Bürgerkrieg in Syrien: Trotz Kampf gegen ISIS den Schutz der Bevölkerung nicht vergessen!
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Bürgerkrieg in Syrien: Trotz Kampf gegen ISIS den Schutz der Bevölkerung nicht vergessen! Der Vormarsch des sog. „Islamischen Staats“ (ISIS) im Irak und die Luftschläge der USA und ihrer Verbündeten gegen die islamistischen Extremisten beherrschen die Berichterstattung über den Nahen Osten. Der seit Jahren andauernde Bürgerkrieg in Syrien und seine Opfer verschwinden hingegen aus der öffentlichen Wahrnehmung. Angesichts der systematischen Gräueltaten des Assad-Regimes wäre es kurzsichtig und gefährlich, die westliche Syrienpolitik allein auf den Kampf gegen ISIS zu verkürzen. Vielmehr ist ein umfassenderer Ansatz nötig, der insbesondere dem Schutz der Zivilbevölkerung größere Bedeutung beimisst. Auf Basis von Experteninterviews skizziert der vorliegende Policy Brief konkrete Maßnahmen, mit denen das Leid der syrischen Bevölkerung gemindert werden könnte. Die vollständigen Interviews sind diesem Policy Brief als Dokumentation beigefügt. Mit mehr als 191.000 Toten und 9,5 Millionen Ver- Konflikt leidende Zivilbevolkerung muss besser vor triebenen hat sich der Burgerkrieg in Syrien zu Gewalt geschutzt und moderate Krafte gestarkt einer humanitaren Katastrophe entwickelt, die in- werden, wenn Syrien nicht unwiderruflich zu einem zwischen den gesamten Nahen Osten destabilisiert. gescheiterten Staat wie Somalia werden soll. So- Ein fruheres entschlossenes Eingreifen der interna- lange unschuldige Zivilisten Opfer systematischer tionalen Gemeinschaft hatte nicht nur hundert- Massaker werden, bleibt eine diplomatische Losung tausenden Zivilisten das Leben gerettet, sondern illusorisch. Durch die derzeit stattfindenden Mili- auch die zunehmende Radikalisierung und Bruta- taraktionen steht der Konflikt in Syrien zwar wieder lisierung der Konfliktparteien verhindern konnen. starker im Augenmerk der internationalen Offent- Aufgrund der russischen und chinesischen Blockade lichkeit. Diese Aufmerksamkeit und Dynamik sollte des UN Sicherheitsrats wurden die Vereinten Na- jedoch von politischer Seite auch dazu genutzt wer- tionen jedoch ihrer Aufgabe zur Bewahrung des den, um uber den Kampf gegen ISIS hinaus den Weltfriedens und des Schutzes der Zivilbevolkerung Schutz der Zivilbevolkerung in ganz Syrien zu einer nicht gerecht. Inzwischen konnte der sogenannte Prioritat des internationalen Engagements zu ma- Islamische Staat (ISIS) in Folge der Eskalation des chen. Folgende Handlungsoptionen sollten hierbei Burgerkriegs durch das Assad-Regime und durch gepruft werden: Unterstutzung islamistischer Geldgeber außerhalb Syriens zu einem der Hauptakteure des inzwischen 1) Diplomatische Bemühungen ausbauen grenzuberschreitenden Syrienkonflikts heranwach- Trotz des Scheiterns aller bisheriger Friedens- sen. Jedoch hat auch die mangelnde Bereitschaft des bemuhungen sollten erneute Gesprachsfaden zwi- Westens, eine weitere Eskalation des syrischen schen den Konfliktparteien gesponnen werden. Hier Burgerkriegs mit allen notwendigen Mitteln zu mussen auch die Unterstutzer des Regimes – allen verhindern, ebenfalls zur Entstehung des Nahrbo- voran Russland und Iran – sowie die Unterstutzer dens fur ISIS beigetragen. Eine entschlossene der verschiedenen Rebellengruppen – Katar, Saudi Reaktion auf die systematischen Menschenrechts- Arabien, die Turkei und die USA – miteinbezogen verletzungen des Assad-Regimes zu Anfang des werden. Das derzeit verhandelte Nuklearabkom- Konflikts hatte eine Eskalation, wie sie heute zu men mit dem Iran sowie die indirekte Kooperation beobachten ist, wahrscheinlich verhindert und der USA und Irans im Konflikt mit ISIS konnten eine Gruppen