Die Hamburger Sternwarte als Vorschlag für eine Nominierung zum UNESCO-Welterbe - Darstellung der kulturhistorischen Bedeutung, möglicher ...
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Die Hamburger Sternwarte als Vorschlag für eine Nominierung zum UNESCO-Welterbe Darstellung der kulturhistorischen Bedeutung, möglicher Verfahrenswege, Vergleichsanalyse und Abschätzung der Chancen Matthias Hünsch Hamburg, Februar 2021 1
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Zusammenfassung Die zwischen 1906 und 1912 erbaute Hamburger Sternwarte in Bergedorf ist ein herausragendes Beispiel für ein astronomisches Observatorium, das für den Übergang von der klassischen Astronomie zur modernen Astrophysik steht. Sie kann aufgrund ihres Charakters als Gruppenanlage, ihrer repräsentativen Architektur, ihres vielfältigen Instrumentenbestandes, ihrer großen Bedeutung für die Entwicklung der astronomischen Wissenschaft wie auch der Teleskoptechnik und nicht zuletzt aufgrund ihres hervorragenden, originalen Erhaltungszustands und ihrer authentischen Nutzung als wissenschaftliches Forschungsinstitut diesen Umbruch in fast einmaliger Weise darstellen. Hierin liegt der außergewöhnliche universelle Wert (OUV) dieser Stätte. Zwar hat der Mensch seit Anbeginn den Himmel beobachtet und aus den Erscheinungen und Bewegungen der Himmelskörper Erkenntnisse gewonnen, doch hat die eigentliche Erforschung des Universums und Formierung des modernen Weltbildes erst mit der Erfindung des Teleskops vor rund 400 Jahren begonnen. Seit mehr als 300 Jahren sind Sternwarten die Orte des astronomischen Erkenntnisgewinns. Mit der Entwicklung der Teleskope gelang zunächst die Messung exakter Winkel und Positionen. Dies bildete die Grundlage für die genaue Zeit- und Ortsbestimmung, die u.a. Voraussetzung für die Erschließung der Erde und die Entstehung des weltweiten Handels und der Schifffahrt war. Umfangreiche Kataloge von Sternpositionen konnten so gewonnen werden. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ermöglichten neue physikalische Techniken (Fotografie, Photometrie, Spektroskopie) einen neuen Ansatz zur Erforschung der Himmelskörper an sich, ihrer Zusammensetzung und ihrer Entwicklung. Erst jetzt konnte die Menschheit eine genaue Vorstellung über die Größe, Struktur und Entwicklung des Weltalls gewinnen. Der Wandel von der klassischen, winkelmessenden Astronomie zur modernen Astrophysik gegen Ende des 19. Jahrhunderts markiert so einen bedeutenden Wendepunkt in Bezug auf die Erforschung des Weltalls und somit auch der Kultur- und Wissenschaftsgeschichte der Menschheit. Nur sehr wenige Sternwarten auf der Welt können diesen Umbruch dokumentieren. Manche haben diesen Wandel nicht vollzogen, andere haben die klassische Astronomie völlig aufgegeben oder sind erst danach entstanden. Viele Sternwarten sind im Laufe der Zeit baulich und instrumentell stark verändert worden. Mit den genannten Kriterien ist die Hamburger Sternwarte fast einzigartig. Zwar gibt es bereits einige astronomischen Einträge in der Welterbeliste, die meisten sind jedoch archäoastronomische Stätten, sehr wenige sind neuzeitliche Sternwarten seit Erfindung des Teleskops, und diese sind wiederum als Teil eines Ensembles mit einer ganz anderen Begründung zum Welterbe geworden. Um so erstaunlicher ist es, dass es bisher kein einziges neuzeitliches optisches Observatorium gibt, das aufgrund seiner Bedeutung für die astronomische Wissenschaft zum Welterbe ernannt wurde. Sternwarten zählen somit zu einer stark unterrepräsentierten Kategorie von Stätten in der Welterbeliste. Grundsätzlich erscheint aus fachlicher Sicht eine Einzelbewerbung der Hamburger Sternwarte sinnvoll und aussichtsreich. Zwar wird vielfach die Ansicht vertreten, eine serielle Bewerbung sei aussichtsreicher, doch besteht zumindest fachlich dazu kein Anlass. Die Bedeutung der Hamburger Sternwarte im Kontext des Wandels zur Astrophysik und somit auch ihr OUV wird nicht durch eine serielle Nominierung mit einem ähnlichen Observatorium vergrößert. Das Beispiel des Radioobservatoriums in Jodrell Bank/Großbritannien zeigt, dass auch in jüngerer Zeit eine Einzelbewerbung aus einem europäischen Staat erfolgreich sein kann. 3
Zu den drei näher betrachteten Möglichkeiten einer seriellen Bewerbung kann aus fachlicher Sicht zusammengefasst werden: • Die Sternwarte in La Plata/Argentinien ist das zur Hamburger Sternwarte am besten vergleichbare Observatorium, hat aber ansonsten keine historischen Verbindungen zu Hamburg. Der Vorteil wäre politisch-taktischer Art, weil Argentinien in der Welterbeliste unterrepräsentiert ist. Auf der anderen Seite steht die Notwendigkeit, die zuständigen Stellen in Argentinien von einer seriellen Bewerbung und der Federführung für diesen Antrag zu überzeugen. Das hatte sich in der Vergangenheit als schwierig erwiesen, doch bestehen inzwischen neue Kontakte dorthin. • Die Observatorien in Kasan/Russische Föderation unterscheiden sich zu stark von der Hamburger Sternwarte, und es bestehen auch inhaltlich und historisch keine Verbindungen. Auch politisch-taktisch ergeben sich keine Vorteile einer seriellen Bewerbung. • Das ehemalige Astrophysikalische Observatorium Potsdam auf dem Telegrafenberg ist von seiner astronomiehistorischen Bedeutung wichtiger als Bergedorf, ist aber hinsichtlich Integrität und Authentizität erheblich eingeschränkt. So ist die ursprüngliche Instrumentierung nur noch teilweise vorhanden, und die Einrichtungen werden nur noch in geringem Maße für die astronomische Wissenschaft genutzt. Inhaltlich und historisch ergeben sich Verbindungen durch die beiden großen Repsold-Refraktoren, die Spektraldurchmusterung der Eichfelder und die sich z.T. überschneidenden Arbeitsgebiete der Forschung. Daraus ergibt sich, dass eine serielle Bewerbung der Hamburger Sternwarte nur mit La Plata oder Potsdam in Frage kommt. Die Begründung des OUV müsste dabei allerdings unterschiedlich vorgenommen werden: • Hamburg allein würde seinen OUV vor allem als herausragendes und besonders gut erhaltenes Beispiel aus der Zeit des Umbruchs in noch aktiver Nutzung beziehen. • Hamburg zusammen mit La Plata würde eine Verstärkung des OUV allein durch die Verdoppelung der Zahl der Stätten beziehen. Um die politisch-taktischen Vorteile auszunutzen, müsste Argentinien die Federführung übernehmen und den Antrag formulieren. • Hamburg zusammen mit Potsdam würden den OUV dadurch darstellen, dass sie sich zwar voneinander unterscheiden aber gegenseitig ergänzen: Potsdam als erstes astrophysikalisches Observatorium der Welt in klassischer Anlageform und Instrumentierung mit herausragender Bedeutung und Architektur, aber heute kaum noch astrophysikalisch genutzt (wohl aber das Gelände als Wissenschaftspark). Hamburg als später entstandenes Observatorium, für beide Zweige der Astronomie konzipiert, in moderner Anlageform, umfassender Instrumentierung und repräsentativer Architektur, das noch weitgehend original erhalten ist und als Forschungsinstitut genutzt wird. Im nächsten Schritt wäre zu klären, ob in Argentinien und im Land Brandenburg entsprechende Bereitschaft bestünde, eine serielle Bewerbung zusammen mit der Hamburger Sternwarte vorzubereiten. Wenn dies in beiden Fällen nicht der Fall sein sollte, wäre eine Einzelbewerbung der Hamburger Sternwarte dennoch ein sinnvoller und aussichtsreicher Weg. 4
