DIE LINKE IN EUROPA Sozialistische Parteien in der EU Von Dominic Heilig - Rosa Luxemburg Stiftung

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DIE LINKE IN EUROPA Sozialistische Parteien in der EU Von Dominic Heilig - Rosa Luxemburg Stiftung
DIE LINKE IN EUROPA
                  Sozialistische Parteien in der EU
ROSA
LUXEMBURG
STIFTUNG
NEW YORK OFFICE   Von Dominic Heilig
Inhaltsverzeichnis

    Der Aufstieg der europäischen Linken                                                    1

    Die Linke in Europa
    Sozialistische Parteien in der EU                                                       2

    Von Dominic Heilig

        1. Die Linke in Europa: Geschichte und Diversität                                   2

        2. Syriza und der europäische linke Frühling                                       10

        3. Der schwarze Herbst der Linken in Europa: Die Linke in Spanien                  17

        4. DIE LINKE: Stabilitätsfaktor in der Europäischen Linken                         27

        5. Strategische Aufgaben für die Linke in Europa                                   34

Veröffentlicht von der Rosa-Luxemburg-Stiftung, Büro New York, April 2016

Herausgeber: Stefanie Ehmsen und Albert Scharenberg
Adresse: 275 Madison Avenue, Suite 2114, New York, NY 10016
E-Mail: info@rosalux-nyc.org; Telefon: +1 (917) 409-1040

Gefördert mit Mitteln des Auswärtigen Amts

Die Rosa-Luxemburg-Stiftung ist eine international tätige, progressive Non-Profit-Organisation für
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demokratische und soziale Partizipation, die Ermächtigung von benachteiligten Gruppen, Alternativen
zur wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung und für friedliche Konfliktlösungen.

Das New Yorker Büro erfüllt zwei Hauptaufgaben: sich mit Themen der Vereinten Nationen zu befassen
und mit nordamerikanischen Linken in Hochschulen, Gewerkschaften, sozialen Bewegungen und der
Politik zusammenzuarbeiten.

                            www.rosalux-nyc.org
Der Aufstieg der europäischen Linken

Das europäische Parteiensystem befindet sich im Umbruch. In der Folge des neoliberalen Angriffs
löst sich mit der Mittelschicht auch die jahrzehntelang stabile Bindung großer Wählergruppen an die
Parteien der Mitte zunehmend auf. Von dieser Entwicklung profitieren nicht zuletzt die europäischen
Rechtsparteien; in vielen Ländern haben rechtspopulistische und rechtsradikale Parteien einen für die
Nachkriegszeit beispiellosen Aufschwung erlebt, wie Thilo Janssens RLS-Studie über „Rechtsaußen-
parteien in der Europäischen Union“ gezeigt hat.

Auf der anderen Seite des politischen Spektrums hat der Wahlsieg der griechischen „Koalition der
radikalen Linken“, besser bekannt als SYRIZA, im Januar 2015 die europäische Linke aus ihrem oppo-
sitionellen Schlaf gerüttelt. Man rieb sich die Augen und stellte fest, dass die Linke bei Wahlen nicht
länger nur „respektable“ Plätze erobern, sondern selbst als führende Kraft in die Regierung gewählt
werden konnte. Die europäische und internationale Linke war begeistert.

Der Wahlsieg alarmierte allerdings zugleich ihre Gegner, die, unter Führung der deutschen Bundesre-
gierung, der griechischen Linksregierung das Leben schwer und mitunter zur Hölle machten. Die Aus-
einandersetzung zwischen SYRIZA und der Troika (aus Europäischer Union, Europäischer Zentralbank
und Internationalem Währungsfonds) über die griechische Regierungspolitik beherrschte im Frühjahr
und Sommer 2015 die Schlagzeilen. Im Zuge dieses Konflikts gelang es Merkel, Schäuble & Co, die
Eckpfeiler ihres neoliberalen Austeritätsregimes gegen den Angriff aus Griechenland zu verteidigen
und SYRIZA in Kernfragen zum Einlenken zu zwingen. Zugleich zeigte die Wiederwahl der Tsipras-
Regierung im September 2015 aber auch, dass sie es nicht vermochten, die linken „Störenfriede“ aus
dem Amt zu drängen.

Seitdem hat die Linke in Spanien und Portugal im Herbst/Winter 2015 Wahlerfolge erzielt. In Spanien
verlor die konservative Volkspartei durch den Aufstieg von Podemos ihre Mehrheit; in Portugal konnte
der konservative Ministerpräsident gar von einer Mitte-links-Regierung abgelöst werden. In Großbri-
tannien wählte die sozialdemokratische Labour Party mit Jeremy Corbyn den wohl am weitesten links
stehenden Vorsitzenden ihrer Geschichte, während in anderen europäischen Ländern, darunter auch
in Deutschland, eine reorganisierte Linke sich zu stabilisieren vermochte.

Höchste Zeit also, die europäische Linke genauer in den Blick zu nehmen. Welche Parteien sind von
besonderer Relevanz, und wofür stehen sie politisch? Wo überwiegen die programmatischen Paral-
lelen und wo die Unterschiede zwischen den nationalen Formationen? Wie ist die Linke auf europäi-
scher Ebene organisiert, und wohin geht die Reise?

In dieser Studie untersucht der Journalist Dominic Heilig die gegenwärtige Lage. Ausgehend von einem
Überblick und einer Kategorisierung der verschiedenen europäischen Linksparteien verdichtet Heilig
die Analyse am Beispiel von drei Parteien: SYRIZA, Podemos und DIE LINKE. In seiner spannenden
Darstellung der jüngeren Entwicklung vermag er zu zeigen, was durch den Aufstieg der Linken bereits
gewonnen, aber auch, was noch nicht erreicht worden ist. Fest steht, dass die Linke noch viel zu tun
hat, will sie mit ihrer Politik Einfluss auf die Zukunft des europäischen Kontinents nehmen.

                                                               Stefanie Ehmsen und Albert Scharenberg
                                                                   Leiter des Büros New York, April 2016

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Die Linke in Europa
Sozialistische Parteien in der EU

Von Dominic Heilig

1. Die Linke in Europa: Geschichte und Diversität

Das Spektrum der Linken in Europa reicht von                        Beitrag nur Linksparteien betrachtet werden,
sozialdemokratischen über linkslibertäre und                        die entweder über eine parlamentarische Ver-
grün-alternative bis hin zu traditionellen kom-                     tretung im Europäischen Parlament verfügen
munistischen Parteien. Nimmt man ihre Selbst-                       oder die – bei aller Kritik oder gar Ablehnung
verortung als Linksparteien als Ausgangspunkt,                      der EU – die europäische Arena als politischen
können allein für die Europäische Union (EU)                        Handlungsrahmen angenommen und sich der
und ihre 28 Mitgliedstaaten bereits über 60                         EL angeschlossen haben.2
Parteien dieses Spektrums identifiziert wer-
den.1 Diese Selbstdefinitionen beruhen jedoch                       Diese Schwerpunktsetzung ist geboten, um
auf unterschiedlichen historischen, strategi-                       Linksparteien in Europa überhaupt vergleichen
schen und programmatischen Grundlagen.                              zu können. Allein in der EU sind wir in jedem
Hinzu kommt, dass viele Parteien dieses Spek-                       der 28 Mitgliedstaaten mit 28 teilweise sehr
trums zugleich einem ständigen Wandel durch                         spezifischen nationalen Rahmenbedingungen
Abspaltungen, Neugründungen oder Samm-                              konfrontiert, das heißt mit unterschiedlichen
lungsprozesse unterworfen sind.                                     Wahlsystemen, Rechtsstellungen der Par-
                                                                    teien und historischen Voraussetzungen. Ein
Bevor einige ausgewählte Beispiele – nämlich                        Beispiel: Während in Deutschland eine Partei
Syriza (Griechenland), Vereinigte Linke und                         mindestens fünf Prozent der Stimmen bei nati-
Podemos (Spanien) sowie DIE LINKE (Bundes-                          onalen Wahlen benötigt, um Sitze in Parlamen-
republik) – im Rahmen dieser Studie näher                           ten einzunehmen, liegt diese Hürde in Portu-
betrachtet werden, gilt es zunächst, zwei euro-                     gal und Griechenland bei nur drei Prozent; in
päische Zusammenhänge, in denen Linkspar-                           Frankreich wiederum gilt das Mehrheits- und
teien aktiv sind, zu analysieren. Da ist zum einen                  kein Verhältniswahlrecht. Auch die Möglichkeit,
die 2004 gegründete Europäische Linkspartei                         Wahlbündnisse aus Parteien oder mit sozia-
(EL), ein europaweiter Zusammenschluss nati-                        len Bewegungen für Wahlen zu bilden, wird
onaler Linksparteien im Rahmen der EU. Zum                          äußerst unterschiedlich gehandhabt. Zugleich
Zweiten werden Parteien, die Mitglieder der                         üben diese Faktoren großen Einfluss auf die
Linksfraktion im Europäischen Parlament (GUE/                       konkrete Gestalt der Linksparteien aus.
NGL) sind, der linken Parteienfamilie zugeord-
net. Daraus folgt, dass in dem vorliegenden                         In einigen EU-Staaten existieren – wie etwa in
                                                                    Portugal – mehrere relevante Linksparteien, die
1   Vgl. Birgit Daiber, Cornelia Hildebrandt und Anna Striet-
    horst (Hg.): Von Revolution bis Koalition. Linke Partei-
    en in Europa, Rosa-Luxemburg-Stiftung, Büro Brüssel,            2   Vgl. Jürgen Mittag und Janosch Steuwer: Politische Par-
    2010, S. 7.                                                         teien in der EU, Wien 2010, S. 179.