wie ISIS den Boden entzogen. Nun liegt es Chance fur Verhandlungen uber die Zukunft Syriens an der internationalen Gemeinschaft, die Folgen darstellen. Gleichzeitig sollte mit Russland und Chi- ihrer eigenen Untatigkeit zu korrigieren, indem sie na uber eine Uberweisung der Causa an den Inter- vor den noch immer anhaltenden Massenver- nationalen Strafgerichtshof verhandelt werden, um brechen nicht langer die Augen verschließt. die Konfliktparteien von weiteren Graueltaten abzu- schrecken. Nicht nur angesichts glaubwurdiger, dem Keine Verengung der Syrienpolitik auf ISIS UN Sicherheitsrat vorliegender Belege, dass Der internationale Kampf gegen den Vormarsch des zehntausende Oppositioneller auf Weisung des ISIS im Nordirak und in Syrien lasst die dramatische Assad-Regimes zu Tode gefoltert wurden, ist eine humanitare Situation der Zivilbevolkerung in den Amnestie oder gar Kooperation mit Assad ausge- Hintergrund rucken. Die derzeit zu beobachtende schlossen. Tendenz, den Burgerkrieg in Syrien nur noch durch die Brille eines Kampfes gegen islamistische Grup- 2) Luftangriffe auf Zivilisten unterbinden pierungen wie ISIS oder Al-Nusra zu betrachten, ist Die Zivilbevolkerung Syriens leidet in hohem Maße jedoch eine gefahrliche Verengung. Die unter dem unter Angriffen aus der Luft. Ein besonders grau-
sames und nicht zwischen Zivilisten und Kombat- ziell zu unterstutzen. Dennoch gibt es keinen tanten unterscheidendes Mittel der Kriegsfuhrung Zweifel, dass eine Ausweitung der Hilfen fur Syrien ist der Einsatz von Benzin- und Chlorgasbomben und die Nachbarlander dringend notwendig ist. durch das syrische Regime gegen von Rebellen Hierbei handelt es sich nicht nur um klassische gehaltene Wohngebiete. Die internationale Ge- humanitare Hilfe, sondern auch um Unterstutzung meinschaft sollte nicht hinnehmen, dass die syri- zur Stabilisierung der Nachbarstaaten. So gab es sche Luftwaffe grundlegende Normen des Volker- bereits gewaltsame Zwischenfalle im Libanon. Auch rechts kontinuierlich und ungestraft bricht. Sollte in der Turkei steht die lokale Bevolkerung der die Regierung in Damaskus weiterhin solche ein- schieren Masse an Fluchtlingen zunehmend skep- deutig volkerrechtswidrigen Angriffe fliegen, sollte tisch gegenuber. Der Libanon hat inzwischen die ein Weg gefunden werden, die bereits heute im Grenze fur weitere Fluchtlinge geschlossen. Dies Kampf gegen ISIS befindlichen Luftstreitkrafte zur sind Warnzeichen, auf die man jetzt reagieren sollte, Unterbindung weiterer Attacken auf die Zivilbe- bevor Skepsis in offene - und deutlich schwieriger volkerung zu nutzen. Zudem sollte Deutschland zu bewaltigende - Konflikte umschlagt. Vor diesem seine internationale Reputation im Bereich der Hintergrund sollten die Anrainerstaaten bei der Rustungskontrolle nutzen, um eine Achtung von Bereitstellung humanitarer Hilfe sowie der Her- Benzin- und Chlorgasbomben zu erreichen. Die stellung eines friedlichen Umfelds um die Flucht- genannten Waffen mussen in die Bemuhungen der lingslager herum unterstutzt werden. Zudem bedarf Organisation fur das Verbot chemischer Waffen gerade der Gesundheits- und Bildungssektor der (OPCW) zur Vernichtung der syrischen Chemie- Aufnahmelander starkerer Unterstutzung, wenn waffen mit einbezogen werden. man verhindern will, dass die derzeitige Generation von Kindern und Jugendlichen auf Grund mangeln- 3) Lokalen Wiederaufbau unterstützen der Bildung und schlechter Versorgung vollkommen In den von moderaten Rebellen der Freien Syri- perspektivlos aufwachst. So ließen sich durch eine schen Armee befreiten Gebieten muss der wirt- verantwortungsbewusste Vorsorge die langfristigen schaftliche Wiederaufbau starker unterstutzt wer- negativen Konsequenzen dampfen, die der Burger- den. Eine