Die Kurden im Irak und in Syrien nach dem Ende der Territorial-herrschaft des "Islamischen Staates"

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Die Kurden im Irak und in Syrien nach dem Ende der Territorial-herrschaft des "Islamischen Staates"
SWP-Studie

   Günter Seufert (Hg.)

Die Kurden im Irak und in Syrien
nach dem Ende der Territorial-
herrschaft des »Islamischen
Staates«
          Die Grenzen kurdischer Politik

                                              Stiftung Wissenschaft und Politik
                                                          Deutsches Institut für
                                           Internationale Politik und Sicherheit

                                                                  SWP-Studie 11
                                                                      Juli 2018
Die Kurden im Irak und in Syrien nach dem Ende der Territorial-herrschaft des "Islamischen Staates"
Für die Regierungen der westlichen Länder ist der Gang der Dinge in Syrien
und im Irak ernüchternd. Für die Kurden, die in diesen beiden vom Krieg
gezeichneten Staaten leben, ist er dramatisch. Denn mit dem Sieg über den
IS endete für die Kurden Syriens und des Irak eine Periode, in der sie sich
einerseits einem existenzbedrohenden Gegner gegenübersahen, andererseits
aber Teil militärischer Bündnisse waren, auf die sie sich – auch weil die
kurdischen Kämpfer für diese Bündnisse unverzichtbar waren – verlassen
konnten. Mit dem Ende des Krieges gegen den IS ist diese Unverzichtbarkeit
zur Disposition gestellt und die Kurden beider Länder sind erneut mit der
Tatsache konfrontiert, dass sie keine natürliche Schutzmacht haben.
   Doch wie steht es um die Kurden selbst? Auf welcher wirtschaftlichen,
sozialen und politischen Basis beruhen ihre Forderungen nach Selbst-
bestimmung? Wieweit deckt sich die Politik kurdischer Akteure mit ihrer
Rhetorik von einer kurdischen Nation, die durch das Gefühl eines gemein-
samen Schicksals und die Erwartung einer gemeinsamen Zukunft geeint sei
und die indes über einen minimalen politischen Konsens verfügt?
   Die Autorinnen und Autoren der Studie werfen einen kritischen Blick auf
die zeithistorischen, ökonomischen und politischen Parameter des Handelns
und Entscheidens kurdischer Akteure. Martin Weiss analysiert die Gründe
für das politische Scheitern des Unabhängigkeitsreferendums der irakischen
Kurden 2017. Caner Yıldırım und Gülistan Gürbey leuchten das energiepoli-
tische Potential des kurdischen Nord-Irak aus. Arzu Yılmaz deckt Dynamiken
des Verhältnisses zwischen den beiden größten kurdischen Parteien des
Nahen Ostens auf. Und Katharina Lack schildert die Machtverhältnisse unter
den Kurden Syriens.
Die Kurden im Irak und in Syrien nach dem Ende der Territorial-herrschaft des "Islamischen Staates"
SWP-Studie

Günter Seufert (Hg.)

Die Kurden im Irak und in Syrien
nach dem Ende der Territorial-
herrschaft des »Islamischen
Staates«
Die Grenzen kurdischer Politik

                                    Stiftung Wissenschaft und Politik
                                                Deutsches Institut für
                                 Internationale Politik und Sicherheit

                                                        SWP-Studie 11
                                                            Juli 2018
Die Kurden im Irak und in Syrien nach dem Ende der Territorial-herrschaft des "Islamischen Staates"
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ISSN 1611-6372
Die Kurden im Irak und in Syrien nach dem Ende der Territorial-herrschaft des "Islamischen Staates"
Inhalt

 5   Problemstellung und Schlussfolgerungen

 9   Rückschlag auf dem Weg zur Selbständigkeit –
     Kurdistan-Irak vor und nach dem
     Unabhängigkeitsreferendum
     Martin Weiss

28   Das energiepolitische Potential Irakisch-Kurdistans
     Caner Yıldırım/Gülistan Gürbey

46   Gegeneinander, miteinander: Die KDP und die PKK in
     Sindschar
     Arzu Yılmaz

58   Die Lage in den kurdischen Gebieten Syriens:
     Politische Akteure und ihre Entwicklung seit 2011
     Katharina Lack

79   Resümee: Eine insgesamt ernüchternde Bilanz
     kurdischer Politik und westlichen Engagements im
     Nahen Osten
     Günter Seufert

87   Anhang
87   Abkürzungen
88   Die Autorinnen und Autoren
Problemstellung und Schlussfolgerungen

                                  Die Kurden im Irak und in Syrien nach
                                  dem Ende der Territorialherrschaft des
                                  »Islamischen Staates«.
                                  Die Grenzen kurdischer Politik

                                  Anders als erhofft, hat die militärische Niederlage des
                                  »Islamischen Staates« (IS) die Lage im Nahen Osten
                                  nicht entspannt. Das Gegenteil ist eingetreten.
                                     In Syrien hat der Bürgerkrieg eine neue Eskala-
                                  tionsstufe erreicht, die sich dadurch kennzeichnet,
                                  dass sich regionale und globale Konkurrenzen dort
                                  zeitweise extrem verschärfen. So warnten Beobachter
                                  im ersten Quartal 2018 nicht nur vor einer militäri-
                                  schen Konfrontation zwischen den Nato-Partnern USA
                                  und Türkei, sondern auch vor einem direkten Schlag-
                                  abtausch zwischen den USA und Russland. Gleich-
                                  zeitig stieg erneut der Blutzoll im Lande selbst, vor
                                  allem wegen der großräumigen Offensiven der syri-
                                  schen Regierung, die mit Hilfe Russlands und des Iran
                                  große Geländegewinne erzielte.
                                     Im Irak hat der Sieg gegen den »IS« alte Konflikt-
                                  linien erneut hervortreten lassen. Auch dort kann
                                  von einem nachhaltigen Erfolg westlicher Politik
                                  kaum die Rede sein. Der politischen Integration der
                                  drei großen Volksgruppen des Landes, der schiitisch-
                                  arabischen Mehrheit, der sunnitisch-arabischen
                                  Minderheit und der ebenfalls sunnitischen Kurden, ist
                                  Bagdad bisher nicht näher gekommen. Statt dass die
                                  erfolgreiche Bekämpfung des IS zu einer Stabilisie-
                                  rung des Landes geführt hätte, verstärkte sich der
                                  politische, militärische und zuletzt auch wirtschaft-
                                  liche Einfluss Teherans in Bagdad.
                                     Für die Regierungen der westlichen Länder ist der
                                  Gang der Dinge in Syrien und im Irak deshalb ernüch-
                                  ternd. Für die Kurden, die in diesen beiden vom Krieg
                                  gezeichneten Staaten leben und bislang die engsten
                                  Verbündeten des Westens vor Ort waren, ist er be-
                                  drohlich. Denn mit dem vorläufigen Sieg über den
                                  IS endete für die Kurden Syriens und des Irak eine
                                  Periode, in der sie sich einerseits einem im wahrsten
                                  Sinn des Wortes existenzbedrohenden Gegner gegen-
                                  übersahen, andererseits aber Teil militärischer Bünd-
                                  nisse waren, auf die sie sich – auch weil die kurdi-
                                  schen Kämpfer für diese Bündnisse unverzichtbar
                                  waren – verlassen konnten. Mit dem absehbaren
                                  Ende des Krieges gegen den IS ist diese Unverzichtbar-
                                  keit zur Disposition gestellt worden und die Kurden

                                                                                       SWP Berlin
Die Kurden im Irak und in Syrien nach dem Ende der Territorialherrschaft des »Islamischen Staates«
                                                                                         Juli 2018

