sobald die französische Redaktion einen Text geschrieben hat, stellt sie diesen den
                       anderen Redaktionen über ein Intranet zur Verfügung. Eine deutsche Redaktion in
                       Berlin kümmert sich (in Absprache mit einer Schweizer Redakteurin) um die Inhalte

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                Die Herausforderung besteht darin, die internationale Themenvielfalt für eine
                deutschsprachige Leserschaft aufzubereiten und anzupassen.
                    Um die deutsche Ausgabe von Le Monde diplomatique als alternativen
                Journalismus betrachten zu können, sind zunächst allgemeine Überlegungen
                zum Alternativjournalismus sowie zur französischen Ausgabe von Le Monde
                diplomatique und zur taz als Alternativzeitungen notwendig.

                Alternativer Journalismus
                       Alternativer Journalismus hat seine Wurzeln in den sozialen Bewegungen:
                                  […] Strömungen und Gruppen der Alternativbewegung sind dadurch
                                  gekennzeichnet, daß sie sich von einem traditionellen Politikbegrif, von
                                  großer Politik, wie sie von den etablierten Parteien repräsentiert wird,
                                  freimachen und den unmittelbaren, überschaubaren und veränderbaren
                                  Lebensbereich zuwenden. Die alltäglichen Erfahrungen im Arbeits-,
                                  Familien-, Wohn- und Freizeitbereich werden zum Bezugspunkt eines
                                  radikal subjektbezogenen Politikverständnisses.5
                Um ein Mittel zur Kommunikation zu haben, waren die Alternativbewegungen
                auf eigene Medien angewiesen, da ihre hemen nicht von den etablierten Medien
                übernommen wurden. Alternativzeitungen sollten so die Kommunikation
                zwischen den Gruppen, Projekten und Zentren gewährleisten, um eine
                Vernetzung zwischen ihnen herzustellen6. Zur inhaltlichen Ausrichtung von
                Alternativzeitungen schreibt Karl-Heinz Stamm:
                                  Ein zentrales Postulat des subjektbezogenen Politikkonzeptes besagt, daß
                                  das Alltägliche auf das Allgemeine und umgekehrt, das Allgemeine, das
                                  politisch Abstrakte auf das konkrete Besondere zu beziehen ist. Übersetzt
                                  auf die Ebene lokaler Zeitungsproduktion heißt das: lokale politische
                                  Vorgänge sollen auf ihre gesamtgesellschatlichen Funktionen hin
                                  durchleuchtet werden wie umgekehrt die allgemeine, abstrakte Politik
                                  auf das Lokale, Individuelle zurückgeführt werden soll.7
                Insgesamt stellen Alternativzeitungen durch ihre Berichterstattung eine
                Gegenöfentlichkeit dar, die die durch die Berichterstattung in etablierten

                       der deutschen Ausgabe: Entweder werden die französischen Texte übernommen und
                       übersetzt oder es werden neue Texte akquiriert. Dabei ist vertraglich festgelegt, dass der
                       Großteil der Texte von der französischen Ausgabe übernommen wird (Es kommt aber
                       auch vor, dass die französische Redaktion Texte der anderen Redaktionen übernimmt.).
                5      Karl-Heinz Stamm: Alternative Öfentlichkeit. Die Erfahrungsproduktion neuer sozialer
                       Bewegungen. Frankfurt am Main 1988, S. 99. Der Autor erwähnt allerdings auch,
                       dass die Subsumierung unter einen Begrif nicht über die Heterogenität der Gruppen
                       hinwegtäuschen darf.
                6      Ebd., S. 140.
                7      Ebd., S. 146.

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                Medien hergestellte Öfentlichkeit ergänzt. Im Lauf der Zeit hat sich die
                Ausrichtung alternativer Medien gewandelt. Denn:
                                  Viele Medien, die entstanden sind, um Gegenöfentlichkeit herzustellen,
                                  haben sich professionalisiert, sind erfolgreich geworden, auch im
                                  ökonomischen Sinn, und sind vom Sprachrohr sozialer Bewegungen zu
                                  mehr oder weniger distanzierten Beobachtern und Kritikern geworden.8
                Es wird deutlich, dass es sich als schwierig erweist, eine genaue Deinition
                alternativer Medien und alternativen Journalismus zu benennen und dass
                die konkrete Aufassung auch situations- und zeitabhängig ist. Es existieren
                verschiedene Kategorien, die alternativen Journalismus beschreiben, wobei
                in der Literatur häuig festgestellt wird, dass eine solche Bestimmung weder
                eindeutig noch deinitiv ist.
                    Eine häufig zitierte Kategorisierung zur Identifikation von alternativem
                Journalismus ist die Unterteilung von Wolfgang Flieger, der fünf konkretere
                Kategorien vorschlägt9: Die Absage an das traditionelle Kommunikationsmodell:
                Mit der Auflösung der Rollentrennung zwischen Kommunikator und Rezipient
                soll die Demokratisierung der Zeitungsproduktion erreicht werden. Diese Idee
                lässt sich beispielsweise aufgrund Interessenmangel oder Übereifer nicht immer
                umsetzen10.
                    Die Aufhebung der Arbeitsteilung im Produktionsprozess: In der
                Alternativpresse herrscht das Rotationsprinzip vor, bei dem jeder alle Aufgaben
                übernimmt. Die so fehlende Hierarchie kann aber auch Probleme zur Folge
                haben11.
                    Die Herstellung von Authentizität der Berichterstattung: Authentizität
                wird beispielsweise durch Betroffenenberichterstattung gewährleistet, da den
                etablierten Medien vorgeworfen wird, dass diese wenig über Probleme der
                Bevölkerungsmehrheit publizieren, dass Minderheiten selten berücksichtigt
                werden und dass die Berichterstattung von einer Sensationslust geprägt ist12.
                    Die Kopplung von Kommunikation und Aktion: Es soll nicht nur eine
                Kommunikation hergestellt, es sollen auch politische Aktionen initiiert werden,
                mit der Absicht, den Leser zum politischen Engagement anzuregen13.