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DOMINIC HEILIG
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Tabelle 1: Mitgliedsparteien der GUE/NGL im Europäischen Parlament seit 2014

                                                                                                   Abgeord-
Partei                                                       Land                                    nete
AKEL                                                         Zypern                                            2
Bloco de Esquerda                                            Portugal                                          1
DIE LINKE                                                    Deutschland                                       7
Euskal Herria Bildu                                          Spanien (Baskenland)                              1
Volksbewegung gegen die EU – Rotgrüne Einheitsliste          Dänemark                                          1
Front de Gauche (PCF; Parti de Gauche, u. a.)                Frankreich                                        3
Izquierda Plural (Izquierda Unida u. a.)                     Spanien                                           5
Kommunistische Partei Böhmens und Mährens (KSČM) Tschechische Republik                                         3
L’Altra Europa con Tsipras                                   Italien                                           2
Kommunistische Partei Portugals (PCP)                        Portugal                                          3
Tierschutzpartei                                             Niederlande                                       1
Podemos                                                      Spanien                                           4
Linke Volkseinheit                                           Griechenland                                      1
Sinn Feín (SF)                                               Irland/Nordirland (GB)                            4
Sozialistische Partei (SP)                                   Niederlande                                       2
Syriza                                                       Griechenland                                      4
Union pour les Outre-Mer                                     Frankreich (Übersee)                              1
Linkspartei (V)                                              Schweden                                          1
Linksbund (VAS)                                              Finnland                                          1
Unabhängige                                                  Deutschland, Irland,                              4
                                                             Griechenland, Italien

damit auch in Konkurrenz zueinander stehen. In           Neugründungen und Sammlungsprozesse im
den skandinavischen Ländern (mit Ausnahme                linken Spektrum eine parlamentarische Ver-
Dänemarks) ist die Linke nicht zersplittert und,         tretung der Linken erreicht werden.3 Ein Kenn-
wenn zuletzt auch auf niedrigem Niveau, beson-           zeichen der Linksparteien in Europa ist folglich
ders stabil. Hier existiert jeweils nur eine rele-       ihre Heterogenität.
vante Linkspartei, die in Finnland, Norwegen,
Island und Schweden bis vor kurzem sogar Teil            Alle Linksparteien in Europa sind klassische Mit-
sozialdemokratisch geführter Regierungen war.            gliederparteien. Auch Neugründungen wie die
                                                         Parti de Gauche setzten weiterhin auf die Bin-
In den meisten osteuropäischen Staaten ist               dung von Mitgliedern; keine der Linksparteien
die Linke dagegen nicht nur, wie im Südwes-              ist ein personenorientierter Wahlverein.
ten Europas, zersplittert, sondern auch völlig
marginalisiert. Lediglich in Slowenien und Kro-          3   Vgl. Dominic Heilig: Ein weißer Fleck färbt sich rot,
atien konnte in den letzten zwei Jahren durch                14.7.2014, www.die-linke.de.

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DOMINIC HEILIG
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Europäische Linksparteien binden besonders                           Zur zweiten Zäsur kam es angesichts des Prager
vier Wählergruppen an sich. Zum einen klas-                          Frühlings 1968. Die Spaltung klassischer kom-
sische Arbeiter- und alternative Milieus, die in                     munistischer Parteien in Westeuropa erfolgte
Protest zu den herrschenden Verhältnissen                            hier entlang der Bewertung des Führungs-
stehen. Neue Wählergruppen, die die Linke                            anspruches der KPdSU. Parteien des „Dritten
in ihrem Widerstand gegen Neoliberalismus                            Weges“ oder eurokommunistische Parteien lös-
und Austeritätspolitik an sich binden konnte,                        ten sich von jenen, die weiterhin auf eine revo-
sind Menschen mit Prekaritätserfahrung und                           lutionäre Gesellschaftsentwicklung, auf das
vom Abrutschen ins Prekariat bedrohte Mit-                           innere Führungsprinzip des „demokratischen
telschichten. Keiner Partei aber gelingt es, alle                    Zentralismus“, auf den Marxismus-Leninismus
vier Wählergruppen gleichermaßen für sich zu                         als verbindliches ideologisches Fundament und
gewinnen. Kommunistische Parteien wie die                            auf den Führungsanspruch der KPdSU beharr-
portugiesische PCP etwa werden in erster Linie                       ten. Die Ablehnung alternativer Entwicklungs-
von klassischen, in ihrem Bestand bedrohten,                         wege zum Sozialismus und alternativer, demo-
Arbeitermilieus gewählt; DIE LINKE in Deutsch-                       kratischer Sozialismusvorstellungen ging ein-
land hingegen wird vornehmlich von Prekari-                          her mit einem unversöhnlichen ideologischen
sierten unterstützt. Gleichzeitig sind Arbeiter                      Kampf gegen jede Abweichung vom sowjeti-
und Prekarisierte unter den Mitgliedern aller                        schen Modell. In Westeuropa lösten sich einige
Linksparteien in der Minderheit. In den skandi-                      kommunistische Parteien sich von der ideolo-
navischen und mitteleuropäischen EU-Staaten                          gischen und organisatorischen Bindung an die
treten überwiegend Angestellte und Angehö-                           KPdSU, andere spalteten sich. In Osteuropa
rige der höher gebildeten Mittelschichten lin-                       ordneten sich die Staatsparteien dem Großen
ken Parteien bei.4                                                   Bruder in Moskau weiter unter.

Die Entstehung und programmatische Veror-
                                                                       Ein Kennzeichen der Linksparteien in
tung der Parteien links von der Sozialdemokratie
                                                                       Europa ist folglich ihre Heterogenität.
sind stets auch Produkt gesellschaftlicher Ver-
                                                                       Der Konföderalen Fraktion der Vereinig-
änderungen und Auseinandersetzungen inner-
                                                                       ten Europäischen Linken/Nordisch-Grüne
halb der Linken gewesen. Diese Veränderungen
                                                                       Linke (GUE/NGL) gehören 52 Abgeordnete
stellten für die Linke jeweils drastische Zäsuren
                                                                       von 19 Parteien oder Wahlbündnissen an.
dar, die die Herausbildung unterschiedlichster
                                                                       Die Abgeordneten kommen aus 14 Mit-
Formen von Linksparteien förderten.
                                                                       gliedstaaten der EU. Der Charakter der
                                                                       Fraktion ist, wie der Name bereits verrät,
Die erste Zäsur, die zur Herausbildung von Links-
                                                                       konföderal, das heißt jede Partei behält
parteien in Europa führte, war die Spaltung
                                                                       ihre Eigenständigkeit und entscheidet ent-
der Sozialdemokratie in der Folge von Erstem
                                                                       sprechend innerhalb des weiten Rahmens
Weltkrieg, Oktoberrevolution und Gründung
                                                                       der Fraktion individuell.
der Sowjetunion. Auch wenn es bereits zuvor
vereinzelt Parteien links der Sozialdemokratie
gegeben hatte, die auf revolutionärem Wege                           Die zunehmende europäische Integration, die
zum Kommunismus bzw. Sozialismus gelangen                            Herausbildung neuer gesellschaftlicher Kon-
wollten, entwickelten sich diese erst mit der                        fliktlinien und neuer grün-alternativer Bewe-
Spaltung der Sozialdemokratie zu Parteien mit                        gungen sowie das Wachstum der Friedensbe-
gesellschaftlicher Relevanz.                                         wegung für (atomare) Abrüstung in den 1970er
                                                                     und 80er Jahren markierten eine dritte Zäsur
4   Vgl. Anna Striethorst: Mitglieder und Elektorate von
    Linksparteien in Europa, in: Daiber u.a., a.a.O., S. 89ff.       für die Linke. Erstmalig kam es zur Herausbil-