Motivation fur Kampfer, sich extremen krieg in den kommenden Dekaden zweifellos haben Islamisten anzuschließen, ist schließlich auch finan- wird. Die EU sollte daher deutlich mehr Fluchtlinge zieller Natur. Insbesondere ISIS verfugt uber er- aufnehmen, als dies bisher der Fall ist. hebliche finanzielle Mittel. So kann die Gruppe ihren Kampfern einen vergleichsweise hohen Sold zahlen Alle Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen haben und ihnen zudem im Todesfall die Versorgung der sich im Jahr 2005 mit dem Beschluss der Respon- zuruckgelassenen Familie zusagen. Aufbauhilfen in sibility to Protect dazu verpflichtet, ihre Bevol- Gebieten, in denen keine Kampfhandlungen mehr kerungen vor Volkermord, Verbrechen gegen die stattfinden, waren eine große Hilfe, der Bevolkerung Menschlichkeit, Kriegsverbrechen und ethnischen eine Versorgung aus eigener Kraft und außerhalb Sauberungen zu schutzen. Sollte eine Regierung der Kriegsfuhrung auf Seiten der Islamisten zu er- zum Schutz der Zivilbevolkerung nicht willens oder moglichen. Fur einen Wiederaufbau sollte das fahig sein, hat die internationale Gemeinschaft die Augenmerk zudem auf die Forderung lokaler Verantwortung zum Schutz der Bevolkerung. Ange- Waffenstillstandsabkommen gelegt werden. Dialog- sichts der schweren und systematischen Menschen- foren, wie sie zum Beispiel vom Genfer Centre for rechtsverletzungen in Syrien ist es Zeit, dass die Humanitarian Dialogue vorangebracht werden, Weltgemeinschaft ihren Worten Taten folgen lasst konnen Vertreter verschiedener ethnischer, religi- und die Verantwortlichen zur Rechenschaft zieht. Je oser, politischer und sozialer Gruppen zusammen- langer die internationale Gemeinschaft einer wei- bringen und das Potential fur Racheakte und teren Brutalisierung tatenlos zusieht, desto schwie- ethnische Konflikte verringern. riger und teurer wird ein spaterer Wiederaufbau werden. Eine Perspektive fur Syrien kann nur dann 4) Hilfe für Flüchtlinge und Anrainer stärken entstehen, wenn der Kampf gegen ISIS mit einem Das UN-Buro fur die Koordination humanitarer Hilfe effektiveren Schutz der Zivilbevolkerung uberall in beziffert die notwendigen Mittel fur die humanitare Syrien einhergeht und systematische Menschen- Hilfe in Syrien und in den Nachbarlandern auf rechtsverbrechen bestraft werden. insgesamt sechs Milliarden US-Dollar fur 2014. Bisher wurden nur 2,4 Milliarden US-Dollar bereit- Gregor Hofmann, stellv. Vorsitzender von Genocide Alert gestellt; 60% der notwendigen Finanzmittel fehlen Dr. Robert Schütte, Vorsitzender von Genocide Alert noch. Die UN muss daher inzwischen die Nahrungs- mittelrationen kurzen. Zwar hat sich Deutschland Genocide Alert e.V., Oktober 2014 Postfach 080423 | 10004 Berlin bisher bereit erklart, 25.500 Syrer aufzunehmen Kontakt: info@genocide-alert.de und humanitare Hilfsmaßnahmen in Syrien finan- ViSdP Dr. Robert Schütte
Dokumentation: Experteninterviews zum Krieg in Syrien - Dr. Simon Adams, Executive Director des Global Centre for the Responsibility to Protect in New York - Petra Becker, Wissenschaftlerin in der Forschungsgruppe Naher / Mittlerer Osten und Afrika an der Stiftung Wissenschaft und Politik, Berlin - Andrea Böhm, Buroleiterin Naher und Mittlerer Osten der Wochenzeitung DIE ZEIT - Bernd Eberl, Diplomat und von 2009 bis 2013 deutscher Botschafter im Iran und zuvor in Irak - Dr. Bente Scheller, Direktorin des Middle East Office Beirut der Heinrich-Boll-Stiftung - Dr. Bruno Schoch, Wissenschaftler beim Leibniz Institut Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung und langjahriger Mitherausgeber des Friedensgutachtens
