DIE GRUNDFREIHEITEN DES EUROPÄISCHEN BINNENMARKTS UND DIE COVID-19-PANDEMIE

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DIE GRUNDFREIHEITEN DES EUROPÄISCHEN BINNENMARKTS UND DIE COVID-19-PANDEMIE
DIE GRUNDFREIHEITEN
                                        Eingereicht von
                                        Maximilian
                                        Wichenthaler-Sternbach

DES EUROPÄISCHEN                        Angefertigt am
                                        Institut für Europarecht

BINNENMARKTS UND                        Beurteiler / Beurteilerin

DIE COVID-19-PANDEMIE
                                        Univ.-Prof. Dr.
                                        Franz Leidenmühler

                                        September 2020

Diplomarbeit
zur Erlangung des akademischen Grades

Magister der Rechtswissenschaften
im Diplomstudium

Rechtswissenschaften

                                           JOHANNES KEPLER
                                           UNIVERSITÄT LINZ
                                           Altenberger Straße 69
                                           4040 Linz, Österreich
                                           jku.at
                                           DVR 0093696
EIDESSTATTLICHE ERKLÄRUNG
Ich erkläre an Eides statt, dass ich die vorliegende Diplomarbeit selbstständig und ohne fremde
Hilfe verfasst, andere als die angegebenen Quellen und Hilfsmittel nicht benutzt bzw die wörtlich
oder sinngemäß entnommenen Stellen als solche kenntlich gemacht habe.

Die vorliegende Diplomarbeit ist mit dem elektronisch übermittelten Textdokument identisch.

Ort, Datum

Unterschrift

                                                II
DANKSAGUNG
An dieser Stelle würde ich gerne die Möglichkeit nutzen, um mich bei den Personen zu bedanken,
die mich die letzten paar Jahre unterstützt haben.

Ganz besonders möchte ich mich bei meiner Familie bedanken. Meiner Mutter, die immer für mich
da ist, ein offenes Ohr in schwierigen Zeiten hat und ohne die ich womöglich nie den Weg des
Studiums eingeschlagen hätte; meinem Vater, der durch seine analytische Denkweise immer ein
hervorragender Diskussionspartner ist und mir dadurch eine alternative Sicht auf die Dinge
aufzeigt; meinem Bruder, der immer gut gelaunt ist und weiß, wie er mich motivieren kann; meinen
Großeltern, die auf ihre eigene Art mir immer für mich da waren und meiner Freundin, die viel
Verständnis für meine außeruniversitären Aktivitäten aufbringt, mich dabei unterstützt und der ich
eine korrigierte Diplomarbeit verdanke.

Außerdem bedanke ich mich bei Prof. Dr. Franz Leidenmühler bedanken, für das angenehme und
freundliche Klima während des Verfassens dieser Arbeit und der überhaupt durch seine
zugängliche Lehrweise mein Interesse für das Fach Europarecht geweckt hat.

                                                III
Inhaltsverzeichnis

 I.         Einleitung .......................................................................................................................... 1

 II.        Die Kompetenzverteilung in der EU .................................................................................. 2

       A.        Prinzipien der Kompetenzverteilung .............................................................................. 2

            1.      Das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung........................................................ 3

            2.      Das Subsidiaritätsprinzip ........................................................................................... 3

            3.      Das Verhältnismäßigkeitsprinzip ................................................................................ 3

       B.        Kompetenztypen ........................................................................................................... 3

            1.      Ausschließliche Kompetenzen der EU ....................................................................... 4

            2.      Geteilte Kompetenzen ............................................................................................... 4

            3.      Unterstützungskompetenzen der EU ......................................................................... 5

 III. Kompetenzen der EU in der COVID-19-Pandemie ............................................................ 5

       A.        Historischer Hintergrund der Kompetenzzuweisung ...................................................... 5

       B.        Verweisnormen für die unterstützende Kompetenz der Union ....................................... 7

            1.      Schutz und Verbesserung der menschlichen Gesundheit Art 6 Abs 1 lit a ................. 7

            2.      Katastrophenschutz Art 6 Abs 1 lit f ........................................................................... 7

       C.        Die einschlägigen Aufgabenbereiche der Union Art 168 Abs 1 AEUV ........................... 7

            1.      Bekämpfung von weit verbreiteten schweren Krankheiten ......................................... 7

            2.      Beobachtung, frühzeitige Meldung und Bekämpfung scherwiegender
                    grenzüberschreitender Gesundheitsgefahren ............................................................ 8

       D.        Verhütung von Naturkatastrophen oder vom Menschen verursachte Katastrophen –
                 Art 196 AEUV ................................................................................................................ 8

            1.      Historischer Rückblick................................................................................................ 8

            2.      Die Ziele des Art 196 AEUV ....................................................................................... 9

 IV. Die Wahl der Sekundärrechtsakte seitens der EU ............................................................. 9

       A.        Allgemein ...................................................................................................................... 9

            1.      Verordnung .............................................................................................................. 10

            2.      Richtlinie .................................................................................................................. 10

            3.      Beschluss ................................................................................................................ 10

            4.      Empfehlungen und Stellungnamen .......................................................................... 11
                                                                          IV
B.        Atypische Handlungen der Union ................................................................................ 11

          1.      Mitteilungen und andere Verwaltungsvorschriften .................................................... 11

V.        Der EU-Binnenmarkt ....................................................................................................... 12

     A.        Historischer Hintergrund .............................................................................................. 12

     B.        Der Binnenmarkt und die Grundfreiheiten.................................................................... 12

          1.      Warenverkehrsfreiheit .............................................................................................. 13

          2.      Arbeitnehmerfreizügigkeit ........................................................................................ 14

          3.      Niederlassungsfreiheit ............................................................................................. 14

          4.      Dienstleistungsfreiheit .............................................................................................. 15

          5.      Freier Kapital- und Zahlungsverkehr ........................................................................ 15

          6.      Allgemeine Freizügigkeit .......................................................................................... 16

VI. Maßnahmen betreffend der Grundfreiheiten während der COVID-19-Pandemie............. 16

     A.        Grenzpolitik der Europäischen Union und der Mitgliedstaaten ..................................... 17

          1.      Grenzschließungen einzelner Mitgliedstaaten und die Reaktion der EU .................. 17

          2.      Außengrenzen der EU ............................................................................................. 19

     B.        Wirtschaftspolitische Maßnahmen ............................................................................... 19

          1.      Green-Lanes für Güterfahrzeuge ............................................................................. 19

          2.      Luftfracht.................................................................................................................. 21

          3.      Leitlinien für die Wahrung der Freizügigkeit systemrelevanter Arbeitskräfte ............. 22

     C.        Sonstige Maßnahmen ................................................................................................. 23

          1.      Maßnahmen im Gesundheitsbereich, um Engpässen entgegenzuwirken ................ 23

          2.      SURE - Support mitigating Unemployment Risks in Emergency .............................. 24

          3.      Lockerungsmaßnahmen .......................................................................................... 24

VII. Sekundärrechtlich eingerichtete Institutionen .................................................................. 25

     A.        Die Rolle der ECDC in der COVID-19-Pandemie ........................................................ 25

VIII. Aktueller Stand................................................................................................................ 26

IX. Ausblick .......................................................................................................................... 27

X.        Literaturverzeichnis ......................................................................................................... 28

     A.        Literatur ....................................................................................................................... 28

     B.        Materialien ................................................................................................................... 29
                                                                         V
C.    Rechtsvorschriften ....................................................................................................... 33

   D.    Judikatur...................................................................................................................... 34

XI. Abbildungsverzeichnis: ................................................................................................... 34