                                                                                                5
Problemstellung und Schlussfolgerungen

             beider Länder sind erneut mit der Tatsache konfron-                  Hinzu kommt, dass neben Syrien und dem Irak
             tiert, dass sie – anders als andere ethnische und reli-           auch alle anderen Staaten des Nahen Ostens nach wie
             giöse Gruppen im Nahen Osten – keine natürliche                   vor keine Anzeichen dafür erkennen lassen, dass sie
             Schutzmacht haben.                                                willens und in der Lage wären, ihren kurdischen Min-
                Die Kurden des Irak haben dies schmerzlich vor                 derheiten die Rechtssicherheit und politische Partizi-
             und nach dem Referendum vom 25. September 2017                    pation zu gewähren, die allein zu einer friedlichen
             über die Unabhängigkeit ihrer autonomen Region                    Beilegung der Kurdenfrage führen könnten. Jüngstes
             erfahren, als ihre beiden Hauptverbündeten, die USA               Beispiel dafür ist die Überreaktion der irakischen
             und die Türkei, aber auch europäische Staaten und                 Regierung, die nach dem Referendum den in der Ver-
             die EU, sich erst gegen die Abstimmung stellten und               fassung verankerten Autonomiestatus der irakischen
             danach wenig gegen die Rollback-Bestrebungen der                  Kurdenregion unterminiert hat. Nicht besser sieht es
             irakischen Zentralregierung unternahmen.                          in der Türkei aus, dem muslimischen Land, das auf
                Fast noch schlechter steht es um die Kurden Syri-              die längste parlamentarische Tradition im Nahen
             ens. Ihr großer militärischer Partner, die USA, hatte             Osten zurückblickt und in dem die Mehrheitsbevölke-
             ihnen niemals Versprechungen oder auch nur Hoff-                  rung und die Kurden am engsten zusammenleben.
             nungen dahingehend gemacht, dass Washington sich                  Trotz dieser strukturellen Vorteile hat es auch die
             für einen verfassungsrechtlich verankerten Status                 Führung in Ankara bislang nicht vermocht, ihr eth-
             ihrer Volksgruppe in einem neuen Syrien einsetzen                 nisch-türkisches Verständnis von der Nation so weit
             würde. Die zentrale Aufgabe der kurdischen Kämpfer,               zu relativieren, dass die Integration einer Gruppe mit
             der Sieg über den IS, ist erfüllt und ihr weiteres Los            anderer nationaler Identität möglich wäre. Im Gegen-
             hängt letzten Endes daran, wie Washington seine                   teil, 2015 und 2016 wurde der türkisch-kurdische
             künftigen Interessen in Syrien definiert und vertritt.            Konflikt in einer bislang nicht dagewesenen Härte
             Werden die USA in Syrien präsent bleiben, um den                  und Brutalität ausgetragen. Der Einmarsch türkischer
             Einfluss des Iran zurückzudrängen und Israels Sicher-             Truppen in die syrisch-kurdische Stadt Afrin im
             heit zu garantieren, wie dies der ehemalige Außen-                Januar 2018 und die wiederholten Ankündigungen
             minister Rex Tillerson im Januar 2018 öffentlich er-              der türkischen Regierung, in Syrien und im Irak auch
             klärte? Oder werden sich die amerikanischen Militär-              an anderer Stelle intervenieren zu wollen, zeigen,
             kräfte aus Syrien zurückziehen, wie das nur zwei                  dass Ankara weiterhin bereit ist, seinen eigenen Kur-
             Monate später US-Präsident Donald Trump verkün-                   denkonflikt in den Nachbarländern auszutragen.
             dete? Das Schicksal der syrischen Kurden hängt an                    Doch wie steht es um die Kurden selbst? Auf wel-
             diesem seidenen Faden. Denn die Türkei setzt die                  cher wirtschaftlichen, sozialen und politischen Basis
             PYD, die unter den syrischen Kurden tonangebende                  beruhen ihre Forderungen nach Selbstbestimmung?
             Partei der demokratischen Union, mit der türkischen               Bis zu welchem Grad decken sich die Handlungen
             Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) gleich, mit der sie seit          kurdischer Akteure mit ihrer Rhetorik von einer
             über dreißig Jahren in einem bewaffneten Konflikt                 kurdischen Nation, die durch das Gefühl eines
             steht. Ankara ist deshalb fest entschlossen, die Selbst-          gemeinsamen Schicksals und die Erwartung einer
             verwaltung der Kurden in Nord-Syrien zu zerschla-                 gemeinsamen Zukunft geeint sei und die indes über
             gen, und wird dies tun, sobald die USA das Land                   einen minimalen politischen Konsens verfügt? Hängt
             verlassen haben.                                                  doch die Legitimität jeglicher Forderung einer Gruppe
                Eine Lösung der Kurdenfrage in diesen beiden Län-              nach Selbstbestimmung von der tatsächlichen
             dern und darüber hinaus wäre damit freilich nicht                 Existenz dieser Gruppe als wahrnehmbare politische
             erreicht. Denn die kurdische Nationalbewegung                     Einheit ab – ganz unabhängig davon, ob sich die
             wächst trotz aller Rückschläge weiter an. Der Abwehr-             Forderung nach Selbstbestimmung auf eine lokale
             kampf der syrisch-kurdischen Stadt Kobane gegen den               Selbstverwaltung, regionale Autonomie oder gar, wie
             IS 2014 und die in Syrien errichtete Selbstverwaltung             im Irak, staatliche Unabhängigkeit richtet.
             haben die Internationalisierung der Kurdenfrage auf                  In seinem Beitrag »Rückschlag auf dem Weg zur
             eine neue Stufe getrieben. In gewisser Weise hat sich             Selbständigkeit« untersucht Martin Weiss die viel-
             ein pankurdisches Nationalbewusstsein herausgebil-                fältigen Gründe dafür, dass sich die Entscheidung
             det, dessen Strahlkraft bisweilen zu bewirken vermag,             der Kurden, das Unabhängigkeitsreferendum im Sep-
             dass selbst verfeindete kurdische Bewegungen die tie-             tember 2017 abzuhalten, so katastrophal auswirken
             fen Gräben überwinden, die sie sonst getrennt haben.              konnte. Als Kern des Problems identifiziert der Autor

             SWP Berlin
             Die Kurden im Irak und in Syrien nach dem Ende der Territorialherrschaft des »Islamischen Staates«
             Juli 2018

             6
Problemstellung und Schlussfolgerungen

die vormoderne Struktur der kurdischen Politik, in          Einschätzung galt offenbar im Hinblick auf die Hal-
der sich politische Parteien stark auf familiale Netz-      tung der USA, deren Energiekonzerne hohe Investi-
werke und Leitbilder stützen. Das führt nicht nur zu        tionen in den Erdölsektor Irakisch-Kurdistans getätigt
einer geografischen Fragmentierung der Politik, die         hatten. Doch wie im Falle der Türkei setzten sich
sich darin ausdrückt, dass die zwei stärksten Parteien      auch in den USA längerfristige strategische Erwägun-
jeweils über einen Teil des Landes herrschen, sondern       gen gegen direkte ökonomische Interessen durch,
auch zu einer engen Verflechtung von politischer            und Washington wandte sich gegen das Referendum.
und wirtschaftlicher Macht und damit einhergehend           Innenpolitisch trug die bereits erwähnte Fragmentie-
zu Intransparenz und verbreiteter Korruption. Ver-          rung der kurdischen Politik dazu bei, dass das große
stärkt wird diese Dynamik durch eine eindimensio-           energiepolitische Potential Kurdistan-Iraks keine
nale Ökonomie, die sich fast ausschließlich auf Ein-        stabilisierende Wirkung entfalten konnte. Denn die
nahmen aus dem Erdölexport stützt. Im Mittelpunkt           Einkünfte aus dem Energiebereich wurden viel zu
der Parteienkonkurrenz steht die Teilung der so ge-         ungleich zwischen den Parteien verteilt, um einheits-
wonnenen Reichtümer. Die Entwicklung alternativer           stiftend wirken zu können. Dieser Sachverhalt gab
Wirtschaftszweige tritt in den Hintergrund. Der Streit      dem politischen Streit neue Nahrung.
um die Verteilung von Ressourcen verleitet die kon-            Zwischen Erbil, der Hauptstadt der KRG, und den
kurrierenden Parteien dazu, sich aller kurdisch-natio-      von Kurden kontrollierten Territorien im Norden
nalistischen Rhetorik zum Hohn bei ebenfalls mit-           Syriens liegen – noch auf irakischem Staatsgebiet –
einander konkurrierenden Regionalmächten – dem              das Gebirge von Sindschar und die gleichnamige
Iran und der Türkei – rückzuversichern. Vor diesem          Stadt. In ihrem Beitrag »Gegeneinander, miteinander:
Hintergrund kann die Entscheidung der Kurdischen            die KDP und die PKK in Sindschar« beschreibt Arzu
Regionalregierung (KRG) im Irak, das Referendum             Yılmaz einen weiteren Aspekt gesamtkurdischer
gegen den Widerstand der Nachbarstaaten durch-              Politik: das fragile Verhältnis zwischen der irakischen
zuführen, von denen man gleichzeitig abhängig ist,          Demokratischen Partei Kurdistans (KDP) und der
als Spiel mit dem Feuer bezeichnet werden. Gründe           türkisch-kurdischen Arbeiterpartei Kurdistans (PKK).
dafür, das Risiko trotzdem einzugehen, waren einer-         Auf internationaler Ebene konkurrieren die beiden
seits die durchaus realistische Überlegung, dass mit        Parteien um die Deutungshoheit in der Kurdenfrage
dem Sieg über den IS die Bedeutung der Kurden für           im Nahen Osten und damit um den Anspruch der
die USA schwinden würde und es das enge Zeitfenster         Vertretung der Kurden schlechthin. Die KDP und die
für eine Statusverbesserung zu nutzen galt. Anderer-        PKK dominieren in ihren jeweiligen Herkunftsländern
seits sollte die nationale Begeisterung, die sich die       die kurdische Politik, und im Irak und in Syrien
Führung in Erbil von der Ausrufung des Referendums          stehen sie sich in direkter Konfrontation gegenüber.
erhoffte, ein Gegengewicht bilden gegen den wach-           Die PKK unterhält Stellungen im Nord-Irak, im Revier
senden Unmut in der kurdischen Bevölkerung über             der KDP also, und die PKK-nahe Partei der demokrati-
die verknöcherten politischen Strukturen der KRG.           schen Union (PYD) drängt in Syrien kleinere, der KDP
   In ihrem Artikel »Das energiepolitische Potential        nahestehende syrisch-kurdische Parteien an den
Irakisch-Kurdistans« treiben Caner Yıldırım und             Rand. Doch dies ist nur die eine – bekannte – Seite
Gülistan Gürbey die Analyse des Scheiterns der Politik      der Medaille. Am Beispiel der konkreten Verhältnisse
Erbils am Beispiel der kurdischen Energiepolitik            im Sindschar-Gebirge leuchtet Arzu Yılmaz in ihrer
weiter. Erst die enge Kooperation mit Ankara hatte es       Mikrostudie wie unter einem Brennglas die ganze
der KRG ermöglicht, gegen den Widerstand Bagdads            Breite der Beziehungen zwischen der KDP und der
»kurdisches« Erdöl auf eigene Rechnung über die             PKK aus. Sie beobachtet nicht nur den generellen
Türkei zu exportieren. Diese Einkünfte wiederum             Antagonismus der beiden Bewegungen, sondern auch
waren die wirtschaftliche Grundlage für die Über-           ihre punktuelle Kooperation. Sie erklärt die spezifi-
legungen, einen großen Schritt in Richtung Eigen-           schen Stärken und Schwächen der Kontrahenten und
ständigkeit des kurdischen Teilstaats im Nord-Irak zu       zeigt die aktuellen Grenzen pankurdischer Politik,
tun. Als dieser vollzogen war, ging Erbil davon aus,        aber auch die Dynamik auf, die diese Ideologie in den
dass der ökonomische Nutzen, der Ankara durch die           letzten Jahren erfahren hat.
Exporte entsteht, die sicherheitspolitischen Bedenken          »Die Lage in den kurdischen Gebieten Syriens:
der Türkei hinsichtlich der Unabhängigkeit des kur-         Politische Akteure und ihre Entwicklung seit 2011«,
dischen Teilstaats aufwiegen würde. Eine ähnliche           hat Katharina Lack ihren Artikel überschrieben. Die