                                                                 4
DOMINIC HEILIG
                                                                                  DIE LINKE IN EUROPA

dung neuer linker Sammlungsparteien, die ihre           und anderer moderner Linksparteien und die
Wurzeln in den sozialen Bewegungen dieser               gleichzeitig entstehenden sozial- und globalisie-
Zeit hatten und über die klassische Vertretung          rungskritischen Bewegungen Ende der 1990er
von Arbeiterinteressen gegenüber dem Kapi-              Jahre führten zur Formation neuer linker Samm-
tal hinausreichende Forderungen stellten. Das           lungsparteien. Diese fünfte Zäsur führte auch zu
linke Parteienspektrum erweiterte sich damit            einer Bündelung linker Kräfte und Parteien über
um linkssozialistisch-ökologische Formationen.          die Grenzen des Nationalstaates hinweg. Zwar
Diese Parteien, die zunächst eher wie plurale           hatten lose grenzüberschreitende Diskussions-
Bewegungen und weniger wie klassische Par-              zusammenhänge, wie das Forum der Neuen
teien auftraten, setzten auf eine transformato-         Europäischen Linken (NELF), seit 1990/91 exis-
rische Strategie zur Überwindung des Kapitalis-         tiert; einen verbindlichen Charakter der Koope-
mus unter Berücksichtigung neuer gesellschaft-          ration konnten diese aber nicht herstellen. 2004
licher Einstellungen und Werte.                         wurde ein europäischer Sammlungsprozess mit
                                                        der Gründung der Europäischen Linkspartei
Eine vierte Zäsur stellte – ganz besonders in den       gewissermaßen nachgeholt.
„realsozialistischen“ Ländern, aber auch in den
Staaten der Europäischen Gemeinschaft (EG),             Die Entfesselung des Kapitalismus – genauer:
dem Vorläufer der EU – der Fall der Berliner            des sich ungezügelt bahnbrechenden Neolibe-
Mauer und das Ende der Blockkonfrontation               ralismus und der daraus entstehenden Domi-
dar. Sozialistische bzw. kommunistische Staats-         nanz der Finanzmärkte – führte ab 2007/2008
parteien verloren ihre Führungsrolle, lösten sich       nicht nur zur bislang schwersten Wirtschafts-
auf oder unterzogen sich inneren Reformpro-             und Finanzkrise der Nachkriegszeit, sondern
zessen, die durch äußere Umstände notwendig             auch zur Entstehung neuer linker Anti-Auste-
geworden waren. Viele dieser Parteien in Osteu-         ritätsbewegungen. Diese sechste Zäsur mün-
ropa wandelten sich in der Folge zu sozialdemo-         dete teilweise in die Entstehung neuer politi-
kratischen Parteien, wie in Polen oder Ungarn;          scher Parteien oder bewirkte weitere Reformen
andere unterzogen sich einem programmati-               bereits bestehender Linksparteien wie in Spa-
schen und demokratischen Wandlungsprozess,              nien, Griechenland oder Frankreich.
wie DIE LINKE in Deutschland, und gehören
weiterhin dem Lager der Parteien links von der
Sozialdemokratie an. Manche Parteien, die aus           Die Europäische Linkspartei (EL)
früheren Staatsparteien hervorgingen, wie etwa
die tschechische KSČM, hielten an ihrer traditio-       Nach der Überwindung der Blockkonfrontation
nellen kommunistischen Orientierung fest. Aber          geriet die Linke in Ost- und Westeuropa in die
auch die bestehenden Linksparteien Westeuro-            Defensive. Der Zusammenbruch des Staats-
pas, wie jene des Eurokommunismus oder die              sozialismus wurde zu einer Niederlage einer
den neuen sozialen Bewegungen verbundenen,              gesamten politischen Idee und damit zur Nie-
gerieten in eine Legitimationskrise und unter-          derlage linker Parteien insgesamt, unabhängig
zogen sich inneren Reformprozessen. Dabei               von ihrer ideologischen Ausrichtung. Um diese
verschwanden manche von ihnen, wie beispiels-           zu überwinden, wurden Koordination und
weise die (Euro)Kommunistische Partei Italiens          inhaltlicher Austausch auf europäischer Ebene
(PCI), gänzlich von der Bildfläche.                     immer wichtiger. Im Forum der Neuen Europä-
                                                        ischen Linken begann eine gemeinsame Suche
Die sich nach der Auflösung der Blockkonfron-           nach Reformvorstellungen, Aktionsmodellen
tation rasant verstärkende europäische Inte­            und den erfolgreichsten Parteikonzepten für
gration, die Krise klassischer kommunistischer          eine reformierte Linke.

                                                    5
DOMINIC HEILIG
                                                                                                   DIE LINKE IN EUROPA

Tabelle 2: Zäsuren der Linken in Europa

      Sechs Zäsuren                     Zeitraum                           Linke                        Beispiele
Oktoberrevolution und           1914-1923                         Kommunistische Linke          PCP, KKE, KPD, PCE,
Erster Weltkrieg                                                                                u. a.
Prager Frühling                 1968                              Eurokommunistische            PCF, PCI, PCE, KKE
                                                                  Linke                         reform
Neue links-alternative          1970er bis Mitte                  Neugründung linksgrü- IU, Synaspismos,
Linke, linksgrüne               1980er                            ne, linksalternative & Schwedische Linke, SP
Neugründungen                                                     antiautoritäre Linke   Niederlande, SYN
Ende der Blockkon-              1989-1990                         Plurale, demokra-             PDS, PRC, Linksbund
frontation                                                        tisch-sozialistische          Finnland, Rot-grüne
                                                                  Linke & reformierte           Einheitsliste Dänemark
                                                                  Staatsparteien
Europäische Integra-            Ende der 1990er Jahre             Parteiallianzen unter         Bloco de Esquerda, Dei
tion & Antiglobalisie-          bis Mitte der 2000er              Einbindung der glo-           Lénk Luxemburg, PRC,
rungsbewegung                   Jahre                             balisierungskritischen        SYN, IU
                                                                  Bewegungen
Globale Wirtschafts-            ab 2007/2008                      Parteiallianzen unter         Syriza, Podemos, Parti
und Finanzkrise                                                   Einbindung der Anti-          de Gauche
                                                                  Austeritätsbewegung

Zur Jahrtausendwende gründete sich die Euro-                        kratie, soziale Gerechtigkeit, Gleichstellung
päische Antikapitalistische Linke (EAL), die stark                  der Geschlechter und Achtung vor der Natur“
durch trotzkistische und außerparlamentarische                      kämpfen.6 Insbesondere Themen wie die Ver-
Linksparteien geprägt wurde. Ihr gelang es aber                     teidigung des Wohlfahrtsstaates, der Kampf
kaum, politischen Einfluss zu generieren.5 Am                       gegen prekäre Beschäftigungsverhältnisse und
8. Mai 2004 wurde dann in Rom schließlich die                       Arbeitslosigkeit sowie kollektive Sicherheit und
Europäische Linkspartei (EL) gegründet. Sie ver-                    Frieden stehen im Mittelpunkt. Ein weiteres
sucht, eine gemeinsame politische Identität zwi-                    Thema, das 2004 noch nicht im Fokus stand,
schen den Mitgliedsparteien herauszuarbeiten,                       aber heute die Politik der EL-Parteien beein-
ohne dabei die Geschichte und die nationalen                        flusst, sind die Krise des Finanzmarktkapitalis-
politischen Verhältnisse zu ignorieren. In der Par-                 mus und die Austeritätspolitik der EU.
tei herrscht das Konsensprinzip. Zur EL gehören
heute 31 Mitglieds- und offizielle Beobachter-                      Vorschläge der EL zur Überwindung der Krise
parteien an, darunter auch solche aus Ländern,                      werden in erster Linie innerhalb des kapitalis-
die nicht der EU angehören (Türkei, Moldawien,                      tischen Systems gedacht. Darin zeigt sich ein
Weißrussland, Schweiz und Nordzypern). Nicht                        Dilemma: Die Notwendigkeit, konkrete und
in der EL vertreten sind die wichtigen Linkspar-                    zeitnah umsetzbare Konzepte zum Vorteil
teien aus Schweden und Norwegen.                                    breiter Bevölkerungsschichten zu entwickeln,
                                                                    zwingt linke Parteien dazu, ein System zu stüt-
Alle Mitgliedsparteien der EL weisen eine hohe                      zen, das sie eigentlich überwinden wollen. Dies
Kohärenz in Bezug auf ihre Kernthemen auf;                          zeigt sich etwa in der Forderung nach einer
sie wollen gemeinsam für „Frieden, Demo-                            stärkeren Regulierung des Finanzsektors. Die
5   Vgl. Martin Schirdewan: Links – kreuz und quer. Die Be-
    ziehungen innerhalb der europäischen Linken, Berlin             6   Vgl. Programm der EL, verabschiedet am 8. und 9.5.2004
    2009, S. 69.                                                        in Rom, S. 1.