                                                                  VI
I. Einleitung

Diese Arbeit widmet sich auf den folgenden Seiten dem Einfluss der COVID-19-Pandemie auf den
Europäischen Binnenmarkt, sowie dessen Teilnehmer und welche Einschränkungen dadurch die
Grundfreiheiten erfahren haben.
Das Virus, welches die Infektions- und Lungenkrankheit COVID-19 auslöst, lautet SARS CoV-2,
steht im englischen für severe acute respiratory syndrome coronavirus 2 und ist besser bekannt
unter dem Namen Coronavirus.1 Die Symptome, die bei den meisten Menschen auftreten, sind
Fieber, trockener Husten und Müdigkeit. Doch vor allem Menschen mit Vorerkrankungen und
ältere Menschen zählen zur Risikogruppe. Die Krankheit kann sich unter schwerwiegenderen
Symptomen wie Kurzatmigkeit oder Druck in der Brust äußern, wobei die Betroffenen dann im
schlimmsten Fall künstlich beatmet werden müssen.2
Da es sich bei COVID-19 um eine Atemwegserkrankung handelt, wird angenommen, dass sich
das Virus durch Tröpfcheninfektion überträgt, was die rasche Ausbreitung der Krankheit erklärt.1
Am 31.12.2019 wurde seitens des Büros der WHO in China ein auffälliger Anstieg von
Lungenentzündungen in der chinesischen Stadt Wuhan in der Provinz Hubei festgestellt.3
Ausgehend von der 11-Millionen-Metropole hat sich das Coronavirus binnen Wochen global
ausgebreitet.1
Die ersten Infektionsfälle in der Europäischen Union wurden Ende Jänner von den
Gesundheitsbehörden gemeldet, weshalb am 29.01.2020 die Kommissarin für Gesundheit Stella
Kyriakides und der für Krisenschutz und humanitäre Hilfe zuständige Kommissar Janez Lenarčič
vor die Presse traten und auf die drohende Gefahr hinweisen wollten. Tatsächlich wurde aber
vonseiten der Mitgliedstaaten erklärt, gut auf eine Pandemie vorbereitet zu sein und ebenso genug
Masken, sonstige Schutzmaterialien und Beatmungsgeräte vorrätig zu haben.
Am 13.03.2020, gut sechs Wochen nach der ersten Pressekonferenz der beiden EU-Kommissare,
wird nach Italien auch in Österreich der Lockdown verkündet. Einige Tage davor haben schon
andere Mitgliedstaaten wie Ungarn, Tschechien und die Slowakei ihre Binnengrenzen
geschlossen, ohne dies mit den angrenzenden Mitgliedstaaten oder der Europäischen Union zu
koordinieren.4
Geprägt waren die folgenden Tage und Wochen in Österreich von Pressekonferenzen der jeweilig
zuständigen Minister, die über die neuesten Infektionszahlen und Beschränkungen informierten.

1 Vgl Bundesministerium Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz, Neuartiges Coronavirus (COVID-19),
in sozialministerium.at, 16.05.2020, URL: https://www.sozialministerium.at/Themen/Gesundheit/Uebertragbare-
Krankheiten/Infektionskrankheiten-A-Z/Neuartiges-Coronavirus.html , abgerufen am 19.05.2020.
2 Vgl World Health Organization, Cornonavirus, in who.int, oD, URL: https://www.who.int/health-

topics/coronavirus#tab=tab_1 , abgerufen am 19.05.2020.
3 Vgl Europäische Kommission, Coronavirus Timeline, in ec.europa.eu, oD, URL:

https://ec.europa.eu/austria/news/focus/corona_timeline_de , abgerufen am 19.05.2020.
4 Vgl Lehermayr/Reinhart: Versagt die EU in der Corona-Krise?, in addendum.org, 08.05.2020, URL:

https://www.addendum.org/coronavirus/eu-reaktion/ , abgerufen am 11.05.2020.
                                                      1
Die von der österreichischen Regierung verkündeten Beschränkungen des öffentlichen Lebens
und das Schließen der Schulen und Universitäten basierten auf dem am 15.03.2020
beschlossenen COVID-19 Gesetz.5
Während dieser Zeit stiegen die Infektionszahlen exponentiell an. Am 29.01.2020 waren acht auf
Corona positiv getestete Fälle in der EU bekannt.4 Ein Bericht des Committee for the Coordination
of Statistical Activities CCSA verdeutlicht das exponentielle Wachstum der Infektionszahlen und
so gab es einen extrem starken Anstieg bis 30.05.2020 in Europa mit 1.406.899 positiv auf
COVID-19 bestätigten Infektionen.6
Um zu verstehen, wie es zu einem solchen Ausbruch an Infektionszahlen kommen konnte und
welche Rolle die Europäische Union dabei eingenommen hat und um die Grundfreiheiten des
Binnenmarktes weiterhin zu garantieren beziehungsweise aufrecht zu erhalten, werden die
Vorkehrungen seitens der EU im Frühjahr 2020 in den folgenden Seiten detailliert aufgearbeitet.
Somit muss man sich zuerst damit auseinandersetzen, welche Kompetenzen der EU zum Thema
grenzüberschreitender Pandemien zukommen.

II. Die Kompetenzverteilung in der EU

Die EU musste sich von einigen Mitgliedstaaten, aber auch von der Presse, den Vorwurf gefallen
lassen, dass sie die Mitglieder in der Krise im Stich gelassen habe und wenn überhaupt, erst viel
zu spät reagiert habe. In den folgenden Kapiteln wird darauf eingegangen, auf welchen
grundlegenden Prinzipien die Kompetenzverteilung zwischen den Mitgliedstaaten und der EU
basiert, welche Kompetenztypen es gibt und welche Kompetenzen der EU für eine solche Krise
eingeräumt wurden.

A. Prinzipien der Kompetenzverteilung

Die zentrale Norm, wenn es um das Tätigwerden der Organe der Europäischen Union geht, ist
Art 5 EUV, der wesentliche rechtlich verbindliche Prinzipien hinsichtlich der Aufgabenverteilung
zwischen den Organen der Europäischen Union und den Mitgliedstaaten vorsieht und bei der
Wahl der Rechtsakte eine wesentliche Rolle spielt.7

5 COVID-19 Gesetz BGBl. I 2020/12.
6 Me/Fu, How Covid-19 is changing the world: a statistical perspective, in unstats.un.org, oD, URL:
https://unstats.un.org/unsd/ccsa/ , abgerufen am 19.05.2020.
7 Vgl Schima in Jaeger/Stöger (Hrsg), EUV/AEUV (2018), Art 5 EUV, Rz 6.
                                                          2
1. Das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung

Bei dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung gem Art 5 Abs 1 und 2 EUV handelt es sich
um die Einschränkung der Verbandskompetenz der Europäischen Union. Das bedeutet, dass die
Organe der Europäischen Union nur dort handeln und Sekundärrechtsakte erzeugen dürfen, wo
es ihnen durch die Verträge der Mitgliedstaaten eingeräumt wurde. Außerdem dürfen sie nur in
der vorgeschriebenen Form, also durch Verordnung, Richtlinie usw tätig werden und sind nicht
frei in der Wahl des Rechtsaktes.
Die Organe haben vor allem bei der Verfolgung der von den Verträgen festgesetzten Zielen nach
dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung nach Art 13 Abs 2 EUV darauf zu achten, dass
sich die vorgesehenen Maßnahmen begründen lassen und sich an die vorgesehenen Verträge
gehalten wird.8

2. Das Subsidiaritätsprinzip

Nach Art 5 Abs 3 EUV werden die Organe der Europäischen Union nur tätig, wenn eine kleinere
Ordnungseinheit nicht in der Lage ist, bestimmte Aufgaben zu lösen und sich diese Lösung auf
der Unionsebene besser verwirklichen lässt. Hier geht es um die Frage, ob die Europäische Union
die jeweilige Kompetenz an sich zieht oder dies einer kleineren Einheit überlässt. Dieses Prinzip
hat sich aus der katholischen Soziallehre herausgebildet und findet seine Anwendung nur, wenn
die Kompetenzen zwischen der Union und den Mitgliedstaaten nach Art 2 Abs 2 AEUV geteilt
sind.9

3. Das Verhältnismäßigkeitsprinzip

Das Verhältnismäßigkeitsprinzip oder auch das Prinzip der Erforderlichkeit gem Art 5 Abs 4 EUV
wirkt ebenfalls einschränkend und regulierend und ergänzt das Subsidiaritätsprinzip als
Kompetenzausübungsschranke. Im Anwendungsbereich dieses Prinzips geht es um die Frage,
wie seitens der Unionsorgane gehandelt wird, damit nicht über das erforderliche Maß bei der
Zielerreichung hinausgeschossen wird.8,9