Wie weiter in Syrien? Eine Interviewreihe von Genocide Alert Wie kann die Zivilbevölkerung in Syrien besser geschützt werden? Was sind konkrete Maßnahmen, die jetzt ergriffen werden können? Der andauernde Bürgerkrieg gefährdet weiterhin das Leben zahlloser Zivilisten. Eine erneute Diskussion über konkrete Möglichkeiten zum Schutz der syrischen Zivilbevölkerung ist wichtiger denn je. Genocide Alert hat hierzu mit sechs Expertinnen und Experten zu Syrien gesprochen. Die Interviews wurden zwischen Juli und August 2014 auf Deutsch und Englisch geführt. Die von den Befragten genannten Vorschläge reichen von grenzüberschreitender Hilfe für Binnenvertriebene und zwischen den Konfliktparteien eingeschlossene Zivilisten, über eine Überweisung des Falls zum Internationalen Gerichtshof bis hin zur Einrichtung einer Flugverbotszone. Wie weiter in Syrien, Herr Adams? constrained by the vetoes of two permanent members, has made the conflict worse, not better. Genocide Alert: What are the three most important measures to be taken right now in order to protect civilians in Syria? Dr. Simon Adams, Simon Adams: 1. Urgent and unrestricted cross- Executive Director des border humanitarian assistance to IDPs and Global Centre for the besieged populations. 2. Referral of the situation to Responsibility to Protect in the ICC. New York Genocide Alert: Mr. Adams, how is it possible, that peaceful protests escalated into such a cruel civil Wie weiter in Syrien, Frau Becker? war? Simon Adams: The Syrian government created the monster it said it most feared. By shutting down all space for peaceful protest and using deadly force against demonstrators it sowed the seeds of civil war. Despite the extreme violence deployed against Petra Becker, the peaceful protest movement it still took some Wissenschaftlerin in der months for an armed opposition to emerge. But Forschungsgruppe Naher / once it did, the course was set for a very bitter, and Mittlerer Osten und Afrika increasingly sectarian, armed conflict. an der Stiftung Wissen- schaft und Politik, Berlin Genocide Alert: Which options for action have not found appropriate attention so far by the trans- Genocide Alert: Frau Becker, wie konnten die national and international community? friedlichen Proteste in Syrien zu einem solch grausamen Burgerkrieg eskalieren? Simon Adams: It is not so much a case where there are undervalued options that have failed to receive Petra Becker: Die Brutalitat, mit der das Regime appropriate attention. It is more of a situation die Proteste von Anfang an unterdruckt hat, hat die where there is a very bloody and bitter civil war Bewegung nach wenigen Monaten in die Mili- where armed protagonists on all sides are still tarisierung getrieben. Kein anderer Staat im Kontext utterly convinced that they can shoot their way to des Arabischen Fruhlings war in der Gewalt- victory. What is needed is an arms embargo, ICC anwendung gegen seine Burger so maßlos: referral, UN sanctions, cross-border assistance to Demonstranten wurden erschossen; Verletzte in besieged and displaced civilians, and concerted Krankenhausern liquidiert; Mediziner, die diplomatic pressure by those who are arming and Demonstranten zu versorgen wagten, verhaftet und abetting the conflict to bring all sides to the gefoltert; aufstandische Orte dem Erdboden negotiating table. But a divided UN Security Council, gleichgemacht; Krankenhauser, Schulen und