                                                              6
DOMINIC HEILIG
                                                                                     DIE LINKE IN EUROPA

Tabelle 3: Mitgliedsparteien der EL (inkl. Beobachterstatus)

                            Partei                                                 Land
 Bloco de Esquerda                                               Portugal
 Izquierda Unida (IU)                                            Spanien
 Partido comunista de España (PCE)                               Spanien
 Esquerra unida i alternativa (EuiA)                             Spanien (Katalonien)
 Partito dei Comunisti Italiani (PdCI)                           Italien
 Partito della rifondazione comunista (PRC)                      Italien
 Parti de Gauche (PG)                                            Frankreich
 Gauche Unitaire (GU)                                            Frankreich
 Parti Communiste Francais (PCF)                                 Frankreich
 Syriza                                                          Griechenland
 Birleşik Kibris Partisi                                         Zypern
 Yeni Kıbrıs Partisi                                             Zypern
 Ανορθωτικό Κόμμα Εργαζόμενου Λαού (AKEL)                        Zypern
 Özgürlük ve Dayanışma Partisi (ÖDP)                             Türkei
 Българската левица (BL)                                         Bulgarien
 Partidul Socialist Roman (PSR)                                  Rumänien
 Partidul Comuniştilor din Republica Moldova (PCRM)              Moldawien
 Magyarországi Munkáspárt 2006                                   Ungarn
 Komunistická strana Slovenska (KSS)                             Slowakei
 Komunisticka strana Čech a Moravy (KSČM)                        Tschechische Republik
 Strana demokratického socialismu (SDS)                          Tschechische Republik
 Kommunistische Partei Österreichs (KPÖ)                         Österreich
 Partei der Arbeit der Schweiz (PdA)                             Schweiz
 DIE LINKE                                                       Deutschland
 Communist Party Wallonie-Bruxelles (PC)                         Belgien
 Enhedslisten – De Rød-Grønne (EL)                               Dänemark
 Suomen kommunistinen puolue (SKP)                               Finnland
 Vasemmistoliitto (VAS)                                          Finnland
 Eestimaa Ühendatud Vasakpartei (EÜVP)                           Estland
 Belarusian Рarty of the Left “Fair World“ (BSM)                 Weißrussland

Linken wollen der Krise mit einer Umvertei-               Unter den Mitgliedsparteien der EL gibt es acht
lung des Reichtums von oben nach unten, die               Parteien mit mehr als 30 000 Mitgliedern und
Binnennachfrage und Konjunktur ankurbeln                  stabiler parlamentarischer Präsenz. Daneben
soll, begegnen. Der Fokus liegt auf der Forde-            versammelt die EL auch mittelgroße Linkspar-
rung staatlicher Investitionen und der Kritik des         teien mit 8000 bis 17 000 Mitgliedern, die in Par-
Rückzug des Staates von wichtigen ökonomi-                lamenten vertreten sind. Darüber hinaus gibt es
schen und sozialen Aufgaben.                              eine Vielzahl außerparlamentarischer Kleinpar-

                                                      7
DOMINIC HEILIG
                                                                                             DIE LINKE IN EUROPA

teien mit 5000 oder weniger Mitgliedern (wie                      Zuge der 6. Zäsur entstanden. Sie stellt im Unter-
die Deutsche Kommunistische Partei oder die                       schied zur griechischen Schwesterpartei jedoch
Kommunistische Partei Österreichs).7 Ingesamt                     keine linkssozialistische Parteienallianz, sondern
vereint die EL über 500 000 Mitglieder.                           eine Bewegung mit Parteistatut dar.

                                                                  Nicht alle Linksparteien in Europa lassen sich,
Linksparteien in Europa                                           auch aufgrund von parteiinternen Debatten und
                                                                  Flügelauseinandersetzungen, eindeutig zuord-
Die Linksparteien in Europa befinden sich gegen-                  nen. Die dänische rot-grüne Einheitsliste etwa
wärtig in sehr unterschiedlichen Phasen ihrer                     ist aus einer linkssozialistischen Parteienallianz
Entwicklung. Während die skandinavischen Par-                     heraus entstanden, weist programmatisch aber
teien alle ein starkes ökologische Profil haben                   auch Eigenschaften einer linksgrünen Formation
und bemüht sind, übergreifende sozial-ökologi-                    auf. Die nebenstehende Tabelle bietet einen
sche transformatorische Prozesse anzustoßen                       Überblick über die Einordnung der Parteien vor
und nur noch rudimentär die Bezeichnung „sozi-                    dem Hintergrund ihrer Entstehungsgeschichte.
alistisch“ im Namen oder Programm verwenden,
sind andere Parteien, wie die PCF in Frankreich                   Deutlich wird, dass die unterschiedlichen Zäsu-
oder PdCI und PRC in Italien, noch immer stark                    ren zur Ausformung spezieller Typen von Links-
eurokommunistisch (2. Zäsur) geprägt. Der                         parteien führten. Diese füllten eine Lücke der
Bloco de Esquerda (BE) aus Portugal und die SP                    politischen Vertretung, die die jeweils existieren-
der Niederlanden sind stark aktionsorientiert                     den Linksparteien nicht zu besetzen vermochten.
und stellen demokratisch-sozialistische Parteien                  Das bedeutet zugleich, dass es gleichzeitig unter-
dar, die in zwei unterschiedlichen Phasen (SP 3.                  schiedliche Formen von Linksparteien gegeben
Zäsur, BE 5. Zäsur) als Sammlungsparteien der                     hat und gibt, die ihre politische Relevanz im Par-
neuen Linken entstanden sind. DIE LINKE und                       teienwettbewerb nachweisen können.
die KSČM hingegen haben sich im Zuge der
vierten Zäsur (1989-1990) herausgebildet und
                                                                  Im Folgenden sollen vier unterschiedliche Partei-
unterschiedliche Entwicklungspfade eingeschla-
                                                                  formationen vorgestellt werden, die es möglich
gen. Während DIE LINKE den demokratisch-so-
                                                                  machen, die Geschichte der Linken in Europa
zialistischen reformierten staatssozialistischen
                                                                  und ihre Vielschichtigkeit nachzuvollziehen.
Parteien zugerechnet werden kann, gehört die
KSČM zum Lager der Kommunistischen Par-
                                                                  Zunächst werden die griechische „Koalition
teien. Während etwa die Kommunistische Partei
                                                                  der Radikalen Linken“ (Syriza) und ihre aktuel-
Portugals (PCP) eine klassische kommunistische
                                                                  len Herausforderungen als Regierungspartei
Partei ist (1. Zäsur), ist die französische Parti de
                                                                  beschrieben. Syriza ist ein klassisches Parteien-
Gauche (5. Zäsur) eine links-sozialdemokratische
                                                                  bündnis, welches im Zuge der Anti-Austeritäts-
Formation. Als linkssozialistische Parteiallian-
                                                                  bewegungen und -proteste entstanden ist. Den-
zen klassifiziert werden können die spanische
                                                                  noch reicht die Geschichte des konstituierenden
Izquierda Unida (3. Zäsur) oder die griechische
                                                                  Teils – Synaspismos (SYN) – bis zur Spaltung der
Syriza (6. Zäsur), deren dominanter Kern, Syn-
                                                                  Kommunistischen Partei 1968/69 zurück. Syna-
aspismos, in der 2. Zäsur (1968/69) entstand.
                                                                  spismos selbst hat ihren Charakter im Zuge der
Auch die spanische Podemos ist, wie Syriza, im
                                                                  Herausbildung neuer sozialer Bewegungen in
7   Die Mitgliedszahlen müssen freilich immer in Relati-          den 1980er Jahren und der Antiglobalisierungs-
    on zum Bevölkerungsaufkommen in den jeweiligen                bewegung in den 2000er Jahren wiederholt ver-
    EU-Staaten gesehen werden; vgl. Anna Striethorst: Mit-
    glieder und Elektorate von Linksparteien in Europa, in:       ändert. Mit Syriza gelang es schließlich die Ent-
    Daiber u.a., a.a.O., S. 90                                    wicklung von einem Splitterbündnis mehrerer