Inhalt 1. Einleitung 6 2. Der kultur- und wissenschaftshistorische Kontext 8 3. Sternwarten und astronomische Stätten als kulturgeschichtliche Denkmale 10 4. Geschichte und Besonderheiten der Hamburger Sternwarten 13 5. Vergleichsanalyse 17 5.1 Sternwarten, die bereits in der Welterbeliste der UNESCO aufgeführt sind 18 5.2 Sternwarten auf nationalen Tentativlisten 25 5.3 Andere Sternwarten, die mit der Hamburger Sternwarte vergleichbar sind 32 6. Kritik des Fachbeirates an dem Vorschlag von 2012 43 7. Verfahren und Chancen einer Bewerbung 44 7.1 Begründung des Außergewöhnlichen Universellen Wertes (OUV) 44 7.2 Mögliche Verfahrenswege einer Welterbe-Nominierung 46 7.3 Abschätzung der Chancen 49 Literatur und Quellen 51 5
1. Einleitung Als im Jahre 2007 der Vorsitzende des Vorstands der Deutschen Stiftung Denkmalschutz und Kuratoriumsmitglied der Deutschen Stiftung Welterbe, Prof. Gottfried Kiesow, die Hamburger Sternwarte besichtigte, veranlasste ihn dieser Besuch zu dem spontanen Vorschlag, die Stadt Hamburg möge sich bei der UNESCO um die Eintragung der Sternwarte in die Liste des Welterbes bewerben. Im Oktober des folgenden Jahres fand in Bergedorf das internationale ICOMOS- Symposium „Cultural Heritage of Astronomical Observatories (around 1900) – From Classical Astronomy to Modern Astrophysics“ statt, das die kulturhistorische Bedeutung von Sternwarten im Kontext des Übergangs von der klassischen Astronomie zur modernen Astrophysik herausarbeiten sollte. Ein wesentliches Resultat dieser Tagung war die Erkenntnis, dass astronomische Stätten, namentlich der neuzeitlichen Astronomie seit Erfindung des Teleskops, in der Welterbeliste unterrepräsentiert sind. Diese Tatsache war auch der UNESCO in das Bewusstsein getreten und führte bereits 2004 im Verbund mit der Internationalen Astronomischen Union (IAU) zu der Initiative „Astronomy and World Heritage“. Ein weiteres Resultat war, dass die Hamburger Sternwarte ein herausragendes Beispiel für eine Sternwarte am Übergang von der klassischen Astronomie zur modernen Astrophysik darstellt, und sich mit vergleichbaren Observatorien weltweit messen kann. Ziel des Symposiums war es außerdem, vergleichbare Sternwarten als potentielle Kooperationspartner für eine serielle Bewerbung zu identifizieren und für eine Zusammenarbeit zu gewinnen. Als besonders geeignet stellte sich die Sternwarte in La Plata, Argentinien, heraus. Am 18. Februar 2010 beauftragte der Hamburgische Senat die Kulturbehörde, einen Anmeldetext für die deutsche Tentativliste für das UNESCO-Welterbe auszuarbeiten. Im folgenden Jahr erging der Vorschlag an Argentinien, gemeinsam mit der Hamburger Sternwarte eine serielle transnationale Bewerbung für die Sternwarte in La Plata zu vorzubereiten. Schon im Februar 2011 bekundete die argentinische Regierung ihren Willen zur Zusammenarbeit, woraufhin im Mai eine Delegation aus Hamburg die Sternwarte in La Plata besuchte und Kontakte zu den dortigen Wissenschaftlern und Behörden knüpfte. Eine formale Bewerbung kam jedoch aus verschiedenen Gründen nicht zustande, unter anderem auch, weil die Sternwarte in La Plata in Argentinien nicht als Denkmal eingetragen war. Im August 2012 wurde der Anmeldetext für die Sternwarte bei der Kultusministerkonferenz (KMK) eingereicht. Neben der Sternwarte hatte Hamburg auch den jüdischen Friedhof in Altona vorgeschlagen. Nach einer eingehenden Bewertung der insgesamt 31 eingegangenen Vorschläge der Bundesländer durch einen 11-köpfigen Fachbeirat hat die KMK am 12. Juni 2014 nur neun Vorschläge für die Aufnahme in die deutsche Tentativliste empfohlen. Darunter war an zweiter Stelle der jüdische Friedhof in Altona, nicht jedoch die Hamburger Sternwarte. Zwar wurde eine grundsätzliche Bedeutung der Sternwarte anerkannt und eine serielle Bewerbung zusammen mit La Plata empfohlen, doch konnte der Fachbeirat das Potential zum OUV1 [...] nicht bestätigen. (siehe auch Abschnitt 6). Zwar wurde auf Arbeitsebene eine erneute Kontaktaufnahme mit La Plata vorgenommen, doch hatte sich in der Zwischenzeit die politische und personelle Situation in Argentinien völlig verändert. Das Land durchlief eine schwere Wirtschaftskrise, und die Realisierung einer gemeinsamen Welterbe-Bewerbung unter Federführung Argentiniens schien in weite Ferne gerückt. Somit waren auch in Hamburg die Bemühungen um eine weitere Nominierung der Sternwarte für das Welterbe auf Eis gelegt. Die 2015 bei der UNESCO eingereichte Bewerbung für den jüdischen Friedhof wurde im Januar 2018 zurückgezogen, da signalisiert wurde, dass eine 1 OUV – Outstanding Universal Value (außergewöhnlicher universeller Wert); dies ist das entscheidende Kriterium für eine Aufnahme in die Welterbeliste. 6
nationale Bewerbung (anders als eine serielle transnationale Bewerbung mit den Niederlanden – Amsterdam und Curacao) voraussichtlich chancenlos wäre. Im Mai 2018 sprach sich die Bezirksversammlung Bergedorf dafür aus, das Verfahren um eine Nominierung der Hamburger Sternwarte wieder aufzunehmen und voranzutreiben. Auf die entsprechende Anfrage des Bezirksamtsleiters antwortete die Kulturbehörde, dass ein erneuter Vorschlag für die deutsche Tentativliste zu gegebener Zeit erfolgen werde. Da die ab 2016 erfolgte Fortschreibung der Tentativliste 2024 ausläuft, sprach sich die KMK am 16. Oktober 2019 für die weitere Fortschreibung der Tentativliste aus und forderte die Bundesländer zur Abgabe neuer Vorschläge auf. Diese müssen bis zum Oktober 2021 eingereicht werden. Auf ihrer Sitzung am 29.10.2020 hat die Bezirksversammlung Bergedorf einstimmig beschlossen, der Bezirksamtsleiter möge sich bei der Kulturbehörde und den zuständigen Stellen der Stadt dafür einsetzen, die Aufnahme der Hamburger Sternwarte auf die deutsche Tentativliste zu betreiben. Vor diesem Hintergrund ist eine baldige Entscheidung darüber erforderlich, ob die Hansestadt Hamburg beabsichtigt, die Hamburger Sternwarte erneut der KMK für die deutsche Tentativliste vorzuschlagen. Dabei ist einerseits die im Abschlussbericht von 2014 geäußerte Kritik zu berücksichtigen, zum anderen die veränderte Situation hinsichtlich potentieller Partner für eine serielle Bewerbung. Die Sternwarte La Plata ist inzwischen als Teil eines umfassenden städtebaulichen Antrags auf die Tentativliste von Argentinien gekommen. Auf der anderen Seite gibt es seit einiger Zeit Kontakte zur Sternwarte in Kasan/Russische Föderation, die kürzlich ebenfalls auf die nationale Tentativliste Russlands gesetzt wurde. Es ist somit erforderlich, die bisherige Begründung des Vorschlags zu überdenken und die möglichen Vergleichsobjekte eingehend zu studieren. Die verschiedenen Möglichkeiten einer UNESCO-Welterbe-Bewerbung müssen sorgfältig betrachtet und gegeneinander abgewogen werden, um die Chancen einer Bewerbung realistisch einzuschätzen. Zu diesem Zweck hat das Denkmalschutzamt Hamburg die vorliegende Studie in Auftrag gegeben. 7