B. Kompetenztypen

Der Art 2 AEUV sieht eine allgemeine Kompetenzverteilung und keine konstitutive Zuweisung von
Kompetenzen zwischen den Mitgliedstaaten und der Europäischen Union vor. Daher sind in Art 2

8   Vgl Streinz in Streinz (Hrsg), EUV/AEUV3 (2018), Art 5 EUV Rz 8-12, 43-45.
9   Vgl Leidenmühler, Europarecht3 (2017), 38-39.
                                                           3
AEUV die Kompetenztypen und deren Rechtsfolgen geregelt, welche in den Art 3-6 AEUV den
verschiedene Materien zugeordnet werden.10
Diese beispielhafte, lückenhafte Auflistung der Kompetenzen ist beabsichtigt, um dem
gesetzgebenden Unionsorganen bei ihrer Tätigkeit eine größere Flexibilität zu ermöglichen und
einen größeren, gesetzgeberischen Gestaltungsraum zu garantieren.11

1. Ausschließliche Kompetenzen der EU

Art 2 Abs 1 AEUV sieht die Ausschließliche Kompetenz der Union vor, welche die Mitwirkung der
Mitgliedstaaten unionsrechtlich ausschließt. Ihre Kompetenzen sind in Art 3 AEUV aufgezählt und
umfassen neben dem Aufgabenbereich der Zollunion auch die für das Funktionieren des
Binnenmarkts erforderlichen Wettbewerbsregeln der Währungspolitik, der Handelspolitik und der
Erhaltung der biologischen Meeresschätze im Rahmen der gemeinsamen Fischereipolitik.12

2. Geteilte Kompetenzen

Art 2 Abs. 2 AEUV regelt die geteilte oder auch konkurrierende Kompetenz zwischen der Union
und den Mitgliedstaaten. Die in Art 4 Abs 2 AEUV aufgezählten Materien sind wiederum nicht
abschließend genannt und die Mitgliedstaaten dürfen gesetzgeberisch in diesen Bereichen tätig
werden, wenn die Europäische Union noch keine Sekundärrechtsakte gesetzt hat. Erfasst sind
davon unter anderem die folgenden Materien: Binnenmarkt; Sozialpolitik; wirtschaftlicher, sozialer
und territorialer Zusammenhalt; Umwelt; Verbraucherschutz; Energie; Verkehr und gemeinsame
Sicherheitsanliegen im Bereich der öffentlichen Gesundheit.10
Der Art 4 Abs 2 lit k AEUV bezieht sich auf den Art 168 Abs 4 AEUV, der hauptsächlich eine
geteilte Kompetenz in dieser Materie vorsieht und der Union die Möglichkeit einräumt, eine
Harmonisierung der Rechtsvorschriften in den Art 168 Abs 4 lit a-c AEUV genannten Bereichen
zu ermöglichen. Dies wären beispielsweise Maßnahmen zur Sicherstellung der Qualität und
Mindeststandards für Organe und andere Bestandteile des menschlichen Körpers nach Art 168
Abs 4 lit a AEUV, aber auch die Regelung von Futter- und Lebensmittelvorschriften gem Art 168
Abs 4 lit b und in Art 168 Abs 4 lit c Maßnahmen zur Sicherstellung von Qualitätsstandards für
Arzneien und Medikamenten. Vor allem in diesem Bereich ist das Subsidiaritätsprinzip zu
beachten.13,14

10 Vgl Leidenmühler, Europarecht3 (2017), 92-94.
11 Vgl Jaeger in Jaeger/Stöger (Hrsg), EUV/AEUV (2018) Art 2 AEUV, Rz 8.
12 Vgl Streinz in Streinz (Hrsg), EUV/AEUV3 (2018), Art 2 AEUV, Rz 5-7.
13 Vgl Streinz in Streinz (Hrsg), EUV/AEUV3 (2018), Art 4 AEUV, Rz 4-11.
14 Vgl Lurger in Streinz (Hrsg), EUV/AEUV3 (2018), Art 168 AEUV, Rz 49-52.
                                                        4
3. Unterstützungskompetenzen der EU

Die Zuständigkeit der Union, die Mitgliedstaaten zu unterstützen und Maßnahmen zur
Koordinierung oder Ergänzungsmaßnahmen zu erlassen, ist in Art 2 Abs 5 AEUV ohne den
Einsatz von Harmonisierungsmaßnahmen geregelt. Folgende Bereiche sind gem Art 6 AEUV von
der Unterstützungskompetenz der Union umfasst: Schutz und Verbesserung der menschlichen
Gesundheit, Industrie, Kultur, Tourismus, Katastrophenschutz etc.15
Vor allem in Anbetracht der COVID-19-Pandemie wird die Union hauptsächlich unterstützend und
koordinierend tätig, um dadurch ein gemeinsames Vorgehen zwischen den Mitgliedstaaten zu
koordinieren und die Zusammenarbeit zu erzielen.16

III. Kompetenzen der EU in der COVID-19-Pandemie

A. Historischer Hintergrund der Kompetenzzuweisung

Im ursprünglichen EWGV waren gesundheitspolitische Themen der Union, die wirtschafts- und
marktorientiert gestaltet waren, nicht vorgesehen. Jedoch nahm der gesundheitspolitische Aspekt
im Zusammenhang mit anderen Materien über die Jahre hinweg immer mehr eine wichtigere Rolle
ein. So zum Beispiel im freien Verkehr von Gesundheitsdienstleistungen oder Arbeitnehmerschutz
am Arbeitsplatz.17
Ab dem Zeitpunkt des Inkrafttretens des Vertrages von Maastricht wurde auch für die
Gesundheitspolitik ein eigener Politikbereich mit dem Art 129 EGV-Maastricht geschaffen. Jedoch
war die damals geschaffene Kompetenz nicht sehr stark ausgeprägt und so sollten weiterhin die
Mitgliedstaaten die stärkere Position hinsichtlich der Gesundheitskompetenz einnehmen. Damals
entwickelte sich die auch heute bekannte Unterstützungskompetenz zur Förderung der
Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten zur Verhütung von Krankheiten gem Art 129 Abs 4 EGV-
Maastricht.18
Die vorerst letzten Änderungen im Bereich der Gesundheitspolitik brachte der Vertrag von
Amsterdam, als durch die 1996 auftretende BSE-Epidemie der Ruf nach einer stärkeren
Kompetenz der EU im Gesundheitswesen lauter geworden ist. So wurden in dem damaligen
Art 152 Abs 4 EGV die Befugnisse verankert, dass die Union Sicherheits- und Qualitätsstandards
für diverse humane Substanzen und Maßnahmen im Veterinärwesen vornehmen darf. Trotzdem

