DIE STÄRKE DER AFD UND DER PARTEI DIE LINKE
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IM FOKUS /// Das Wahlverhalten in den neuen Bundesländern DIE STÄRKE DER AFD UND DER PARTEI DIE LINKE ECKHARD JESSE /// Bei Wahlen schneiden im Osten die Parteien AfD und Die Linke deutlich besser ab als im Westen. Diese größeren Erfolge beruhen nicht nur auf ökonomischen, sondern auch auf kulturellen Faktoren. Beide populistischen Parteien stehen mit Prinzipien des demokratischen Verfassungsstaates auf Kriegsfuß, ohne insgesamt extremistisch zu sein. Am 26. September 2021 finden zum ches gilt wohl für die beiden Parteien, neunten Mal gesamtdeutsche Bundes- mit denen sich dieser Beitrag befasst, tagswahlen statt. Erneut dürfte die Uni- der Alternative für Deutschland (AfD) on die stärkste Kraft sein und Bündnis und der Partei Die Linke. Sie verfügen in 90/Die Grünen im Bund zum ersten den neuen Bundesländern über ein be- Mal die zweitstärkste. Damit ist auch achtliches Wählerpotenzial, wie die Er- die wahrscheinliche Koalition nach der gebnisse der zwei letzten Bundestags- Wahl zur Sprache gebracht. Die SPD und Europawahlen sowie die der siebten und die Liberalen müssten mit einer Serie der Landtagswahlen nachdrück- Oppositionsrolle vorliebnehmen. Glei- lich belegen. 26 POLITISCHE STUDIEN // 497/2021
Quelle: iStock/JesusFernandez32 Wohin führt der Weg? Bei den letzten Wahlen hat Die Linke in den neuen Bundesländern zunehmend Wähler an die AfD verloren.
IM FOKUS Obwohl die AfD erst 2013 entstand, hat auch sie Häutungen durchgemacht. AfD und Die Linke haben in den Gegründet als euro(pa-)skeptische Kraft NEUEN Bundesländern ein starkes unter dem Ökonomen Bernd Lucke, Wählerpotenzial. rückte die Partei unter Frauke Petry (2013-2017) und vor allem unter Alex- ander Gauland (2017-2019) deutlich nach rechts. Das Thema der teils unkon- trollierten Einwanderung stand fortan im Vordergrund. Speziell der (formal AfD und Die Linke im Parteiensystem aufgelöste) „Flügel“ übte heftige Kritik Beide Parteien sind am Rand des politi- nicht bloß an Repräsentanten der etab- schen Spektrums angesiedelt. Mit Blick lierten Kräfte, sondern an der Demokra- auf die sozio-kulturelle Dimension tie selber. nimmt die AfD den Pol des Autoritaris- Die Vorsitzenden der Partei Die Lin- mus ein, Bündnis 90/Die Grünen den ke sind seit 2020 Susanne Hennig- Pol des Libertarismus. Mit Blick auf die Wellsow und Janine Wissler, die der sozio-ökonomische Dimension liegt AfD Jörg Meuthen (seit 2015) und Tino Die Linke beim Punkt „möglichst viel Chrupalla (seit 2019). Wissler und wohl Staat“ an der Spitze, die FDP beim auch Chrupalla nehmen fundamentalis- Punkt „möglichst viel Markt“. Die AfD tische Positionen ein. Bei beiden Partei- verfügt über 32.000 Mitglieder, Die en gibt es extremistische und populisti- Linke über 60.000 – mit jeweils sinken- sche Strömungen.1 Extremistische Kräf- der Tendenz. te lehnen Elemente des demokratischen Die Linke, die Nachfolgepartei der Verfassungsstaates ab, populistische die SED, hat mehrere Häutungen vollzogen. politische Elite. Cum grano salis gilt: Im Dezember 1989 benannte sich die Die AfD verficht einen Nationalpopulis- SED in Sozialistische