2. Der kultur- und wissenschaftshistorische Kontext Die kulturgeschichtliche Bedeutung der Sternwarten ist nur zu verstehen, wenn man die Geschichte der Astronomie näher betrachtet. Diese Entwicklung spiegelt einen bedeutenden Beitrag zur Kulturgeschichte der Menschheit wider, führte sie doch dazu, dass sich die Menschen über ihre Stellung im Kosmos bewusst werden konnten. Zu allen Zeiten haben die Menschen voller Bewunderung und Ehrfurcht in den Himmel geschaut. Sonne, Mond, Planeten und Sterne waren von allen Teilen der Erde sichtbar. Während die (Fix-)Sterne unveränderlich schienen, bewegten sich Sonne, Mond und die Planeten durch die Sternbilder. Aus dem Sonnenstand konnte man die ungefähre Uhrzeit ableiten. Der Anblick des Sternhimmels und der Sonnenlauf durch die Tierkreissternbilder bildeten den Verlauf der Jahreszeiten ab, und in den Bewegungen des Mondes und der Planeten erkannte man gewisse Regelmäßigkeiten. So entstanden die Grundlagen für das Kalenderwesen. Vieles aber, was man am Himmel sehen konnte, blieb unerklärlich und wurde dem Wirken von Göttern zugeschrieben. Den ersten Seefahrern fiel zudem auf, dass der Himmelsanblick von verschiedenen Teilen der Erde unterschiedlich war. Die Sternbilder zeigten die Himmelsrichtungen an und ermöglichten eine grobe Kursbestimmung für die Schiffe. Bis in das 16. Jahrhundert glaubten die Menschen, die Erde stünde im Mittelpunkt des Weltalls, und alle anderen Himmelskörper umkreisten sie. Schon im antiken Griechenland hatte es modernere Vorstellungen des Weltbildes gegeben, und Eratosthenes hatte mit erstaunlicher Genauigkeit den Erdumfang bestimmt. Dieses Wissen ging allerdings im Mittelalter in Europa weitgehend verloren, wurde aber durch die Araber bewahrt. Mit der kopernikanischen Wende 1543 ging das Zeitalter der Entdeckungen einher. Nunmehr stand die Sonne im Mittelpunkt, und die Planeten einschließlich der Erde umkreisten sie. Nur der Mond umkreiste als einziger und nächstgelegener Himmelskörper die Erde. Allerdings blieb dieses Weltbild lange Zeit kontrovers, und erst die Beobachtungen Galileis mit einem der ersten Teleskope verhalfen dem heliozentrischen Weltbild zum Durchbruch. Mit der Erfindung des Fernrohrs um 1608 begann eine bis heute andauernde stürmische Entwicklung in der astronomischen Wissenschaft. Unzählige schwächere Sterne konnten beobachtet werden, Planeten zeigten Oberflächendetails, Nebelflecke und Sternhaufen wurden erkennbar, und vor allem die Genauigkeit von Winkelmessungen ließ sich enorm steigern2. Letzteres bildete die Grundlage für die genaue Orts- und Zeitbestimmung, die zur Hauptaufgabe der Sternwarten im 18. und 19. Jahrhundert werden sollte. Astronomie hatte zu dieser Zeit eine sehr hohe praktische Bedeutung, und die Sternwarten waren insbesondere für die Bestimmung und Weiterverbreitung der genauen Uhrzeit zuständig, die nun auf Sekundenbruchteile genau angegeben werden konnte. Weitere wichtige Aufgaben waren die Festlegung von genauen Fixpunkten für die Landvermessung sowie – für die astronomische Navigation in der Seefahrt – die Herausgabe von nautischen Tafelwerken und die Prüfung von Sextanten und Chronometern. Ohne die genauen astronomischen Winkelmessungen wäre weder die Erschließung der Erde noch der globale Handel möglich gewesen. In diesem Zusammenhang entstanden in vielen Sternwarten umfangreiche Sternkataloge. Von Sternen ließen sich aber nur die Positionen genau bestimmen, über ihre Eigenschaften war kaum etwas bekannt, denn sie erschienen auch in den größten Teleskopen nur als Lichtpunkte. Demzufolge bildeten Fernrohre mit genauen Winkelmesseinrichtungen – u.a. Meridiankreise, Transitinstrumente, Okularmikrometer – die wichtigsten Instrumente der Sternwarten, allesamt mit Linsenoptiken ausgestattet. Das Spiegelteleskop war ebenfalls bereits im 17. Jahrhundert erfunden worden, doch verhinderten die technischen Schwierigkeiten mit den schwer handhabbaren Metallspiegeln zunächst deren Verbreitung. 2 Die Disziplin der exakten Bestimmung von Winkeln und Positionen in der Astronomie wird Astrometrie genannt. 8
In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erfolgten mehrere Entdeckungen und Erfindungen, die den Charakter der astronomischen Wissenschaft stark veränderten. Physikalische Methoden hielten Einzug in die beobachtende Astronomie: Die Fotografie ermöglichte die objektive Dokumentation der Beobachtungen und ließ bei langen Belichtungszeiten viel schwächere Objekte erkennen als zuvor. Die Photometrie gestattete die Messung genauer Sternhelligkeiten. Vor allem aber die Spektroskopie ermöglichte es durch die Aufnahme von Spektren der Objekte, deren physikalische Eigenschaften – Temperatur, Bewegung in der Sichtlinie, chemische Zusammensetzung u.a. – zu erforschen. Man konnte nun erheblich mehr über die Himmelskörper in Erfahrung bringen als nur ihre Position am Himmel. Die Erforschung der Himmelskörper an sich rückte immer mehr ins Zentrum der Wissenschaft. Parallel dazu verlief die technische Entwicklung dergestalt, dass immer größere Durchmesser – sowohl für Linsen wie auch für Spiegel – realisierbar wurden. Der Durchmesser des Objektivs ist die wichtigste Kenngröße eines Teleskops. Je größer der Durchmesser, desto mehr Licht kann das Teleskop sammeln, desto schwächere Objekte werden beobachtbar. Auch das Auflösungsvermögen – die Erkennbarkeit feiner Details – steigt mit dem Objektivdurchmesser, sofern die Luft dafür ausreichend ruhig ist. Linsendurchmesser von mehr als 50 cm wurden etwa ab 1870 erzielbar und erreichten um 1900 mit 102 cm (Yerkes-Obs., USA) ihr technisch mögliches, wegen der Durchbiegung des Glases bedingtes Maximum. Fast alle großen Refraktoren sind vor 1930 gebaut worden. Teleskopspiegel aus Metall waren zwar schon im 19. Jahrhundert bis zu 183 cm Durchmesser gebaut worden, hatten aber gegenüber Linsen gravierende Nachteile. Sie sind extrem schwer, haben ein geringes Reflexionsvermögen und mussten oft nachpoliert werden. Andererseits konnten sie, weil rückseitig unterstützt, mit größerem Durchmesser realisiert werden als Linsen. Glasspiegel mit Silberbeschichtung kamen ab etwa 1870 erstmals zum Einsatz, blieben aber zunächst die Ausnahme. Spiegelteleskope mit mindestens 100 cm Durchmesser gab es gegen Ende des 19. Jahrhunderts nur vereinzelt, doch wuchs ihre Zahl im 20. Jahrhundert stetig an. 1917 setzte der Hooker-Spiegel auf dem Mt. Wilson in den USA mit 254 cm Durchmesser neue Maßstäbe und sollte 30 Jahre lang unübertroffen bleiben. Allmählich gewannen die Astronomen eine Vorstellung über die Strukturen im Kosmos, die Eigenschaften und die Entwicklung von Sternen und Galaxien und später auch über die Größe und Entwicklungsgeschichte des gesamten Universums. Grundfragen der Menschheit, wie nach