                8      Armin Scholl: „Vom Dissens zur Dissidenz. Die Bedeutung alternativer Gegenöfentlichkeit
                       für die Gesellschat“. In: Klaus Merten (Hg.): Konstruktion von Kommunikation in der
                       Mediengesellschat. Wiesbaden 2009, S. 91 f.
                9      Vgl. Wolfgang Flieger: Die Taz. Vom Alternativblatt zur linken Tageszeitung. München
                       1992, S. 80 f.
                10     Ebd., S. 81 f.
                11     Ebd., S. 82 f.
                12     Ebd., S. 83.
                13     Ebd., S. 84.

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                    Ökonomischer Aspekt: Alternativmedien sind nicht auf Gewinn
                ausgerichtet, wobei die Finanzierung zu den größten Problemen gehört, vor
                allem weil die Alternativpresse weitestgehend auf Anzeigen verzichtet oder
                diese streng limitiert. Somit wird Mitarbeitern alternativer Medien gar nichts
                bis sehr wenig bezahlt, vor allem bei Publikationen mit einer geringen Auflage.
                Unabhängig von Bezahlung und Kapital haben alle Mitarbeiter jedoch das
                gleiche Verfügungs- und Mitspracherecht14. Flieger fasst den finanziellen
                Konflikt wie folgt zusammen: „Alternative Produktionsweise und finanzielle
                Unabhängigkeit sind oft nur durch die Bereitschaft zur Selbstausbeutung bei
                den Mitarbeitern unter einen Hut zu bringen“15.
                    Diese Kategorien beschreiben vor allem Alternativzeitungen, die sich
                in Lesernähe positionieren, aber sie können in ihrer Gesamtheit kaum
                auf Zeitungen angewandt werden, die eine hohe Auflagenzahl haben und
                von Festangestellten geschrieben werden, wie dies der Fall bei Le Monde
                diplomatique ist. Um Merkmale journalistischer Alternativen im Kontext der
                deutschsprachigen Ausgabe herauszustellen, wird im Folgenden zunächst auf die
                beiden Publikationen eingegangen, die untrennbar mit der Ausgabe verbunden
                sind, mit besonderer Berücksichtigung ihrer alternativen Ausprägungen.

                Der Werdegang der taz: vom Alternativblatt zum etablierten Massen-
                medium
                    Auf deutscher Seite steht Le Monde diplomatique mit der taz in Verbindung.
                Diese Publikation ist ein Beispiel für den Weg einer alternativen Zeitung, die
                sich in der deutschen Medienlandschaft etabliert hat.
                    Ursprüngliches Ziel des Projekts taz war nicht nur die Teilnahme an
                öffentlichen Debatten, sondern auch das Initiieren solcher Diskurse16. Die
                genaue Position der taz blieb dabei für lange Zeit unklar und sorgte für Unmut.
                Die Zeitung sollte kein Meinungsblatt werden, sondern eine Publikation
                darstellen, die in Konkurrenz zu den bereits bestehenden Publikationen steht. Im
                Lauf der Zeit hat sich die „für den journalistischen Inhalt der Zeitung zuständige
                Redaktion […] von anderen Verlagsabteilungen organisatorisch getrennt
                und damit als Redaktion ausdifferenziert“17. Hier wird eine journalistische
                Professionalisierung und Spezialisierung deutlich und damit eine Trennung der
                Arbeitsroutinen innerhalb dieser Zeitung. Derartige Entwicklungen sind dem

                14     Ebd., S. 80.
                15     Ebd., S. 81.
                16     Ebd., S. 113.
                17     Vgl. Bernd Blöbaum: „Strukturwandel der Alternativpresse. Die taz und ihr Publikum“.
                       In: Achim Baum / Siegfried J. Schmidt (Hgg.): Fakten und Fiktion. Über den Umgang mit
                       Medienwirklichkeiten. Konstanz 2002, S. 131.