15 Vgl Leidenmühler, Europarecht3 (2017), 94.
16 Vgl Bundeskanzleramt, Covid-19 Maßnahmen der EU, in bundeskanzleramt.gv.at, oD, URL:
https://www.bundeskanzleramt.gv.at/themen/covid-19-massnahmen-der-eu/allgemeine-Informationen.html ,
abgerufen am 24.05.2020.
17 Vgl Schneider in Mayer/Stöger (Hrsg), EUV/AEUV (2012) Art 168 AEUV, Rz 1-3.
18 Vgl Lurger in Streinz (Hrsg), EUV/AEUV3 (2018), Art 168 AEUV, Rz 8,9.
                                                      5
wurde weiterhin das Ziel verfolgt, der Union nur ergänzende Kompetenzen zuzugestehen und es
änderte sich nichts an der Kompetenzgrundlage der Union.19
Die Überlegungen der Mitgliedstaaten, der Union mehr Kompetenzen im Bereich des
Gesundheitswesens zuzuschreiben, sind nicht neu. Auch wenn die SARS-Pandemie von 2002
nicht annähernd das Ausmaß der Covid-19-Pandemie angenommen hat, breitete sich das Virus
doch auf allen Kontinenten aus und kostete mehr als 800 Menschen das Leben.20
Bereits während der SARS-Coronavirus-Pandemie in den Jahren 2002 und 2003 wurde im
Rahmen des Europäischen Verfassungskonvent darüber debattiert, die Kompetenzen der Union
während des Aufkommens von grenzüberschreitenden Pandemien zu erweitern.21
So geht aus den Protokollen der Plenardebatte des Europäischen Parlaments von 07.05.2003
hervor, dass sich die Abgeordnete der PES Roth-Behrendt gegen den Ausschluss der
Harmonisierung der Gesundheitssysteme der Mitgliedstaaten ausspricht und befürwortet, die
Kompetenzen der Union hinsichtlich der Gesundheitspolitik zu stärken. Sie forderte eine geteilte
Kompetenz zwischen den Mitgliedstaaten und der Europäischen Union.
Der damalige Kommissar für öffentliche Gesundheit und Verbraucherschutz David Byrne ist auf
die Ausführungen der Abgeordneten Roth-Behrend eingegangen und hat sich positiv dazu
geäußert, um sich für eine Harmonisierung der Gesetzgebung im Bereich übertragbarer
Krankheiten einzusetzen.22
Doch erst mit dem Vertrag von Lissabon vom 01.12.2009 wurde die gesundheitspolitische
Kompetenz weiter konkretisiert und ergänzt. Unter anderem wird der Art 168 Abs 1 UAbs 2 AEUV
um den Passus „die Beobachtung, frühzeitige Meldung und Bekämpfung schwerwiegender
grenzüberschreitender Gesundheitsgefahren“ erweitert. Außerdem wurde der bisherige Art 154
Abs 4 EGV in die beiden Abs 4 und Abs 5 unterteilt und somit unterschiedlichen Passagen
zugeordnet, dadurch erfolgte eine Präzisierung der „gemeinsamen Sicherheitsanliegen im
Bereich der öffentlichen Gesundheit“ im Sinne des Art 4 Abs 2 lit k AEUV.23
Auch aktuell werden diese Stimmen nach mehr Kompetenzen der EU im Gesundheitswesen
wieder lauter. So forderte der Mediziner und CDU-Abgeordneter Peter Liese zur aktuellen Covid-
19-Krise mehr Kompetenzen der Union im Gesundheitswesen.24

19 Vgl Lurger in Streinz (Hrsg), EUV/AEUV3 (2018), Art 168 AEUV, Rz 10,12.
20 Vgl Tagesschau.de, Epidemie 2002/2003 SARS - ein weltweit tödlicher Virus, in tagesschau.de, 30.01.2020, URL:
https://www.tagesschau.de/inland/sars-101.html , abgerufen am 24.05.2020.
21 Vgl Lehermayr/Reinhart, Versagt die EU in der Corona-Krise?, in addendum.org, 08.05.2020, URL:

https://www.addendum.org/coronavirus/eu-reaktion/ , abgerufen am 11.05.2020.
22 Vgl Europäisches Parlament, Plenardebatte von 07.04.2003 zu SARS (Schweres akutes Respirationssyndrom), in

europarl.europa.eu, 12.08.2004, URL: https://www.europarl.europa.eu/sides/getDoc.do?pubRef=-
//EP//TEXT+CRE+20030407+ITEM-004+DOC+XML+V0//DE , abgerufen am 24.05.2020.
23 Vgl Lurger in Streinz (Hrsg), EUV/AEUV3 (2018), Art 168 AEUV, Rz 13-16.
24 Vgl Focus Online, Europaabgeordneter Liese fordert mehr EU-Kompetenz, in focus.de, 12.03.2020, URL:

https://www.focus.de/finanzen/boerse/wirtschaftsticker/virus-covid-19-europaabgeordneter-liese-fordert-mehr-eu-
kompetenz_id_11761378.html , abgerufen am 25.05.2020.
                                                        6
B. Verweisnormen für die unterstützende Kompetenz der Union

Wie oben bereits erklärt, darf die Union gem Art 2 Abs 5 AEUV nur in unterstützender Form tätig
werden, ohne dabei in die Zuständigkeiten der Mitgliedstaaten einzugreifen. Somit verbleibt die
Hauptzuständigkeit in der Legislative dieser Materien bei den Mitgliedstaaten. Art 6 AEUV dient
als Verweisnorm und zählt abschließend die Kompetenzen der Union auf; darunter finden wir:25

1. Schutz und Verbesserung der menschlichen Gesundheit Art 6 Abs 1 lit a

Diese    Kompetenzzuweisungsnorm             dient   als   Verweis     auf      die   Ausführungsnorm   des
Art 168 AEUV. Die Gesundheitspolitik der Union kann somit unterstützend tätig werden in den
Bereichen der Verbesserung der Gesundheit, der Bevölkerung, Vorbeugung und Prävention von
Humankrankheiten und die Vorsorge und Verhinderung der Ursachen von Gefahren für die
körperliche und geistige Gesundheit.
Nicht erfasst davon sind gem Art 4 Abs 2 lit k AEUV und Art 168 Abs 4 AEUV die überstaatlichen
Anliegen der öffentlichen Gesundheit der Mitgliedstaaten.26

2. Katastrophenschutz Art 6 Abs 1 lit f

Auch hier handelt es sich um eine Verweisnorm, die sich auf die Ausführungsnorm des Art 196
AEUV bezieht. Hier übernimmt die Union ergänzende Funktionen hinsichtlich der Systeme zur
Prävention von Naturkatastrophen und vom Menschen verursachte Katastrophen.27

C. Die einschlägigen Aufgabenbereiche der Union Art 168 Abs 1 AEUV

1. Bekämpfung von weit verbreiteten schweren Krankheiten

Der Anwendungsbereich, in den diese Unionsaktivitäten fallen, umfasst alle „weit verbreiteten
schweren“ Krankheiten, wobei man die Schwere einer Krankheit an deren Auswirkungen misst
und jedenfalls der Tod, aber auch Langzeitwirkungen, die die Beeinträchtigung der körperlichen
Unversehrtheit betreffen, darunter zu verstehen sind. Weitere Faktoren, die die Schwere der
Krankheit ausmachen, sind die Wirkung auf die Gesellschaft und ihre Ausbreitung über ein
gewisses territoriales Gebiet.28
Das Coronavirus breitete sich weltweit innerhalb weniger Monate global aus. Mit Stand des
26.06.2020 um 21:00 betrug die Anzahl der infizierten Personen weltweit 5.549.131 und die

25 Vgl Jaeger in Jaeger/Stöger (Hrsg), EUV/AEUV (2018) Art 6 AEUV, Rz 1,9-10.
26 Vgl Jaeger in Jaeger/Stöger (Hrsg), EUV/AEUV (2018) Art 6 AEUV, Rz 15-16.
27 Vgl Jaeger in Jaeger/Stöger (Hrsg), EUV/AEUV (2018) Art 6 AEUV, Rz 25.
28 Vgl Lurger in Streinz (Hrsg), EUV/AEUV3 (2018), Art 168 AEUV, Rz 24.
                                                       7
Anzahl der bestätigten Todesfälle 348.224 Somit handelt es sich jedenfalls um eine weit
verbreitete schwere Krankheit, da sie auch enorme wirtschaftliche und gesellschaftliche
Auswirkungen mit sich bringt.29

2. Beobachtung,     frühzeitige Meldung      und                         Bekämpfung           scherwiegender
   grenzüberschreitender Gesundheitsgefahren

Die durch den Vertrag von Lissabon eingefügte Passage erweitert die Kompetenzen der Union
um die Prävention und Bekämpfung aller Ursachen menschlicher Gesundheitsgefahren.30
Es geht darum, frühzeitige Gesundheitsbedrohungen für die Mitgliedstaaten zu erkennen, diese
aufzuzeigen, zu melden und eine Strategie zur Bekämpfung durch die Förderung der Erforschung
der Ursachen durch die Union zu entwickeln. Dabei nimmt die Union hauptsächlich eine Aufsichts-
und Kontrollfunktion ein.31

