Die Opfer nicht vergessen - AROLSEN ARCHIVES - WIR IST PLURAL

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Die Opfer nicht vergessen - AROLSEN ARCHIVES - WIR IST PLURAL
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    11.05.2021                                                              aktualisiert: 07.07.2021

    AROLSEN ARCHIVES

    Die Opfer nicht vergessen
    Jugendliche haben drei Wochen lang an einem digitalen Archiv für Nazi-Opfer
    mitgearbeitet – die Initiative ging von dem 21-jährigen Kato Uso aus Minden aus.

    Engagiert: Kato Uso Foto: Archiv

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    Gefunden und gesucht

    Die „Arolsen Archives“ stellen persönliche Gegenstände von KZ-Häftlingen aus.
:
Die Opfer nicht vergessen - AROLSEN ARCHIVES - WIR IST PLURAL
Jeder Name steht für ein Schicksal, für ein Opfer der Mordmaschinerie der
    Nationalsozalisten. Es sind Akten oder Überbleibsel von Häftlingen und KZ-
    Insassen. Juden, Sinti und Roma, Menschen mit Behinderung oder Homosexuelle –
    oder Personen, die der NS-Diktatur einfach missliebig waren. Millionen dieser
    Hinweise zu NS-Opfern lagern in den „Arolsen Archives“, einer internationalen
    Dokumentationsstelle im hessischen Bad Arolsen. Das Problem: Viele Opferakten
    sind zwar eingescannt, aber nicht online abrufbar. Mit der Initiative
    „#everynamecounts“ rufen die Arolsen Archives alle Interessierten dazu auf, sich
    an der Digitalisierung der Opferakten zu beteiligen – und stießen dabei bei
    gesellschaftlich engagierten Schülern auf Resonanz.

    Rund 150 Stipendiaten der „START-Stiftung“, die Schüler mit
    Migrationshintergrund in ihrem gesellschaftlichen Engagement fördert, beteiligten
    sich von Ende März bis Mitte April unter dem Motto „#start2remember“ an der
    Digitalisierungsaktion. Mehrere tausend Dokumente haben sie bearbeitet. Nach
    einer Überprüfung durch die Arolsen Archives sollen sie bald online abrufbar sein.

    Erschüttert von den Taten
    Die Idee zu der Aktion hatte der 21-jährige Kato Uso aus dem westfälischen Minden.
    Der Schüler hat am 27. Januar, dem Holocaust-Gedenktag, die Rede der früheren
    Präsidentin des Zentralrats der Juden, Charlotte Knobloch, im Bundestag verfolgt.
    „Ich dachte mir, ich muss mich jetzt noch mehr damit beschäftigen, was denn
    überhaupt mit den Menschen damals passiert ist“, erzählt der junge Mann im
    Gespräch mit der „Tagespost“.

    „Die Taten des Nationalsozalismus haben mich immer erschüttert, und ich habe
:
mich immer gefragt, mit was für einem Menschenverstand man solche Taten
    begehen konnte.“ Gleich nach der Veranstaltung hat er in sozialen Netzwerken
    recherchert, sich Postings zum Holocaust-Gedenktag angeschaut. Dabei stieß er auf
    die Arolsen Archives und deren Aufruf, bei der Digitalisierung von Opferakten
    mitzuhelfen. „Das ist ein Herzensprojekt von mir geworden“, erzählt Kato Uso.
    Sogleich hat er mit der Organisation Kontakt aufgenommen und angefragt, ob sie
    mit der START-Stiftung kooperieren wollen. In Bad Arolsen stieß das Angebot
    gleich auf große Zustimmung, wie Uso berichtet. „Die waren total begeistert, haben
    ihre volle Unterstützung ausgesprochen.“

    Die Erinnerung bleibt
    Gut drei Wochen lang saßen rund 150 Schülerinnen und Schüler daheim vor ihren
    Computern, trugen die Namen von NS-Opfern in eine Datenbank ein. Für die
    Angehörigen dieser Menschen, die bis heute nicht wissen, was mit ihren Vorfahren
    passiert ist, kann diese Datensammlung eine große Hilfe sein. „Wenn etwas online
    ist, dann bleibt es da für immer“, meint Kato Uso. „Es ist dann für alle
    nachfolgenden Generationen abrufbar und nicht mehr wegzudenken.“ Denn, so
    betont der junge Mann, es sei etwas anderes, ob man einfach einen Namen eingibt
    und Informationen bekommt, oder ob man erst bei den Arolsen Archives
    nachfragen muss.