Einheitspartei mus, Die Linke einen Sozialpopulismus. Deutschlands – Partei des Demokrati- Die AfD ist in den neuen Bundeslän- schen Sozialismus um, im Februar 1990 dern deutlich radikaler als in den alten. fiel „SED“ weg. 2005 schließlich lautete Bei der Partei Die Linke fällt der Befund der Name „Die Linkspartei“, und nach umgekehrt aus. Strukturen dieser Partei dem Zusammenschluss mit der west- (etwa die Kommunistische Plattform, die deutschen Wahlalternative Arbeit & so- Antikapitalistische Linke oder marx21) ziale Gerechtigkeit heißt die Partei seit sind im Verfassungsschutzbericht aufge- Juni 2007 Die Linke. Mit den Namens- führt. Gleiches trifft für Gruppierungen wechseln sind auch weitere Änderungen innerhalb der AfD zu (etwa die Junge Al- verbunden. Längst hat sich Die Linke ternative). Ob für den Verfassungsschutz vom „demokratischen Zentralismus“ die gesamte AfD demnächst unter die der SED losgesagt. Aber das bedeutet Rubrik „rechtsextremistischer Ver- nicht notwendigerweise ein Ankommen dachtsfall“ gerät, steht nicht fest. in der Demokratie. Teilen der Partei fällt Während die AfD für alle anderen eine Ablehnung des diktatorischen Parteien als koalitionsunwürdig gilt, SED-Systems schwer. Dieses gilt für sie trifft dies für Die Linke schon länger nicht als Unrechtsstaat. nicht mehr zu, da die SPD und die Grü- 28 POLITISCHE STUDIEN // 497/2021
nen gewillt sind, mit ihr ein Bündnis einen mächtigen Konkurrenten. Die ein- einzugehen. Sie stellt in Thüringen so- zige Ausnahme: 2002 erreichte die SPD gar den Ministerpräsidenten (seit 2014), in den neuen Ländern mit 39,7 % einen in Berlin (seit 2016) und in Bremen (seit knapp höheren Anteil als in den alten 2019) ist sie Juniorpartner in einer Drei- (38,3 %). Die zupackende Rolle von Bun- er-Koalition. deskanzler Gerhard Schröder bei der Hochwasserflut, die vor allem Branden- burg und Sachsen betraf, und seine os- tentative Absage an ein Engagement im Irak-Krieg dürften dabei eine wesentli- Bei BEIDEN Parteien gibt es che Rolle gespielt haben. extremistische wie populistische Auch die Liberalen und die Grünen Strömungen. erzielten im Westen ein klar besseres Ergebnis. Die Ausnahme von diesem Befund betrifft die erste gesamtdeut- sche Wahl 1990: Das mutige Engage- ment der Bürgerrechtler auf der einen und der „Genscher-Effekt“ auf der an- Unsere Gesellschaft bewertet eine deren Seite sorgten in den neuen Bun- Partei am linken Rand vielfach milder desländern jeweils für ein besseres Re- als eine am rechten Rand. Das hat we- sultat. Liberale und Grüne sind in den sentlich historische Gründe, hängt mit neuen Bundesländern vor allem deshalb dem Zivilisationsbruch durch den Nati- deutlich schwächer, weil sie sich auf onalsozialismus zusammen. Ein demo- eine dort weniger verbreitete Kernklien- kratischer Staat, der glaubwürdig sein tel stützen können. Der Mittelstand ist will, darf weder autoritär gegenüber un- ebenso weniger entwickelt wie ein post- liebsamen Kritikern vorgehen noch mit materialistisches Paradigma. Ökonomi- zweierlei Maß messen. Der Grundsatz sche und kulturelle Gründe erklären der Äquidistanz gegenüber Rechts- und folglich gleichermaßen das „Nachhin- Linksaußen