GESCHICHTE - Die Politische Meinung - Konrad-Adenauer-Stiftung
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Die Politische Meinung Nr. 551, Juli/August 2018 Geschichte – was lehrt sie noch ? GESCHICHTE Was lehrt sie noch? ZUM SCHWERPUNKT Norbert Lammert, Erinnern als Aufgabe; Horst Möller, Drohender Identitätsverlust?; Ursula von der Leyen, Tradition und Traditions- pflege in der Bundeswehr; Lamya Kaddor, Was muslimische Jugendliche über deutsche Geschichte wissen sollten INTERVIEW Felix Klein über das neue Amt des Antisemitismus-Beauftragten Die Politische Meinung KOMMENTIERT Axel Reitel, Über die Freiheit und ihre Abgründe im ehemaligen Geltungsgebiet der DDR ERINNERT Herfried Münkler, Der Dreißigjährige Krieg und das kollektive Gedächtnis der Deutschen 9 €, Nr. 551, Juli/August 2018, 63. Jahrgang, ISSN 0032-3446, www.politische-meinung.de
Editorial Bernd Löhmann, Chefredakteur K ann eine Nation Phasen oder Ereignisse der eigenen Geschichte verdrängen, wenn sie das nationale Selbstwertgefühl belasten? Sigmund Freud würde antworten: Krank wird, wer verdrängt; „Berlin würde sich am Ende Weimar nähern“, warnte der stets mit größter Bedachtsamkeit formulierende Hans Maier die im Asylstreit entzweite Union. Friedrich Nietzsche jedoch: Gesund ist, wer vergisst. Der Bruch ließ sich abwenden, doch beunruhigt, dass es überhaupt zu dieser Horst Möller, Historiker Zuspitzung kommen konnte. Eine Union „am Abgrund“ (Wolfgang Schäuble) ist Symptom einer Gegenwart, in der historisch-politische Selbstverständlichkeiten ins Wanken D ie Herausforderung des Populismus betriff t im Bereich der Wissenschaft vielleicht kein Fach so sehr wie die Geschichte. Martin Schulze Wessel, Historiker geraten. Die Mahnung mit Weimarer Verhältnissen wirkt zwar noch, aber sie hat offenbar an Schrecken verloren. Ermüdungsrisse zeigen auch die aus den Erfahrungen der Weltkriege und Diktaturen gegossenen Grundfesten der Bundesrepublik Deutschland und der Europäischen Union – Menschenrechte, Friede, Freiheit, Solidarität. Allzu mechanisch beschworen, werden sie inzwi- N ationalismus auf Kosten anderer sowie die Unfähigkeit, mit den dunklen Seiten der eigenen Geschichte umzugehen, schaffen eine Atmosphäre, in der es der jüdischen Bevölkerung schen hämisch infrage gestellt. „Gutmenschen“ und „gute Europäer“ stehen bisweilen als Gestrige da; „Wutmenschen“ glauben sich im Besitz der Zukunft. In allen europäischen Staaten treten Kräfte hervor, die beleben, was weit schwerer fällt, beruhigt zu leben. vermeintlich überwunden war: Ausgrenzung, Nationalismus und Verachtung Deidre Berger, Direktorin des American Jewish Committee Berlin der repräsentativen Demokratie. Skrupel schwinden, der Tabubruch – jüngs- tes Stichwort: „Vogelschiss“ – wandelt sich vom verräterischen Ausraster zum routinierten populistischen Instrument. F ür junge Menschen insbesondere mit einem außereuropäischen Migrationshintergrund lassen sich die Geschehnisse der deutschen Geschichte allzu leicht als irrelevant für ihr eigenes historisches Allenthalben werden unverhohlen Hassbotschaften geäußert und fin- den über das Internet enorme Verbreitung. Wieder betrifft es Juden in beson- derer Weise. Josef Schuster, Präsident des Zentralrates der Juden in Deutsch- Empfinden abtun. land, beklagt eine neue „Sichtbarkeit“ des Antisemitismus, angefacht nicht Lamya Kaddor, muslimische Religionspädagogin zuletzt durch Muslime, die von Hass auf Israel getrieben sind: Mobbing gegen jüdische Schüler, etliche judenfeindliche Übergriffe auf den Straßen … Das entschlossene „Nie wieder!