                                                                                                                 SWP Berlin
                          Die Kurden im Irak und in Syrien nach dem Ende der Territorialherrschaft des »Islamischen Staates«
                                                                                                                   Juli 2018

                                                                                                                          7
Problemstellung und Schlussfolgerungen

             Autorin zeichnet die Entstehung kurdischer Parteien
             in Syrien nach. Sie schildert die Dominanz, die die
             PYD während des Krieges in Syrien im Verhältnis zu
             den KDP-nahen Parteien erlangt hat. Lack macht deut-
             lich, dass es neben der Kooperation der PYD mit den
             USA die Schaukelpolitik gegenüber der syrischen
             Regierung gewesen ist, die es der beherrschenden
             Kurdenpartei ermöglicht hat, die Kontrolle über aus-
             gedehnte Territorien zu übernehmen und diese –
             mit Ausnahme von Kobane – vor der vernichtenden
             Wirkung des Krieges weitgehend zu schützen. Die
             Autorin spart nicht mit fundierter Kritik am stark
             eingeschränkten, spezifischen Demokratieverständnis
             dieser Organisation. Sie zeigt aber auch auf, dass die
             Partei im Unterschied zu anderen kurdischen Be-
             wegungen der wenig realistischen Idee eines kurdi-
             schen Nationalstaats eine klare Absage erteilt. Am
             Beispiel Syriens legt der Beitrag außerdem eine der
             strukturellen Ursachen für die Gewaltsamkeit kurdi-
             scher Politik offen, die Tatsache nämlich, dass alle
             syrisch-kurdischen Parteien entweder Anhängsel
             irakisch-kurdischer oder türkisch-kurdischer Organi-
             sationen sind. Allein mit der jahrzehntelangen
             systematischen Unterdrückung kurdischer Parteien
             durch Damaskus ist das nicht zu erklären, gingen die
             Nachbarstaaten doch nicht viel weniger strikt gegen
             kurdische Organisationen vor. Doch im Irak und in
             der Türkei liegen die kurdischen Siedlungsgebiete
             auch in Gebirgsregionen, die den Kurden Rückzugs-
             gelegenheiten, den Aufbau militärischer Strukturen
             und damit Verstetigung ermöglicht haben. Diese
             geografischen Bedingungen existieren in Syrien nicht,
             weshalb sich die kurdischen Parteien dort, auf sich
             allein gestellt, nicht halten konnten. Dass kurdische
             Parteien im Nahen Osten nur als paramilitärische
             Organisationen entstehen und überleben konnten, ist
             ein zentraler Grund für den autoritären und unduld-
             samen Charakter der kurdischen Politik, eine Eigen-
             schaft, die die Fähigkeit der kurdischen politischen
             Kräfte, demokratische Strukturen zu entwickeln,
             hemmt und sie auch deshalb immer wieder an ihre
             Grenzen stoßen lässt.

             SWP Berlin
             Die Kurden im Irak und in Syrien nach dem Ende der Territorialherrschaft des »Islamischen Staates«
             Juli 2018

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Rückschlag auf dem Weg zur Selbständigkeit – Kurdistan-Irak vor und nach dem Unabhängigkeitsreferendum

Martin Weiss

Rückschlag auf dem Weg zur Selbständig-
keit – Kurdistan-Irak vor und nach dem
Unabhängigkeitsreferendum

Nicht erst seit der Bedrohung durch den »Islamischen                     Unabhängigkeit Kurdistan-Iraks ist durch die Volks-
Staat« (IS) und den turbulenten Entwicklungen nach                       abstimmung nicht leichter, sondern erheblich schwe-
dem kurdischen Unabhängigkeitsreferendum vom                             rer worden. 2 Das irakische Kurdenproblem wird
25. September 2017, sondern bereits seit langem ist                      weiter auf der Tagesordnung der internationalen
der Irak einer der konfliktreichsten Staaten im Nahen                    Gemeinschaft bleiben.
Osten. Auch die »Autonome Region Kurdistan-Irak«,
die lange Zeit als eine prosperierende Insel relativer
Stabilität galt und deren Zukunftsaussichten noch in                     Vom »kurdischen Dubai« zur
jüngerer Vergangenheit verhalten optimistisch bewer-                     Problemregion
tet worden waren, 1 ist heute vom Scheitern bedroht.
   Schon seit Jahren sind indes negative Erscheinun-                     Der kurdische Teilstaat im Norden des Irak hat bereits
gen feststellbar, die die konstruktive Entwicklung                       lange vor dem Referendum mit strukturellen Proble-
Kurdistan-Iraks zu beeinträchtigen drohten. Eine                         men zu kämpfen gehabt:
wirklich gefährliche Lage aber beschwor letztlich das                       (1) Die wirtschaftliche Situation Kurdistan-Iraks
Unabhängigkeitsreferendum im September 2017                              hatte sich in den letzten Jahren verschlechtert und er-
herauf, das eigentlich einen neuen positiven Impuls                      holte sich nur langsam. Die Erlöse aus den Ölexpor-
für die Einheit der autonomen Region geben sollte.                       ten waren wegen des niedrigen Ölpreises deutlich
Das eindeutig positive Ergebnis des Urnengangs für                       zurückgegangen und der materialaufwendige und
eine Unabhängigkeit hat das Begehren nach Selbstän-                      teure Krieg gegen den IS verbrauchte einen großen
digkeit der Kurden zwar moralisch gestärkt, de facto                     Teil der ohnehin knappen Ressourcen. Nach Angaben
aber führte das Referendum zu einer erheblichen                          der Weltbank hatte sich das ehedem beeindruckende
Schwächung der irakischen Kurden: Im Zuge der har-                       Wachstum in Kurdistan-Irak um fünf Prozent ver-
ten militärischen Reaktion Bagdads auf das Referen-                      langsamt, während sich die Armutsrate verdoppelt
dum verloren die Kurden fast alle von ihnen kontrol-                     hatte. 3 Monatelang hatte sich die Kurdische Regional-
lierten irakischen Gebiete, die sie vom IS befreit hat-                  regierung (KRG) nicht in der Lage gesehen, den Beam-
ten. Diese Territorien hatten sie schon als ihr Eigen-                   ten und den Milizsoldaten (Peschmerga) ihre Gehälter
tum betrachtet, obwohl sie gemäß der irakischen                          zu überweisen. Da der öffentliche Sektor der KRG un-
Verfassung nicht zur »Autonomen Region Kurdistan-
Irak« gehörten.                                                            2 Walter Posch, »Zu schwach für einen eigenen Staat.
   Durch das Referendum hat sich der alte arabisch-                        Massud Barzani hat den Kurden mit dem Unabhängigkeits-
kurdische Konflikt erneut verschärft. Der Weg zur                          referendum im Nordirak einen Bärendienst erwiesen«,
                                                                           Internationale Politik und Gesellschaft (online), 12.10.2017,
                                                                            (Zugriff am 1.3.2018).
  deutungszuwachs durch den Kampf gegen den ›Islamischen                   3 The World Bank, »The Kurdistan Region of Iraq Needs an
  Staat‹«, in: Günter Seufert (Hg.), Der Aufschwung kurdischer             Estimated US$1.4 Billion this Year to Stabilize the Economy«,
  Politik. Zur Lage der Kurden in Irak, Syrien und der Türkei, Berlin:     Press Release, 12.2.2015, 
  10/2015), S. 7–25.                                                       (Zugriff am 16.5.2018).