                                                              8
DOMINIC HEILIG
                                                                                                    DIE LINKE IN EUROPA

Tabelle 4: Untergruppen der Familie der Linksparteien in Europa (GUE/NGL & EL)8

                                                    Linksso-         Linkssozi-              Bewe-       Refor-
                                   Reform-         zialdemo-         alistische Links-grü- gung mit      mierte
                   Kommu-          kommu-          kratische         Parteialli- ne Partei- Parteista- Staatssoz.
                    nisten          nisten          Parteien           anzen        en         tut       Partei
    Beispiele     PCP,            PCF, PdCI,       SP, SDS,          BE, Syriza,   ÖDP, EL,      Podemos       DIE LINKE,
                  KSČM,           PRC, KPÖ,        PdA, PG,          IU, EuiA,     VAS, SF, V                  KSČM, KSS
                  SKP, DKP,       PCE, AKEL        SF, V             GU, DIE
                  PC, KSS,                                           LINKE, EL,
                  PCRM,
                  PSR, BSM
    Alternati- Kommu-             Kommu-           Solidari-         Demo­         Sozialöko-    Basisde-      Demo­
     ve/Weg    nistische          nistische        sche Ge-          kratischer    logische,     mokrati-      kratischer
               Gesell-            Gesell-          sellschaft        Sozia-        feminis-      sche Ge-      Sozialis-
               schaft,            schaft,          mit demo-         lismus,       tische        sellschaft,   mus vs.
               Revolution         revolu-          kratischen        emanzipa-     & nach-       Volksde-      komm.
                                  tionäre          Beteili-          torischer     haltige Ge-   mokra-        Gesell-
                                  Transfor-        gungs-            Prozess       sellschaft,   tische        schaft
                                  mation           strukturen                      Transfor-     Plebiszite
                                                                                   mation
    Koopera-      Avantgar-       relativier-      polit.            breite ges.   rot-grüne     Bündnisse     breite
    tionsfor-     de              te Avant-        Bündnis-          Bünd-         Bündnisse     der Bevöl-    gesell.
      men                         garde            se – Mit-         nisse als     und ge-       kerungs-      Bündnisse
                                                   te-Links          Vorausset-    sellschaft-   schichten     vs. Avant-
                                                   Koalitio-         zung für      liche         gegen         garde
                                                   nen mit           pol. Bünd-    Bündnisse     Oligarchi-    (KSČM &
                                                   Sozialde-         nisse mit                   en            KSS)
                                                   mokratie          Sozialde-
                                                                     mokratie

Kleinstparteien zur größten Oppositions- und                           teritätsparteien. Diese Form der Linken wird in
dann zur Regierungspartei.                                             Spanien durch Podemos repräsentiert, welche
                                                                       in dieser Studie ebenfalls vorgestellt werden soll.
Die spanische Izquierda Unida (Vereinigte Linke,                       Podemos gehört zu den jüngsten Linksparteien
IU) hat ihre Wurzeln in den neuen sozialen, alter-                     in Europa, die keine direkten historischen Vor-
nativen Bewegungen der 1980er Jahre. Einfluss                          läufer hat. Man kann Podemos als Bewegung
auf ihre Politik übt dennoch in hohem Maße die                         mit Parteistatut beschreiben, da sie zwar offiziell
Kommunistische Partei Spaniens (PCE) aus. Im                           als Partei registriert, aber in ihrer Organisation
Unterschied zu Syriza ist die IU nach wie vor eine                     kaum mit klassischen Parteien zu vergleichen ist.
Allianz verschiedener (und teilweise regionaler)
Linksparteien. Auch wenn sie in den Anti-Auste-                        Schließlich soll mit der bundesdeutschen DIE
ritätbewegungen der vergangenen Jahre aktiv                            LINKE eine Partei vorgestellt werden, deren Wur-
war, gehört die IU nicht zu den neuen Anti-Aus-                        zeln in einer reformierten staatssozialistischen
                                                                       Partei des ehemaligen Ostblocks liegen. Zwar
8    Vgl. auch Cornelia Hildebrandt: Fragmentierung und
     Pluralismus von Linksparteien in Europa, in: Daiber u.a.,
                                                                       agiert sie seit der Fusion mit der westdeutschen
     a.a.O., S. 18f.                                                   WASG als gesamtdeutsche Partei, dennoch wer-

                                                                 9
DOMINIC HEILIG
                                                                                   DIE LINKE IN EUROPA

den die programmatischen Inhalte noch immer             samen Identität als Linkspartei arbeitet, setzt die
stark von der Auseinandersetzung mit dem                IU auf die Beibehaltung des Parteienbündnisses.
gescheiterten Sozialismusversuch in Osteuropa           Und während Podemos mehr Bewegung bleiben
geprägt. DIE LINKE gehört zu den stabilsten und         als Partei werden will, tritt DIE LINKE als klassi-
größten Linksparteien in Europa und ist vor die-        sche Parteiformation in den politischen Wett-
sem Hintergrund eine tragende Säule der EL.             bewerb um Mehrheiten. Allen vier Parteien ist
                                                        gemein, dass sie dann erfolgreich sind, wenn sie
Alle vier Parteien thematisieren vergleichbare          Sammlungsprozesse anstoßen und die Pluralität
programmatische Forderungen, begegnen den               der Akteure miteinander verbinden. Im Unter-
aktuellen politischen Herausforderungen aber            schied zu klassischen kommunistischen Parteien
mit unterschiedlichen strategischen und orga-           proklamieren sie keine Avantgarderolle. Dabei
nisatorischen Konzepten. Während Syriza nach            zeigen diese Beispiele auch, dass die Linke in
einem breiten gesellschaftlichen Sammlungs-             Europa wieder eine Rolle beim Kampf um alter-
prozess nun an der Herausbildung einer gemein-          native Mehrheiten spielen kann.

2. Syriza und der europäische linke Frühling

Das Wochenmagazin „Der Spiegel“ verglich                rend der griechischen Militärdiktatur (1967-1974)
ihn einst mit Elvis Presley. Wenn er die Bühne          illegalisierten KP trennte sich 1968 ein später als
betritt, brechen seine Anhänger in Jubel aus –          eurokommunistisch bezeichneter Flügel. Nach
wie Anfang 2015, als Alexis Tsipras vor tausen-         dem Ende der Militärdiktatur entwickelte sich ein
den Sympathisanten in Athen den Wahlkampf               Teil der Eurokommunisten zur undogmatischen
von Syriza einläutete. Während die regierende           und den neuen sozialen Bewegungen nahe ste-
konservative Nea Dimokratia (ND) in einem               henden „Griechischen Linken“ (EAR) weiter. Ende
Konferenzhotel in den Wahlkampf startete, für           der 1980er Jahre, inmitten einer skandalbeding-
die Sozialdemokratie (PASOK) gerade eine Cafe-          ten Krise der sozialdemokratischen PASOK-Re-
teria ausreichte und deren Ex-Chef Papandreou           gierung, formte die EAR mit der marxistisch-leni-
sein Spaltprojekt in einem Museum vorstellte,           nistischen KKE die „Koalition der Linken und des
kannte der Zustrom zu Syriza kaum Grenzen.              Fortschritts – Synaspismos“ (SYN). Obwohl das
Positiv beschrieben wurde Tsipras in den euro-          Wahlbündnis von Anfang an ein fragiles Gebilde
päischen Medien trotzdem selten. Kurz vor der           war, erhielt es 1989 bei der Parlamentswahl 13
Parlamentswahl 2012 bezeichnete ihn das größte          Prozent der Stimmen. Interne Auseinanderset-
deutsche Boulevardblatt „Bild“ als Halbkriminel-        zungen und der Kollaps der Sowjetunion führten
len, der „mit gewalttätigen Anarchisten“ sympa-         1991 wieder zum Bruch, aber undogmatische
thisiere. Auch zu Beginn des Jahres 2015 fielen         Linke und sogenannte KKE-Reformer entschie-
die medialen Beschreibungen für den charisma-           den sich im Jahr darauf, das Bündnis Synaspis-
tischen Parteichef wenig schmeichelhaft aus.            mos in eine Partei umzuwandeln. 1996 gelang
                                                        dieser neuen Formation der Einzug ins Parla-
                                                        ment (Vouli). In den folgenden Jahren rang die
Von Synaspismos zu Syriza                               Partei beständig darum, die geltende Dreipro-
                                                        zenthürde zu überwinden.
Die Gründungstage der griechischen Linkspar-
tei beginnen mit der Spaltung der Kommunisti-           Im Jahr 2000 erfolgte die erste große Spaltung
schen Partei Griechenlands (KKE). Von der wäh-          der Partei. Protagonisten des rechten Flügels