“, das die Erfolgsgeschichte der Bundes- D ie besten Demokratieförderprogramme, die Witz hatten, … hießen kurz gefasst „Prager Frühling“, Alexander Solschenizyn, Wolf Biermann, Bettina Wegner, republik begründet hat, erodiert. Zwar ist das 20. Jahrhundert längst zu Ende, doch darf deshalb die Imprägnierung gegenüber autoritären Sehnsüchten, die nach 1945 erreicht worden ist, schwinden? „Solidarność“ und natürlich andere. Nicht wenige der hochbetagten Überlebenden aus den Konzentrations- Axel Reitel, Journalist und Schriftsteller lagern äußern sich resigniert. Ihre Hoffnung, dass die Welt aus ihrer Erfah- rung lerne, sehen sie enttäuscht. In einer Zeit, in der Selbstverständlichkeiten wanken, ist eines gewiss: An der aktiven Verbundenheit mit denen, die unsag- A uch zum Vermeiden von Fettnäpfchen studieren wir Geschichte. Und das ist weit weniger banal, als es sich anhört. bar gelitten haben, erweist sich damals wie heute das Gelingen der demokrati- schen Ordnung. Wie 1945 sind auch 2018 als Erstes die Unionsparteien in der Pflicht. „Klarheit schaffen und Orientierung geben“ (Hans Maier) – darin liegt Alexander Brakel, Leiter des Auslandsbüros der ihre historische Leistung, vor allem aber ihr Auftrag. Konrad-Adenauer-Stiftung in Jerusalem 1
Inhalt 1 EDITORIAL 52 INTERVIEW: 94 LERNENDE SYSTEME Erinnert „KEINE FEIGENBLATT Marie-Luise Recker SCHWERPUNKT FUNKTION“ Reflexion über die deutsche Parlaments- 104 DER DREISSIGJÄHRIGE Felix Klein über das neue Amt des geschichte KRIEG Geschichte – A ntisemitismus-Beauftragten Herfried Münkler 99 DIE NÄCHSTE GROSSE was lehrt sie noch ? 57 ANGRIFF AUF DIE D EBATTE? Das kollektive Gedächtnis der Deutschen und die jüngsten Kriege G ESCHICHTE Ulf Morgenstern 14 ERINNERN ALS AUFGABE Martin Schulze Wessel Über die neue Relevanz der deutschen 110 DEUTSCHES ARMAGEDDON? Norbert Lammert Populismus versus kritisches Geschichts- Kolonialgeschichte Hilmar Sack Ein Plädoyer für die staatliche bewusstsein Der Dreißigjährige Krieg und die Verantwortung 63 GEGEN OPFERKONKURRENZ Gelesen Deutschen im 19. Jahrhundert 19 DROHENDER IDENTITÄTS- VERLUST? Lamya Kaddor Was muslimische Jugendliche über die 27 SEIN LETZTES DICKSCHIFF Impulse Horst Möller Jacqueline Boysen deutsche Geschichte wissen sollten Entwicklung und Perspektiven Die Lebenserinnerungen von 120 DIE ZUKUNFT DER der deutschen Erinnerungskultur Hans-Peter Schwarz W IRTSCHAFTS- UND 70 „UNSERE“ GESCHICHTE WÄHRUNGSUNION Ulrich Bongertmann 31 INTERVIEW: 116 „MARKE BIBI“ Christian Calliess Geschichtsunterricht im Integrationsland KEINE VERLÄSSLICHE Bastian Matteo Scianna Bausteine eines Package Deals zur Deutschland P ROPHYLAXE Benjamin Netanjahu im Lichte neuer Reform des Euroraums Deidre Berger, Direktorin des American Biographien 74 INTERVIEW: Jewish Committee (AJC) Berlin, über TRAUMA DER POLNISCHEN Aus der Stiftung die Erinnerungskultur des Holocaust und Antisemitismus in Europa NATION Kommentiert Zeithistoriker Włodzimierz Borodziej 124 NEUERSCHEINUNGEN über polnische Erinnerungskultur und 79 SCHALES UND PERSONALIA 37 TRAGISCH VERBUNDEN europäische Geschichte REVOLUTIONSGLÜCK Shlomo Avineri Axel Reitel Deutsche Erinnerung aus israelischer 84 UNSAGBARKEIT? Über die Freiheit und ihre Abgründe im 126 FUNDSTÜCK Perspektive Michael Braun ehemaligen Geltungsgebiet der DDR Literatur in der Empörungsdemokratie 42 NEUER ERLASS ALS KOMPASS 88 GESCHICHTE UND HEIMAT = Ursula von der Leyen HEIMATGESCHICHTE? Tradition und Traditionspflege in Guido Hitze der Bundeswehr Pläne für ein „Haus der Geschichte Nordrhein-Westfalen“ 47 DIESES MAL IST ALLES ANDERS! Alexander Brakel Vom (begrenzten) Nutzen der Geschichte 2 Die Politische Meinung 3 Nr. 551, Juli/August 2018, 63. Jahrgang