D. Verhütung von Naturkatastrophen oder vom Menschen verursachte
   Katastrophen – Art 196 AEUV

1. Historischer Rückblick

Bereits im Vertrag von Maastricht wurde die Materie des Katastrophenschutzes in
Art 3 Abs 1 lit u EGV verankert. Dadurch wurde in Kooperation mit den Mitgliedstaaten ein
Aktionsprogramm          der      Gemeinschaft          für     den      Katastrophenschutz           und      ein
Gemeinschaftsprogramm             zur     Förderung         einer     verstärkten     Zusammenarbeit           bei
Katastrophenschutzeinsätzen etabliert.32
Doch erst mit dem Vertrag von Lissabon wurde die Materie des Katastrophenschutzes gem Art
196 AEUV geschaffen, da die moderne Gesellschaft immer öfter grenzüberschreitenden
Katastrophen ausgesetzt war. Neben Naturkatastrophen wie Erdbeben, Überschwemmungen
oder sonstigen Einflüssen, die durch die Klimaerwärmung resultieren, sieht sich die Union auch
mit Katastrophen konfrontiert, die durch den Menschen verursacht wurden. Als klassisches
Beispiel wäre hier das Industrieunglück Seveso zu nennen.33 Aber auch terroristische Akte sind
hier anzuführen, so unter anderem die Terroranschläge in London oder Madrid.34

29 Vgl John Hopkins University & Medical, COVID-19 Dashboard by the Center for Systems Science and Engineering
at Johns Hopkins University, in coronavirus.jhu.edu, oD, URL: https://coronavirus.jhu.edu/map.html , abgerufen am
26.05.2020.
30 Vgl Lurger in Streinz (Hrsg), EUV/AEUV3 (2018), Art 168 AEUV, Rz 27.
31 Vgl Schneider in Mayer/Stöger (Hrsg), EUV/AEUV (2012) Art 168 AEUV, Rz 14.
32 Vgl Bings in Streinz (Hrsg), EUV/AEUV3 (2018), Art 196 AEUV, Rz 8-11.
33 Vgl Kronbichler, Seveso-Unfall: Verschwiegene Gefahren und verschwundene Giftfässer, in diepresse.com,

08.07.2016, URL: https://www.diepresse.com/5044731/seveso-unfall-verschwiegene-gefahren-und-verschwundene-
giftfasser , abgerufen am 27.05.2020.
34 Vgl Neue Zürcher Zeitung, Die verheerendsten Terroranschläge in Westeuropa seit 9/11, in nzz.ch, 18.10.2018,

URL: https://www.nzz.ch/international/terror-die-verheerendsten-terroranschlaege-in-westeuropa-seit-911-ld.1311463
, abgerufen am 27.05.2020.
                                                        8
2. Die Ziele des Art 196 AEUV

Art 196 Abs 1 AEUV verfolgt zwei Ziele. Zum einen fördert die Union die Zusammenarbeit der
Mitgliedstaaten, um Naturkatastrophen oder durch den Menschen verursachte Katastrophen zu
vermeiden und zum anderen den Schutz vor diesen Katastrophen wirksam zu gestalten.
Dabei kommt der Union wiederum eine ergänzende, koordinierende beziehungsweise
unterstützende Funktion zu. Der Katastrophenschutz verbleibt weiterhin in der Hauptkompetenz
der Mitgliedstaaten. Die durch die Union verfolgten Ziele sind in Art 196 Abs 1 lit a-c aufgezählt:

a) Lit a) Risikoprävention
Das primäre Ziel, das der Union in diesem Zusammenhang zukommt, ist, die Mitgliedstaaten zu
unterstützen, auf nationaler, regionaler und kommunaler Ebene Krisen schon abzuwenden bevor
sie geschehen. Weiters wird von Bings in Streinz noch die Ausbildung von am Katastrophenschutz
beteiligten Personal im Sinne von Katastrophenvorsorge erwähnt.35

b) Lit b) Koordinationsunterstützung
Lit b) der Norm zielt darauf ab, eine rasche und effektive Zusammenarbeit zwischen den einzelnen
Krisenmanagementzentralen             der    Mitgliedstaaten     einzurichten     und   diese   untereinander
abzustimmen, wobei ein besonderes Augenmerk auf der Vorsorge liegt.35

c) Lit c) internationaler Katastrophenschutz
Hier geht es um die Zusammenarbeit auf internationaler Ebene während Katastrophen, die über
die Binnengrenzen der EU hinausreichen. Zu nennen wären beispielsweise nukleare Krisen, die
durch eine internationale Zusammenarbeit besser abgeschätzt und eingedämmt werden
können.35

IV. Die Wahl der Sekundärrechtsakte seitens der EU

A. Allgemein

Das Sekundärrecht wird vom Primärrecht, welches durch völkerrechtliche Verträge eingerichtet
ist, dahingehend unterschieden, dass die Sekundärrechtsakte durch die Organe der Union in der
vorgesehenen Rechtsatzform erlassen werden. Daher wird das Sekundärrecht auch abgeleitetes
Recht genannt und begründet seine Berechtigung aus dem Primärrecht. Diese Rechtsatzformen
sind in Art 288 AEUV normiert. Daneben können bestimmte Organe auch durch nicht in den
Verträgen         erwähnten        Rechtshandlungen           tätig    werden,     sogenannte       atypische
                         36
Rechtshandlungen.

35   Vgl Bings in Streinz (Hrsg), EUV/AEUV3 (2018), Art 196 AEUV, Rz 3-5.
36   Vgl W. Schroeder in Streinz (Hrsg), EUV/AEUV3 (2018), Art 288 AEUV, Rz 23.
                                                          9
Durch welche Rechtsatzform schlussendlich gehandelt werden darf, ergibt sich gemäß dem
Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung aus der entsprechenden Kompetenznorm. Einige
Kompetenzgrundlagen lassen die Wahl der Rechtsatzformen offen, daher kommt dahingehend
den Organen eine Freiheit hinsichtlich der Wahl der Rechtsatzform zu, wobei das
Verhältnismäßigkeitsprinzip im Sinne des Art 5 Abs 4 EUV zu beachten ist.37 Da seitens der
Kommission während der Corona-Krise insbesondere Empfehlungen, Leitlinien und Mittteilungen
erlassen wurden, um die Grundfreiheiten zu gewährleisten und die Mitgliedstaaten untereinander
zu koordinieren, wird in der vorliegenden Diplomarbeit besonderes auf diese Handlungsformen
eingegangen.

1. Verordnung

Bei der Verordnung handelt es sich um einen generell-abstrakten Rechtsetzungsakt, der
unmittelbar gilt und dadurch einen Vorrang bei der Anwendung von kollidierendem
mitgliedstaatlichem Recht eingeräumt wird. Sowohl die Mitgliedstaaten als auch natürliche und
juristische Personen fallen unter den Adressatenkreis einer Verordnung.38

2. Richtlinie

Dieser Rechtsetzungsakt wirkt ebenfalls generell-abstrakt, jedoch richtet sich die Richtlinie nur an
die Gesetzgebungsorgane der jeweiligen Mitgliedstaaten und muss von diesen innerhalb einer
normierten Frist umgesetzt werden.38 Wird eine Richtline nicht entsprechend, also nicht
fristgerecht oder fehlerhaft umgesetzt, so kommt ihr ausnahmsweise eine direkte Wirkung zu und
kann sich auch an natürliche und juristische Personen wenden, wenn sie zugunsten des Einzelnen
angewendet werden kann.39 Jedoch ist in diesem Zusammenhang die Rechtsprechung Becker zu
beachten, woraus sich die Voraussetzungen für eine direkte Wirkung entwickelt haben.40

3. Beschluss

Die in Art 288 Abs 4 AEUV genannte Rechtsatzform kann sowohl generell-abstrakten als auch
individuell-konkreten Charakter aufweisen. Somit können Beschlüsse gegenüber Mitgliedstaaten
und gegen Rechtssubjekte Geltung entfalten.41

37 Vgl Leidenmühler, Europarecht3 (2017), 96.
38 Vgl Leidenmühler, Europarecht3 (2017), 48-62.
39 Vgl EuGH 08.10.1987 Rs C-80/86, Kolpinghuis Nijmegen, ECLI:EU:C:1987:431 (Rz 10).
40 Vgl EuGH 10.01.1982 Rs C-8/81, Becker/Finanzamt Münster-Innenstadt, ECLI:EU:C:1982:7 (Rz 25).
41 Vgl Leidenmühler, Europarecht3 (2017), 48-62.
                                                      10
4. Empfehlungen und Stellungnamen