                                                                                                                         SWP Berlin
                                  Die Kurden im Irak und in Syrien nach dem Ende der Territorialherrschaft des »Islamischen Staates«
                                                                                                                           Juli 2018

                                                                                                                                      9
Martin Weiss

                Karte 1

                Irak

               verhältnismäßig stark aufgebläht ist, war und ist von             gedrängt, im Irak bestand aber weiterhin eine etwa
               diesen Schwierigkeiten ein großer Teil der Bevölke-               tausend Kilometer lange Front gegen die Terrororga-
               rung direkt betroffen. Hinzu kam die weite Verbrei-               nisation, die hauptsächlich von den kurdischen
               tung von Korruption und Misswirtschaft. All dies                  Peschmerga gehalten wurde. Die Peschmerga fungier-
               hatte dazu beigetragen, dass die Regierung in der Be-             ten hier praktisch als Bodentruppen der internatio-
               völkerung zunehmend an Rückhalt verlor. 4                         nalen Anti-IS-Koalition. Sie zahlten in der Erfüllung
                  (2) Zwar hatte die internationale Anti-IS-Koalition            dieser Aufgabe einen hohen Blutzoll von über 2000
               den »Islamischen Staat« in Syrien massiv zurück-                  Gefallenen und 10 000 Verwundeten. Auch nach der
                                                                                 Befreiung Mossuls im Sommer 2017 ist die Gefahr
                                                                                 durch den »Islamischen Staat« nicht völlig gebannt.
                    4 Birgit Svensson, »Barzani laufen die Kurden davon«,
                                                                                    (3) Eine weitere Herausforderung waren die ständig
                    Qantara, 15.2.2016, 
                                                                                 steigenden Flüchtlingszahlen, die im Gesamtirak bis
                    (Zugriff am 23.3.2018).

               SWP Berlin
               Die Kurden im Irak und in Syrien nach dem Ende der Territorialherrschaft des »Islamischen Staates«
               Juli 2018

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Rückschlag auf dem Weg zur Selbständigkeit – Kurdistan-Irak vor und nach dem Unabhängigkeitsreferendum

zum Juli 2017 auf über 3,3 Millionen angewachsen                      das in Kirkuk gefördert wurde, die Haupteinnahme-
waren. Bereits 2015 hatte die KRG über eine Million                   quelle Kurdistan-Iraks bildeten.
Binnenflüchtlinge aus verschiedenen Regionen des                         (6) In Kurdistan selbst waren bereits vor dem Refe-
Irak versorgt. 5 Durch die Kämpfe um Mossul hatte                     rendum die alten Rivalitäten zwischen den kurdi-
sich diese Zahl erheblich erhöht. So waren allein aus                 schen Parteien wiederaufgeflammt, was 2015 zum
Ost-Mossul 167 000 Menschen nach Irakisch-Kurdistan                   Zerfall der bis dahin regierenden Allparteienkoalition
geflohen. 6 Im Zuge des monatelangen Kampfes um                       und zu einer jahrelangen Arbeitsunfähigkeit des
West-Mossul hatten dann weitere circa 900 000 ihre                    Regionalparlaments geführt hatte. Erst im September
Heimat verlassen, von denen etwa 400 000 in Kurdi-                    2017 trat das Parlament nach langer Pause wieder zu-
stan Aufnahme fanden. 7 Dieser enormen Heraus-                        sammen, um das von der Regionalregierung geplante
forderung war und ist die kleine Region kaum ge-                      Referendum parlamentarisch abzusegnen.
wachsen.                                                                 Das für den 25. September 2017 angesetzte Unab-
                                                                      hängigkeitsreferendum wurde in seiner Bedeutung
      Viele Kurden erwarteten sich von                                weithin psychologisch überhöht. Viele Kurden erwar-
     dem Unabhängigkeitsreferendum                                    teten sich davon so etwas wie einen Befreiungsschlag
     einen Befreiungsschlag zur Lösung                                zur Lösung aller Probleme des Landes. Obwohl die
       aller Probleme Kurdistan-Iraks.                                Kurdische Regionalregierung die Abstimmung im
                                                                      Vorfeld nur als Willensbekundung des kurdischen
   (4) Stets belastend war vor dem Referendum auch                    Volkes deklariert hatte, die nicht sofort in eine Sezes-
der Zwist der KRG mit der irakischen Zentralregie-                    sion von Bagdad münden würde, erhielten die Kur-
rung in Bagdad über den Ölverkauf. Noch heute ist                     den dafür nicht die von ihnen erhoffte internationale
die Aufteilung der irakischen Einnahmen aus dem                       Unterstützung. Im Gegenteil: Die meisten Staaten
Ölexport zwischen Erbil und Bagdad nicht abschlie-                    sahen in dem Referendum ganz überwiegend die Ge-
ßend und für beide Seiten befriedigend geregelt. Die                  fahr, dass damit nicht nur der Irak, sondern unter
Zentralregierung hatte sich weitgehend geweigert,                     Umständen die ganze Region weiter destabilisiert
Erbil jene 17 Prozent des Staatsbudgets zu zahlen, die                werden würde. So sprach sich nicht nur Bagdad, son-
Kurdistan nach der Verfassung des Irak zustehen.                      dern mit wenigen Ausnahmen die gesamte Staaten-
Bagdad hatte dies damit begründet, dass Erbil »kurdi-                 gemeinschaft gegen seine Durchführung aus.
sches« Öl direkt und damit »illegal« exportiere.
   (5) Weiterhin offen war auch die Frage, ob die so-
genannten »Umstrittenen Gebiete« (Disputed Areas)                     Mangelnde innere Konsolidierung: Die
beim Irak bleiben oder Kurdistan zugeschlagen wer-                    Entwicklung der innerkurdischen
den sollten. Das Referendum zu dieser Frage, das der                  Machtverhältnisse von 1992 bis 2018
irakischen Verfassung gemäß in diesen Gebieten
abzuhalten wäre, hat bis heute nicht stattgefunden.                   Das politische Leben der irakischen Kurden wird seit
Die Kurden wollten an den Territorien, die sie seit                   jeher von Stämmen und innerhalb der Stämme von
2014 besetzt hatten, insbesondere an Kirkuk, um                       dominanten Familien geprägt, die in ihren jeweiligen
jeden Preis festhalten. Dies erklärt sich einerseits mit              Regionen den Ton angeben. Auch die Entstehung der
der von vielen Kurden geteilten Auffassung, Kirkuk                    beiden großen irakisch-kurdischen Parteien, der
sei das »kurdische Jerusalem«. Viel wichtiger war aber                Kurdischen Demokratischen Partei (KDP) und der
die Tatsache, dass nach dem Ausbleiben der iraki-                     Patriotischen Union Kurdistans (PUK), hat an den
schen Zahlungen die Erlöse aus dem Verkauf des Öls,                   feudalen Machtstrukturen bislang wenig geändert.
                                                                      KDP und PUK waren immer Instrumente der beiden
  5 »More Funds Needed to Support Displaced in Kurdistan              in Kurdistan führenden Familien Barzani und Tala-
  Region of Iraq«, United Nations Iraq (online), 31.3.2015,           bani, die die Politik weitgehend bestimmen. Dies galt
   (Zugriff           Region Kurdistan-Irak.
  am 16.4.2015).
                                                                         Ein kurzer Blick auf die Inhaber zentraler Staats-
  6 Ministry of Interior, Joint Crisis Coordination Centre,
                                                                      ämter macht die Konzentration der Macht deutlich.
  Priority Projects for 2017, Executive Summary, Erbil, April 2017.
                                                                      Der Barzani-Clan herrscht mit Hilfe der KDP, die 1946
  7 Ebd.