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                Erfolg der taz geschuldet, da eine alternative Arbeitsweise nicht innerhalb einer
                institutionalisierten und deutschlandweit verbreiteten Zeitung möglich ist.
                    Die Gründung einer Genossenschaft enthält zumindest noch Elemente
                aus den frühen Jahren, als die Zeitung noch ein selbstverwalteter Betrieb
                war. So wird beispielsweise die Mitbestimmung der Angestellten und das
                Gemeinschaftsprinzip erhalten18. Insgesamt spricht Bernd Blöbaum von Indizien
                dafür, dass die taz im Lauf der Jahre „dem neutralen Informationsjournalismus
                näher kommt“19. Dies lässt sich sowohl in der Organisation der Zeitung als auch
                bezüglich der Journalistenrolle feststellen:
                                   Die Zeitung hat eine Chefredaktion eingerichtet, die Ebene der
                                   Ressortleiter eingeführt und sie stellt Praktikanten und Volontäre ein.
                                   Die alte Vorstellung, mit der das Projekt der alternativen Tageszeitung
                                   angetreten war – dass alle Mitarbeiter überall mitreden können – wird
                                   abgelöst.20
                    So sei es möglich gewesen, „die Zeitung in angemessener Qualität verlässlich
                auf den Markt zu bringen“21. Die Journalisten der ersten taz-Generation sehen
                die Tageszeitung vor allem als politisches Projekt der Gegenöffentlichkeit mit
                starken Verbindungen zu sozialen Bewegungen. Die jüngeren Journalisten
                dagegen arbeiten vor allem aus publizistischen Gründen bei dieser Zeitung22.
                Zudem setzt die Redaktion zunehmend Themen selbst und distanziert sich
                von sozialen Bewegungen23. Blöbaum stellt fest, dass „die Selektionskriterien
                […] von bewegungsrelevant auf journalistisch relevant umgestellt [werden].
                Die taz verliert dabei zum Teil ihren ursprünglichen Charakter, ein Medium
                der Gegenöffentlichkeit zu sein. Sie entwickelt sich vom politischen
                zum publizistischen Projekt“24. Dennoch wird die taz auch weiterhin als
                journalistische Alternative auf dem Zeitungsmarkt angesehen, aber eben als
                eine etablierte journalistische Alternative25.
                    Die taz begann als alternative Tageszeitung, die sich jedoch im Lauf
                der Zeit immer mehr an den etablierten Journalismus angeglichen hat.
                Organisatorisch und inhaltlich hat sie sich gewandelt, hat jedoch Elemente der
                Gründungsphase beibehalten. Diese Entwicklung beschreibt die Zeitung auch
                auf ihrer Internetseite:

                18     Ebd., S. 131.
                19     Ebd., S. 132.
                20     Ebd.
                21     Ebd., S. 133.
                22     Ebd.
                23     Ebd., S. 134.
                24     Ebd.
                25     Ebd., S. 133.

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Die deutsche Ausgabe von Le Monde diplomatique                               237

                                  Was als linkes, lautes Projekt am 17. April 1979 begann, ist mittlerweile
                                  eine unabhängige Qualitätszeitung und Institution der deutschen
                                  Presselandschat. taz.die tageszeitung ist ein richtiges Unternehmen und
                                  gleichzeitig Gegenöfentlichkeit. Das mag widersprüchlich scheinen –
                                  doch taz.die tageszeitung lebt durch ihre Gegensätze, die Reibungen und
                                  Veränderung. Schließlich ist das Blatt selbst eine spannende Mischung
                                  aus relevanter Information, intelligenter Unterhaltung und Irritation.
                                  Täglich bringt der Verlag lache Hierarchien mit einer klaren Linie
                                  zusammen.
                                  taz.die tageszeitung engagiert sich für soziale Gerechtigkeit, bedarf zur
                                  Finanzierung dieses Engagements aber auch der Genossenschat. taz.
                                  die tageszeitung ist für ihre MitarbeiterInnen zugleich Sprungbrett und
                                  Landeplatz, die Zeitung entlockt den LeserInnen ot Schmunzeln und
                                  manchmal auch Kopfschütteln. Sie ist meist kritisch, besonders mit sich
                                  selbst. Sie kämpte in allen Instanzen für die Rudi-Dutschke-Straße, ehrt
                                  jedoch noch viel lieber die Heldinnen und Helden des Alltags mit dem
                                  taz Panter Preis. Taz ist auch Kantine und anspruchsvolles Café. Feiner
                                  Shop und faire Kafeelieferantin. Zeitvertreib und Haltung. Die einzige
                                  Konstante ist unsere Unabhängigkeit.26
                Hier werden sowohl alternative Elemente deutlich als auch die Entwicklung der
                taz zu einer etablierten Publikation auf dem deutschen Pressemarkt.

                Die Entwicklung von Le Monde diplomatique: von der Beilage zum
                politischen Engagement
                    Die von Hubert Beuve-Méry und François Honti ins Leben gerufene
                Zeitung Le Monde diplomatique wurde 1954 als Beilage der Tageszeitung Le
                Monde gegründet und war ursprünglich an die diplomatischen Kreise und
                internationalen Mitarbeiter gerichtet, wie bereits der Untertitel andeutete: Le
                journal des cercles diplomatiques et des grandes organisations internationales.
                Die Zeitung beinhaltete vor allem analytische Artikel zur internationalen Politik
                sowie Texte aus den diplomatischen Kreisen oder über das Leben im Ausland27.
                Zu dieser Zeit stellte die Publikation eine Beilage der Tageszeitung dar, um diese
                um Information über und aus dem Ausland zu ergänzen28.
                    1973 übernahm Claude Julien die Redaktionsleitung und gab der Zeitung
                ein neues Gewand, vor allem mit einem verstärkten Blick auf die dritte Welt.
                Unter seiner Leitung vergrößerte die Zeitung beachtlich ihre Auflage und ihre
                Leserschaft. In einem Nachruf aus dem Jahr 200529 erinnert die Zeitung an die

                26     taz.die tageszeitung: Wir über uns:  [24.3.2014].
                27     Vgl. Maxime Szczepanski-Huillery: Du diplomate au citoyen. Études sur la politisation du
                       Monde diplomatique et de ses lecteurs (1954‑2008). Amiens 2009, S. 3 f.
                28     Die Autoren waren zu Beginn fast ausschließlich Redakteure von Le Monde.
                29     Ignacio Ramonet: „Claude Julien ist tot“. In: Le Monde diplomatique. Berlin 2005.