Die in Art 288 Abs 5 AEUV genannten Empfehlungen und Stellungnahmen sind als unverbindliche
Handlungsform zu kategorisieren, da sie nicht unmittelbar anwendbar sind. Trotzdem entfalten sie
unterschiedliche Rechtswirkungen.41
Die Organe müssen sich auch bei der Erlassung von Empfehlungen und Stellungnahmen an das
Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung halten und können weitgehend für das zu erlassende
Organ Selbstbindungswirkung entfalten.42

a) Empfehlung
Die Rechtsatzform der Empfehlung kann ausdrücklich im Primärrecht normiert sein. So etwa ist
in Art 168 Abs 6 AEUV geregelt, dass im Bereich des Gesundheitsschutzes der Rat auf Vorschlag
der Kommission Empfehlungen erlassen kann.43
Der Empfehlung kommt weiters im Sinne der Rechtsangleichung der Charakter einer
unverbindlichen Richtlinie zu, um bei einer nicht eindeutig geregelten Kompetenzverteilung
koordinierende Maßnahmen gegenüber den Nationalstaaten zu setzen, wie etwa bei Art 168 Abs
6 AEUV. Jedoch muss beachtet werden, dass verglichen zu einer Richtlinie die Empfehlung dem
Mitgliedstaat eine gewisse Freiwilligkeit der Umsetzung einräumt, woraus die Unmittelbarkeit der
Empfehlung resultiert.44

b) Stellungnahme
Stellungnahmen verfolgen weniger das Ziel, ein Verhalten der Mitgliedstaaten zu steuern, sondern
vielmehr werden sie zum Zweck der Meinungsäußerung der Kommission beziehungsweise als
Gutachten erlassen, wobei ihr dadurch keine verbindliche Wirkung zukommt.45

B. Atypische Handlungen der Union

Neben den oben genannten Rechtshandlungen der Unionsorgane gibt es Handlungsformen,
welche keine verbindlichen Rechtswirkungen entfalten und nicht dem Normenkatalog des Art 288
AEUV unterliegen. Dazu zählen interinstitutionelle Vereinbarungen; organinternes Recht;
Entschließungen; Mitteilungen ebenso wie andere Verwaltungsvorschriften und Erklärungen.46

1. Mitteilungen und andere Verwaltungsvorschriften

Bei den Mitteilungen und Leitlinien handelt es sich um Maßnahmen, die in den Verträgen nicht
explizit    genannt       sind,      jedoch      gegenüber         den      Mitgliedstaaten   einheitliche

42 Vgl Vcelouch in Jaeger/Stöger (Hrsg), EUV/AEUV (2018) Art 288 AEUV, Rz 111.
43 Vgl W. Schroeder in Streinz (Hrsg), EUV/AEUV3 (2018), Art 288 AEUV, Rz 129-131.
44 Vgl Bogdandy/Bast/Arndt, Handlungsformen im Unionsrecht, ZaöRV 2002, 78ff (115).
45 Vgl W. Schroeder in Streinz (Hrsg), EUV/AEUV3 (2018), Art 288 AEUV, Rz 132.
46 Vgl W. Schroeder in Streinz (Hrsg), EUV/AEUV3 (2018), Art 288 AEUV, Rz 29.
                                                      11
Rechtsanwendungsregeln enthalten und diese auf ihre Rechte und Pflichten seitens der Union
hinweisen. Ihnen kommt ein unverbindlicher Rechtscharakter gegenüber den Mitgliedstaaten zu,
die jederzeit abgeändert oder zurückgerufen werden können, wodurch sie auch als soft law
bezeichnet werden können.47

V. Der EU-Binnenmarkt

A. Historischer Hintergrund

Schon früh war die Rede von einem gemeinsamen Markt zwischen den Mitgliedstaaten, der durch
die Abschaffung von Handelshemmnissen und anderen Hindernissen für den Personen-,
Dienstleistungs- und Kapitalverkehr gekennzeichnet war.48 Grundlage hierfür war der Vertrag zur
Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, kurz EWGV, der gemeinsam mit dem
Vertrag zur Gründung der Europäischen Atomgemeinschaft am 25.03.1957 unterzeichnet wurde.
Der EWGV bildet die heutige Grundlage für den AEUV und ist wohl der wichtigste der
Gründungsverträge, der damals schon die Grundprinzipien der Zollunion, des Binnenmarktes, des
Wettbewerbsrechts und Normen bezüglich der gemeinsamen Wirtschafts- und Handelspolitik
enthalten hat.49
Von zentraler Bedeutung war im Zusammenhang mit der Realisierung des gemeinsamen
Binnenmarktes die Einheitliche Europäische Akte, kurz EEA, welche am 28.02.1986 unterzeichnet
wurde und das erste Mal die vier Binnenmarktziele in Art 8a EWGV idF EEA 1986 enthalten hat.
Der freie Verkehr von Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapital sollte bis zum 31.12.1992
verwirklicht und umgesetzt sein.50

B. Der Binnenmarkt und die Grundfreiheiten

Beim europäischen Binnenmarkt handelt es sich um einen gemeinsamen Markt, der die Prinzipien
des Binnenhandels auf der Ebene der Europäischen Union und somit auch zwischen den
Mitgliedstaaten garantieren soll.51
In Art 3 Abs 3 EUV ist die Verwirklichung eines gemeinsamen Binnenmarktes als eines der
Hauptziele verankert, darauf bezieht sich der Art 26 Abs 2 AEUV und dort wird auch näher auf die
Errichtung des Binnenmarktes eingegangen. Der Binnenmarkt ist dadurch definiert, dass es sich
um einen Raum ohne Binnengrenzen handelt und zugleich die Grundfreiheiten des freien

47 Vgl W. Schroeder in Streinz (Hrsg), EUV/AEUV3 (2018), Art 288 AEUV, Rz 33.
48 Vgl M. Schröder in Streinz (Hrsg), EUV/AEUV3 (2018), Art 26 AEUV, Rz 1.
49 Vgl Leidenmühler, Europarecht3 (2017), 10-12.
50 Vgl EU-Info.Deutschland, Binnenmarkt; in eu-inof.de, oD, URL: http://www.eu-info.de/europa/EU-Binnenmarkt/ ,

abgerufen am 11.08.2020.
51 Vgl Bundeszentrale für politische Bildung, in bpb.de, 24.09.2009, URL:

https://www.bpb.de/internationales/europa/europaeische-union/42858/grafik-binnenmarkt , abgerufen am 14.08.2020.
                                                       12
Warenverkehrs, der Personenfreizügigkeit, der Dienstleistungsfreiheit und des freien Verkehrs
von Kapital gewährleistet werden.52 Durch die Errichtung, Stärkung und künftige Gewährleistung
des Funktionierens des Binnenmarktes soll ein europäischer Integrationsprozess gewährleistet
werden. Dieser Prozess ist aber auch als künftige Daueraufgabe konzipiert.53