                                                                                                                        SWP Berlin
                                 Die Kurden im Irak und in Syrien nach dem Ende der Territorialherrschaft des »Islamischen Staates«
                                                                                                                          Juli 2018

                                                                                                                                11
Martin Weiss

               gegründet worden und seither die größte Partei der                    Nach der ersten Regionalwahl in Kurdistan 1992
               irakischen Kurden ist. Ihr Vorsitzender Masud Barzani              regierten KDP und PUK gemeinsam und gleichberech-
               ist der Sohn des legendären Kurdenführers und Grün-                tigt, obwohl die KDP zwei Sitze mehr gewonnen hatte.
               ders der KDP Mustafa Barzani. Masud Barzani war von                Dieser Konsens hielt jedoch nicht lange. Bereits 1993
               2005 bis zu seinem Rücktritt am 1. November 2017                   kam es zwischen den Milizen beider Parteien zu
               Präsident Kurdistans. Sein Onkel Hoshyar Zebari war                bewaffneten Auseinandersetzungen, die schließlich
               erst Außenminister und dann Finanzminister des                     zu einer faktischen Teilung des Landes führten. Erst
               Irak. Masuds Neffe Nechirvan Barzani ist der heutige               1998 fanden KDP und PUK auf Druck der USA zu
               Ministerpräsident Kurdistans, und Masuds ältester                  einem Burgfrieden. Seither beherrscht die KDP den
               Sohn Masrur ist Chef des Kurdistan Region Security                 Nordwesten Kurdistans um die Stadt Erbil und die
               Council.                                                           PUK den Südosten um die Stadt Suleymaniah. 2003
                   Die 1975 gegründete Patriotische Union Kurdistans              schlossen sich KDP und PUK zur Demokratischen
               wird von der Talabani-Familie dominiert. Ihr Führer,               Patriotischen Allianz Kurdistans (kurz: »Kurdische
               der am 3. Oktober 2017 in Berlin verstorbene Jalal                 Allianz«) zusammen, in die auch ein paar kleinere
               Talabani, war von 2005 bis 2014 Staatspräsident des                Parteien integriert wurden.
               Irak. Seine Ehefrau Hero Talabani ist heute eine der                  Im Jahr 2008 kam mit der Gründung einer neuen
               einflussreichsten Personen in der PUK. Jalal Talabanis             Partei unter dem Namen Gorran (Wandel) Bewegung
               Sohn Qubad bekleidet das Amt des Vize-Minister-                    ins festgefahrene politische System. Gorran forderte
               präsidenten in Kurdistan. Ein anderer Sohn, Lahur                  ein Ende des faktischen Machtmonopols von KDP
               Talabani, ist der Chef der Kurdistan Intelligence                  und PUK. Die neue Partei machte die weit verbreite
               Agency und leitet »Zanjari«, die Anti-Terror-Einheit               Korruption und Patronage zum Thema und ent-
               der PUK.                                                           wickelte sich in kürzester Zeit zu einem ernsthaften
                                                                                  Konkurrenten für die KDP und die PUK. Bei der Wahl
                        Politische Macht ermöglicht die                           2009 erhielt Gorran auf Anhieb fast ein Viertel aller
                       Vermehrung privaten Reichtums;                             Stimmen.
                        dieser wiederum führt zu einer                               Die nächste Wahl im Jahr 2013 läutete das Ende
                       Stärkung der politischen Macht.                            des Machtmonopols der beiden alten Parteien ein.
                                                                                  Gorran wurde zur zweitstärksten Kraft nach der KDP,
                  Diese beiden Clans sowie einige weitere wichtige                kleinere islamistische Parteien erhielten verstärkt
               Familien verfügen neben politischem Gewicht auch                   Zulauf. KDP und PUK erreichten zusammen nur eine
               über erhebliche wirtschaftliche Macht. Ihr Reichtum                hauchdünne und damit extrem instabile Mehrheit
               beruht nicht nur auf Großgrundbesitz, sondern auch                 von einem Sitz, weshalb sich Präsident Masud Barzani
               auf Privatfirmen, die ihnen gehören oder an denen                  gezwungen sah, eine Allparteienregierung zu bilden.
               sie beteiligt sind, und nicht zuletzt auf dem Einfluss,            So wurden die ethnischen und religiösen Minder-
               den sie auf die Entscheidungen staatseigener Unter-                heiten erstmals in die Regierungsverantwortung ein-
               nehmen ausüben können. Politische Macht ermög-                     bezogen, eine positive Lösung, die im Nahen Osten
               licht die Vermehrung privaten Reichtums; dieser                    keineswegs selbstverständlich ist.
               wiederum führt zu einer Stärkung der politischen                      Die kurdische Allparteienregierung war jedoch
               Macht. Dieses System der Verflechtung von politi-                  nicht von Stabilität gekennzeichnet. Durch den krank-
               scher und wirtschaftlicher Herrschaft in Kurdistan-                heitsbedingten Ausfall des PUK-Vorsitzenden Jalal
               Irak wird immer öfter als nepotistisch, von manchen                Talabani verlor die PUK ihre zentrale Führungsfigur
               sogar als kleptokratisch bezeichnet. 8                             und zerfiel in mehrere konkurrierende Fraktionen.
                                                                                  Parallel dazu lebten die alten Gegensätze zwischen
                                                                                  der KDP und der PUK wieder auf und noch im Wahl-
                                                                                  jahr brach die »Kurdische Allianz« auseinander. 9
                    8 Aras Ahmed Mhamad, »Meritocracy or Cleptocracy:                Andererseits zeigte sich schnell, dass die neue
                    Kurdistans Leadership in Turmoil«, in: Newsweek, 30.3.2016;   Partei Gorran, obwohl sie formal großzügig an der
                    Michael Rubin, »Be Very Worried about Barzani Family          Regierung beteiligt wurde, nicht bereit war, sich der
                    Power Struggle«, Commentary (online), 18.1.2015,
                            9 Hemin Salih, »KDP Ends Strategic Agreement with PUK«,
                    (Zugriff am 14.6.2018).                                         in: Bas News (Erbil), 17.9.2014.

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               Die Kurden im Irak und in Syrien nach dem Ende der Territorialherrschaft des »Islamischen Staates«
               Juli 2018

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Rückschlag auf dem Weg zur Selbständigkeit – Kurdistan-Irak vor und nach dem Unabhängigkeitsreferendum

Politik der KDP und des Präsidenten unterzuordnen.                   Im September 2017 kündigte Barham Salih, der
Die junge Partei lehnte es insbesondere ab, Masud                 bisherige stellvertretende Vorsitzender der PUK und
Barzani eine weitere außerplanmäßige Verlängerung                 frühere Premierminister an, mit einer neuen Partei
seiner Amtszeit als Präsident zuzugestehen. Barzani,              namens »Bündnis für Demokratie und Gerechtigkeit«
dessen zweite Amtsperiode bereits 2013 abgelaufen                 zur nächsten Regionalwahl anzutreten. 12 Damit wur-
war und der nach der Verfassung kein drittes Mal für              de die PUK, die seit dem krankheitsbedingten Ausfall
das Amt kandidieren durfte, hatte es vermocht, das                und Tod von Talabani schon in mehrere Flügel zer-
Parlament für eine außerordentliche Verlängerung                  fallen war, noch weiter geschwächt.
seiner Präsidentschaft um weitere zwei Jahre zu ge-
winnen, die im August 2015 abliefen. Barzani insis-                       Weder das Parlament noch die
tierte auf einer erneuten Verlängerung und recht-                        Bevölkerung hatten der erneuten
fertigte dieses Ansinnen mit der Ausnahmesituation                          Verlängerung von Barzanis
des Krieges gegen den IS.                                                   Amtsperiode zugestimmt.
   Im gleichen Jahr eskalierte der Streit zwischen der
KDP und den anderen Parteien über das Prozedere zur                  Wegen der bedeutenden Rolle Kurdistan-Iraks im
Wahl des Präsidenten. Im Oktober 2015 spitzten sich               Kampf gegen den IS betrachtete die internationale
die Proteste wegen ausgebliebener Lohnzahlungen                   Gemeinschaft die internen Konflikte und die damit
zu. Insbesondere in der Region Suleymaniah kam es                 einhergehende politische Instabilität mit Sorge. Im
im Zuge von Demonstrationen zu Gewaltakten. Bei                   Mai 2017 verkündeten KDP und PUK, das Regional-
Angriffen und Brandanschlägen auf KDP-Büros ver-                  parlament gemeinsam einzuberufen 13 und im
loren ein KDP-Funktionär und durch den Einsatz der                November 2017 Parlaments- und Präsidentschafts-
Sicherheitskräfte mehrere Demonstranten ihr Leben.                wahlen abzuhalten. Zu diesen Wahlen ist es jedoch
Die KDP beschuldigte Gorran, die Bevölkerung auf-                 bisher aufgrund der Auseinandersetzungen um das
gewiegelt und die Anwendung von Gewalt befürwor-                  Unabhängigkeitsreferendum und dessen Folgen nicht
tet zu haben. Als Strafmaßnahme wurden vier Minis-                gekommen. Bei den gesamtirakischen Parlaments-
ter der Gorran entlassen und durch KDP-Politiker                  wahlen am 12. Mai 2018 traten KDP und PUK mit
ersetzt. Dem amtierenden Parlamentspräsidenten von                getrennten Listen an.
Gorran, Yousif Mohammed Sadiq, wurde der Zutritt
zum Regionalparlament untersagt. 10 Die Folge war
die Einstellung der Parlamentsarbeit und das Ende                 Die Diskussionen über Unabhängigkeit
der Allparteien-Regierungskoalition.                              und Territorien
   Ab diesem Zeitpunkt wurde Kurdistan-Irak von der
nun deutlich dominierenden KDP unter Präsident                    Das Verlangen der irakischen Kurden nach Unabhän-
Masud Barzani regiert. Die erneute Verlängerung von               gigkeit ist älter als der Staat Irak. Entsprechende
Barzanis Amtsperiode war weder vom Parlament                      Aspirationen hat es schon im Osmanischen Reich
noch von der Bevölkerung autorisiert worden. Als                  gegeben. Nach dessen Zerfall erkannten England und
Legitimation diente die Entscheidung des Consulta-                Frankreich in den Verhandlungen von Sèvres 1920
tive Councils (Shura) vom August 2015, der zufolge es             erstmals das Selbstbestimmungsrecht der Kurden an.
Barzani erlaubt sein sollte, bis zur Neuwahl eines                Dem in Sèvres geschlossenen Vertrag zufolge sollten
Nachfolgers weiter zu regieren. 11 Die Konstituierung             die Kurden autonome Regionen erhalten. Auch deren
dieses Gremiums aus den zwölf höchsten Richtern                   Zusammenschluss zu einem eigenen Staat wurde
des Landes war 2008 vom Parlament beschlossen wor-
den, als Instanz, die mögliche Differenzen zwischen
dem Parlament, der Regierung und dem Präsidenten
lösen sollte.                                                         12 »Former KRG PM Barham Salih Registers Own Political
                                                                      Entity to Run in Elections«, Rudaw, 16.9.2017,
                                                                      