sollte die hiesige Demokra- ken“ dieser Parteien im Vergleich zu tie auszeichnen.2 den alten Bundesländern. Noch stärker springen die Unter- Wahlverhalten im Osten und schiede zwischen Ost und West für die im Westen AfD und Die Linke ins Auge. Hier ist Wer das Abschneiden der Parteien in jeweils ein klar besseres Ergebnis in den den alten und in den neuen Bundeslän- neuen Ländern zu verzeichnen. Dabei dern miteinander vergleicht, erkennt ist Die Linke weiterhin stärker ostlastig eine Reihe von Parallelen, aber auch – als die AfD, wobei die Partei in letzter und vor allem – von Unterschieden. Bei Zeit im Osten Stimmen verliert und im den Wahlen seit 1990 schnitten die Uni- Westen welche gewinnt. Die Wähler- on3 und die SPD im Westen besser ab als schaft der beiden Parteien speist sich aus im Osten. Die wichtigsten Ursachen: In ähnlichen Milieus. Ober- und obere beiden Fällen handelt es sich um originä- Mittelschichten sind unterrepräsentiert, re Westparteien, und die SPD hat in den Unter- und untere Mittelschichten dage- neuen Ländern in der Partei Die Linke gen überrepräsentiert. 497/2021 // POLITISCHE STUDIEN 29
IM FOKUS Kam Die Linke 2013 im Osten prozen- tual auf mehr als viermal so viele Stim- Die Wählerschaft von AfD und Die men wie im Westen, lag der Anteil der Linke kommt überwiegend aus den Ost- gegenüber den Weststimmen bei UNTEREN Schichten. der AfD damals lediglich bei 4:3 (vgl. Tab. 1). Die Linke schnitt 2013 bundes- weit mit 8,6 % fast doppelt so gut ab wie die AfD (4,7 %). Sie war nicht nur im Osten, sondern auch im Westen stärker als die neue Konkurrenz. Diese scheiter- Obwohl in den neuen Bundesländern te bei ihrer ersten Wahlteilnahme an der nur wenig mehr als 15 % der Wähler be- Fünfprozenthürde. 2017 sah das Bild heimatet sind, hat der Osten oft über die ganz anders aus. Die Linke war in den Art der Koalition im Bund entschieden. neuen Bundesländern bloß noch etwas Bei gleichem Wahlverhalten wäre, ohne mehr als zweimal so stark wie in den al- die Stimmbürger in den neuen Ländern ten. Gleiches traf nunmehr für die AfD zu berücksichtigen, 2002, 2005 und zu. Deren Stimmenanteil lag jetzt im 2013 jeweils eine schwarz-gelbe Koaliti- Osten wie im Westen über dem der Par- on zustande gekommen (2002 keine rot- tei Die Linke. Die Zustimmungswerte grüne, 2005 wie 2013 keine schwarz-ro- hatten sich damit innerhalb einer Wahl- te). Insofern ist das oft zu hörende Argu- periode geradezu verkehrt. ment, der Osten sei für den Ausgang we- Was sind die Ursachen für diesen nig wichtig, keineswegs schlüssig. überraschend anmutenden Befund? Zum einen hat die Zuwanderung im AfD und Die Linke bei den Bundes- Jahre 2015 mit mehr als einer Million tagswahlen 2013 und 2017 in den Menschen, zum größten Teil aus musli- neuen Ländern misch geprägten Staaten, der AfD in un- Ein Vergleich bietet sich nur für die letz- geahntem Maße Auftrieb verliehen. ten beiden Bundestagswahlen an, da die Kein Thema konnte ihr willkommener AfD erst 2013 ins Leben gerufen wurde. sein als dieses. Alexander Gauland Tabelle 1: Das Abschneiden der AfD und der Partei Die Linke bei den Bundestagswahlen 2013 und 2017 (in Prozent) 2013 2017 AfD Die Linke AfD Die Linke Ost 5,9 22,7 21,9 17,8 West 4,5 5,6 10,7 7,4 Insgesamt 4,7 8,6 12,6 9,2 Quelle: Zusammenstellung nach den amtlichen Wahlstatistiken 30 POLITISCHE STUDIEN // 497/2021