1. Warenverkehrsfreiheit

Der freie Verkehr von Waren ist eine der zentralen Grundfreiheiten des Binnenmarktes. Davon
erfasst sind nach Art 28 Abs 2 AEUV alle Waren, die in den Mitgliedstaaten produziert wurden
und Waren von Drittstaaten, die sich bereits in einem der Mitgliedstaaten befinden. Die
Warenverkehrsfreiheit basiert auf einem zwei Säulen Modell, welches gemäß Art 28-33 AEUV
eine gemeinsame Zollunion errichtet und gemäß Art 34-36 AEUV ein Verbot von mengenmäßigen
Ein- und Ausfuhrbeschränkungen beziehungsweise alle Maßnahmen gleicher Wirkung normiert.
Durch eine gemeinsame Zollpolitik werden alle nationalstaatlichen Zollregelungen beseitigt und
ein einheitlicher Zolltarif gegenüber den nicht am EWR beteiligten Staaten eingeführt.
Art 31 AEUV sieht vor, dass dieser gemeinsame Außenzolltarif vom Rat auf Empfehlung der
Kommission per Verordnung erlassen wird.54
Ein zentraler Begriff in Verbindung mit der Warenverkehrsfreiheit ist das Verbot von „Maßnahmen
gleicher Wirkung wie mengenmäßige Einfuhrbeschränkungen“ gem Art 34 AEUV. Was darunter
zu verstehen ist, definiert das Urteil des EuGH im Fall Rs C-8/74 und ist als die Dassonville-Formel
bekannt. Demnach ist unter einer Maßnahme gleicher Wirkung wie mengenmäßige
Einfuhrbeschränkungen „jede Handelsregelung der Mitgliedstaaten, die geeignet ist, den
Innergemeinschaftlichen Handel unmittelbar oder mittelbar, tatsächlich oder potentiell zu
behindern“ zu verstehen.55
Dieser sehr weitreichende Tatbestand führte zu einer Einschränkung der Dassonville-Formel
durch die Judikatur des EuGH verb Rs C-267/91 und C-268/91, bekannt als die Rechtsprechung
Keck. Eine Reduktion des Tatbestandes war die Folge und eine Unterscheidung in
produktbezogene und verkaufsbezogene Maßnahmen wurde eingeführt.56 Daher sind
nichtdiskriminierende verkaufsbezogene Maßnahmen nicht als Maßnahme gleicher Wirkung wie
eine Einfuhrbeschränkung im Sinne des Art 34 AEUV zu verstehen und aus dem Tatbestand
ausgenommen.57

52 Vgl Leidenmühler Europarecht3 (2017), 144.
53 Vgl M. Schröder in Streinz (Hrsg), EUV/AEUV3 (2018), Art 26 AEUV, Rz 18.
54 Vgl Leidenmühler, Europarecht3 (2017), 172-173.
55 Vgl EuGH 11.07.1974 Rs C-8/74, Dassonville, ECLI:EU:C:1974:82 (Rz 5).
56 Vgl EuGH 24.11.1993 verb Rs C-267/91 und C-268/91, Keck, ECLI:EU:C:1993:905 (Rz 16).
57 Vgl Leidenmühler, Europarecht3 (2017), 185.
                                                     13
2. Arbeitnehmerfreizügigkeit

Die Arbeitnehmerfreizügigkeit, geregelt in Art 45 AEUV ist unmittelbar anwendbares Primärrecht.
Davon profitieren die unselbstständigen erwerbstätigen Bürger der Europäischen Union und die
Bürger des EWR, die einem Lohn- oder Gehaltsverhältnis nachgehen, welches in einem
grenzüberschreitenden Zusammenhang steht. Darunter zu verstehen sind Arbeitnehmer, die von
einem Mitgliedstaat in den anderen Mitgliedstaat pendeln, um ihrer Arbeit nachzugehen.58,59 Vom
Anwendungsbereich erfasst sind daher jegliche Verhältnisse der weisungsgebundenen
Leistungserbringung gegen Entlohnung. Nur geringfügige Arbeitsverhältnisse oder rein soziale
Tätigkeiten fallen nicht unter die Arbeitnehmerfreizügigkeit.
Normadressaten sind grundsätzlich die Mitgliedstaaten, die vom Verbot betroffen sind, die
Freizügigkeitsrechte zu beschränken. Jedoch bindet die Rechtsprechung im Fall Bosman des
EuGH auch Private im Sinne von intermediärer Gewalten, die Kollektivverträge und
Betriebsvereinbarungen für ihre Arbeitnehmer regeln können und ihnen somit ein großer Einfluss
zukommt.60
Der anzuwendende Tatbestand ist in Art 45 Abs 2 und Abs 3 AEUV geregelt, welcher ein
Diskriminierungsverbot aufgrund der Staatsangehörigkeit vorsieht. Dies wurde aber durch die
EuGH Rechtsprechung im Fall Gebhard zu einem umfassenden Beschränkungsverbot erweitert,
weil es dort heißt: „nationale Maßnahmen sind untersagt, die die Ausübung der durch den Vertrag
garantierten grundlegenden Freiheiten behindern oder weniger attraktiv machen können“.61

3. Niederlassungsfreiheit

Vom Schutzbereich des unmittelbar anwendbaren Primärrechts sind grundsätzlich selbständige
Erwerbstätige erfasst. Neben den in Art 49 AEUV genannten Staatsangehörigen sind auch die in
Art 54 AEUV genannten juristischen Personen Berechtigte im Sinne der Niederlassungsfreiheit.
Es soll dadurch innerhalb der Europäischen Union eine Wahlfreiheit bezüglich der Niederlassung
beziehungsweise des Unternehmensstandortes garantiert werden. Beschränkungen der
Niederlassungsfreiheit seitens der Mitgliedstatten und intermediärer Gewalten sind demnach
gemäß Art 49 AEUV verboten. Von Bedeutung sind neben der Schaffung diverser
unionsrechtlicher Gesellschaftsformen durch Sekundärrechtsakte auch die Berufsqualifikations-
Richtline, welche die Anerkennung von Berufsqualifikationen zum Ziel hat.
Das Recht, die primäre und sekundäre Niederlassungsfreiheit auszuüben, ist in Art 49 Abs 1 und
Abs 2 AEUV geregelt und umfasst ein umfassendes Diskriminierungsverbot. Auch die

58 Vgl Windisch-Graetz in Jaeger/Stöger (Hrsg), EUV/AEUV (2018) Art 45 AEUV, Rz 10.
59 Vgl Leidenmühler, Europarecht3 (2017), 192-193.
60 Vgl EuGH 15.12.1995 Rs C-415/93, Bosman, ECLI:EU:C:1995:463 (Rz 82).
61 Vgl EuGH 30.11.1995 Rs C-55/94, Gebhard, ECLI:EU:C:1995:411 (Rz 37).
                                                      14
Niederlassungsfreiheit ist zu einem umfassenden Beschränkungsverbot von der Rechtsprechung
des EuGH erweitert worden.62

4. Dienstleistungsfreiheit

Die Dienstleistungsfreiheit ist in Art 56 Abs 1 AEUV geregelt und verbietet die Beschränkungen
des freien Dienstleistungsverkehrs zwischen den Mitgliedstaaten und deren Angehörigen. Da es
sich bei Dienstleistungen um nicht-körperliche und vorübergehende Leistungen handelt, die von
selbständigen Erwerbstätigen gegen einen gewissen Lohn erbracht werden, findet auf dieser
Ebene die Abgrenzung zur Warenverkehrs- und Niederlassungsfreiheit statt. Bei Dienstleistungen
handelt es sich um eine aus der Selbständigkeit erbrachte Leistung.
Die Begünstigten des unmittelbar anwendbaren Primärrechts sind sowohl natürliche als auch
juristische Personen gemäß Art 54 iVm Art 62 AEUV. Mitgliedstaaten und intermediäre Gewalten
sind die Verpflichteten der Dienstleistungsfreiheit und an die im Zusammenhang mit der
Arbeitnehmerfreiheit vom EuGH entwickelten Rechtsprechung gebunden.
Wie auch bei den anderen Grundfreiheiten des Binnenmarktes dargelegt, besteht gemäß Art 56
AEUV ein Diskriminierungsverbot, welches von der Rechtsprechung Gebhard zu einem
umfassenden Beschränkungsverbot weiterentwickelt wurde.63

5. Freier Kapital- und Zahlungsverkehr

Diese Grundfreiheit des Binnenmarktes umfasst gemäß Art 63 AEUV sowohl den Kapitalverkehr
als auch den Zahlungsverkehr. Eine Definition des Kapitalverkehrs ist in den Verträgen nicht zu
finden. Daher kann im Rahmen der Auslegung eine historische Interpretation dieses Begriffes
anhand der Kapitalverkehrsrichtlinie (88/361/EWG) stattfinden, die in der Nomenklatur des
Anhang I des Vertrages von Maastricht erläutert wird. Diese Nomenklatur enthält eine nicht
abschließende Aufzählung der Formen des Kapitalverkehrs. Darunter fallen unter anderem
Immobilieninvestitionen, Handel mit Wertpapieren am Kapitalmarkt, Darlehen und Finanzkredite,
aber auch Bürgschaften, Garantien und Pfandrechte.64
Auch wenn die Nomenklatur eine große Anzahl an Kaptalverkehrsvorgängen erwähnt, ist eine
Definition sehr schwierig. Eine Definition sieht vor, dass es sich beim Kapitalverkehr um „die
Übertragung wirtschaftlicher Werte und vermögenswerter Vorteile in Form von Sach- oder
Geldkapital, also Transaktionen zu Investitions-, Anlage- oder Finanzierungszwecken, die zu
Geldforderungen und -verpflichtungen führen, handelt.“65