dem Alter und dem Ursprung der Welt, konnten erstmals auf eine wissenschaftliche Grundlage gestellt werden. Zudem beeinflussten die Erkenntnisse der astronomischen Wissenschaft andere Bereiche des Kulturlebens wie Kunst, Literatur und sogar die Musik. Dieser Übergang von der klassischen, winkelmessenden Astronomie des 19. Jahrhunderts zur modernen Astrophysik des 20. Jahrhunderts stellt einen entscheidenden Wendepunkt in der Kulturgeschichte der Menschheit in Bezug auf die Erforschung des Himmels dar. Er manifestiert sich in den Sternwarten durch einen Wandel in der Arbeitsweise und der Instrumentierung. Nunmehr waren lichtstarke, farbreine Optiken und Nachführeinrichtungen für lange Belichtungszeiten erforderlich. Dies ließ sich mit den Ende des 19. Jahrhunderts aufkommenden Spiegelteleskopen mit Glasspiegeln großen Durchmessers erheblich besser realisieren als mit den Linsenoptiken zuvor. Nach dem Zweiten Weltkrieg spielten die klassischen Aufgaben der Zeit- und Ortsbestimmung nur noch eine untergeordnete Rolle in der Arbeit der Sternwarten. Heute ist Astronomie gleichbedeutend mit Astrophysik und stellt praktisch reine Grundlagenforschung dar. 9
3. Sternwarten und astronomische Stätten als kulturgeschichtliche Denkmale Als Sternwarten im weitesten Sinne werden Orte und Einrichtungen bezeichnet, die vor allem oder ausschließlich der Beobachtung astronomischer Erscheinungen am Himmel dienen. Natürlich kann grundsätzlich von jedem Punkt der Erde aus der Himmel betrachtet werden, doch ist es unmittelbar einleuchtend, dass nicht alle Orte gleichermaßen geeignet sind. Eine freie (Rundum-)Sicht möglichst bis zum Horizont ist dafür ein naheliegendes Kriterium, das zum Beispiel auf Bergen, Hügeln oder Hochebenen erfüllt ist. Aber auch klimatische Gesichtspunkte (große Zahl klarer Nächte) und eine möglichst störungsfreie Beobachtung (keine Erschütterungen, kein Streulicht) spielen eine wichtige Rolle. In diesem weiten Sinne haben schon die Menschen der Frühzeit geeignete Beobachtungsplätze gefunden, die heute als archäoastronomische Stätten Beachtung finden. Sie dienten unter anderem der Bestimmung von Tages- und Jahreszeiten, insbesondere der Ermittelung von Sonnenwenden und Äquinoktien (Tag- und Nachtgleichen). Beispiele hierfür sind u.a. die Anlagen von Stonehenge und Avebury in England, Cheomseongdae in Südkorea, Gaocheng (bei Dengfeng, China), Samarkand (Usbekistan) oder Chichén Itzá in Mexiko, wobei in vielen Fällen nicht eindeutig geklärt ist, ob diese Stätten wirklich der astronomischen Beobachtung oder vorrangig kultischen Zwecken dienten. Die Ausrichtung bestimmter architektonischer Merkmale nach ausgezeichneten Himmelsrichtungen lässt dies jedoch vermuten. Zahlreiche dieser prähistorischen Observatorien sind bereits in der UNESCO-Liste des Welterbes vertreten, da sie einen bedeutenden Einfluss auf die Kulturgeschichte ihrer Region hatten. Im engeren Sinne versteht man unter Sternwarten die baulichen Anlagen zur astronomischen Beobachtung mit Teleskopen, wobei die Urform mit öffnungsfähigen und drehbaren Dächern schon auf die Uraniborg von Tycho Brahe im Jahr 1580 und damit noch knapp in die vorteleskopische Zeit zurückgeht. Im 17. Jahrhundert entstanden die ersten Sternwarten heutiger Prägung (Paris 1672, Greenwich 1675, Berlin 1711), oft noch als Plattformen auf Dächern oder als Türme oder Anbauten mit hohen Fenstern, und eher selten als eigenständige Gebäude. Mit zunehmender Verbesserung der Teleskope war allerdings eine solide Fundamentierung ein aufkommendes Problem, das man besten durch einen stabilen, bis zum Boden durchgehenden und vom übrigen Gebäude isolierten Pfeiler lösen konnte. Die Sternwartengebäude wurden somit niedriger. Im 18. Jahrhundert und bis weit in das 19. Jahrhundert hinein entstanden Sternwarten meist als zentrale Gebäude, oft in klassizistischer Architektur und mit kreuzförmigem oder T- oder U-förmigem, in Nord-Süd-Richtung ausgerichtetem Grundriss. Als deren markantestes Merkmal stachen die halbkugelförmigen, gelegentlich auch zylindrischen Kuppeln hervor. Diese Kuppeln waren mit einem verschließbaren Spalt versehen und drehbar, so dass für das Teleskop eine Ausrichtung in alle Richtungen und Winkelhöhen möglich war. Andererseits boten sie den empfindlichen Teleskopen ausreichend Schutz gegen Witterung und andere Störeinflüsse. Zu den ersten Sternwarten in dieser Bauweise zählen diejenigen von Dunsink (Dublin, 1785), Gotha (Seeberg, 1791), Göttingen (1816), München (1819), Cambridge (1823), Edinburgh (1824) und Berlin (1835). Mit ausgedehnterem Grundriss und mehreren Kuppeln waren die Sternwarten in Helsinki (1834), Pulkowo (St. Petersburg, 1839) und Bonn (1845) prägend. Die strenge Ausrichtung der Sternwartenbauten war vor allem durch die Meridiankreise und Transitinstrumente vorgegeben, die nur um eine Achse in Nord-Süd-Richtung drehbar waren und dadurch eine feste Gebäudeorientierung erforderten. Durch einen meistens mit Klappen verschließbaren Spalt im Dach und in den Wänden war die Beobachtung der Gestirnsdurchgänge im Meridian möglich. Diese Instrumentengattung ging in seiner neuzeitlichen Form auf den Hamburger Feinmechaniker und Sternwartengründer Johann Georg Repsold (1770-1830) zurück 10
und wurde zum prägenden Element der Sternwarten im 19. Jahrhundert. Mit ihnen ließen sich nicht nur Gestirnspositionen auf genaueste Weise bestimmen, sie gestatteten vor allem die exakte Zeit- und Ortsbestimmung, die damals die wichtigste Dienstleistungsaufgabe der Sternwarten war. Die Anordnung der Teleskope in oder auf einem größeren Gebäude, das auch anderen Zwecken wie Wohnen, Verwaltung, Bibliothek oder Werkstätten dient und somit auch beheizt ist, hat für die Beobachtung allerdings einen gravierenden Nachteil: Die aus dem Gebäude aufsteigende warme Luft vermischt sich mit der kalten Umgebungsluft und führt zu turbulenten Strömungen, die den Verlauf des einfallenden Lichtes in schneller und erratischer Weise beeinflussen. Die Sternbildchen flimmern, werden unscharf, feine Details etwa auf Planetenoberflächen sind nicht mehr erkennbar. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts reifte daher die Erkenntnis, die Kuppeln und Teleskope nicht auf den Dächern bestehender Gebäude sondern als eigenständige Beobachtungsgebäude, möglichst weit voneinander und von den sonstigen Gebäuden getrennt anzulegen. Solche so genannten Gruppenanlagen entstanden erstmals in Nizza (1886), La Plata (1894) und Heidelberg-Königstuhl (1900). Auch die Hamburger Sternwarte (1912) zählt zu den frühesten Gruppenanlagen, die in der Folge die dominierende Anlageform für neuzeitliche Sternwarten wurde. Ein weiteres Kriterium in der Entwicklung von Sternwarten ist die Lage. Anfangs meistens noch mitten in den Städten gelegen, verlagerte man sie mit der zunehmenden Luftverschmutzung durch Industrie und Verkehr und der Beeinträchtigung durch Streulicht der Straßenbeleuchtung um die Wende zum 20. Jahrhundert typischerweise in die Vorstädte oder die nähere Umgebung. Dort war es seinerzeit noch ausreichend dunkel, und die Erreichbarkeit war ebenfalls ein wichtiges Kriterium. Noch gegen Ende des 19. Jahrhunderts erkannte man die Vorzüge hoher Berge für die astronomische Beobachtung, weniger wegen der freien Rundumsicht sondern eher wegen der ruhigen Luftverhältnisse und den oftmals unterhalb des Gipfels gelegenen Wolken. Die ersten permanenten Bergobservatorien (Mt. Hamilton – Lick-Obs., USA, 1888; Pic du Midi, Frankreich, 1907) blieben wegen der schwierigen Erreichbarkeit und der harten Bedingungen zunächst die Ausnahme. Es zeigte sich aber vor allem in Nordamerika, dass klimatisch besser geeignete trockene Gegenden (Kalifornien, Arizona) wesentlich häufigere und genauere Beobachtungen ermöglichten. Mit dem fortschreitenden Wachstum der Städte, der Zunahme der allgemeinen Beleuchtung und den immensen Investitionskosten für große Teleskope rückte die Frage der Effizienz mehr und mehr in den Vordergrund, so dass für neue Observatorien nach dem Zweiten Weltkrieg andere Kriterien maßgeblich wurden: Möglichst viele klare Nächte, ruhige Luftverhältnisse, kein künstliches Streulicht durch Zivilisation, geringer Wasserdampfgehalt für Infrarotbeobachtungen etc. So entstanden die größten Sternwarten der heutigen Zeit in wenigen, besonders geeigneten Regionen: der Atacama-Wüste in Chile, im Südwesten der USA und auf hohen Bergen von Inseln im Ozean wie Hawai‘i und La Palma. Erfolgte die Beobachtung des Himmels bis in das 20. Jahrhundert hinein ausschließlich im Bereich des sichtbaren Lichtes, so wurden ab 1930 – beginnend mit dem Bereich der Radiostrahlung – zunehmend andere Wellenlängenbereiche erschlossen. Erst mit dem Beginn der Weltraumfahrt gelangen dann auch Beobachtungen im infraroten, ultravioletten, Röntgen- und Gammastrahlenbereich. Sie bedeuteten einen erneuten riesigen Schub neuer Erkenntnisse und erforderten eigene, speziell darauf ausgerichtete Forschungsstätten (Radioteleskope, „Weltraumbahnhöfe“, Bodenstationen etc). Die Erforschung des Himmels ist seit Anbeginn ein wesentlicher Teil der menschlichen Kultur. Die Formung des Weltbildes, die Entschlüsselung der Struktur des Kosmos und der Ursprünge der Himmelskörper und des Lebens zählen unzweifelhaft zu den größten Geistesleistungen der 11
Menschheit. Ohne Astronomie hätte es keine Entdeckung ferner Kontinente gegeben. Handel und Seefahrt, ja viele Aspekte des täglichen Lebens sind – ohne dass es uns bewusst ist – auf die Erkenntnisse der Astronomie gegründet. Es ist daher unzweifelhaft berechtigt, astronomische Stätten in das Welterbe der Menschheit aufzunehmen. Erstaunlicherweise finden sich in der UNESCO-Welterbe-Liste in Bezug auf astronomische Stätten fast nur prähistorische Stätten. Wie in Abschnitt 5 näher ausgeführt wird, sind gegenwärtig nur vier neuzeitliche Sternwarten (Pulkovo, Greenwich, Tartu und das Radioobservatorium Jodrell Bank in Großbritannien) in der Liste vertreten, wobei die ersten beiden Teil eines umfassenden Ensembles sind, bei denen der Charakter als astronomische Forschungsstätte nicht im Vordergrund steht. Tartu ist Teil des so genannten „Struve-Bogens“ zur Erdvermessung, der sich vom Nordkap bis zum Schwarzen Meer erstreckt. Lediglich Jodrell Bank ist als das erste große Radioteleskop ein Einzelobjekt. 12
4. Geschichte und Besonderheiten der Hamburger Sternwarte Handel und Seefahrt erforderten auch in der Hansestadt Hamburg die Notwendigkeit der genauen Zeit- und Ortsbestimmung. Auf Initiative des Oberspritzenmeisters Johann Georg Repsold entstand 1825 auf der ehemaligen Bastion Henricus in den aufgelassenen Wallanlagen das Gebäude der ersten Hamburger Sternwarte, die am 31.10.1833 auf Beschluss der Bürgerschaft im Verbund mit der Navigationsschule als Staatsinstitut übernommen wurde. Ganz der Tradition verhaftet bildeten ein Meridiankreis und ein Passageinstrument den Kern der instrumentellen Ausstattung der Sternwarte. Erst 1867 kam das Äquatorial hinzu, ein Refraktor mit genauen Winkelmesseinrichtungen. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts verschlechterten sich die Beobachtungsbedingen nahe dem Stadtzentrum und dem Hafen so sehr, dass eine Verlegung der Sternwarte unumgänglich wurde. Von 1906-1912 entstand unter der Leitung des Direktors Richard Schorr in Bergedorf, ca. 20 km südöstlich des Hamburger Stadtzentrums, eine neue Sternwartenanlage, die zu den größten und modernsten ihrer Zeit zählte. Modern war vor allem die Form als Gruppenanlage mit freistehenden Kuppelgebäuden für die einzelnen Teleskope sowie – davon getrennt – Hauptdienstgebäude, Direktoren- und Beamtenwohnhäusern. Diese Anlageform wurde in Bergedorf besonders konsequent umgesetzt. So liegen sämtliche Beobachtungsgebäude östlich der Fahrstraße, die das Sternwartengelände ungefähr in Nord-Süd-Richtung zweiteilt, während alle Wohn-, Verwaltungs- und sonstige Gebäude westlich der Straße angeordnet sind. Dem damaligen Zeitgeist entsprechend wurden die Gebäude nach einem Entwurf von Albert Erbe überwiegend in neobarocken Formen ausgeführt. Das ist besonders am schlossartigen Hauptdienstgebäude, aber auch an den Kuppelgebäuden des Großen Refraktors, des Spiegelteleskops, des Lippert-Teleskops sowie des Meridiankreisgebäudes zu erkennen mit vielen runden Formen, ovalen Fenstern und teilweise Mansardendächern. Demgegenüber wurden das Direktorenwohnhaus, das Große und kleine Beamtenwohnhaus in etwas schlichterer, aber immer noch repräsentativer Architektur ausgeführt. Modern waren aber auch die Instrumente der führenden deutschen Hersteller: Repsold, Steinheil und Carl Zeiss. Zwar hatte die Sternwarte weiterhin ihre traditionellen Aufgaben des Zeitdienstes zu erfüllen, doch Schorr hatte von Anbeginn die instrumentelle Ausstattung auch auf die Bedürfnisse der neu aufkommenden Astrophysik ausgerichtet. Die klassische Richtung war vor allem durch den neuen Meridiankreis mit 19 cm Öffnung und 230 cm Brennweite repräsentiert, der von der traditionsreichen Hamburger Firma A. Repsold und Söhne hergestellt wurde. Dieser Hersteller von astronomischen Instrumenten ging auf den Gründer der Hamburger Sternwarte, J.G. Repsold, zurück und war bis zum Produktionsende 1919 weltweit einer der führenden Hersteller der mechanischen Teile von Teleskopen und Winkelmessinstrumenten. Der Meridiankreis fand seine Aufstellung in einem tonnenförmigen Bau mit zu öffnendem Dach im Südosten des Sternwartengeländes. Jahrzehntelang diente der Meridiankreis der Bestimmung der genauen Uhrzeit für Hamburg und Norddeutschland. Darüber hinaus war er an zwei international bedeutsamen Sternkatalogprojekten, dem Zweiten und Dritten Katalog der Astronomischen Gesellschaft (AGK2 bzw. AGK3) beteiligt. Er lieferte die Referenzpositionen für die Anhaltsterne in bestimmten Zonen, auf deren Grundlage mit fotografischen Aufnahmen die Positionen weiterer 200.000 Sterne bestimmt wurden. Nach einer umfassenden Modernisierung und Umstellung auf automatische Registrierung der Sterndurchgänge wurde der Meridiankreis 1967 nach Perth/Westaustralien verbracht, um dort bis Mitte der 1980er Jahre für einen Sternkatalog des Südhimmel die Positionen zu liefern. Um 1990 kam der Meridiankreis zurück nach Deutschland, allerdings in das Deutsche Museum nach München. Es 13