sprach von einem „Geschenk“4 für die AfD. Die großen Parteien haben den Ängsten weiter Teile der Bevölkerung Die AfD hat bei der letzten nicht ausreichend entgegengesteuert. Bundestagswahl vom MIGRATIONS- Migration berücksichtigt einerseits die THEMA profitiert. sozio-kulturelle Ebene (Vorbehalte ge- genüber dem Multikulturalismus) und andererseits die sozio-ökonomische (Angst um den Verlust des Arbeitsplat- zes). Gerade in den neuen Bundeslän- dern schlugen beide Aspekte durch. Das in den neuen Bundesländern, immer erklärt wesentlich die Stärke der AfD. mehr in das gesellschaftliche System in- Zum anderen konnte Die Linke tegriert6 – daher sahen sich Protestwäh- nicht vom Migrationsthema profitieren. ler bemüßigt, der AfD ihre Stimme zu Zwar hatte ihr Wählermilieu gegenüber geben. Das erklärt wesentlich die dem massenhaften Zuzug von Flücht- Schwäche der Partei Die Linke. In der lingen nach Deutschland, der sich auch Summe wirkte sich dies nicht derart mit dem hiesigen Wohlstand erklärt, negativ aus, weil die Partei mit ihrer ähnliche Vorbehalte. Schließlich war Agenda umgekehrt vom multikulturel- nach der DDR-Zeit der wirtschaftliche len Reservoir in den alten Ländern zu Aufschwung mühselig erarbeitet wor- profitieren vermochte. den. Aber die Parteiführung nahm da rauf wenig Rücksicht und schlug einen AfD und Die Linke bei den betont migrationsfreundlichen Kurs ein. Europawahlen 2014 und 2019 Dies führte bei Teilen des eigenen Elek- in den neuen Ländern torats zur Wahl der AfD. Die Richtung Was für die Bundestagswahlen zutraf, um Sahra Wagenknecht, die vor den gilt in abgeschwächter Form für die Eu- Konsequenzen starker Zuwanderung ropawahlen (vgl. Tab. 2). Im Jahre 2014, gewarnt hatte, konnte sich nicht durch- mithin vor der Massenzuwanderung, setzen.5 Zudem wurde Die Linke, zumal lag Die Linke (7,4 %) bundesweit noch Tabelle 2: Das Abschneiden der AfD und der Partei Die Linke bei der Europawahl 2014 und 2019 (in Prozent) 2014 2019 AfD Die Linke AfD Die Linke Ost 8,3 20,6 21,1 13,4 West 6,8 4,5 8,8 3,8 Insgesamt 7,1 7,4 11,0 5,5 Quelle: Zusammenstellung nach den amtlichen Wahlstatistiken 497/2021 // POLITISCHE STUDIEN 31
IM FOKUS knapp vor der AfD (7,1 %), im Osten politik“ konnten die populistischen klar, im Westen hatte sich das Mehr- Parteien nicht punkten. Ihr eher be- heitsverhältnis umgekehrt. 2019 war die scheidenes Abschneiden lässt sich AfD (11,0 %) bundesweit doppelt so schwerlich mit dem partiellen Bedeu- stark wie Die Linke (5,5 %). Hatte diese tungswandel der Europawahlen ange- in beiden Landesteilen kräftig verloren, sichts des größeren Gewichts durch das konnte die AfD überall zulegen, im Os- Europäische Parlament erklären. Ihnen ten den Anteil gegenüber der letzten kommt nach wie vor der Charakter ei- Wahl sogar mehr als verdoppeln. Insge- ner Nebenwahl zu. samt schnitten die beiden Parteien schlechter ab als bei der Bundestags- AfD und Die Linke bei der jeweils wahl 2017. letzten Serie der Landtagswahlen Das muss zunächst verwundern, in