                                                   10
DOMINIC HEILIG
                                                                                   DIE LINKE IN EUROPA

wanderten zur Sozialdemokratie ab, und Synas-           aller linken Kräfte geworben hatte, den Auftrag
pismos rückte weiter nach links. Dies ermög-            zur Regierungsbildung. Seine Versuche scheiter-
lichte es der Partei, weitere linke Gruppen und         ten aber. Tsipras’ Weigerung, eine Koalition mit
die gerade erst in Europa entstehenden globa-           PASOK einzugehen und stattdessen weiterhin
lisierungskritischen Bewegungen einzubinden.            für eine Linksregierung zu werben, ließen die
Kurz vor der Parlamentswahl 2004 wurde so               Umfragewerte für Syriza indessen weiter stei-
zum ersten Mal die „Koalition der radikalen Lin-        gen. Diese sagten ein Kopf-an-Kopf-Rennen mit
ken – Syriza“ gebildet, welche aber nur etwa 3,3        ND für den nun notwendig gewordenen neuen
Prozent der Stimmen errang. Das Wahlbündnis             Wahlgang voraus. Größtes Hindernis für Syriza
zerfiel daraufhin weitgehend. Erst 2007 konnte          sollte aber nicht die ND, sondern eine Beson-
Syriza wiederbelebt werden. Fundament der               derheit des griechischen Wahlsystems sein. Die-
teils weit auseinander stehenden Parteien und           ses spricht der stärksten Partei 50 Bonussitze in
Gruppierungen waren erneut der Kampf gegen              dem gerade einmal 300 Sitze zählenden Parla-
den neoliberalen Umbau Griechenlands und                ment zu. Da nur Parteien und nicht Wahlbünd-
die enge Bindung an neue soziale Bewegungen.            nisse davon profitieren, ließ sich Syriza noch
Trotz der Tatsache, dass auch maoistische und           vor dem Urnengang am 17. Juni 2012 als Partei
trotzkistische Gruppen in Syriza mitarbeiteten,         registrieren. Syriza legte zehn Prozent zu und
blieb Synaspismos stets die tragende Säule              erzielte 26,9 Prozent, verfehlte aber knapp das
des Bündnisses. Trotz einer tiefen EU-Skepsis           Ziel, stärkste Partei zu werden. Die Steigerung
innerhalb des Bündnisses gelang es, den Ver-            des Wahlergebnisses von 4,6 (2009) auf 26,9
bleib Griechenlands in der EU programmatisch            Prozent (2012) ist historisch beispiellos für die
durchzusetzen.                                          Linke in Europa. Dies wurde nur möglich, weil
                                                        es der Linkspartei gelang, aus einem über zwei
Nach dem mit fünf Prozent gestärkten Einzug             Jahrzehnte fragilen Bündnis eine gemeinsame
ins Parlament 2007 schlossen sich weitere linke,        Partei zu formen, ohne den Charakter als brei-
soziale und ökologische Gruppen dem Wahl-               tes politisches Bündnis zu verlieren.
bündnis an. Bei der Wahl 2009 ging der Stim-
menanteil jedoch auf 4,6 Prozent zurück. Der            Gemeinhin wird unter europäischen Linken
immer wieder aufkommende Flügelstreit führte            die Zeit nach dem Syriza-Wahlsieg vom Januar
während der einsetzenden Finanzkrise beinahe            2015 als europäischer linker bzw. roter Frühling
zur endgültigen Spaltung des Bündnisses. 2010           bezeichnet. Meiner Ansicht nach nahm dieser
verließ dann ein großer Teil des rechten Flügels        Frühling allerdings bereits Jahre vor der Regie-
Synaspismos und gründete „als konstruktive,             rungsübernahme seinen Anfang. Das seit vier
linke Opposition“ zu PASOK die „Demokratische           Jahren von einer verheerenden Wirtschafts- und
Linke“ (DimAr). Der Parteiführung um Alexis             Finanzkrise erfasste Griechenland hatte mit den
Tsipras gelang es in der Folge, die neuen Spiel-        Parlamentswahlen vom Mai und Juni 2012 Auf-
räume zu nutzen, Synaspismos weiter zu öffnen           merksamkeit in Europa erregt. Der Grund hier-
und enttäuschte Mitglieder von PASOK, aber              für lag, neben dem Abschneiden der Linken, in
auch von der KKE, für eine Mitarbeit in Syriza          der zunehmenden Fragmentierung des politi-
zu gewinnen.                                            schen Systems und der Unfähigkeit, in Athen
                                                        zu stabilen Mehrheiten zu gelangen. Neu daran
Bei der Wahl am 6. Mai 2012 erhielt Syriza dann         war, dass sich nicht länger die Lager um ND und
mit knapp 17 Prozent den zweitgrößten Stim-             PASOK gegenüberstanden, sondern die Befür-
menanteil. Nachdem Koalitionsversuche der               worter und Gegner der Austeritätspolitk. Die bei-
erstplatzierten ND gescheitert waren, erhielt           den „Volksparteien“ sahen sich mit erstarkenden
Tsipras, der immer für ein gemeinsames Bündnis          politischen Rändern konfrontiert, die zuvor ledig-

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DOMINIC HEILIG
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lich als Legitimationsgehilfen der Demokratie                      stand turnusmäßig zwei Monaten später an. Die
fungiert hatten. Nie waren die kleinen Parteien                    Regierungskoalition, die nach dem Ausschei-
an Koalitionsregierungen beteiligt gewesen, nun                    den von DimAr aus dem Regierungsbündnis
aber brauchte man sie plötzlich. Die Zeiten des                    nur noch über eine knappe Mehrheit verfügte,
bloßen Mehrheitenwechsels zwischen ND und                          ergriff die Flucht nach vorn und zog die Wahl des
PASOK waren vorüber.9                                              neuen Staatspräsidenten vor. Damit wollte man
                                                                   Druck auf die eigenen Abgeordneten auszuüben
Dass die beiden herrschenden Parteien den-                         und gleichzeitig die über den Haushaltsplan ver-
noch zunächst an den Hebeln der Macht blieben,                     ankerte Sparpolitik durchzusetzen. Die Ankün-
lag nicht nur an dem ungeheuren (medialen)                         digung, die Präsidentenwahl vorzuziehen, stand
Druck aus Europa, sondern auch an der Linken                       zudem im Zusammenhang mit der Erklärung der
in Griechenland. Die Linke – die in die drei Par-                  Euro-Gruppe, das „Rettungsprogramm“ verlän-
lamentsparteien Syriza, KKE und DimAr gespal-                      gern zu wollen – sprich: das Land weiter unter
ten war – sah sich nicht in der Lage zu gemeinsa-                  dem Diktat der Troika zu belassen. Dabei hatte
mem Handeln. Vielmehr kultivierten DimAr und                       Samaras noch wenige Wochen zuvor in Aussicht
KKE ihre Abneigung gegenüber Alexis Tsipras                        gestellt, dass die Spardiktate der Troika dem-
und lehnten jede prä- sowie post-elektorale                        nächst ein Ende haben würden.
Kooperation ab. Dass es im Juni 2012 schließ-
lich doch noch für eine Koalitionsregierung aus                    Im den ersten beiden Wahlgängen verfehlte die
ND und PASOK reichte, lag allerdings primär am                     Koalition mit nur 160 bzw. 168 Stimmen die not-
Wahlsystem mit den 50 Bonussitzen für die ND.                      wendige Zweidrittelmehrheit für die Wahl des
Zugleich aber hatte die Wahl gezeigt, dass Syriza                  Präsidenten. Für den dritten und letzten Wahl-
nicht nur Protestwähler erreichte, sondern 27                      gang, bei dem nur noch 180 Stimmen erforder-
Prozent der Wähler hinter einer Anti-Austeritäts-                  lich waren, rechnete Samaras mit einer Zustim-
politik versammeln konnte, die auf Gegenwehr                       mung von Abgeordneten der Parteien DimAr
und auf gestalterischer Verantwortung fußte.                       and ANEL, die laut Umfragen bei vorgezogenen
Dies illustriert zugleich, dass eine neue gesell-                  Neuwahlen nur schlechte Aussichten hatten,
schaftliche Konfliktlinie ins Zentrum der Ausein-                  erneut ins Parlament einzuziehen.
andersetzung in Griechenland gerückt war: die
Austeritäts- und Troikapolitik.                                    Syriza machte zwischen den Wahlgängen deut-
                                                                   lich, dass die Partei auf vorgezogene Neuwahlen
                                                                   bestand. Das griechische Volk müsse zunächst
Syrizas Wahlsieg                                                   die Möglichkeit haben, über die Zukunft des
                                                                   Landes – den Haushaltsplan – abzustimmen.
Die Abstimmung über eine neue Kürzungsrunde
                                                                   Nachdem auch der dritten Wahlgang am 29.
im Haushaltsplan der konservativ-sozialdemo-
                                                                   Dezember 2014 der Koalition nicht die notwen-
kratischen Koalition am 7. Dezember 2014 offen-
                                                                   dige Stimmenmehrheit von 180 Abgeordneten
barte, dass die Regierung von Antonis Samaras
                                                                   erbracht hatte, rief Samaras Neuwahlen für den
(ND) die Unterstützung von 180 Abgeordneten
                                                                   25. Januar 2015 aus.
im Parlament nicht mehr sicher hatte. Diese
Stimmenanzahl ist laut Verfassung notwendig,
                                                                   Der Wahlkampf 2015 dauerte weniger als einen
um einen neuen Staatspräsidenten (im dritten
                                                                   Monat, war aber ausgesprochen intensiv. Wer
Wahlgang) zu wählen, und diese Abstimmung
                                                                   geglaubt hatte, die europaweite mediale und
9   Vgl. Dominic Heilig: Griechenland: Europa streitet wie-        politische Kommentierung des Wahlkampfes
    der über Alternativen, 2012, sowie ders.: Die Parla-
    mentswahlen in Griechenland, 2012, beide www.rosa-             2012 sei intensiv gewesen, der wurde 2015 eines
    lux.de.                                                        Besseren belehrt. Man muss lange suchen, um