laufen gegenwärtig Verhandlungen mit dem Museum, den Meridiankreis wieder zurück nach Hamburg zu holen. Der Große Refraktor mit 60 cm Öffnung und 9 m Brennweite stammt ebenfalls von der Firma Repsold und wurde mit einem Objektiv der Münchner Firma Steinheil ausgestattet. Später kam ein zweites, austauschbares Objektiv hinzu, das speziell für die Fotografie konzipiert war. Der Große Refraktor ist der viertgrößte Refraktor in Deutschland und steht weltweit etwa an 25. Stelle. Nach dem Potsdamer Refraktor ist es das zweitgrößte noch existierende Repsold-Instrument. Das Teleskop befindet sich in einer 13 m durchmessenden Kuppel, die ebenso wie die eindrucksvolle fahrbare Hebebühne von der Firma Zeiss stammt. Aufgrund seiner Linsenoptik zählt der Große Refraktor technisch gesehen ebenfalls eher noch zu den klassischen Instrumenten, doch wurde er schon recht bald für astrophysikalische Beobachtungen benutzt, namentlich für die Fotografie und die Spektroskopie. Nach dem zweiten Weltkrieg diente er vorübergehend der Sonnenbeobachtung und später der zeitlich hochauflösenden Photometrie. So konnten mit ihm Ende der 1960er Jahre die Lichtblitze des gerade entdeckten Pulsars im Crabnebel verfolgt werden. Zuletzt diente der Große Refraktor wieder klassischen Zwecken, nämlich den genauen relativen Positionsbestimmungen von Sternen für bestimmte Programme. Seit ca. 1990 wird das Teleskop nicht mehr für wissenschaftliche Zwecke verwendet und dient vornehmlich der Öffentlichkeitsarbeit der Sternwarte. Eine umfassende Sanierung von Gebäude und Teleskopkuppel wurde von 2015 bis 2020 durchgeführt. Ebenfalls mit Linsenoptiken ausgestattet, aber von Anfang an für astrophysikalische Anwendungen vorgesehen war der Lippert-Astrograph, der aufgrund einer Schenkung des wohlhabenden Hamburger Kaufmanns und Amateurastronomen Eduard Lippert beschafft werden konnte. Dieses komplett von Zeiss gelieferte Teleskop bestand aus einer Kombination von fünf Teleskopen auf einer gemeinsamen Montierung, von denen drei für rein fotografische Beobachtungen und zwei zur erforderlichen Nachführung bei den langen Belichtungszeiten eingesetzt wurden. Das wichtigste Projekt am Lippert-Astrographen war die Bergedorfer Spektraldurchmusterung, die Bestimmung der Spektraltypen von rund 173.500 Sternen mit einem Objektivprisma im Rahmen eines internationalen Programms zur Stellarstatistik (Kapteynsche Eichfelder). Ein weiteres Forschungsfeld am Lippert-Astrographen waren die veränderlichen Sterne, für die tausende Fotoplatten belichtet wurden. Außerdem konnten mit dem Teleskop zahlreiche Kometen und Kleinplaneten entdeckt werden. Der Lippert-Astrograph ist im Laufe der Zeit mehrfach umgebaut worden. Von seinen ursprünglichen Optiken ist nur noch ein Leit- und ein Sucherfernrohr installiert. Anstelle der Astrographen befindet sich heute ein 60 cm-Spiegelteleskop auf der Montierung. Die Astrographenobjektive sind aber noch in der Sammlung der wissenschaftlichen Geräte der Sternwarte vorhanden. Das Lippert-Teleskop wird seit vielen Jahren vor allem für die wissenschaftliche Lehre sowie für die Öffentlichkeitsarbeit eingesetzt. Gegenwärtig (2020) wird das Kuppelgebäude baulich saniert. Ganz und gar auf die Astrophysik ausgerichtet war das Spiegelteleskop mit 1 m Spiegeldurchmesser und 3 m Brennweite, das als extrem lichtstarkes Newton-System 1911 von Zeiss geliefert wurde und seinerzeit das viertgrößte funktionierende Spiegelteleskop der Welt war. Zudem ist es das erste große Spiegelteleskop von Zeiss. Besonders zukunftsweisend waren die Arbeiten Walter Baades, der in den 1920er Jahren mit diesem Teleskop veränderliche Sterne, Kugelsternhaufen und Galaxien aufnahm. Dabei entdeckte er isolierte Sterne im galaktischen Halo und legte somit die Grundlage seiner Idee der verschiedenen Sternpopulationen, auf der heute unsere Vorstellungen vom Aufbau und der Entwicklung der Galaxien basieren. Nach dem Krieg wurde der 1m-Spiegel auf ein Nasmyth-System mit 15 m Brennweite umgebaut und mit einem Prismenspektrografen ausgestattet. Bis in die 1970er Jahre entstanden so tausende von mittel- und 14
hochaufgelösten Sternspektren, die der Untersuchung besonderer Sterntypen dienten. Das Teleskop ist nahezu im Originalzustand erhalten und wurde vom Förderverein der Sternwarte denkmalgerecht restauriert. Von der alten Sternwarte in den Wallanlagen wurde noch das ehemalige Hauptinstrument, das Äquatorial mit 26 cm Öffnung, sowie das alte Passageinstrument nach Bergedorf verlagert und dort neu aufgestellt. Das Äquatorial ist noch vorhanden und stellt einen eindrucksvollen Vertreter der klassischen Astronomie des 19. Jahrhunderts dar. In den 1920er und 30er Jahren stellte das Wirken des Optikers Bernhard Schmidt auf der Hamburger Sternwarte ein besonders wichtiges Kapitel dar. Schmidt erfand 1930 ein sog. komafreies optisches System, das die Schwäche der bisherigen Spiegelteleskope, nur kleine Gesichtsfelder scharf abbilden zu können, überwand. Der allererste Schmidt-Spiegel mit 36 cm Öffnung und 48 cm Spiegeldurchmesser ist im Schmidt-Museum der Sternwarte als originales Ausstellungsstück erhalten. In der Folge entstanden weltweit Schmidt-Teleskope, die tiefe fotografische Durchmusterungen des Himmels überhaupt erst ermöglichten. 1954 konnte die Hamburger Sternwarte den damals zweitgrößten Schmidt-Spiegel der Welt auf ihrem Gelände aufstellen. Dieses lichtempfindliche Teleskop litt allerdings recht bald unter der Aufhellung durch künstliches Streulicht der Stadt und wurde daher 1975 abgebaut und später auf dem Calar Alto in Südspanien wieder aufgestellt. An seine Stelle kam das moderne Oskar-Lühning-Teleskop (OLT) mit 1,20 m Öffnung, das noch heute das drittgrößte Teleskop in Deutschland ist und trotz der ungünstigen Witterungs- und Streulichtbedingungen weiterhin für die wissenschaftliche Forschung und Lehre eingesetzt werden kann. Die zunehmende „Lichtverschmutzung“ des Himmels über der Hamburger Sternwarte führte ab den 1960er Jahren zu einer allmählichen Verlagerung der Beobachtungen an günstiger gelegene auswärtige Observatorien, namentlich dem Deutsch-Spanischen Astronomischen Zentrum auf dem Calar Alto in Andalusien und der Europäischen Südsternwarte (ESO) in Chile. Letztere hat sogar in Hamburg ihre Wurzeln, da der Direktor der Hamburger Sternwarte, Otto Heckmann, 1962 der erste Generaldirektor der ESO wurde. Daneben lieferten Weltraumobservatorien wie das Hubble Space Telescope, der International Ultraviolet Explorer oder das Röntgenobservatorium ROSAT u.a. immer mehr Beobachtungsdaten. Die Auswertung der Daten, die Arbeiten der Theoretischen Astrophysik sowie die Ausbildung des wissenschaftlichen Nachwuchses finden bis heute auf dem Sternwartengelände in Bergedorf statt. Für die letztere Aufgabe werden auch