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                Veränderungen durch Claude Julien, wie die Änderung von Logo und Layout,
                die Änderungen der Rubriken, die Erweiterung des Themenbereiches um
                Fragen aus Wirtschaft, Gesellschaft, Kultur und Geistesleben, die Publikation
                von Texten großer Autoren sowie die Selbstständigkeit der Zeitung. Es
                wurden auch Redakteure eingestellt, die nicht von Le Monde kamen, um die
                redaktionelle Unabhängigkeit weiterzuführen30. Ignacio Ramonet, der spätere
                Chefredakteur, unterstreicht die Bedeutung Claude Juliens für die Zeitung:
                                  Unsere Zeitung verdankt ihm praktisch alles, was ihre Identität ausmacht:
                                  ihre herausgeberische Linie, ihre Aufassung von anspruchsvollem
                                  Journalismus, der Einbildungskrat mit Strenge und Präzision verbindet,
                                  ihre Nüchternheit und Bescheidenheit, ihre Ablehnung jedweder
                                  geopolitischen Hegemonie, jedes Wirtschatsdogmas, das die Macht
                                  des Geldes stärkt, jedes Anspruchs welcher Kultur auch immer auf
                                  Weltherrschat.31
                Heute gestaltet eine kleine Gruppe fest angestellter Redakteure die Seiten der
                Zeitung, wobei der Großteil der Texte von externen Mitarbeitern geschrieben
                wird32.
                    Erst im Lauf der Zeit engagierte sich die Redaktion über das Publizieren
                hinaus. So wurde nach einem Artikel von Ramonet die Organisation ATTAC
                gegründet33. Dies zeigt, dass auf eine Präsentation alternativer Ideen in einer
                Zeitung das Engagement folgte. Auch die Leser werden durch die Vereinigung
                Amis du Monde diplomatique, die Konferenzen und Debatten organisiert,
                verstärkt eingebunden.
                    Insgesamt lässt sich ein umgekehrter Weg feststellen als in der deutschen
                taz: Während die deutsche Publikation ihren Ursprung in sozialen Bewegungen
                hat und aus einer politischen Idee heraus entstanden ist, ging die französische
                Ausgabe von Le Monde diplomatique aus einer anderen französischen
                Publikation hervor und hat erst im Lauf der Zeit politisches Engagement gezeigt.

                Die deutschsprachige Ausgabe von Le Monde diplomatique: eine
                Zwischenposition
                    Zwischen der deutschen taz und der französischen Zeitung Le Monde
                diplomatique positioniert sich die deutsche Ausgabe von Le Monde
                diplomatique. Deutsche Redakteure der taz und französische Redakteure

                30     Später wurde die Zeitung auch inanziell und geographisch unabhängig.
                31     Ramonet: „Claude Julien“.
                32     Die Mitarbeiter kommen vor allem aus den drei Bereichen Universität, Aktivismus und
                       Journalismus. Vgl. Nicolas Harvey: Le Monde diplomatique. Un concept éditorial hybride
                       au conluent du journalisme, de l’université et du militantisme. Rennes 2014.
                33     Nach dem Artikel Désarmer les marchés im Dezember 1997 folgte 1998 die Gründung
                       von ATTAC.

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Die deutsche Ausgabe von Le Monde diplomatique                            239

                beschlossen gemeinsam, dieses Projekt ins Leben zu rufen. Ein Projekt, das zwar
                an Zeitungen mit alternativem Hintergrund gebunden ist, jedoch selbst nicht
                von einer aktivistischen Bewegung geprägt wird. Die deutschen Redakteure
                engagieren sich nicht außerhalb der Redaktion34.
                    Obwohl die deutsche Ausgabe von Le Monde diplomatique aus zwei
                alternativen Zeitungen hervorging und stets den Anforderungen gerecht werden
                muss, die durch die anderen Publikationen an sie gestellt werden, entzieht sie
                sich der Alternativität der anderen beiden Zeitungen. Wenn man alternativen
                Journalismus ausschließlich an aktivistischem Engagement festmacht, fällt es
                schwer, Le Monde diplomatique als ein alternatives Medium aufzufassen. Zumal
                auch die Redaktionsstruktur und die Preispolitik nicht den Elementen einer
                alternativen Zeitung entsprechen.
                    Diese Überlegungen führen mich zu folgender Fragestellung: Inwiefern
                kann im Fall der deutschsprachigen Ausgabe von Le Monde diplomatique
                überhaupt von alternativem Journalismus gesprochen werden?
                    Die deutsche Ausgabe von Le Monde diplomatique stellt ein hybrides
                Kommunikationsobjekt dar. Sie ist strukturell sowohl an die französische
                Ausgabe als auch an die deutsche Tageszeitung gebunden. Ihre Einbettung
                in einen bereits bestehenden journalistischen Kontext prägt sowohl das
                Erscheinungsbild als auch den Inhalt dieser Zeitung und sie steht somit
                zwischen den unterschiedlichen Strukturen zweier alternativer Zeitungen und
                deren Inhalten. Nicht von Alternativjournalismus zu sprechen, obwohl die
                genannten Verbindungen zu zwei Zeitungen bestehen, die mit alternativem
                Journalismus assoziiert werden, erscheint zweifelhaft.
                    Die zu begründenden Vermutung ist, dass die Zeitung zwar nicht strukturell
                alternativen Journalismus darstellt, aber eine inhaltliche Alternative verkörpert
                und aufgrund der Verbindungen zu zwei engagierten Blättern auch als
                alternatives Medium gilt, mit einer starken organisatorischen und strukturellen
                Verbindung zur französischen Ausgabe von Le Monde diplomatique und einer
                komplementären Position der taz gegenüber.