den neuen Ländern denn Europawahlen gelten als „Neben- Die siebte Serie der Landtagswahlen in wahlen“. Diese sind wegen ihrer zweit- den neuen Bundesländern endete 2019 rangigen Bedeutung u. a. durch eine ge- mit dem Urnengang in Brandenburg, ringere Wahlbeteiligung charakteri- Sachsen und Thüringen.9 Sachsen-An- siert, durch ein schwächeres Abschnei- halt und Mecklenburg-Vorpommern den der etablierten Kräfte und ein bes- hatten bereits 2016 zum siebten Mal ge- seres der Rand- bzw. der Kleinparteien.7 wählt. Bei Landtagswahlen spielen bun- Dies traf für die Wahlbeteiligungsquote despolitische Aspekte gleichermaßen zu wie für die Verluste der Etablierten eine Rolle wie landespolitische. Die Ge- (Union, SPD) und Gewinne der Klein- wichtung variiert von Wahl zu Wahl.10 parteien, zumal seit 2014 eine Fünfpro- Der Ausgang von Landtagswahlen mag zentklausel fehlt, nicht jedoch für die ein Indikator für den Ausgang von Bun- Annahmen zur AfD und zur Partei Die destagswahlen sein, muss es aber nicht. Linke. Bei der Europawahl 20198 gab es Die AfD gelangte bei den Wahlen in im Vorfeld heftige interne Auseinander- allen fünf Bundesländern mit einem An- setzungen in den Parteien. Zudem teil von jeweils über 20 % der Stimmen wussten sie jeweils nicht mit spezifi- auf den zweiten Platz (vgl. Tab. 3). Sie schen europapolitischen Themen auf- hat gegenüber der letzten Landtagswahl zuwarten. Beide Faktoren stoppten ei- damit mehr als zehn Prozentpunkte zu- nen Höhenflug des Populismus. Und gelegt. Das beste Ergebnis der AfD bei dem im Vordergrund des Wahl- (27,5 % in Sachsen) übertraf Die Linke kampfes stehenden Thema der „Klima- in Thüringen mit 31,0 %. Sie steigerte sich gegenüber der letzten Wahl um 2,8 Punkte und avancierte damit zur stärks- ten Kraft. Das hiesige Ergebnis wider- spricht insofern herkömmlichen Wahl- Bei der Europawahl 2019 gepflogenheiten, als die PDS bzw. Die konnten die populistischen Parteien Linke immer dann massiv Stimmen ver- THEMATISCH nicht punkten. lor, wenn sie zuvor an einer Regierung beteiligt war (Mecklenburg-Vorpom- mern 2002, Berlin 2006, Brandenburg 2014), allerdings als Juniorpartner. 32 POLITISCHE STUDIEN // 497/2021
Tabelle 3: Das Abschneiden der AfD und der Partei Die Linke bei der jeweils letzten Landtagswahl (in Prozent) im Vergleich zur Landtagswahl zuvor (in Prozentpunkten) AfD Die Linke Sachsen-Anhalt (13.5.2016) 24,3 (–) 16,3 (−7,4) Mecklenburg-Vorpommern 20,8 (–) 13,2 (−5,2) (4.9.2016) Brandenburg (1.9.2019) 23,5 (+11,3) 10,7 (−7,9) Sachsen (1.9.2019) 27,5 (+17,8) 10,4 (−8,5) Thüringen (27.10.2019) 23,4 (+12,8) 31,0 (+2,8) Quelle: Zusammenstellung nach den amtlichen Wahlstatistiken Thüringen ist ein signifikantes Bei- pien des demokratischen Verfassungs- spiel für die Gefahr der Unregierbarkeit. staates nähersteht als Björn Höcke, Lan- Was 2016 in Sachsen-Anhalt durch den des- und Fraktionsvorsitzender der Einzug der Grünen knapp abgewendet Thüringer AfD. Der Erfolg der Partei werden konnte, trat in Thüringen ein. Die Linke im thüringischen Freistaat er- Die Linke und die AfD erzielten mit klärt sich wesentlich mit dem leutseli- 54,4 % der Stimmen eine „negative gen Auftreten des „Landesvaters“, der