immer noch die historischen wie auch die modernen Teleskope genutzt. Seit 1968 ist die Hamburger Sternwarte ein wissenschaftliches Institut der Universität Hamburg und bildet mit ihrer Arbeit einen der Forschungsschwerpunkte des Fachbereichs Physik innerhalb der MINT-Fakultät. Die Anlage der Hamburger Sternwarte auf dem Gojenberg in Bergedorf ist genau zu der Zeit des Übergangs von der klassischen Astronomie zur modernen Astrophysik entstanden. Durch ihre Instrumentierung dokumentiert sie diesen Wandel in fast einzigartiger Weise: Die klassische Richtung mit dem Meridiankreis, dem Äquatorial und dem Großen Refraktor als wichtigste Vertreter, sowie die Ausrichtung auf die Astrophysik, die durch das 1m-Spiegelteleskop, das Lippert-Teleskop, den weltersten Schmidt-Spiegel und das moderne Oskar-Lühning-Teleskop repräsentiert wird. Sie ist eine der ersten Gruppenanlagen, die ab etwa der Jahrhundertwende die dominierende Bauform moderner Sternwarten werden sollte. Die repräsentative Architektur in neobarocken Formen sowie die Instrumente sind weitgehend im Originalzustand erhalten (Kriterium der Integrität). Lediglich das Lippert-Teleskop ist im Laufe der Zeit mehrmals umgebaut worden. Der Meridiankreis befindet sich zurzeit im Deutschen Museum in München, eine Rückführung des Instruments nach Hamburg ist geplant. 15
Im Unterschied zu vielen anderen Sternwarten in Deutschland und Europa hat die Hamburger Sternwarte praktisch keine Kriegsschäden erlitten, und auch die Modernisierungen der Nachkriegszeit sind in eher behutsamer Weise vorgenommen worden. Einzige Neubauten sind das Kuppelgebäude des Schmidt-Spiegels (heute OLT), das sich gut in das Ensemble der Kuppelbauten einfügt, sowie das Werkstatt- und das Laborgebäude, die eher in den Randbereichen des Geländes liegen. Der Charakter des Sternwartenparks ist dadurch in keiner Weise beeinträchtigt worden. Die Gebäude des Äquatorials, des Meridiankreises, des 1m-Spiegelteleskops sowie in jüngster Zeit auch die des Großen Refraktors und des Lippert-Teleskops sind ebenso wie das Hauptdienstgebäude in den vergangenen Jahren mit großem Aufwand denkmalgerecht saniert worden. Obwohl die Hamburger Sternwarte weitgehend im Originalzustand erhalten ist und seit 1996 unter Denkmalschutz steht, beheimatet sie nach wie vor ein aktives, modernes und international vernetztes Forschungsinstitut mit einer hohen wissenschaftlichen Reputation. Es wird dort nicht nur aktiv Forschung betrieben, es lässt sich mit dem historischen Instrumentarium auch sehr gut nachvollziehen, wie die Astronomie in früheren Zeiten gearbeitet hat (Kriterium der Authentizität). Schließlich sei auch erwähnt, dass die Hamburger Sternwarte in ihrer Geschichte immer wieder bedeutende Beiträge für die Wissenschaft geleistet hat. Neben der Entdeckung zahlreicher Kleinplaneten, Kometen und veränderlicher Sterne sind hier vor allem die großen Katalogprojekte zu nennen: die Zonenunternehmen der Astronomischen Gesellschaft (AG-Kataloge), die Bergedorfer Spektraldurchmusterung sowie in neuerer Zeit der Hamburg-Quasar-Survey. Auch auf theoretischem Gebiet hat die Sternwarte bahnbrechende Arbeiten geleistet, wie z.B. die ersten Computermodelle zur Sternentwicklung oder die Gravitationslinsenforschung. Auf instrumentellem Gebiet stellt die Erfindung des Schmidt-Spiegels einen Meilenstein dar. 16
5. Vergleichsanalyse Im folgenden werden diejenigen Sternwarten, die entweder bereits in die Welterbeliste der UNESCO eingetragen sind oder auf nationalen Tentativlisten aufgeführt sind, einer näheren Betrachtung unterzogen. Des Weiteren werden andere, mit der Hamburger Sternwarte vergleichbare Objekte betrachtet, die (noch) nicht für das Welterbe vorgeschlagen sind. Observatorien und astronomische Stätten, die aus der vorteleskopischen Zeit stammen oder niemals mit optischen Teleskopen ausgestattet waren, werden in der Vergleichsanalyse nicht berücksichtigt. Für den Vergleich werden hier noch einmal die besonderen Merkmale der Hamburger Sternwarte hervorgehoben: • Moderne Anlageform als Gruppenanlage mit strikter Trennung der Beobachtungsgebäude und sonstiger Gebäude • Lage außerhalb des Stadtzentrums, bezogen auf die Umgebung erhöht • Ausrichtung der instrumentellen Ausstattung und Arbeitsweise auf beide Zweige: a) die klassische positionsmessende Astronomie (Astrometrie) und b) die Astrophysik • Errichtung in repräsentativen Architekturformen • Teleskope in verschiedenen Bauformen (Refraktoren und Reflektoren) von namhaften Herstellern und in leistungsfähigen Dimensionen vorhanden • Wesentliche Beiträge zur Entwicklung der astronomischen Wissenschaft, insbesondere bedeutsame Entdeckungen und Beteiligung an umfangreichen Katalogprojekten • Wegweisende Neuerungen in der Teleskoptechnologie (Erfindung des sog. komafreien Spiegelsystems durch Bernhard Schmidt); der welterste Schmidt-Spiegel ist an der Hamburger Sternwarte erhalten • Kriterium der Integrität: Sternwarte in wesentlichen Teilen (Baulichkeiten und Instrumente) weitgehend original erhalten • Kriterium der Authentizität: Sternwarte in ihrer Funktion stellt Entwicklung der Astronomie nachvollziehbar dar und wird als wissenschaftliches Forschungsinstitut genutzt. In nennenswertem Umfang werden diese Merkmale nur von Sternwarten aus der Zeit zwischen 1850 und 1950 erfüllt. Diese Daten markieren einerseits den ungefähren Beginn der Astrophysik und andererseits das weitgehende Verschwinden der traditionellen Dienstleistungsaufgaben wie Zeit- und Ortsbestimmung. In diesem Zeitraum vollziehen die Sternwarten in unterschiedlichem Maße den Wandel der Astronomie. Die im Folgenden zum Vergleich herangezogenen Sternwarten werden im Rahmen der oben genannten Merkmale betrachtet. Dabei werden alle bereits in der Welterbeliste vertretenen Sternwarten sowie auf nationalen Tentativlisten befindliche Stätten aufgeführt. Darüber hinaus werden weitere Sternwarten betrachtet, die im Hinblick auf die vorhandenen Merkmale der Hamburger Sternwarte zumindest ähnlich sind. Sternwartengründungen nach 1950 haben in der Regel eine rein astrophysikalische Ausrichtung. Sie gelten im Rahmen dieser Vergleichsanalyse nicht als historisch und werden daher unter den vergleichbaren Sternwarten in Abschnitt 5.3 nicht berücksichtigt. 17