                34     Die Redaktion schreibt auf ihrer Internetseite über die eigene Publikation Folgendes:
                       „LE MONDE diplomatique ist ein einzigartiges Medium: modern, ofen, international
                       und, nicht zuletzt, links, d.h. einem radikalen Verständnis von Chancengleichheit
                       verplichtet. Mit Berichten aus der Wirklichkeit beleuchtet die Zeitung die Folgen und
                       Zusammenhänge der Globalisierung, zeigt ökonomische und soziale Verteilungskonlikte
                       auf, und sie macht – unser besonderes Markenzeichen – anhand von Karten anschaulich,
                       welche Interessen im Spiel sind.“ 
                       [24.3.2014]. Dies unterstreicht, dass die deutsche Ausgabe der redaktionellen Linie
                       der französischen Zeitung folgt. Allerdings bringen sich die Redakteure außerhalb der
                       Redaktion nicht politisch ein (zumindest nicht im Namen der Zeitung), sondern sehen
                       ihre Aufgaben ausschließlich in der Redaktion und nicht im Aktivismus. Aus diesem
                       Grund war es auch nicht die Redaktion, die ATTAC in Deutschland gegründet hat.

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                Mediation alternativer Ideen
                    Nach der Betrachtung der strukturellen Gegebenheiten der deutschen
                Ausgabe von Le Monde diplomatique wird nun die Präsentation einer
                inhaltlichen Alternative, die Mediation alternativer Ideen im öffentlichen Raum
                thematisiert, sowie die Art und Weise, wie dieses in der Zeitung umgesetzt wird.
                    In der Regel wird ausgehend von einer alternativen Bewegung auf ein
                alternatives Medium verwiesen. Hier wird ein umgekehrter Blick vorgestellt,
                eine Betrachtung des Inhalts einer Zeitung, ohne auf die Struktur einzugehen,
                die – wie zuvor deutlich wurde – eben nicht alternativ ist. Dabei wird,
                ausgehend von der Konstitution der deutschen Zeitung durch die Übernahme
                der Texte der französischen Redaktion, eine inhaltliche Alternative von der
                deutschen Redaktion übernommen.
                    Wie bereits beschrieben, konstruieren alternative Medien eine
                Gegenöffentlichkeit, die Themen behandelt, die von den etablierten Medien
                nicht berücksichtigt werden. Eine Inhaltsanalyse der deutschsprachigen
                Ausgabe von Le Monde diplomatique, die selbst keine alternative Struktur und
                Organisation hat, aber dennoch im Kontext eines alternativen Erbes steht, zeigt
                die Beschaffenheit und die Mediation dieser inhaltlichen Alternative. Armin
                Scholl definiert Gegenöffentlichkeit wie folgt: „Gegenöffentlichkeit kann […]
                definiert werden als die Thematisierung und der Diskurs von Informationen
                und Meinungen, die in den etablierten Massenmedien unterbleiben oder
                unterdrückt werden“35.
                    Eine qualitative Analyse von Artikeln der deutschsprachigen Ausgabe
                von Le Monde diplomatique36 dient der näheren Beschreibung des Diskurses
                der Zeitung. Eine Betrachtung der Texte zu den Ereignissen von Fukushima
                zeigt eine Darstellungsart, die sich von der Berichterstattung in anderen
                Medien unterscheidet. Die Artikel gehen über eine neutrale Berichterstattung
                hinaus und beinhalten Kommentare zu anderen Ländern und Kulturen
                sowie Stellungnahmen zu den dargestellten Themen. Die Berichte sind sehr
                personalisiert, es kommen Betroffene zu Wort und es wird teilweise in der
                ersten Person geschrieben. Zudem ist die Berichterstattung sehr parteiisch und
                unterstützt die Seite der Aktivisten. Es wird eine klare politische Tendenz der
                Autoren deutlich, beispielsweise wird die Gewalt gegen Aktivisten beschrieben
                oder Widerstandsbewegungen hervorgehoben37.