Mehrheit“, kamen doch die vier genuin alle Anklänge an den Postkommunis- demokratischen Parteien CDU, SPD, mus seiner Partei vergessen macht. An Bündnis 90/Grünen und FDP zusam- sich ist das Ergebnis in Thüringen für men auf lediglich 40,1 %. Der von den Die Linke ein „Ausrutscher“ nach oben. Regierungsparteien (Die Linke, SPD, Denn in den anderen vier ostdeutschen Bündnis 90/Die Grünen) nach einigem Ländern verlor sie jeweils deutlich. In Hin und Her mit der CDU getroffene Brandenburg – hier liegt sie sogar knapp „Stabilitätsmechanismus“ kann nicht hinter den Grünen – und in Sachsen er- der Weisheit letzter Schluss sein. Sollten reichte sie soeben ein zweistelliges Re- die vorgezogenen Neuwahlen, die ersten sultat. Die Partei gilt als etablierte Kraft in den neuen Bundesländern seit 1990, und verliert daher Stimmen an die Kon- datiert auf den 26. September, wieder kurrenz der AfD, die vielfältige Unzu- ein ähnliches Ergebnis wie das letzte zu friedenheit ein- und auffängt. Tage fördern, ist guter Rat teuer. Wie die Ergebnisse, auch die der Erneut vorgezogene Neuwahlen ver- Bundestagswahl 2017, klar signalisie- bieten sich aus Respekt vor dem Wähler. ren, sind CDU und erst recht die SPD in Und was sich ferner verbietet: eine Ko- den neuen Bundesländern keine Volks- operation der CDU mit der Partei Die parteien (mehr).11 Blieb die CDU in Linke, auch wenn in Thüringen Die Lin- Brandenburg und in Mecklenburg un- ke gemäßigter ist als die AfD und Minis- ter 20 %, musste die SPD gar zweimal, terpräsident Bodo Ramelow den Prinzi- in Sachsen und in Thüringen, mit ei- 497/2021 // POLITISCHE STUDIEN 33
IM FOKUS nem einstelligen Ergebnis vorlieb neh- rungen vertreten, weil sich sonst keine men (in Sachsen-Anhalt kam sie knapp anderen Koalitionsvarianten arithme- über 10 %). So schlecht hatte sie zuvor tisch und politisch angeboten haben. bei keiner Landtagswahl in der Bundes- republik abgeschnitten. Die Grünen zo- Wahlprogramme 2021 gen in einen der fünf Landtage nicht ein Im April 2021 hat die AfD ihr Wahlpro- (Mecklenburg-Vorpommern), die Libe- gramm verabschiedet und Die Linke ih- ralen hingegen nur in einen der fünf ren Wahlprogrammentwurf vorgestellt. (Thüringen), und zwar mit einem Das Programm der AfD steht unter dem hauchdünnen Ergebnis, ganze 73 Stim- griffigen Motto „Deutschland, aber nor- men mehr als nötig. mal“, das der Partei Die Linke lautet Um die AfD (und auch Die Linke) ausführlicher: „Zeit zu handeln. Für so- von den Schalthebeln der Macht fernzu- ziale Sicherheit, Frieden und Klimage- halten, sind in den neuen Bundeslän- rechtigkeit“. Formuliert die AfD radika- dern Dreierkoalitionen nach den letzten ler als früher (etwa in den Passagen zur Wahlen dreimal unumgänglich gewor- Europa- und zur Migrationspolitik), zeichnen sich die Aussagen der Partei Die Linke im Vergleich durch eine hohe Kontinuität aus. In mancher Hinsicht sind die Forderungen bei den Parteien CDU und SPD sind in den neuen ähnlich, in anderer Hinsicht geradezu Bundesländern KEINE Volksparteien. gegensätzlich. Der Antrag, den Verfassungsschutz abzuschaffen, kam auf dem Parteitag der AfD nicht durch. Hingegen ist des- sen grundlegende Reform gewünscht. Die