Wohnhauser bombardiert; Menschen systematisch Wenn man erreicht, dass Menschen in den Rebellen- ausgehungert; Hunderttausende brutal gefoltert, gebieten mit Lebensmitteln und Medikamenten Tausende davon bis zum Tod. Das hat die versorgt werden, das Bombardement aufhort und Regimegegner zu der Erkenntnis getrieben, dass die Sicherheitslage sich verbessert, dann kann man diesem Terrorregime mit friedlichen Mitteln wieder Alltag einkehren, Menschen konnen sich um nicht beikommen kann. ihre Familien kummern, mit dem Wiederaufbau beginnen und ihre Kinder wieder zur Schule Gleichzeitig gibt es aber noch Gewalt auf einer schicken. Zurzeit ist die humanitare Lage so prekar, subtileren Ebene: staatliche syrische Medien und dass die Menschen sich gezwungen sehen, jede sich solche, die dem Regime freundlich gesonnen sind, bietende Einkommensquelle zu nutzen – und sei es diffamieren bis heute friedliche Aktivisten als der Sold, den ISIS seinen Kampfern zahlt. Terroristen und verhindern so erfolgreich eine Mittelfristig wurde die Stabilisierung der Rebellen- Solidarisierung der Weltgemeinschaft mit den gebiete auch die Fluchtlinge, die in den Nachbar- Opfern. landern in großem Elend leben, zu einer Ruckkehr ermutigen und so die Nachbarlander entlasten. Gleichzeitig hat das Regime den Konflikt von Beginn an als eine Aggression des sunnitischen Pobels dargestellt, dessen Ziel es sei, die Macht an sich zu reißen und sich an den Bevolkerungsgruppen zu rachen, auf die sich das Regime in mehr als vierzig Wie weiter in Syrien, Frau Böhm? Jahren Diktatur gestutzt hat – allen voran den Alawiten, aber auch an anderen Minderheiten sowie einem Teil der sunnitischen Bourgeoisie. Damit hat er sich die Unterstutzung weiter Teile dieser Bevolkerungsgruppen gesichert. Die Tatsache, dass er auch bei der Niederschlagung des Aufstandes uberwiegend auf Rekruten und Milizionare aus diesen Bevolkerungsgruppen gesetzt hat, schurt ihre Angst vor einem Fall des Regimes noch weiter. Andrea Böhm, Inzwischen haben bei Seiten – Militar und Buroleiterin Naher und regimetreue Milizen einerseits und Rebellen- Mittlerer Osten der gruppen andererseits das Gefuhl, dass es um ihr Wochenzeitung DIE ZEIT blankes Uberleben geht. Toten oder getotet werden. Eine Verhandlungslosung ist fur sie weder sichtbar Genocide Alert: Frau Bohm, wie konnten die noch innerhalb ihrer Reichweite. friedlichen Proteste in Syrien zu einem solch grausamen Burgerkrieg eskalieren? Genocide Alert: Welche Handlungsmoglichkeiten wurden Ihrer Meinung nach bislang zu wenig in Andrea Böhm: Die Hauptverantwortung an der Betracht gezogen? Eskalation tragt das Regime von Baschar al-Assad, das von Beginn an mit Gewalt auf die Proteste Petra Becker: Es gibt eine Forderung, die seit drei reagiert hat. Mitverantwortlich sind Russland und Jahren auf dem Tisch liegt, aber nie ernsthaft in Iran, die wichtigsten Unterstutzer und Waffen- Betracht gezogen wurde, und das ist die Einrichtung lieferanten Assads. Und einen Teil der Schuld tragen einer Flugverbotszone. Ich weiß, dass bisher der naturlich auch Rebellengruppen und deren Unter- politische Wille dazu fehlte. Trotzdem glaube ich, stutzer – von den USA uber Saudi-Arabien bis zur dass dies die einzige erfolgversprechende Maß- Turkei. nahme im Kampf gegen den Dschihadismus ist. Die Spirale der Eskalation war von dem Punkt an Genocide Alert: Was sind die drei dringendsten nicht mehr aufzuhalten, an dem Finanziers und Maßnahmen, die die internationale Gemeinschaft Unterstutzer der Kampfparteien Syrien zum Schau- unmittelbar zum Schutz von Zivilisten in Syrien platz eines Stellvertreterkrieges gemacht haben. In ergreifen kann? Syrien wurde ja nicht, wie viele glaube, zu wenig interveniert, sondern zu viel. Regionale Machtin- Petra Becker: Erstens: Eine Flugverbotszone. teressen zwischen Saudi-Arabien, Katar, der Turkei Zweitens: Grenzuberschreitende Humanitare Hilfe. und Iran sowie ein neuer Ost-West-Konflikt Drittens: Gehalter und Ausbildung fur Polizei- und zwischen Russland, den USA und Europa haben die Sicherheitskrafte in den Rebellengebieten. Konfliktursachen und die Anliegen der