                35     Scholl: „Vom Dissens zur Dissidenz“, S. 89.
                36     Hier wurden alle deutschsprachigen Artikel der Zeitung berücksichtigt, die das Wort
                       „Fukushima“ beinhalteten.
                37     All diese Merkmale inden sich nicht ausschließlich in der Berichterstattung zu den
                       Ereignissen in Fukushima, sondern prägen die journalistische Schreibweise in Le Monde
                       diplomatique. Zudem werden die meisten Texte von Autoren geschrieben, die nicht
                       in der Redaktion arbeiten, d.h. schritstellerische Eigenheiten der einzelnen Experten

RGHS11_2016.indb 240                                                                                           26/05/16 11:44
Die deutsche Ausgabe von Le Monde diplomatique                                 241

                    Eine quantitative Inhaltsanalyse erlaubt allgemeinere Aussage zur
                Themensetzung innerhalb der Zeitung. Was genau als alternativ betrachtet
                wird, ist immer im Kontext von etwas anderem zu verstehen. Für die
                Analyse einer Gegenöffentlichkeit sind demnach Indikatoren notwendig,
                die charakteristisch für die Berichterstattung etablierter Medien sind, um
                dementsprechend feststellen zu können, inwiefern die Berichterstattung von Le
                Monde diplomatique diesen Indikatoren (nicht) entspricht. Somit können auch
                allgemeinere Aussagen zum Medieninhalt dieser Zeitung gemacht werden.
                    John Galtung und Mari Holmboe Ruge haben analysiert, nach welchen
                Kriterien Nachrichten in Zeitungen ausgewählt werden38. Dabei haben sie
                acht kulturunabhängige Faktoren39 (Frequenz, Schwellenwert, Eindeutigkeit,
                Bedeutsamkeit, Konsonanz mit Erwartungen, Überraschung, Kontinuität und
                Variation) und vier kulturabhängige Faktoren40 (Elitenation, Eliteperson,
                Personalisierung und Negativismus) definiert. Vor allem die von den Autoren
                aufgestellte Additivitätshypothese41 wird durch die Analysen bestätigt: Je mehr
                Faktoren auf ein Ereignis zutreffen, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass
                es von der Redaktion ausgewählt wird42.
                    Eine Vollerhebung der Jahrgänge 2011 und 201243 zeigt, dass die
                Themenauswahl an sich – ebenso wie in vielen anderen Zeitungen – sehr
                politikzentriert ist. Auch kann nicht festgestellt werden, dass Le Monde
                diplomatique44 sich überhaupt nicht an traditionellen Nachrichtenwerten
                orientiert. Es kann also nicht von einem radikal alternativen Diskurs gesprochen
                werden, sondern eher von einer Berichterstattung mit alternativen Tendenzen,
                die jedoch deutlich sind. Die Artikel schließen, allein schon aufgrund der vielen
                unterschiedlichen Autoren, thematisch in der Regel nicht an andere Berichte

                       unterscheiden sich, wobei die politische Ausrichtung der Zeitung sich nicht verändert, da
                       die Redaktion bei der Artikelauswahl nach wie vor das letzte Wort hat.
                38     Vgl. Johan Galtung / Mari Holmboe Ruge: „he Structure of Foreign News“. In: Journal of
                       Peace Research 2, 1 (1965), S. 64-91.
                39     Ebd., S. 65.
                40     Ebd., S. 68.
                41     Darüber hinaus gehen die Autoren von einer Komplementaritätshypothese aus: Je stärker
                       ein Faktor auf ein Ereignis zutrit, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass es von der
                       Redaktion ausgewählt wird. Diese Hypothese sei jedoch noch zu konkretisieren (ebd.,
                       S. 72 f.).
                42     Ebd., S. 71.
                43     Hier wurden alle Artikel der deutschen und der französischen Ausgabe von Le Monde
                       diplomatique der Jahre 2011 und 2012 in die Analyse einbezogen und u.a. die Variablen
                       Land, hema, Position in der deutschen Ausgabe, Position in der französischen Ausgabe,
                       Autor und Übersetzung erhoben. Dabei wurden Nebentexte und tabellarische Übersichten
                       nicht berücksichtigt. Somit stellen 422 deutschsprachige und 549 französischsprachige
                       Artikel die Grundgesamtheit der Untersuchungsobjekte dar.
                44     Dies trit sowohl auf die deutsche als auch auf die französische Ausgabe zu.