Linke will in ihrem Entwurf den den: in Brandenburg, Sachsen und Sach- Verfassungsschutz auflösen und ihn sen-Anhalt. Diese aus der Not gebore- durch eine unabhängige „Beobach- nen Bündnisse repräsentieren aufgrund tungsstelle Autoritarismus und grup- ihrer Heterogenität kein politisches La- penbezogene Menschenfeindlichkeit“ ger und führen zum Verdruss.12 Zudem ersetzen. Diese solle sich um Rechtsext- besitzen kleine Parteien ein überpropor- remismus und religiösen Fundamenta- tional starkes Gewicht in der Regierung. lismus kümmern. Während Die Linke Ein Beispiel: Im Freistaat Sachsen stel- eine jährliche Kürzung des Bundes- len Bündnis 90/Die Grünen (8,6 %) und wehrrats um zehn Prozent anstrebt und die SPD (7,7 %) je zwei Minister, obwohl Auslandseinsätze der Bundeswehr strikt sie zusammen gerade einmal die Hälfte ablehnt, plädiert die AfD für eine Wie- des Stimmenanteils der CDU erhalten derherstellung der Wehrfähigkeit. Die haben. Für Sachsen-Anhalt und Thürin- Pflege eines starken Korpsgeistes wird gen gilt Ähnliches. Die SPD, bei allen angestrebt. Fordert die AfD den Austritt Landtagswahlen gegenüber dem vorhe- aus der EU („Dexit“) und die Gründung rigen Wahlgang massiv „abgestraft“, ist einer neuen Wirtschafts- und Interes- ungeachtet ihrer Schwäche erneut in sengemeinschaft, so beschränkt sich sämtlichen ostdeutschen Landesregie- Die Linke auf deren grundlegende Re- 34 POLITISCHE STUDIEN // 497/2021
form. Sie plädiert für einen „sozialen und ökologischen Systemwechsel in Eu- ropa“. Die AfD befürwortet eine restrik- Die Wahlpräferenz von populistischen tive Migrationspolitik nach japanischem Parteien der Ostdeutschen KORRELIERT Modell (bei der Aufnahme solle der mit ihrer Lebenszufriedenheit. „kulturelle und religiöse Hintergrund ein wichtiges Kriterium“ sein) und lehnt jeglichen Familiennachzug für Flücht- linge ab. Hingegen verficht Die Linke „offene Grenzen für alle Menschen“. Eu- ropa dürfe sich nicht abschotten. schläge – die Rolle der Spitzenkandida- ten eine wahlentscheidende Rolle spielt, Resümee gehört nicht viel Prophetengabe zur fol- Der Befund ist eindeutig: Die Unter- genden Vorhersage: Die Ministerpräsi- schiede im Wahlverhalten springen un- denten Reiner Haseloff (CDU, Sachsen- geachtet vielfältiger „Durchmischun- Anhalt), Bodo Ramelow (Die Linke, gen“ (Millionen Westdeutsche sind Thüringen) und Manuela Schwesig (SPD, nach Ost- und Millionen Ostdeutsche Mecklenburg-Vorpommern) sorgen in nach Westdeutschland gezogen) im 31. „ihren“ Ländern für einen klaren Erfolg Jahr der Wiedervereinigung weiterhin der Richtung, für die sie stehen. Das ost- ins Auge. Wer das konstatiert, nimmt deutsche Elektorat ist weniger parteige- deswegen keine Bewertung vor. Es ist bunden als das westdeutsche. /// Vorsicht geboten, das Wort vom „ge- spaltenen“ Wahlverhalten in negativer Hinsicht überzustrapazieren. Gewiss, populistisch-extremistische Kräfte sind in den neuen Bundesländern bei Wahlen stark. Die paradoxe Folge: Sie tragen einerseits zu einer Delegiti- mierung des politischen Systems bei, andererseits zur Integration politisch Unzufriedener. Wer behauptet, die Bun- /// PROF. DR. ECKHARD JESSE desrepublik Deutschland