                                                                      (Zugriff am 27.3.2018).
  10 Isabel Coles, »Political Crisis Escalates in Iraq’s Kurdi-       13 »KDP, PUK to Reactivate Iraqi Kurdistan Parliament
  stan«, Reuters, 12.10.2015.                                         without Gorran«, Ekurd Daily, 10.5.2017,  (Zugriff am
  Advisor von Präsident Barzani, Mai 2017.                            11.7.2017).

                                                                                                                       SWP Berlin
                                Die Kurden im Irak und in Syrien nach dem Ende der Territorialherrschaft des »Islamischen Staates«
                                                                                                                         Juli 2018

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Martin Weiss

               nicht ausgeschlossen. 14 Doch schon im Frieden von                      die Kurden als auch für den Zentralstaat sind, zeigt
               Lausanne 1923 und auch, als der Irak 1930 seine Un-                     sich daran, dass nach Angaben der Internationalen
               abhängigkeit errang, war davon nicht mehr die Rede.                     Energieagentur (IEA) allein 40 Prozent des im Irak
               In den folgenden Jahrzehnten wechselten sich Zeiten                     produzierten Öls aus der Provinz Kirkuk stammen. 16
               der Duldung kurdischer Bemühungen um mehr
               Selbstbestimmung mit Phasen intensiver Repression                           Die irakische Verfassung von 2005
               ab. Der brutalste Versuch, die kurdischen Unabhän-                        sieht die Zuordnung der umstrittenen
               gigkeitsbestrebungen zu unterdrücken, war die so-                         Gebiete an Kurdistan-Irak für den Fall
               genannte Anfal-Kampagne unter Saddam Hussein in                              vor, dass sich bis Ende 2007 eine
               den Jahren 1988/89, die Dimensionen eines Völker-                              Mehrheit für den Beitritt zur
               mords annahm. Nach Schätzungen von »Genocide-                                Autonomen Region entscheidet.
               Watch« wurden im Zuge dieser Operation 182 000
               Kurden getötet, etwa eine Million vertrieben und das                       Die irakische Verfassung von 2005 kam diesen For-
               kurdische Siedlungsgebiet im Irak weitgehend ver-                       derungen der Kurden weit entgegen. Ihr Artikel 140
               wüstet. 15 Erst 1991 verschaffte die Einrichtung einer                  sieht die Zuordnung der umstrittenen Gebiete an Kur-
               Flugverbotszone, die hauptsächlich von den USA und                      distan-Irak für den Fall vor, dass sich bei einer Volks-
               Großbritannien überwacht wurde, den Kurden die                          abstimmung, die bis spätestens 2007 in diesen Gebie-
               Gelegenheit zur Rückkehr.                                               ten hätte abgehalten werden müssen, die Mehrzahl
                  Unter internationalem Schutz erlebte Kurdistan-                      der Wähler für den Beitritt zur Autonomen Region
               Irak daraufhin einen beachtenswerten Aufschwung                         entscheidet. 17 Vorbedingung für dieses Referendum
               zu einer florierenden Region. Dies war zwar nicht die                   wiederum sollten eine Normalisierung der Verhält-
               ersehnte Unabhängigkeit, immerhin aber wurde der                        nisse, die Rückkehr von Flüchtlingen und eine Volks-
               kurdische Nord-Irak in der irakischen Verfassung von                    zählung sein.
               2004 als »Autonome Region Kurdistan« mit eigenem                           Das Referendum nach Artikel 140 hat bis heute
               Parlament und eigener Regierung anerkannt. Die                          nicht stattgefunden. Faktisch aber beherrschten die
               Region entsendet Abgeordnete in das irakische Parla-                    Kurden bis zum Unabhängigkeitsreferendum 2015
               ment und stellt auch seit 2005 den Staatspräsidenten.                   fast alle diese Territorien, spätestens seit sie im Kampf
                  Gleichwohl hielten die Kurden ihren Anspruch auf                     gegen den IS Kirkuk und die umliegenden Gebiete
               eine künftige völlige Eigenstaatlichkeit aufrecht. Sie                  eingenommen hatten. Viele Kurden vertrauten dar-
               forderten außerdem, dass auch die Gebiete, die vor                      auf, dass damit Fakten geschaffen worden waren und
               der Arabisierungspolitik Saddam Husseins überwie-                       sich die Frage eines Referendums über die umstritte-
               gend kurdisch besiedelt gewesen waren, ihrer Verwal-                    nen Gebiete erledigt hätte. Der kurdische Minister-
               tung unterstellt würden. Bei diesen sogenannten                         präsident Nechirvan Barzani hatte am 5. Juni 2017
               »disputed areas« handelt es sich vorwiegend um die                      vollmundig festgestellt: »Es gibt keine umstrittenen
               Provinz Kirkuk und Teile von vier weiteren Provin-                      Gebiete mehr«. 18
               zen, aus denen unter Saddam Hussein viele Kurden
               vertrieben und in denen dafür Araber angesiedelt
               wurden. In all diesen Landesteilen gibt es seit der
               osmanischen Zeit zudem eine turkmenische Minder-
               heit. Im Sindschar-Gebirge leben die Kurdisch spre-
               chenden Jesidi, die sich jedoch mehr über ihre Reli-
               gion als über ihre ethnische Zugehörigkeit definieren.                    16 »Die unendliche Geschichte um Kirkuk«, Civika Azad
               Wie wichtig diese umstrittenen Gebiete sowohl für                         (online), 6.4.2017,  (Zugriff am 27.3.2018).
                    14 Ali Homam Ghasi, Die Kurden. Waisenkinder des Univer-             17 Awat Asadi, Der Territorialkonflikt zwischen der irakischen
                    sums, Berlin 1994, S. 17f.                                           Zentralregierung und Kurdistans Regionalregierung, Berlin: Kon-
                    15 Shakhawan Shorsh, »Anfal«. The Iraqi State’s Genocide             rad-Adenauer-Stiftung, 2013 (KAS Auslandsinformationen
                    against the Kurds, o.O.: The Center of Halabja against Anfaliza-     8/2013), S. 71.
                    tion and Genocide of the Kurds (CHAK), Februar 2007,                 18 »We no longer have disputed areas«, siehe »Nechirvan
                                        Daily, 8.6.2017,  (Zugriff am 27.3.2018).