Protestbewegung vollig in den Hintergrund Wie weiter in Syrien, Herr Erbel? gedrangt – und die Eskalation durch meist unkoor- dinierte Waffenlieferungen vorangetrieben. Genocide Alert: Welche Handlungsmoglichkeiten wurden Ihrer Meinung nach bislang zu wenig in Betracht gezogen? Botschafter Bernd Erbel, Andrea Böhm: Große „Friedenskonferenzen“ – ob Diplomat und von 2009 bis sie nun Genf 1, Genf 2 oder Genf 3 – heißen, sind bis 2013 deutscher auf weiteres aussichtslos. Erfolgversprechender Botschafter im Iran und scheint es, lokale Waffenstillstandsabkommen zu zuvor in Irak fordern, und Vertretern verschiedener politischer und gesellschaftlicher Gruppen kleine Dialogforen anzubieten. Vermittler wie die des Genfer Centre for Genocide Alert: Herr Erbel, wie konnten die Humanitarian Dialogue konnen momentan friedlichen Proteste in Syrien zu einem solch vielleicht mehr ausrichten als Sondergesandte der grausamen Burgerkrieg eskalieren? UN. Bernd Erbel: Die im Marz 2011 einsetzenden Außerdem wurde straflich versaumt, Gebiete, die zivilen Proteste, auf die die Regierung mit großer nicht mehr unter Kontrolle des Regimes stehen, mit Harte reagierte, eskalierten schon nach wenigen Geldmitteln, kleinen Infrastrukturprojekten, Was- Monaten zum bewaffneten Konflikt, der zunehmend ser- und Stromversorgung zu stabilisieren. von Interventionen auslandischer Interessen- gruppen uberlagert wurde. Oppositionelle syrische Genocide Alert: Was sind die drei dringendsten Krafte, die ein demokratisches (und ungeteiltes) Maßnahmen, die die internationale Gemeinschaft Syrien anstrebten, wurden dadurch marginalisiert. unmittelbar zum Schutz von Zivilisten in Syrien Der Konflikt stellte damit immer weniger einen ergreifen kann? “Burgerkrieg”, als vielmehr einen Stellvertreterkrieg dar, der die Verschiebung der Allianzen in der Andrea Böhm: Allen Vorsatzen und Versprechen Region anstrebte. zum Trotz haben internationale Staatenge- meinschaft und der UN-Sicherheitsrat nicht einmal Genocide Alert: Welche Handlungsmoglichkeiten Wege gefunden (oder finden wollen), die huma- wurden Ihrer Meinung nach bislang zu wenig in nitare Katastrophe innerhalb Syriens einzudammen. Betracht gezogen? Der UN-Sicherheitsrat ist bis auf Weiteres blockiert, also muss jetzt notfalls gegen den Willen Russlands Bernd Erbel: Wichtigste Handlungsmoglichkeiten und gegen den erklarten Willen des Regimes Hilfe in waren die Verhinderung und spater der Entzug Gebiete gebracht werden, die unter Kontrolle des externer Unterstutzung (Kampfer, Waffen, Geld, Regimes stehen. Das geschieht bereits in Ansatzen, einschließlich der Ermoglichung des Transits) fur muss aber massiv ausgeweitet werden – auch wenn die in Syrien kampfenden Parteien gewesen. es aufgrund der volatilen Situation ein extrem schwieriges Unterfangen ist. Genocide Alert: Was sind die drei dringendsten Maßnahmen, die die internationale Gemeinschaft Zweitens mussen Stabilisierungsmaßnahmen fur unmittelbar zum Schutz von Zivilisten in Syrien die Nachbarlander und ihre Fluchtlingsbevolkerung ergreifen kann? aufgelegt und/oder vorangetrieben werden – allen voran fur den Libanon und Jordanien. Drittens Bernd Erbel: Zum Schutz von Zivilisten in Syrien mussen westliche Lander, allen voran die europa- selbst kann die internationale Gemeinschaft im ischen, mehr Fluchtlinge aufnehmen und gerechter Wesentlichen nur durch politische Einflussnahme verteilen. Soll heißen: die Dublin-Regelungen im Sinne der zur zweiten Frage genannten Maßnah- mussen außer Kraft gesetzt und durch einen men beitragen. Hilfe vor Ort ist nur sehr einge- Verteiler-Schlussel ersetzt werden. schrankt umsetzbar, sollte aber wo immer moglich erfolgen und fortgesetzt werden. Indirekte Hilfe kann durch Unterstutzung der Hauptaufnahme- lander fur syrische Fluchtlinge, Libanon und Jordanien, erfolgen.