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eine Wahl in einem EU-Mitgliedstaat zu finden,             Stichwortgeber für die konservative europa-
die europaweit derart aufmerksam verfolgt                  weite Kampagne waren die konservative Nea
wurde. Positiv gesehen hatte diese Wahl damit              Dimokratia und ihr Regierungschef Samaras.
– weit mehr als die im Jahr zuvor abgehaltene              Sollte Tsipras die Wahl für sich entscheiden,
Europawahl – eine europäische Dimension.                   werde das Land sich isolieren und ohne starke
Nüchtern betrachtet muss man allerdings kon-               Währung dastehen, warnte Samaras. Er betonte
statieren, dass noch nie zuvor ein derart offen-           immer wieder, dass das Land bereits eine
siver Versuch unternommen wurde, von außen                 „weite und schmerzhafte Strecke an Einsparun-
Einfluss auf das Wahlverhalten in einem EU-Land            gen und Konsolidierungen hinter sich gebracht“
zu nehmen. Dies war vor allem dem Umstand                  habe, was sich nun als vergeblich erweisen
geschuldet, dass Syriza in den Umfragen führte,            könnte. Ähnlich formulierte es der deutsche
was den konservativen und sozialdemokrati-                 Finanzminister Wolfgang Schäuble (CDU). Er
schen Eliten in Europa einen gehörigen Schre-              warnte Athen davor, den von der Troika verord-
cken in die Glieder jagte. Sie befürchteten, damit         neten „Reformkurs“ zu verlassen, und verwies
eine symbolische Niederlage für ihre neoliberale           auf die milliardenschweren Anleihekäufe der
Kürzungspolitik zu kassieren, die zudem eine               Europäischen Zentralbank (EZB), die direkt vor
Sogwirkung auf die folgenden Wahlen in den                 dem Wahlsonntag in Athen begonnen hatten.
Krisenstaaten Spanien, Portugal und Irland aus-            Die Kampagne der politischen Rechten basierte
üben könnte. Besonders in Deutschland, dem für             also auf Angstmache und „Weiter so“.
die aktuelle europäische Politik maßgeblichen
EU-Staat, fühlten sich viele Politiker berufen, das        „Syriza bringt die Hoffnung zurück“, war hinge-
Wahlprogramm von Syriza zu kritisieren. Flan-              gen das Motto der Linkspartei. Die Syriza-Kam-
kiert von auflagenstarken Medien drohten Regie-            pagne fußte auf zwei Säulen: dem Kampf um
rungsmitglieder für den Fall eines Erfolges der            Demokratie, das heißt die Rückgewinnung der
Linkspartei mit einem Euroaustritt bzw. einem              Souveränität der Griechen, und einem detail-
Eurorausschmiss Griechenlands („Grexit“).                  liert ausgearbeiteten, aber allgemeinverständ-
                                                           lich formulierten Wirtschaftsprogramm zur
Diese Angriffe erzeugten auch Gegenwehr.                   Überwindung der Krise. Syriza hatte seit der
Europaweit entwickelte sich ein Kampf zwi-                 Parlamentswahl 2012 zahlreiche namhafte
schen den politischen Lagern – Troikabefür-                Wirtschaftswissenschaftler um sich gescharrt
worter vs. Linke – um die Hegemonie im grie-               und ein eigenes Programm für die zukünftige
chischen Parlament. Delegationen prominenter               Regierungsarbeit ausarbeiten lassen.10 Kernfor-
Linkspolitiker reisten zur Unterstützung nach              derung war die Ablehnung des Memorandums
Athen, organisierten Solidaritätsaktionen und              (Troikaverträge) und dessen Ersetzung durch
versuchten, die nationalen Regierungen unter               ein alternatives Wirtschafts- und Sozialpro-
Druck zu setzen, ihre Politik gegenüber Athen              gramm. Dieses Programm basierte auf:
zu korrigieren. Im Zuge dieser Auseinanderset-
zung entwickelte sich erstmals ein europäisches            ⇒⇒ Beendigung der Austeritätspolitik und Wie-
linkes Bewusstsein. Nachdem die EL Alexis Tsi-                dereinsetzung der Kollektivverträge so-
pras bereits 2014 als ihren Spitzenkandidaten                 wie Abschaffung arbeitsrechtlicher Vor-
für das Amt des EU-Kommissionspräsidenten in                  schriften, die durch die Memoranden
den Wahlkampf geschickt hatte, wurde er nun                   eingeführt wurden;
erneut zu ihrem europäischen Kandidaten. Nie               ⇒⇒ Bekenntnis zur Wiederbelebung der Wirt-
zuvor hat der Wahlkampf einer Linkspartei über                schaft, Ankurbelung des Arbeits­marktes
Ländergrenzen hinweg eine solch große Mobili-              10 Vgl. das Interview mit John Milios, in: „Neues Deutsch-
sierung auch ihrer Partnerparteien bewirkt.                   land“, 22.1.2015.