Geschichte — „Grüße aus Auschwitz“ Was lehrt sie noch ? Die verstörende Postkartensammlung des polnischen Künstlers Paweł Szypulski Auschwitz, auf polnischem Territorium gelegen, markiert den Tiefpunkt der deutschen Geschichte und ist das Symbol unserer historischen Erinnerung schlechthin. Es war das größte nationalsozialistische Konzentrations- und V ernichtungslager. Hier ermor- dete die SS über eine Million Menschen, neunzig Prozent waren Juden. Paweł Szypulski sammelt historische Ansichtskarten – die älteste entstand 1947, also nur zwei Jahre nach der Befreiung des Lagers –, die die Stätten des Grauens zeigen. Einst wurden die Karten von Touristen, die das Lager besuchten, an Familienangehörige, Nachbarn und Freunde verschickt – ohne dass die übermittelten Grüße und Wünsche etwas von dem Schrecken des Ortes erkennen ließen: „Alles ist bestens, ich vermisse nur Dich und die Sonne.“ Die Postkarten dokumentieren den Unwillen oder das Unvermögen, die allzu onströse Erinnerung bis in die eigene Lebenswirklichkeit hinein zuzulassen. m Zwar sind die Karten historisch, aber die Frage, die sie aufwerfen, bleibt höchst aktuell: „Was hat das mit mir zu tun?“ Fotos: © Paweł Szypulski, „Greetings from Auschwitz“, Edition Patrick Frey, 2015 4 Die Politische Meinung 5 Nr. 551, Juli/August 2018, 63. Jahrgang
Schwerpunkt Die Gegenwart ist nicht nur, aber doch wesentlich das Produkt der Vergan- genheit, und die Zukunft ist nur schwer zu bewältigen ohne Bewusstsein für das, was früher war. Die Identität eines Menschen wird wesentlich durch des- sen Herkunft bestimmt. Für die Identität von Völkern und Nationen gilt das in ähnlicher Weise. Aus der Art, wie sich eine Gesellschaft und ein Staat zur eigenen Geschichte verhalten, lassen sich durchaus Rückschlüsse auf das je- weilige Selbstverständnis ziehen – und wenn das für eine Nation ganz sicher gilt, dann für unsere. Dass dies für uns Deutsche in der Wahrnehmung unse- rer Nachbarn ein geradezu prägender Aspekt des Verhältnisses ist, wurde hin- reichend häufig und zu Recht beschrieben. Nach meinem Kulturverständnis ist der Staat nicht für Kunst zustän- dig, wohl aber für die Bedingungen, unter denen sie stattfindet. Welche Bü- Erinnern als cher geschrieben, welche Theaterstücke inszeniert, welche Bilder gemalt wer- den, geht den Staat nichts an. Er muss aber ermöglichen, dass die Kreativität der Künste sich entfalten kann, wenn er ein Kulturstaat sein will. Nach die- Aufgabe sem Verständnis ergibt sich ausdrücklich keine inhaltliche Kompetenz des Staates für Kunst und Kultur. Lediglich für einen einzigen Bereich der Kul- turpolitik reklamiere ich sie dagegen ausdrücklich: die sogenannte „Erinne- rungskultur“! Insofern reden wir, wenn wir über Erinnerung im Allgemeinen und Erinnerungskultur im Besonderen sprechen, immer auch über staatliche Ein Plädoyer für die staatliche Verantwortung Verantwortung. Der Staat