Wie weiter in Syrien, Frau Scheller? Mal, wenn dies erneut unterstrichen wurde, sehen wir eine deutliche Eskalation der Gewalt, zunachst im Herbst 2012, als Prasident Obama die „Rote Linie“ verkundete und somit nur den Gebrauch von Chemiewaffen ahndungswurdig erscheinen ließ. In direkter Folge hat Human Rights Watch dokumen- tiert, wie uberall im Lande Luftangriffe auf die- jenigen, die vor Backereien um Brot anstanden geflogen wurden, und wie auch mehr Streubomben Dr. Bente Scheller, eingesetzt wurden. Im Herbst 2013, als durch die Direktorin des Middle East Einigung bezuglich der Chemiewaffen klar war, dass Office Beirut der Heinrich- es keine Intervention geben wurde, war ebenfalls Boll-Stiftung ein deutlich brutaleres Vorgehen zu beobachten, in diesem Fall durch den flachendeckenden Einsatz Genocide Alert: Frau Scheller, wie konnten die von Fassbomben. Das im pazifistischen Sinne gut friedlichen Proteste in Syrien zu einem solch gemeinte hat sich hier in Syrien in umso mehr grausamen Burgerkrieg eskalieren? Gewalt umgesetzt. Jenseits der militarischen Optionen bin ich mir nicht sicher, ob diplomatisch Bente Scheller: Das syrische Regime hat den alle Wege insbesondere fur Gesprache mit Iran und Konflikt von Anfang an nicht als eine politische Russland ausgelotet worden sind. sondern als eine Sicherheitsfrage begriffen. Des- wegen hat es keinen Dialog gesucht oder ernsthafte Genocide Alert: Was sind die drei dringendsten Reformen in Angriff genommen, sondern allein auf Maßnahmen, die die internationale Gemeinschaft eine Niederschlagung der Proteste gesetzt. Von unmittelbar zum Schutz von Zivilisten in Syrien Anfang an haben Regime-Vertreter an den Orten ergreifen kann? ihrer Verheerung den Slogan „Assad oder wir brennen das Land nieder“ auf Mauern und Wande Bente Scheller: Wer Zivilisten schutzen will: die gespruht, und keinen Zweifel daran gelassen, dass meisten sterben weiterhin durch Luftangriffe. Alles, sie bereit sind, dies umzusetzen. was die Luftwaffe am Boden halt, ware daher die wichtigste Maßnahme im Sinne der Bevolkerung Angesichts der fruchtlosen internationalen Lo- und um die Fluchtlingsstrome einzudammen. So- sungsansatze und der Hartleibigkeit des Regimes lange nicht mit aller Ernsthaftigkeit und allem haben sich Teile der Opposition zunachst zum Druck an einer politischen Losung des Konfliktes Schutz der Demonstranten bewaffnet, dann aber gearbeitet wird, doktern alle Maßnahmen nur an auch den Kampf gegen das Regime aufgenommen. den Symptomen herum und helfen einigen wenigen, Assad weiß, dass er am langeren Hebel sitzt – was wahrend es fur den Großteil der Menschen immer die militarische Ausstattung aber auch die massive schlimmer wird. und kritiklose Unterstutzung durch seine Verbun- deten Russland und Iran betrifft. Im Gegensatz dazu Gleichzeitig muss angesichts der Dramatik der Krise muss die Opposition sich mit vollig unterschied- die humanitare Hilfe aufgestockt und langfristigere lichen Interessen ihrer Angehorigen und Hilfe fur die aufnehmenden Lander in Angriff ge- Unterstutzer auseinandersetzen und bleibt frag- nommen werden, gerade, was deren Gesundheits- mentiert. Westliche Staaten waren immer schon und Bildungssektor betrifft. zogerlich, sie zu unterstutzen. Insofern spielt das Regime international erfolgreich auf Zeit, um innen- Drittens ist es hochste Zeit, sich Gedanken zu politisch in aller Seelenruhe den Krieg gegen die machen, wie man abwenden kann, dass immer syrische Bevolkerung weiterzufuhren, egal, um mehr politische Aktivisten und Fluchtlinge in ihren welchen Preis. jeweiligen Orten festsitzen, weil ihre Passe ablaufen und das Regime keine neuen mehr ausstellt. Obwohl Genocide Alert: Welche Handlungsmoglichkeiten viele Staaten die oppositionelle Nationale Koalition wurden Ihrer Meinung nach bislang zu wenig in als „legitime Vertreterin der syrischen Bevolkerung“ Betracht gezogen? anerkannt haben, kann diese in diesem Punkt nicht weiterhelfen. Wir erlauben dem Regime somit, Bente Scheller: Ich halte es fur einen Fehler, dass selbst uber das Schicksal derer zu bestimmen, die es schon in den erstem Momenten der Revolution im geschafft haben, ihm durch Flucht ins Ausland zu Lichte der Libyen-Erfahrung ganz klar kommu- entkommen. niziert wurde, dass es keine Flugverbotszone und keine militarische Intervention geben wurde. Jedes