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                an. Diese Themenvariation wird durch das Fehlen von Rubriken begünstigt
                und hat zur Folge, dass das Lesen nicht durch Oberkategorien geleitet wird. Das
                vermeintliche Fehlen von Konstanten in der Zeitungslektüre kann wiederum
                den Erwartungen des Publikums entsprechen45.
                    Im Folgenden werde ich auf den Umgang der Redaktion mit einer
                internationalen Berichterstattung eingehen, denn besonders die Thematisierung
                der Länder und Weltregionen ist nicht vergleichbar mit anderen Publikationen.
                Vielmehr werden Länder und geographische Regionen sowie Themen
                ausgewählt, die nicht den genannten Nachrichtenfaktoren entsprechen. Die
                Herausforderung für die Redakteure besteht also darin, einen Kompromiss
                zu finden, zwischen einer Berichterstattung, die eine Alternative46 zu den
                anderen Zeitungen darstellt, und einer Berichterstattung, die genügend dem
                Leserinteresse entspricht, gerade weil die Distanz zwischen den Lesern und den
                behandelten Themen und Regionen größer ist als bei anderen Zeitungen.
                    Beide Ausgaben von Le Monde diplomatique werden von einer internationalen
                Berichterstattung geprägt, jedoch mit unterschiedlichen Schwerpunkten, zumal
                beide Ausgaben Texte beinhalten, die nicht in der anderen Ausgabe publiziert
                werden. Die Analyse der Jahrgänge 2011 und 2012 zeigt, dass nur fünf Artikel
                sowohl auf der deutschen als auch auf der französischen Titelseite veröffentlicht
                wurden. Die deutsche Ausgabe unterscheidet sich hier deutlich von der
                französischen Ausgabe und die Redaktion unterstreicht, dass sie zumindest
                auf den Titelseiten möglichst eine eigene Themenauswahl für eine eigene
                Leserschaft präsentiert.
                    Abweichungen werden auch in der unterschiedlichen Gewichtung der
                Länder erkennbar. So werden beispielsweise die Artikel über die frankophonen
                Länder Europas und Kanada nicht von der deutschen Ausgabe übernommen47.
                Und obwohl von den französischen als auch von den deutschen Redakteuren
                gesagt wird, dass Osteuropa die besondere Stärke der deutschen Zeitung sei,
                finden sich in etwa gleich viele Artikel über diesen Teil Europas in beiden
                Zeitungen. Zudem übernimmt die deutsche Redaktion den Großteil dieser
                Texte von der französischen Ausgabe48. Deutlicher wird der Unterschied bei

                45     Dies verweist auf einen besonderen Umgang der Zeitung mit den traditionellen
                       Nachrichtenfaktoren „Konsonanz mit Erwartungen“, „Variation“ und „Elitenation“.
                46     Hier stellt die Alternative vor allem auch ein Verkaufsargument dar.
                47     Dies bezieht sich auf frankophone Länder außer Frankreich. Insgesamt hat die deutsche
                       Redaktion im Untersuchungszeitraum fünf Artikel zu Frankreich von der französischen
                       Redaktion übernommen.
                48     An diesem Beispiel wird deutlich, dass die Übernahme in beide Richtungen erfolgt, d.h.
                       dass sowohl die französische Redaktion Texte der deutschen Redaktion als auch die deut-
                       sche Redaktion Texte der französischen Redaktion übernimmt. Allerdings ist letzteres
                       der Regelfall.

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Die deutsche Ausgabe von Le Monde diplomatique                             243

                der Betrachtung der Berichterstattung über Frankreich und Deutschland.
                Frankreich ist eines der Länder, über die in der französischen Ausgabe am
                meisten berichtet wird, wobei die deutsche Redaktion nur einen kleinen Teil
                dieser Texte für die eigene Ausgabe übersetzt. Die französischen Texte über
                Deutschland übernimmt die deutsche Redaktion in der Regel nicht, sondern
                akquiriert eigene49. Allerdings ist im Vergleich die Anzahl der Artikel über
                Frankreich in der französischen Ausgabe deutlich höher als die Anzahl der
                Artikel über Deutschland in der deutschen Ausgabe50. Angesichts dessen,
                dass Le Monde diplomatique in Deutschland auch eine Beilage der taz ist,
                die natürlich über und aus Deutschland berichtet und Länder thematisiert,
                die eine deutsche Leserschaft betreffen, besteht keine Notwendigkeit auch
                in Le Monde diplomatique eine Vielzahl an deutschen Themen abzudecken.
                Die deutsche Ausgabe von Le Monde diplomatique positioniert sich in einer
                deutsch-französischen Umgebung, wobei die Redaktion aber gerade über diese
                Länder wenig berichtet. Anstatt Nachbarländer zu thematisieren, behandelt
                die Zeitung eher entfernt liegende Länder. Der gleiche Name und eine gleiche
                editorisch-politische Linie suggerieren einen gleichen Bezug zum Ausland
                und somit auch die gleiche Distanz zwischen Bericht und Leserschaft bzw.
                zwischen Internationalem und nationaler Leserschaft. Allerdings wird in der
                deutschen Ausgabe eine größere Distanz hergestellt. Dies hat eine Verankerung
                im Entfernten zur Folge, während die französische Zeitung ihre französischen
                Wurzeln auch in der Berichterstattung zeigt. Dies unterstreicht, dass jede
                Redaktion eine an die eigenen Leser angepasste Medienagenda publiziert51.
                Die Verankerung der deutschsprachigen Zeitung ist nicht nur an das Gebiet
                gebunden, wo sich die Redaktion befindet, sondern auch an einen doppelten
                Bezug: Einerseits präsentiert die Zeitung eine Vielfalt an Territorien, die nicht
                dem Gebiet der Publikation der deutschsprachigen Ausgabe entsprechen
                und andererseits ist diese Vielfalt immer eine nationale Perspektive auf das
                Internationale. Die Unterschiede verdeutlichen, dass die beiden Ausgaben die
                Idee einer internationalen Berichterstattung auf den jeweiligen Sprachraum
                anwenden und anpassen. Vor allem der Fall der deutschsprachigen Ausgabe,

                49     In den beiden untersuchten Jahrgängen hat die französische Redaktion sieben Artikel zu
                       Deutschland publiziert, von denen die deutsche Redaktion keinen übernommen hat. Sie
                       hat stattdessen in den beiden Jahren 2011 und 1012 fünf Artikel über das eigene Land
                       selbst akquiriert.
                50     Die französische Ausgabe hat 74 Artikel zu Frankreich publiziert.
                51     Allein die Titelauswahl macht deutlich, dass die Texte an die Leserschat angepasst
                       werden. So wird eine französische Überschrit, die Deutschland beinhaltet (L’Europe
                       face à l’hégémonie allemande, Dezember 2012), im Deutschen komplett anderes
                       formuliert (Europas Preis und Ehre, Dezember 2012). Zudem zeigen Unterschiede in den
                       Übersetzungen, dass jede Redaktion für die eigene Leserschat nützliche Erklärungen und
                       Bezüge hinzufügt bzw. einige Informationen nicht mitübersetzt.