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   und Einführung eines fairen Steuersys-                     Ernüchternd hingegen war das Ergebnis der
   tems sowie eine demokratische Umge-                        ND-Abspaltung ANEL, die, ebenfalls knapp vor
   staltung des verkrusteten politischen Sys-                 PASOK, mit drei Prozent Verlust ins Parlament
   tems;                                                      einzog. Die aus Protest gegen die Troikapolitik
⇒⇒ Streichung des größeren Teils des nomi-                    hervorgegangene wirtschaftsliberale Partei To
   nellen Werts öffentlicher Schulden auf                     Potami blieb hinter den Erwartungen zurück
   einer Schuldenkonferenz;                                   und erzielte sechs Prozent der Stimmen, etwas
⇒⇒ Einbeziehung einer Wachstumsklausel in                     weniger sogar als die Faschisten der „Goldenen
   die Rückzahlung der verbleibenden                          Morgenröte“. Klarer Wahlverlierer war – neben
   Schulden, so dass sie entsprechend der                     DimAr, die aus dem Parlament flog – die bishe-
   Wachstumsrate anstatt mit Haushaltsmit-                    rige konservative Regierungspartei unter Minis-
   teln getilgt werden;                                       terpräsident Samaras.
⇒⇒ Europäischer New Deal für öffentli-
   che Investitionen, finanziert von der                      Syriza aber erzielte 36,3 Prozent und wurde zur
   Europäischen Investitionsbank.11                           stärksten Partei. Damit hatte Alexis Tsipras den
                                                              Wählerauftrag, die erste linksgeführte Regie-
Dem Athener Parlament gehörten seit der Juni-                 rung in der Geschichte der EU zu bilden.
wahl 2012 sieben Parteien an. Mit Ausnahme
von DimAr konnten sich alle Hoffnungen auf
einen Wiedereinzug machen. 2015 traten                        Der europäische linke Frühling ver-
nun insgesamt 22 Parteien an. An der Grenze                   liert seine Blüten
der Parlamentshürde bewegten sich in den
                                                              Die ersten Wochen nach dem Syriza-Wahlerfolg
Umfragen die sozialdemokratische PASOK,
                                                              war die europäische Linke in euphorischer Stim-
deren – vom ehemaligen PASOK-Vorsitzenden
                                                              mung. „Wir sind in Athen gestartet, als nächstes
und Ministerpräsidenten Giorgos Papandreou
                                                              nehmen wir Madrid“, hieß es. Zum ersten Mal
gegründete – Abspaltung KIDISO sowie die
                                                              demonstrierten in den Hauptstädten Europas
Unabhängigen Griechen (ANEL). Die erst 2014
                                                              Linke für und nicht gegen eine Regierung.
gegründete Partei To Potami (Der Fluss) wurde
in allen Umfragen sicher im Parlament gesehen.
                                                              Doch die erste Bewährungsprobe für die neue
                                                              griechische Regierung stand bereits im Februar
Am Wahlabend des 25. Januar 2015 war früh-
                                                              2015 an, als weitere Zahlungen, noch mit der
zeitig klar, dass Syriza stärkste Partei werden
                                                              Vorgängerregierung in einem zweiten Hilfs­
würde. Auch zeichnete sich rasch ab, dass es
                                                              paket ausgehandelt, durch Athen angewiesen
Papandreou mit seiner Abspaltung KIDISO
                                                              werden mussten, wofür wiederum frische Kre-
nicht ins Parlament schaffen und seine ehe-
                                                              dite der Eurozone nötig waren.
malige Partei, die PASOK, mit 4,7 Prozent der
Stimmen ein ganz schwaches Ergebnis einfah-
                                                              Tsipras überstand diese Bewährungsprobe
ren würde. Dies ist gerade noch ein Zehntel
                                                              ebenso wie die linke Kritik in Europa, die sich
der Stimmen, die die einstige Volkspartei nach
                                                              gegen die Auswahl seines Koalitionspartners
dem Sturz der Militärdiktatur in den 1980er
                                                              ANEL sowie dagegen richtete, dass seiner
Jahren sammeln konnte. Selbst die KKE lief mit
                                                              Regierung keine einzige Frau in Ministerrang
5,5 Prozent noch vor PASOK ins Parlament ein.
                                                              angehörte. Mit Blick auf seinen Koalitionspart-
                                                              ner hatte Tsipras allerdings – nachdem die KKE
11 Vgl. das Regierungsprogramm: www.transform-net-            noch am Wahlabend erklärt hatte, als Koaliti-
   work.net/de/fokus/griechenland-entscheidet/news/
   detail/Programm/what-the-syriza-government-will-do.
                                                              onspartner nicht zur Verfügung zu stehen – nur
   html.                                                      wenig Handlungsspielraum. Wollte er nicht sein

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DOMINIC HEILIG
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Wahlversprechen brechen, mit keiner der tra-                     die Geister, die Verhandlungen nahmen eine
genden Parteien des alten Systems zu koalieren,                  zunehmend personalisierte Form an. Wochen-
blieb nur die Zusammenarbeit mit ANEL, einer                     lang wurde zwischen Syriza und den Vertretern
rechtspopulistischen, klerikalen und chauvinis-                  von Internationalem Währungsfonds, Europäi-
tischen Formation. Sie war von Ex-ND-Mitglie-                    scher Zentralbank und EU über eine Verlänge-
dern gegründet worden, die aus Gegenwehr zu                      rung des Kreditprogramms für Griechenland
den Sozialkürzungen der Regierung ihre Partei                    verhandelt. Auf dem ultimativen Treffen der
verlassen hatten. Hier lag denn auch der Mini-                   Eurofinanzminister am 25. Juni konnte letzt-
malkonsens der ungleichen Partner: die Auste-                    lich keine Einigung erzielt werden. EU-Ratsprä-
ritätspolitik zu beenden.                                        sident Donald Tusk sagte auf dem Treffen der
                                                                 Regierungschefs mit Blick auf Athen: „The game
Im Frühjahr versuchte die Regierung Tsipras,                     is over“ – Das Spiel ist aus. Tsipras packte seine
neue Bedingungen für einen Schuldenschnitt                       Koffer. Am folgenden Tag trat Tsipras mit der
mit den Mitgliedern der Eurozone auszuhan-                       Erklärung an die Öffentlichkeit, dass er sich ent-
deln. Viele Linke hegten große Hoffnungen auf                    schieden habe, den Griechen die letzten Bedin-
einen Kurswechsel in Europa, auf eine Alterna-                   gungen der Gläubiger zur Fortsetzung des seit
tive zu Austeritätsdiktat und deutscher Krisen-                  2012 laufenden Kreditprogramms zur Volks-
politik. Angesichts der realen Kräfteverhältnisse                abstimmung vorzulegen. Gleichzeitg bat er die
begann man allerdings schon zu ahnen, dass                       Bevölkerung um ihre Ablehnung, da das vorge-
es zunächst um „Kompromisse des Zeitge-                          legte Papier „schlimmer als das ursprüngliche
winns und des Offenhaltens von Spielräumen“                      Memorandum von 2010“ sei. Das europäische
gehen würde.12 Man habe „mehr verhandelt                         Establishment war entsetzt.
als regiert“, sollte Alexis Tsipras später im Euro-
paparlament erklären. „Unter Umständen des                       Dieses Vorgehen lag aus der Sicht von Syriza
finanziellen Erstickens waren unsere Fürsorge,                   nahe – schließlich ging es der Partei, neben der
unsere Sorge, unsere Überlegung mehr, wie wir                    Bewältigung der Krise im Land, auch um eine
es schaffen werden, die griechische Wirtschaft                   Demokratisierung des europäischen Währungs-
am Leben zu erhalten.“13                                         systems. Dennoch konnte sich der Ministerprä-
                                                                 sident alles andere als sicher sein, ob er eine
Ende Juni jedoch war klar, dass es zu keiner Eini-               Mehrheit für sein OXI (Nein) bekommen würde.
gung zwischen Athen und der Eurogruppe kom-                      Weil sich in den Verhandlungen nichts bewegte,
men würde. Tsipras war den Gläubigern in den                     war die Kritik im eigenen Lager in den Wochen
unzähligen Verhandlungsrunden weit entgegen-                     zuvor lauter geworden. Während einige mehr
gekommen, doch suchten diese gar keinen Kom-                     Zugeständnisse forderten, verlangten andere
promiss. Sie wollten diese Regierung so rasch                    einen härteren Kurs gegenüber Brüssel und
wie möglich wieder loswerden – aus prinzipiellen                 brachten einen Grexit ins Spiel. Viele Menschen
Gründen, aber auch als Signal an andere Krisen-                  in Griechenland vermissten angekündigte
staaten, in denen ebenfalls Wahlen anstanden                     Reformen – diese aber waren für die Regierung
und die Linke immer stärker wurde.                               nur machbar, wenn dafür auch die Grundlagen
                                                                 bestünden, sprich: die Gläubigerbedingungen
Besonders an der Person des griechischen                         geändert würden. Auch innerhalb der EL wuchs
Finanzministers, Yanis Varoufakis, schieden sich                 die Kritik an Tsipras. Alternativen aber formu-
                                                                 lierten seine Kritiker nicht.
12 Tom Strohschneider, Nach dem Frühling, in: ND-Dos-
   sier: Deutsch-Europa gegen Syriza. #ThisIsACoup, 2015,
   S. 3.
                                                                 Was auf die Ankündigung Tsipras’ folgte, glich
13 Zit. nach ebd.                                                dem Januar-Wahlkampf: Europäische Politiker,

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