5.1 Sternwarten, die bereits in der UNESCO-Liste des Welterbes aufgeführt sind Pulkowo, Russland (Ref 540bis) Das Astronomische Hauptobservatorium Pulkowo befindet sich auf einem Hügel ca. 15 km südlich des Stadtzentrums von St. Petersburg und wurde 1839 eröffnet. Es zählt seit 1990 als Teil der Stätte „Historisches Zentrum von St. Petersburg und dazugehörige Gruppen von Monumenten“ zum Welterbe der UNESCO und ist damit die erste neuzeitliche Sternwarte, die in diese Liste aufgenommen wurde. Der Schwerpunkt und damit auch der OUV dieser Stätte liegt allerdings in der städtebaulichen Anlage und seinen zahlreichen Baudenkmälern aus der Zeit vom Barock bis zum Klassizismus. Auf die Bedeutung der Sternwarte in Pulkowo wird – soweit das aus der Beschreibung auf der UNESCO-Webseite ersichtlich ist – keinerlei Bezug genommen. Es ist anzunehmen, dass die Sternwarte allein aufgrund ihrer architektonischen Merkmale als Teil des Ensembles Historisches St. Petersburg gewertet wird, zumal der Architekt Alexander Pawlowitsch Brjullow für zahlreiche Bauten in St. Petersburg bekannt ist. Dessen ungeachtet zählt das Observatorium Pulkowo zu den bedeutendsten Sternwarten des 19. Jahrhunderts. Sie wurde 1839 auf Initiative des Zaren Nikolaus I. eingerichtet und bestand zunächst aus einem bemerkenswerten, nach dem Vorbild der Sternwarte von Helsinki errichteten und mit drei zylindrischen Kuppeln versehenen Zentralgebäude. Dieses war entsprechend den Himmelsrichtungen ausgerichtet und umfasste zwei Meridiansäle für Transitbeobachtungen und einen weiteren Saal für Beobachtungen im 1. Vertikal. Die Arbeiten in Pulkowo waren im 19. Jahrhundert ausschließlich auf die klassischen Aufgaben der Positionsbestimmung von Sternen, des Zeitdienstes, der Navigation und der Erdvermessung ausgerichtet. Umfangreiche Katalogarbeiten zu Sternpositionen wurden durchgeführt, darunter Meridianbeobachtungen für den ersten Katalog der Astronomischen Gesellschaft (AGK1), ferner genaue Bestimmungen der Konstanten von Aberration, Präzession und Nutation. Das Hauptinstrument war ein 38cm-Refraktor von Merz & Mahler, der in der mittleren Kuppel aufgestellt und seinerzeit der größte der Welt war. Dieses Teleskop kam später in das Deutsche Museum nach München, wo es infolge der Bombenangriffe im Zweiten Weltkrieg zerstört wurde. Als erster Direktor wurde Friedrich Georg Wilhelm Struve berufen, der zuvor die Sternwarte in Dorpat (Tartu) geleitet hatte, und der seine Forschung zu den Doppelsternen hier fortsetzte. Später (1885) erhielt die Sternwarte Pulkowo einen 76cm-Refraktor, der in einem separaten Gebäude mit einer achteckigen Kuppel aufgestellt wurde. Das Instrument stammte von der Hamburger Firma A. Repsold & Söhne und war mit einem Objektiv des amerikanischen Linsenschleifers Alvan Clark ausgestattet. Es war wiederum seinerzeit – zusammen mit dem gleich großen Refraktor in Nizza – für knapp drei Jahre der größte Refraktor der Welt. Um 1890 begann in Pulkowo unter dem Direktorat von F. Bredichin der Aufbau einer astrophysikalischen Abteilung mit einem eigenen Laboratoriumsgebäude. Der Astronom A. Belopolsky führte spektroskopische Beobachtungen durch und konnte die Radialgeschwindigkeiten von zahlreichen Sternen bestimmen. Mit einem Zeiss-Astrographen wurde von 1927-1931 ein Teil der Platten für den AGK2-Katalog aufgenommen, ein Projekt, das in Zusammenarbeit mit den Sternwarten in Hamburg und Bonn durchgeführt wurde. 1908 übernahm das Pulkowo- Observatorium eine Privatsternwarte auf der Krim als südliche Außenstelle, in der 1926 ein 1m- Spiegelteleskop in Betrieb ging. Während der Belagerung Leningrads durch die deutsche Armee 1941-1944 lag die Sternwarte direkt in der Frontlinie und wurde durch Artilleriebeschuss und Bombardierungen vollständig zerstört. Nur einige kleinere Instrumente und Teile der Bibliothek konnten ausgelagert und gerettet werden, darunter auch das 76cm-Clark-Objektiv des Refraktors. Auch das Teleskop auf der Krim wurde von deutschen Truppen zerstört. Noch vor Kriegsende wurde der Wiederaufbau des 18
Observatoriums beschlossen, das 1954 in nahezu originaler Form wiedereröffnet wurde. Lediglich die zylindrischen Kuppeln waren durch die typischen halbkugelförmigen ersetzt worden. Anstelle des zerstörten Refraktors kam 1957 ein aus deutschen Reparationsleistungen gelieferter, von Zeiss gebauter neuer 65cm-Refraktor zur Aufstellung. Außerdem nahm eine radioastronomische Abteilung mit mehreren Radioteleskopen ihre Arbeit auf. Heute ist das Pulkowo-Observatorium immer noch eine aktive Forschungsinstitution, das Kriterium der Authentizität ist gut erfüllt. Die Gebäude sind allerdings Wiederaufbauten, die Instrumente sind nur teilweise original erhalten. Zudem ist das Observatorium stark durch den nahegelegenen internationalen Flughafen von St. Petersburg beeinträchtigt. Zusammenfassung: Pulkowo lässt sich hinsichtlich seiner Lage, Bedeutung und astronomischer Forschungshistorie sehr gut mit der Hamburger Sternwarte vergleichen. Die instrumentelle Ausstattung ist hingegen sehr stark von der klassischen Richtung dominiert, Instrumente für die Astrophysik fehlen weitgehend, die Anlageform ist eher traditionell und das Kriterium der Integrität ist nur teilweise erfüllt. Der Status als bereits bestehendes Welterbe fußt nicht auf der Bedeutung als Stätte der astronomischen Wissenschaft. Greenwich, Großbritannien (Ref 795) Das Royal Observatory Greenwich (ROG) bei London dürfte wohl die bekannteste Sternwarte weltweit sein, was vor allem durch die Lage des Nullmeridians bedingt ist, der durch einen Meridiankreis des Observatoriums definiert ist. Die mittlere Ortszeit des Nullmeridians ist zugleich die so genannte Weltzeit (früher Greenwich Mean Time, GMT). Mit Gründungsdatum 1675 ist das ROG eine der ältesten Sternwarten überhaupt, besteht heute aber nur noch als Museum. Als wissenschaftliches Institut hat es nach zweimaliger Verlegung seinen Betrieb 1998 eingestellt. Das Observatorium ist 1997 als Teil der Welterbestätte „Maritmes Greenwich“ in die UNESCO- Liste des Welterbes aufgenommen worden. Diese Stätte umfasst die gesamte Anlage des Greenwich Parks einschließlich der dazugehörigen Gebäude, namentlich das ehemalige königliche Schloss „Queens House“, das Royal Naval College und das National Maritime Museum sowie schließlich das Old Royal Observatory. Der OUV dieser Stätte wird vorrangig mit der spätbarocken Architektur der Gebäude und der Anlage des Parks als ein einmaliges Ensemble begründet. Lediglich im Kriterium (vi) wird auf die Bedeutung des Observatoriums für die Navigation und die Entwicklung der Astronomie einschließlich der Festlegung des Nullmeridians und der Weltzeit Bezug genommen. Das Royal Observatory in Greenwich wurde im Jahre 1675 durch König Charles II. gegründet mit dem Ziel, die Möglichkeiten der astronomischen Navigation in der Schifffahrt zu verbessern und insbesondere eine Methode zur genauen Bestimmung des Längengrades herauszufinden. Aus dieser Zeit stammt der älteste Teil des Observatoriums, das nach dem ersten königlichen Astronomen benannte Flamsteed House, das von dem berühmten Architekten Christopher Wren entworfen wurde. In den ersten zwei Jahrhunderten seiner Existenz war das Observatorium ausschließlich mit den Erfordernissen der Zeitbestimmung und der Navigation befasst. Das Ziel der Längengradbestimmung war 1766 erreicht, als der erste Nautical Almanac erschien, der seitdem die dafür notwendigen astronomischen Daten jährlich auflistet. Etwa zur gleichen Zeit wurde das genau gehende Chronometer von John Harrison erfunden. Die Herausgabe des Jahrbuches erforderte kontinuierliche Messungen und sicherte somit die weitere Existenz des Observatoriums. 19
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