    Die Opfer haben Gesichter und Namen bekommen
    Doch auch den Schülern selbst hat die Aktion etwas gebracht: Ihr Blick auf den
    Nationalsozalismus hat sich verändert, ist konkreter geworden. In der Schule geht
    es meist um Fakten, man lernt die Opferzahlen oder die Mechanismen der
    Herrschaft – hier bekamen die Opfer ein Gesicht, einen Namen. „Man versteht die
    Schicksale der Menschen besser – und man fragt sich: Wieso musste diese Frau,
    dieses kleine Mädchen sterben?“ Uso fand in den Akten auch Gleichaltrige und
    fragte sich: „Ich bin jetzt genauso alt, wäre ich eigentlich auch dort gelandet?“ So
    habe er bei der Arbeit mit den Akten manchmal Gänsehaut bekommen, erzählt der
    Schüler.

    „Die Menschen waren da, um umgebracht zu werden“, stellt er erschüttert fest. In
    den Akten sei nirgendwo ein Befreiungsdatum eingetragen, auch nicht bei den
    Überlebenden. „Es waren Menschen in meinem Alter dabei, wo ich mich gefragt
    habe, warum eigentlich“, erinnert sich der 21-Jährige. In manchen Akten habe
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beispielsweise gestanden, „er hat sich auf der Arbeitsstelle widersetzt“. Heute, so
    meint Kato Uso, könnten wir eine Arbeit oder Ausbildung einfach beenden, wenn sie
    uns nicht gefalle. Damals seien die Menschen gezwungen gewesen, für die Leute,
    die sie gepeinigt haben, auch noch zu arbeiten. „Das hat mich am allermeisten
    betro!en gemacht, dass die Menschen dennoch arbeiten mussten, damit sie nicht
    umgebracht werden.“

    Eine Sache der Menschlichkeit
    Aus dem Schulunterricht brachte Uso ein unterschiedlich starkes Vorwissen mit,
    wie er erzählt. 2014 kam er aus Syrien nach Deutschland. Auch dort sei der
    Holocaust ein Thema im Unterricht gewesen, aber nicht so intensiv wie hierzulande
    – obwohl wenige hundert Kilometer entfernt in Israel zahlreiche Überlebende der
    Shoah zuhause sind. Wichtig ist ihm insbesondere – und darauf legt er großen Wert
    – dass die Auseinandersetzung mit verfolgten und entrechteten Menschen nichts
    mit seiner persönlichen Fluchtgeschichte zu tun habe. „Es ist eine Sache der
    Menschlichkeit“, sagt Kato Uso. „Ich setze mich nicht als Geflüchteter, sondern als
    deutscher Bürger dafür ein, dass die Erinnerungskultur nicht vergessen wird.“

    Es mache keinen Unterschied, ob man geflüchtet sei oder nicht, sondern dass man
    aus der Geschichte lerne. Durch seine Flucht hat er ein paar Schuljahre verpasst, das
    Wirtschaftsabitur will er im kommenden Jahr ablegen. Danach, so berichtet er, wird
    es ihn vermutlich in die Wirtschaft ziehen. Die o"zielle Politik sei nichts für ihn,
    sondern die – wie er sie nennt – „echte Politik“, das Engagement für die
    Gesellschaft.

    Nächstenliebe ist wichtig
    Und da hat Kato Uso neben dem Projekt „#start2remember“ bereits einige weitere
    Dinge angestoßen. Aufgewachsen in einem Mindener Stadtteil mit wenigen
    Sportvereinen, trainiert er inzwischen Kinder in einem Projekt namens „O!ene
    Sporthalle“, organisiert Fußballturniere und bringt sich als Jugendvertreter für das
    Sport- und Bewegungsangebot in der Stadt ein. An seinem Berufskolleg ist er
    Schülersprecher, und bei der START-Stiftung amtiert er als Regionalsprecher für
    Nordrhein-Westfalen. „Ich finde, es muss immer Menschen geben, die sich
    einsetzen, und es Leute gibt, die in dem Moment diese Hilfe brauchen“, betont der
    junge Mann.
:
„Und wenn diese Leute diese Hilfe bekommen, werden sie eines Tages auch diese
    Hilfe jemand anderem zurückgeben.“ Mit seinem Glauben – Uso ist Jeside – habe
    das Engagement jedoch nichts zu tun. Es gehe ihm um eine allgemein menschliche
    Perspektive. „Ich verstehe Menschlichkeit so, dass man sich für jeden einsetzt“,
    sagt Kato Uso. Doch er schätzt beispielsweise am Christentum die Forderung nach
    Nächstenliebe. „Das kann auch bedeuten, dass man einem anderen hilft mit seinem
    Engagement.“

    Und er ruft auch andere Menschen zum Engagement auf, insbesondere für die
    Aktion „#everynamecounts“. Es sei nur eine Sache von ein paar Minuten, die Akten
    eines NS-Opfers zu digitalisieren. Doch dann, so betont er, habe man schon ein
    Zeichen gesetzt, dass einzelne Schicksale nicht vergessen werden.

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    AUTOR

     Oliver Gierens

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