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                die weniger über Deutschland und die Nachbarländer oder so genannte
                Elitenationen berichtet, stellt eine Alternative zu der Berichterstattung innerhalb
                des deutschen Pressemarktes dar.
                    Die von Le Monde diplomatique hergestellte Öffentlichkeit entspricht
                nicht derjenigen, die durch etablierte Medien bereitgestellt wird. Die
                Auswahlmechanismen unterscheiden sich sowie die Präsentation der
                Themen. Somit stellt die Publikation eine Gegenöffentlichkeit her. Im Fall der
                deutschsprachigen Ausgabe wird deutlich, dass diese auch ohne ein direktes
                aktivistisches Engagement der Redaktion erreicht wird, sodass man im Fall
                der deutschsprachigen Ausgabe zumindest von einer Zeitung mit alternativen
                Tendenzen sprechen kann, zumal die Übergänge zwischen alternativem und
                etabliertem Journalismus fließend sein können52. Dabei ist das Verhältnis von
                Öffentlichkeit und Gegenöffentlichkeit nicht als Gegensatz zu verstehen. Die
                Grundidee von Le Monde diplomatique beinhaltet u.a. eine Kritik an den Folgen
                und Zusammenhängen der Globalisierung53, wobei die Berichterstattung, die
                eine Gegenöffentlichkeit präsentiert, einen Diskurs anstoßen soll und nicht
                eine Existenz außerhalb der Öffentlichkeit darstellt. Vielmehr wird die durch
                etablierte Medien bereitgestellte Öffentlichkeit ergänzt und um die Themen
                der alternativen Medien ergänzt. Scholl fasst dies folgendermaßen zusammen:
                                  Das Verhältnis von Öfentlichkeit und Gegenöfentlichkeit ist […]
                                  dynamisch und von unterschiedlichen sowie wechselseitigen Einlüssen
                                  geprägt. […] Gegenöfentlichkeit ist gleichermaßen Bestandteil der
                                  Gesellschat, indem es das (thematische) Spektrum der Öfentlichkeit
                                  erweitert, und Protest gegen die Gesellschat insgesamt, indem es sich in
                                  umfassende Opposition zur Öfentlichkeit stellt.54
                Die Ausführungen zeigen, wie sich eine internationale alternative Zeitung im
                öfentlichen Raum positioniert und eine Gegenöfentlichkeit konstruiert, wohl
                wissend, dass die Übergänge zwischen alternativen und etablierten Medien sowie
                zwischen Öfentlichkeit und Gegenöfentlichkeit ließend sind und vor allem
                letztere keine Gegensätze darstellen. Eine Alternative ist immer im Kontext zu
                betrachten, wobei das Alternative nicht ixiert ist, d.h. etwas Alternatives kann
                bald schon etabliert sein.
                    Die Einführung der deutschsprachigen Ausgabe von Le Monde diplomatique
                in den deutschen Zeitungsmarkt fand auf der Schnittstelle zweier alternativer
                Zeitungen statt. Die Zwischenposition verdeutlicht, dass auch eine Zeitung
                ohne aktivistisch engagierte Redaktion und ohne alternative Struktur
                alternative Tendenzen aufweisen kann. Die Organisation innerhalb von Le
                Monde diplomatique hat zur Folge, dass alternative Ideen von einer nicht-

                52     Vgl. Scholl: „Vom Dissens zur Dissidenz“, S. 94.
                53     Siehe Anm. 34.
                54     Scholl: „Vom Dissens zur Dissidenz“, S. 91.

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Die deutsche Ausgabe von Le Monde diplomatique                   245

                engagierten Redaktion übernommen und an die eigene Leserschaft angepasst
                werden. Eine bestimmte Nachrichtenpräsentation und Nachrichtenauswahl
                stellt eine inhaltliche Alternative dar und verweist auf die Konstruktion einer
                Gegenöffentlichkeit. Da die direkte Anbindung an Aktionismus im Fall der
                deutschen Ausgabe von Le Monde diplomatique nicht gegeben ist, konzentriert
                sich die Wahrnehmung einer journalistischen Alternative ausschließlich auf
                den Inhalt dieser Publikation. Alternativer Journalismus muss demnach nicht
                nur durch eine alternative Redaktionsstruktur und politisches Engagement
                entstehen. Die deutschsprachige Ausgabe von Le Monde diplomatique
                zeigt, dass ihre Alternativität eine Kombination aus alternativem Erbe der
                journalistischen Umgebung und alternativem Inhalt ist, die für die eigene
                Leserschaft rekonfiguriert wird.

RGHS11_2016.indb 245                                                                              26/05/16 11:44
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