               SWP Berlin
               Die Kurden im Irak und in Syrien nach dem Ende der Territorialherrschaft des »Islamischen Staates«
               Juli 2018

               14
Rückschlag auf dem Weg zur Selbständigkeit – Kurdistan-Irak vor und nach dem Unabhängigkeitsreferendum

Ziele der inländischen Akteure und ihrer                       schaftliche Produkte. So exportierte die Türkei 2016
regionalen Verbündeten                                         Dienstleistungen und Güter im Wert von insgesamt
                                                               7,64 Milliarden US-Dollar nach Kurdistan-Irak. 20 Be-
Im Irak Saddam Husseins hatte nicht nur die Minder-            sonders intensiv entwickelte sich die Kooperation im
heit der Kurden, sondern auch die Bevölkerungs-                Energiesektor. Im Dezember 2015 einigten sich Kurdi-
mehrheit der Schiiten unter der Dominanz der Sun-              stan-Irak und die Türkei darauf, künftig gemeinsam
niten zu leiden. Der Sturz des Diktators und die               Gas zu fördern. Zu diesem Zweck erwarb der türki-
amerikanische Besatzung veränderten die inner-                 sche Ölkonzern TPAO für 1,5 Milliarden US-Dollar
irakischen Machtverhältnisse zugunsten der Schiiten.           große Anteile an kurdischen Gasfeldern. 21 Diese Ver-
Dies führte jedoch zu neuen Konflikten. So war es              einbarung schuf eine mustergültige »Win-win«-Situa-
nur folgerichtig, dass sich die inländischen Akteure           tion: Kurdistan-Irak erhielt dringend benötigte Devi-
an die Nachbarstaaten wandten und um Hilfe baten.              sen und die Türkei konnte ihre Energieimporte diver-
Diese wiederum boten gern Unterstützung an, da sie             sifizieren und so ihre Abhängigkeit von einzelnen
auf diese Weise Gelegenheit erhielten, eigene Inter-           Anbietern vermindern.
essen und Ziele durchzusetzen.
                                                                        Ankara befürchtet, dass ein
Die fragile türkisch-kurdische Allianz                             selbständiger Staat Kurdistan-Irak die
                                                                     Autonomiebestrebungen der circa
Die vor dem Referendum überaus engen Bindungen                       13 Millionen Kurden in der Türkei
zwischen Kurdistan-Irak und der Türkei hatten so-                            anstacheln würde.
wohl politische als auch wirtschaftliche Gründe.
Politisch passte das Entstehen einer weitgehend von               Die Beziehungen der Türkei zu Kurdistan-Irak
Bagdad unabhängigen kurdischen Region bestens zu               waren und sind jedoch ambivalent. Einerseits wurden
der (neo-osmanischen) Strategie Ankaras, zwischen              gegenseitige Besuche auf höchster politischer Ebene
sich und der arabischen Welt einen von der Türkei              Normalität, andererseits war dieses gute Verhältnis
abhängigen oder zumindest der Türkei gegenüber                 durch die Ambitionen der irakischen Kurden auf
freundlich gesonnenen Pufferstaat zu haben. Die                Eigenstaatlichkeit dauernd belastet. Die Befürchtung
politische Annäherung war so weit gegangen, dass die           Ankaras, dass ein selbständiger Staat Kurdistan-Irak
KDP sich beim türkischen Verfassungsreferendum                 die Autonomiebestrebungen der circa 13 Millionen
2017 über die Einführung des Präsidialsystems für ein          Kurden in den östlichen und südöstlichen Provinzen
»Ja« und damit für eine Ausweitung der Macht des               der Türkei anstacheln würde, konnte von Erbil nie
türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdoğan              ganz ausgeräumt werden.
ausgesprochen hatte. 19                                           Der Hauptkonfliktstoff zwischen der Türkei und
   Auf wirtschaftlicher Ebene hatte die enge Zusam-            Kurdistan-Irak ist aber nicht die Politik Erbils, son-
menarbeit mit der Türkei Kurdistan-Irak erst lebens-           dern die Anwesenheit der türkisch-kurdischen PKK
fähig gemacht. Der grenzübergreifende Austausch                (Arbeiterpartei Kurdistans) auf dem Gebiet der Auto-
mit der Türkei hatte noch während der Herrschaft               nomen Region. 22 Ungeachtet ihrer ethnischen Ver-
Saddam Husseins unter dem Schutz der Flugverbots-              wandtschaft besteht eine tiefe ideologische Kluft
zone begonnen und Kurdistan-Irak einen enormen                 zwischen der PKK und den großen irakischen Kurden-
ökonomischen Boom beschert, von dem auch die                   parteien. Während die PKK aus einer marxistischen
türkische Wirtschaft in Südost-Anatolien profitierte.          Studentenorganisation entstanden ist und Konzepte
Denn es waren überwiegend türkische Firmen, die                des Kollektivs und des Gemeineigentums bei ihr noch
den Wiederaufbau der Infrastruktur und der zer-                heute eine wichtige Rolle spielen, sind die irakischen
störten Wohngebäude übernahmen. Darüber hinaus
importierte die Autonome Region in großem Umfang
türkische Waren des täglichen Bedarfs und landwirt-                20 »Turkey Exports by Country«, Trading Economics (online),
                                                                   
                                                                   (Zugriff am 10.10.2017).
  19 »Barzani’s KDP Supports ›Yes‹ Vote in Turkey Referen-         21 »Erdogan expandiert: Türkei kauft sich in irakische Gas-
  dum«, Ekurd Daily, 14.4.2017,  (Zugriff am               22 Siehe zum Verhältnis der PKK zur KDP den Beitrag von
  27.3.2018).                                                      Katharina Lack in diesem Band.

                                                                                                                    SWP Berlin
                             Die Kurden im Irak und in Syrien nach dem Ende der Territorialherrschaft des »Islamischen Staates«
                                                                                                                      Juli 2018

                                                                                                                             15
Martin Weiss

               Kurden eindeutig Verfechter der Marktwirtschaft. Seit               aus, die PKK mit Gewalt zu vertreiben. 26 Noch ent-
               langem nutzt die PKK in ihrem Kampf gegen das                       schiedener waren die Reaktionen der Türkei: Ankara
               türkische Militär neben Nord-Syrien auch Kurdistan-                 war so sehr daran gelegen, die Etablierung einer wei-
               Irak als Rückzugsgebiet. Als Reaktion auf Anschläge                 teren PKK-Hochburg zu verhindern, dass die türkische
               von dort haben die türkischen Luftstreitkräfte immer                Luftwaffe trotz deutlicher internationaler Kritik im
               wieder PKK-Stellungen im Nord-Irak angegriffen,                     April 2017 PKK-Stellungen im Sindschar-Gebirge mas-
               worunter auch die kurdische Zivilbevölkerung zu                     siv bombardierte.
               leiden hatte. Mehrfach ist die Türkei mit Bodentrup-
               pen in beachtlicher Stärke in den Norden des Irak                   Der Iran als Partner und Gegner der
               eingerückt und Ankara unterhält dort sogar militäri-                kurdischen Parteien im Irak
               sche Stützpunkte, die von der KRG geduldet werden.
                                                                                   An seiner Nordwestgrenze stößt Kurdistan-Irak an
                    Seit 2016 versucht die PKK, sich auch                          den Iran. In den dortigen iranischen Grenzprovinzen
                     im Sindschar-Gebirge festzusetzen.                            leben circa fünf Millionen Kurden. Deren Kampf um
                                                                                   Autonomie innerhalb des iranischen Staates wurde
                  Das Verhältnis der irakischen Kurden zur PKK ist                 von Teheran immer wieder blutig unterdrückt, wie
               mehr als gespannt. In den 1990er Jahren war es zwi-                 die Ermordung der Führer der Kurdischen Demokrati-
               schen der KDP und der PKK zu blutigen Auseinander-                  schen Partei-Iran (KDP-I), Abdul Rahman Ghassemlou
               setzungen gekommen, die sich über mehrere Jahre                     1998 in Wien und Sadegh Sharafkandi 2002 in Berlin
               hingezogen hatten. Die PKK verlagerte danach ihre                   (Mykonos-Attentat), zeigt. Die Tatsache, dass die heu-
               Stellungen im Nord-Irak von der türkeinahen Grenz-                  tige Führung der KDP-I, eine Schwesterpartei von Bar-
               region, die unter KDP-Kontrolle stand, in das Kandil-               zanis KDP, im Nord-Irak Asyl genießt, belastet seit
               Gebirge nahe der iranischen Grenze. Da die dort ton-                Jahren das Verhältnis Teherans zur KDP.
               angebende PUK deutlich PKK-freundlicher ist, brachte                   Deutlich besser sind dagegen die Beziehungen
               dieser Umzug für das Verhältnis der Türkei zu den                   Irans zur PUK. Teheran sieht in dem Projekt eines
               irakischen Kurden keine wesentliche Entspannung.                    unabhängigen Kurdistans an seiner Westgrenze eine
               Wie fern sich KDP und PKK und wie nah sich dagegen                  direkte Bedrohung seiner Interessen und scheut sich
               PUK und PKK stehen, zeigt die Tatsache, dass eine                   deshalb nicht, Kurdistan-Irak mit allen Mitteln zu
               Konferenz des PKK-nahen Kurdischen Nationalkon-                     destabilisieren. In den 1990er Jahren fokussierte sich
               gresses (KNK), 23 die im Juli 2017 in Erbil von Barzani             die iranische Regierung dabei auf den internen Kon-
               verhindert worden war, daraufhin mit der PUK als                    flikt zwischen den kurdischen Parteien und unter-
               Gastgeber in Suleymaniah stattfand. 24                              stützte die PUK gegen die KDP. Auch nach dem Zer-
                  Seit 2016 versucht die PKK, sich auch im Sindschar-              brechen der Kurdischen Allianz schlug sie sich auf die
               Gebirge festzusetzen, das sich westlich von Mossul bis              Seite der PUK und nun auch der Partei Gorran. Belege
               an die syrische Grenze erstreckt. 25 Der Sindschar ist              dafür sind die vielen Iran-Besuche der PUK-Führer
               Teil der zwischen Bagdad und Erbil umstrittenen Ge-                 (sogar der kranke Talabani reiste 2017 nach Teheran),
               biete, und die Bestrebungen der PKK, in dem Gebirge                 die diversen Trainingsmaßnahmen für PUK-Kader 27
               Fuß zu fassen, lösten umgehend Drohungen Barzanis                   und die zunehmende Intensität der Kontakte der PUK
                                                                                   zum Milizenbündnis »Volksmobilisierung« (Haschd
                                                                                   asch-Scha‘bi), das unter iranischer Ägide steht. 28