sei auf dem hatte den Lehrstuhl für Politische Systeme abschüssigen Weg nach Weimar, ver- und politische Institutionen an der TU kennt die Stärke unserer Demokratie. Chemnitz von 1993 bis 2014 inne. Er ist Alarmismus ist nicht besser als Selbstge- (Mit-)Herausgeber des Jahrbuchs Extremis- fälligkeit. Wofür manches spricht: In mus & Demokratie seit 1989. dem Moment, in dem Ostdeutsche sich nicht mehr als „Bürger zweiter Klasse“ fühlen, lässt die Präferenz für rechts- oder / und linkspopulistische Parteien wohl nach. Da in den neuen Bundesländern we- gen wenig entfalteter Parteienidentifika- tion – das erklärt auch die höheren Aus- 497/2021 // POLITISCHE STUDIEN 35
IM FOKUS Anmerkungen 1 Vgl. zusammenfassend: Jesse, Eckhard: AfD und Die Linke – Wieviel Populismus steckt in ihnen?, in: Politische Studien 6/2017, S. 41-51. 2 Vgl. Jesse, Eckhard: Äquidistanz und Hufeisen- modell einerseits, antifaschistischer Konsens und Ausgrenzung andererseits, in: Jahrbuch Extremis- mus & Demokratie, Bd. 32, hrsg. von Uwe Backes, u. a., Baden-Baden 2020, S. 13-40. 3 In den neuen Bundesländern kandidiert nur die CDU. 4 Z itiert nach: Der Spiegel, 12.12.2015. 5 Vgl. jetzt Wagenknecht, Sahra: Die Selbstgerech- ten. Mein Gegenprogramm – für Gemeinsinn und Zusammenarbeit, Frankfurt a. M. 2021. 6 Vgl. die Analyse bereits für die ersten 15 Jahre von Holzhauer, Thorsten: Die „Nachfolgepartei“. Die Integration der PDS in das politische System der Bundesrepublik Deutschland 1990-2005, Berlin 2019. 7 Vgl. Reif, Karlheinz / Schmitt, Hermann: Nine Second-Order National Elections. A Conceptual Framework for the Analysis of European Election Results, in: European Journal of Political Re- search 1/1980, S. 3-44 8 Vgl. Niedermayer, Oskar: Von der „nationalen Ne- benwahl“ zur „europäisierten Wahl“? Die Wahl zum Europäischen Parlament vom 26. Mai 2019, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen 4/2019, S. 691-714; Braun, Daniela / Tausendpfund, Mar- kus: Die neunten Direktwahlen zum Europä ischen Parlament: Rahmenbedingungen, Parteien und Bürger in der Bundesrepublik Deutschland, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen 4/2019, S. 715-735. 9 Das Bundesland Berlin, zum Teil alt, zum Teil neu, wird unberücksichtigt gelassen. 10 Vgl. etwa Baethge, Christopher: Rolle im Bund und Erfolg im Land – eine parteienbezogene Analyse der Landtagswahlen von 1949 bis 2010, in: Zeit- schrift für Parlamentsfragen 3/2011, S. 568-586. 11 Vgl. Traeger, Hendrik: Die Bundestagswahl 2017 in Ostdeutschland: ein Alarmsignal für die Volks- parteien, in: Gesellschaft – Wirtschaft – Politik 3/2018, S. 295-301; Niedermayer, Oskar: Die Mit- te bröckelt, die Ränder legen zu. Die Entwicklung des Parteiensystems nach der Bundestagswahl 2017, in: Gesellschaft – Wirtschaft – Politik 1/2019, S. 49-59; Jesse, Eckhard: Wahlen in den neuen Bundesländern seit 1990, in: Gesellschaft – Wirtschaft – Politik 3/2020, S. 321-331. 12 Vgl. Decker, Frank / Ruhose, Fedor: Koalitionsre- gime in Ländern und Bund. Auf dem Weg in die Kenia-Republik?, in: Gesellschaft – Wirtschaft – Politik 2/2020, S. 195-202. 36 POLITISCHE STUDIEN // 497/2021
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