62 Vgl Leidenmühler, Europarecht3 (2017), 206-210.
63 Vgl Leidenmühler, Europarecht3 (2017), 221-223.
64 Vgl Sedlaczek/Züger in Streinz (Hrsg), EUV/AEUV3 (2018), Art 63 AEUV, Rz 18 und 19.
65 Vgl Sedlaczek/Züger in Streinz (Hrsg), EUV/AEUV3 (2018), Art 63 AEUV, Rz 20.
                                                       15
Dahingehend lässt sich der freie Zahlungsverkehr leichter definieren, da gemäß Art 63 Abs 2
AEUV     Zahlungsströme        geschützt     sind,    welche    eine    Gegenleistungspflicht       aus     dem
vorangegangenen Grundgeschäft aufweisen.
Begünstigte des freien Kapital- und Zahlungsverkehrs sind der Zahlungsverkehr zwischen den
jeweiligen Mitgliedstaaten, ebenso wie der Zahlungs- und Kapitalverkehr zwischen den
Mitgliedstaaten der Europäischen Union und Drittstaaten.66

6. Allgemeine Freizügigkeit

Die in Art 21 AEUV normierte allgemeine Bewegungsfreiheit ist, anders als historisch vorgesehen,
heute unabhängig von einer wirtschaftlichen Betätigung von allen Unionsbürgern ausübbar. Unter
der allgemeinen Bewegungsfreiheit ist das Recht zu verstehen, sich frei und zeitlich unbegrenzt
in der Europäischen Union aufzuhalten und bewegen zu können. Dieses subjektive Recht kommt
aber natürlich nur Unionsbürgern und Unionsbürgerinnen nach Art 20 Abs 1 AEUV zu, welche zur
nationalen Staatsbürgerschaft hinzutritt.67
Sekundärrechtlich sind die Unionsbürgerrechte für Unionsbürger, die sich in einem anderen
Mitgliedstaat aufhalten, in der Unionsbürger-Richtlinie 2004/3868 geregelt und umfassen neben
dem Recht auf Ein- und Ausreise auch das Recht auf Aufenthalt und Erwerbstätigkeit. Auch die
umfassende        Gleichbehandlung         und       ein    abgeleitetes     Recht      von      begleitenden
Familienangehörigen ist in der RL 2004/38 geregelt.69

VI. Maßnahmen betreffend der Grundfreiheiten während der COVID-19-
    Pandemie

Wie bereits festgestellt wurde, können die Organe der Europäischen Union nur dort tätig werden,
wo ihnen die entsprechenden Kompetenzen eingeräumt wurden. Da die Kompetenzen in dem
Bereich des Gesundheitswesen und im Bereich des Katastrophenschutz nur sehr eingeschränkt
ausgeübt werden konnten, wird in den folgenden Kapiteln auf die von der Europäischen Union
getätigten Maßnahmen eingegangen, um die Grundfreiheiten während der Corona-Pandemie zu
garantieren. Die durch das Coronavirus erlassenen Lockdowns, um die Gesundheit der
Bürgerinnen und Bürger der Europäischen Union zu schützen, haben sich erheblich auf die
Wirtschaft ausgewirkt. Die folgenden von der Kommission getroffenen Maßnahmen verfolgten das

66 Vgl Leidenmühler, Europarecht3 (2017), 233-234.
67 Vgl Magiera in Streinz (Hrsg), EUV/AEUV3 (2018), Art 21 AEUV, Rz 9-14.
68 Vgl Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29.04.2004 über das Recht der

Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und
aufzuhalten, ABl 2004, L 158, 77.
69 Vgl Leidenmühler, Europarecht3 (2017), 243 und 244.
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Ziel, die Grundfreiheiten des Binnenmarktes unter dem größtmöglichen Schutzpotenzial für die
Bevölkerung weiterhin zu garantieren.

A. Grenzpolitik der Europäischen Union und der Mitgliedstaaten

1. Grenzschließungen einzelner Mitgliedstaaten und die Reaktion der EU

Die ersten nationalstaatlichen Grenzkontrollen hat Österreich am 10.03.2020 an der Grenze zu
Italien beschlossen, genauer gesagt wurde ein Einreisestopp über Personen verhängt, welche
von Italien aus nach Österreich reisen wollten und keine österreichischen Staatsbürger sind.
Gewährleistet wurde weiterhin eine Durchreise durch Österreich, ohne jedoch einen
Zwischenstopp einzulegen.70 Österreicher, die zu diesem Zeitpunkt aus Italien einreisen wollten
und kein ärztliches Attest aufweisen konnten, mussten sich vierzehn Tage in Quarantäne
begeben.71
Nationalstaatliche Grenzkontrollen wurden im Alleingang als erstes zwischen dem 12.03.2020 und
dem 19.03.2020 von den Mitgliedstaaten Dänemark, Polen, Tschechien, der Slowakei und
Österreich eingeführt.72 Einreisen durfte man in Österreich nur, wenn die einreisende Person ein
ärztliches Attest vorlegte, welches nicht älter als vier Tage sein durfte oder wenn, wie bereits bei
Italien beschlossen, kein Zwischenstopp in Österreich stattfindet. Trotz diesen Einschränkungen
sollte der Gütertransport und der Verkehr für Berufspendler weiterhin garantiert werden.73
Andere Mitgliedstaaten der Europäischen Union zogen mit den Grenzschließungen nach. So
verkündete der Deutsche Bundesinnenminister Horst Seehofer am 16.03.2020, vorübergehend
Grenzkontrollen an der Binnengrenze zu seinen Nachbarstaaten Schweiz, Österreich,
Luxemburg, Frankreich und Dänemark einzuführen. Eine Einreise ohne triftigen Grund war nicht
mehr möglich.74
Die Kommission schlug am 16.03.2020 vor, für einen Monat „eine vorübergehende Beschränkung
nicht unbedingt notwendiger Reisen aus Drittstaaten in den erweiterten EU-Raum“ in Kraft zu

70 Vgl Kleine Zeitung, Wegen Coronavirus Österreich im Krisenmodus: Ab sofort tägliche Telefonkonferenzen der EU,
in kleinezeitung.at, 10.03.2020, URL: https://www.kleinezeitung.at/politik/5782175/ , abgerufen am 19.08.2020.
71 Vgl Tagesschau, Die Strategie der Länder, in tagesschau.de, 12.03.2020, URL:

https://www.tagesschau.de/ausland/corona-international-103.html , abgerufen am 19.08.2020
72 Vgl Welt, Ein Überblick über die Grenzschließungen in Europa, in welt.de, 16.03.2020, URL:

https://www.welt.de/politik/video206580267/Coronavirus-Ein-Ueberblick-ueber-die-Grenzschliessungen-in-
Europa.html , abgerufen am 19.08.2020.
73 Vgl GTAI, Corona: Österreich führt Grenzkontrollen zu Deutschland ein, in gtai.de, 19.03.2020, URL:

https://www.gtai.de/gtai-de/trade/zoll/zollmeldung/oesterreich/corona-oesterreich-fuehrt-grenzkontrollen-zu-
deutschland-ein-231044 , abgerufen am 19.08.2020.
74 Vgl Bundesministerium des Inneren, für Bau und Heimat; Vorübergehende Grenzkontrollen an den Binnengrenzen

zu Österreich, der Schweiz, Frankreich, Luxemburg und Dänemark; in bmi.bund.de; 16.03.2020; URL:
https://www.bmi.bund.de/SharedDocs/pressemitteilungen/DE/2020/03/grenzschliessung-corona.html ; abgerufen am
19.08.2020.
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