                    23 Der KNK (Kongra Netewiya Kurdistan) ist eine 1999 ge-
                    gründete PKK-nahe kurdische Exilorganisation mit Sitz in         26 »KRG Rejects Formation of Sinjar Canton/Erbil Warns
                    Brüssel.                                                         PKK Not to Intervene in Kurdistan Internal Affairs«, BasNews
                    24 »KNK National Unity Workshop Starts in Sulaimani,             (Erbil), 17.1.2015.
                    Iraqi Kurdistan«, Ekurd Daily, 16.7.2017,  (Zugriff am              (Zugriff
                    25 »PKK Tries to Conquer Shingal to Build Their First            am 27.3.2018).
                    Canton on KRG Territory«, Kurdpress, 1.1.2015. Siehe zum         28 »The Most Dangerous Coalition in Middle East«, Mesop
                    Verhältnis von PKK und KDP in Sindschar den Beitrag von          News Analysis, 28.3.2017,
Rückschlag auf dem Weg zur Selbständigkeit – Kurdistan-Irak vor und nach dem Unabhängigkeitsreferendum

   Der Sturz Saddam Husseins durch die USA und die                       al-Abadi der Amtseinführung des iranischen Präsi-
anschließende Zerschlagung der Baath-Partei haben                        denten Hassan Rouhani ferngeblieben ist. 30
die sunnitische Dominanz im Irak beendet und die
bis dato politisch unterrepräsentierten Schiiten zur                       Der Sturz Saddam Husseins durch die
stärksten Kraft in Bagdad gemacht. Damit wurde dem                         USA hat die sunnitische Dominanz im
Einfluss Teherans auf den Irak Tür und Tor geöffnet,                         Irak beendet und die Schiiten zur
was sich besonders unter der Regierung Nuri al-Maliki                       stärksten Kraft in Bagdad gemacht.
zeigte. Der Wechsel von Maliki zu Haider al-Abadi hat
daran grundsätzlich nichts geändert. Zwar gilt Abadi                        Unabhängig davon, wie eng die Bindung der
als eher pro-westlich orientiert, doch ist die Stellung                  irakischen Schiiten an Teheran ist, wird die Stellung
Teherans dadurch bisher nicht wesentlich geschwächt                      der kurdischen Peschmerga, die vor dem Hintergrund
worden. Denn als Führer der schiitisch-islamischen                       des desolaten Zustands der irakischen Armee lange
Dawa-Partei verfügt Maliki nach wie vor über eine                        als mächtigste militärische Kraft im Irak galten, von
starke Position, und gleichzeitig wächst die Macht                       den erstarkten schiitischen Milizen gefährdet. Erste
einer Reihe anderer schiitischer Organisationen, die                     Zusammenstöße zwischen den vom Iran gesteuerten
von Teheran gesteuert werden, allen voran die Badr-                      Milizen und den Peschmerga hatten bereits vor dem
Organisation, die als einflussreichstes Instrument der                   Referendum darauf hingedeutet, dass sich hier eine
iranischen Politik im Irak gilt. 29 Sie ist die dominante                neue Front aufbaut.
Kraft innerhalb des Bündnisses Haschd asch-Scha‘bi.
Die Badr-Organisation und die »Quds-Brigaden« unter                      Irakische Sunniten ohne starke Partner
Führung des iranischen Generals Qassem Soleimani
sind im Irak die schlagkräftigsten Milizen im Kampf                      Die jahrzehntelang dominierenden irakischen Sunni-
gegen den IS und ein wirkungsvolles Mittel Teherans                      ten erlitten mit Saddam Husseins Sturz und der dar-
zur Durchsetzung seiner Ziele im Nachbarland.                            auf folgenden amerikanischen Besatzung einen gra-
   Dass Irans Einflussnahme auf die irakischen Schii-                    vierenden Bedeutungsverlust. Durch die Entlassung
ten aber nicht unumstritten ist, zeigen seit Juli 2017                   aller Führungspersönlichkeiten der Baath-Partei aus
verschiedene Äußerungen und Gesten schiitischer                          Schlüsselpositionen in Verwaltung und Militär hat
Politiker im Irak, die eindeutig als Beginn einer Dis-                   der von den USA eingesetzte Zivilverwalter Paul
tanzierung von Teheran gewertet werden können.                           Bremer die Sunniten politisch weitgehend entmach-
So kündigte Ammar al-Hakim, bisheriger Chef des                          tet. Die Spannungen zwischen Sunniten und Schiiten
weitgehend von Teheran gelenkten »Islamischen                            wurden durch den autokratischen Regierungsstil des
Rates« (Supreme Council for the Islamic Revolution in                    schiitischen Premiers Maliki zusätzlich verschärft.
Iraq, SCIRI) seinen Rückzug aus dieser schiitischen                         Seither versuchen die Sunniten, immerhin ein
Dachorganisation und die Gründung einer neuen                            Viertel der irakischen Bevölkerung, ihre alte Position
Partei an. Der ebenfalls sehr einflussreiche Geistliche                  wiederzuerlangen. Dem steht nicht nur die Tatsache
und Milizenführer Muktada al-Sadr besuchte demons-                       entgegen, dass sie numerisch in der Minderheit sind,
trativ Saudi-Arabien, Irans Hauptgegner in der Re-                       sie müssten auch erst ihre interne Spaltung überwin-
gion, wo er mit allen Ehren empfangen wurde. Der                         den. Ein pragmatischer Flügel ist bereit, sich mit den
höchste schiitische Würdenträger im Irak, Ajatollah                      machthabenden Schiiten zu arrangieren, um wenigs-
al-Sistani, denkt laut über die Bildung eines »Zivil-                    tens einen Teil des Einflusses, über den die Sunniten
staats« nach, was für die iranische Führung mit ihrem                    unter Saddam verfügten, zurückzugewinnen. Andere
Staatsverständnis der »Statthalterschaft des Rechts-                     Gruppierungen streben eine Autonomie innerhalb
gelehrten« einen Affront bedeutet. Ein weiteres Signal                   des Irak an, also einen föderalen sunnitischen Teil-
der Distanzierung war, dass Ministerpräsident Haider                     staat analog zur Autonomen Region Kurdistan. 31 Und

                                                                           30 Ali Sadrzadeh, »Kurden, Trump, Iraks Schiiten: Raue
  baghdad-puk-pkk-under-the-leadership-of-qassem-                          Winde gen Teheran«, Iran Journal (online), 24.8.2017,
  soleimani/> (Zugriff am 27.3.2018).                                      
  29 Guido Steinberg, Die Badr-Organisation. Irans wichtigstes             (Zugriff am 27.3.2018).
  politisch-militärisches Instrument in Irak, Berlin: Stiftung Wissen-     31 Arnold Hottinger, »Der Alltag des Krieges. Trotz lang-
  schaft und Politik, April 2017 (SWP-Aktuell 27/2017).                    samer Fortschritte der Armee gegen den IS in Mossul hat in

                                                                                                                         SWP Berlin
                                  Die Kurden im Irak und in Syrien nach dem Ende der Territorialherrschaft des »Islamischen Staates«
                                                                                                                           Juli 2018

                                                                                                                                    17
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