Wie weiter in Syrien, Herr Schoch? Genocide Alert: Welche Handlungsmoglichkeiten wurden Ihrer Meinung nach bislang zu wenig in Betracht gezogen? Bruno Schoch: Diplomatische Initiativen fur einen Waffenstillstand zwischen den Burgerkriegspar- Dr. Bruno Schoch, teien und fur politische Verhandlungen kamen zu Wissenschaftler beim spat. Moglicherweise hatten diplomatische Initia- Leibniz Institut Hessische tiven von außen mehr Erfolg gehabt, wenn die USA Stiftung Friedens- und fruher von ihrer intransigenten Iran-Politik abge- Konfliktforschung und ruckt waren. Der Einsatz der von Teheran abhangi- langjahriger Mitherausgeber gen Hizbollah-Milizen in Syrien hat die Hoffnung des Friedensgutachtens des Regimes, den Aufstand doch noch militarisch besiegen zu konnen, gestarkt. Genocide Alert: Herr Schoch, wie konnten die friedlichen Proteste in Syrien zu einem solch Und was die Europaer angeht, so haben sie die grausamen Burgerkrieg eskalieren? Tragweite und Folgen des von US-Prasident Obama verkundeten „pivots“ in den pazifischen Raum Bruno Schoch: Das totalitare Regime in Damaskus bisher verschlafen. Das Lamentieren uber den zeigte sich von Anfang an entschlossen, die im Ruckgang der weltpolitischen Gestaltungsmacht der Zeichen des „arabischen Fruhlings“ erhobenen und USA hilft nichts, kunftig sind mehr eigene politisch- zunachst friedlich artikulierten Proteste und For- diplomatische Initiative der Europaer zur Stabi- derungen nach Liberalisierung und Demokra- lisierung des Maghrebs und des Mittleren Osten tisierung mit allen, wirklich allen Mitteln zu gefragt. unterdrucken. Im Westen hat man unter dem Eindruck der Ereignisse in Tunesien Starke und Genocide Alert: Was sind die drei dringendsten Handlungsfahigkeit der syrischen Opposition Maßnahmen, die die internationale Gemeinschaft uberschatzt und den Ruckhalt fur das Regime in den unmittelbar zum Schutz von Zivilisten in Syrien Sicherheitsapparaten und – aus Angst vor sunni- ergreifen kann? tischem Extremismus – in Teilen der konfessio- nellen und ethnischen Minderheiten unterschatzt. Bruno Schoch: Vorrangiges Ziel scheint mir die Ebenso hat man die Risiken einer Radikalisierung Beendigung des Burgerkrieges. Diplomatischen des Konflikts zwischen Sunniten und Schiiten Initiativen scheint im Augenblick wenig Erfolg unterschatzt, ebenso wohl auch die Bereitschaft beschieden, nachdem selbst der erfahrene Russlands, am menschenverachtenden Regime Vermittler Lakhdar Brahimi sein UN-Verhand- Assads à tout prix festzuhalten. Das hat dazu lungsmandat wegen Aussichtslosigkeit aufgegeben gefuhrt, dass westliche Politiker, allen voran die hat; gleichwohl muss man weiterhin alles in diese Außenministerin der USA, Assad schon fruh fur Richtung versuchen. Moglicherweise kann der untragbar erklarten, ganz auf „regime change“ Umweg uber eine – nach dem Interimsabkommen setzten und jede Verhandlungslosung kategorisch zum Nuklearprogramm Teherans nicht mehr ausschlossen. ganzlich ausgeschlossene – veranderte Iran-Politik eine neue Hoffnungsperspektive fur politische Zugleich versagten sie indes den gemassigten und Verhandlungen in Syrien eroffnen. Zum zweiten ist demokratischen Gruppen der syrischen Opposition zu prufen, wie sich Chlorgas- und Benzinbomben in die notige materielle Unterstutzung, wodurch diese die international uberwachte Abrustung der Krafte im fortschreitenden Burgerkrieg zusehends syrischen Chemiewaffen einbeziehen lassen. marginalisiert wurden. Damit hat man mit beige- Schließlich muss die humanitare Hilfe fur die tragen zur fatalen Radikalisierung und Bruta- Fluchtlinge – inzwischen sind es der UNO zufolge lisierung der Aufstandischen, von Saudi-Arabien mehr als neun Millionen Menschen – in den Nach- und Qatar mit Geld und Waffen gefordert. Als die barstaaten, aber auch in Syrien selber massiv massgeblichen westlichen Machte dann verstarkt werden. Wir haben die beschamende umschwenkten und auf eine politische Verhand- Aufnahmebereitschaft Deutschlands fur syrische lungslosung in Syrien setzten, war es zu spat – zu Fluchtlinge im „Friedensgutachten“ angeprangert. fortgeschritten war nun die im Burgerkrieg Inzwischen stosst auch der Bundesprasident in radikalisierte Polarisierung und Konfessiona- dasselbe Horn. lisierung der Antagonisten.
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