kann und darf sich aus dem gesellschaftlichen Nachdenken, Entwickeln und Weiterentwickeln des eigenen Selbstverständnisses nicht he- raushalten. Er muss sich zur eigenen Geschichte verhalten. In der Art, wie er das tut oder verweigert, prägt er die Erinnerungskultur der Gesellschaft. NORBERT LAMMERT Geboren 1948 in Bochum, Sozial Jedenfalls mit Blick auf die Vergangenheit ANFANG UND ENDE DER GESCHICHTE wissenschaftler, 1998 bis 2002 könnte die Politik es sich leicht machen und kultur- und medienpolitischer dem englischen Historiker Eric Hobsbawm Sprecher der CDU/CSU-Bundes- folgen. Für ihn hat Geschichte in Politiker- Seit geraumer Zeit sind sowohl ein vermeintlich neues Interesse an Geschichte tagsfraktion, 2005 bis 2017 hand nichts zu suchen. „Die beste Form der zu beobachten als auch regelmäßige Klagen über einen erschreckenden Man- Präsident des Deutschen Bundes Vergangenheitsbewältigung“ sei, „die Vergan- gel an historischen Kenntnissen zu vernehmen. Für beides gibt es Belege. Wir tages, seit 2018 Vorsitzender genheit hinter sich und die Geschichtsschrei- haben in Deutschland eine bemerkenswerte Zahl von teils sehr aktiven Ge- der Konrad-Adenauer-Stiftung. bung ganz den Historikern zu überlassen.“ schichtswerkstätten. Autobiographische Bücher sind mit bemerkenswerter Diese prägnante Bemerkung bestätigt zwar Regelmäßigkeit auf Bestsellerlisten zu finden. Historische Ausstellungen ha- die Hobsbawm nachgesagte Freude an einer auffälligen Pointe. Sie unter- ben eine beachtliche Konjunktur und oft auffallend überdurchschnittliche schätzt aber die fundamentale Bedeutung von Vergangenheitsbezügen nicht Zuschauerzahlen. In Filmen werden historische Stoffe wiederentdeckt. Im nur im Allgemeinen, sondern insbesondere für die Konstituierung und Legi- Fernsehen gibt es für erzählende Dokumentationen historischer Ereignisse timierung politischer Ordnungen. Staatliches Handeln vollzieht sich aus- den Begriff des „Histotainment“. nahmslos in historischen Kontexten. Auch die Wahrnehmung staatlichen Doch ich zögere, wenn ich von einem vermeintlich neuen Interesse an Handelns vollzieht sich zwar nicht immer, aber doch vergleichsweise häufig in der Geschichte lese. Ich habe den Eindruck, dass die Wahrnehmung dieses historischen Kontexten – was für eine sorgfältige, sehr differenzierte Behand- Interesses vielleicht neuer ist als das Interesse selbst. Ich bin nicht sicher, dass lung dieses Themas spricht, besonders aus deutscher Perspektive. es ein nachhaltiges Interesse ist; dass es über die offenkundig ausgeprägte 14 Die Politische Meinung 15 Nr. 551, Juli/August 2018, 63. Jahrgang
Schwerpunkt Erinnern als Aufgabe, Norbert Lammert spontane Neigung, sich mit historischen Sachverhalten zu beschäftigen, hin- durch unsere Nachbarn nieder. Dass unser Land überhaupt wieder gleich aus ein nachhaltiges Auf- und Einarbeiten historischer Wahrnehmungen in berechtigt in die europäische Völkerfamilie aufgenommen wurde, ist ohne aktuelle Lebensbezüge diesseits und jenseits der Politik gibt. Denn so richtig unsere konsequente, gründliche und im Wortsinn rücksichtslose Befassung der Hinweis auf Literatur und Ausstellungen, Filme und andere einschlägige mit der eigenen Geschichte nicht erklärbar. Darstellungsformen ist, so einschlägig sind leider auch die Untersuchungen, die das historische Wissen beziehungsweise Nichtwissen nachwachsender WAS IST ERINNERUNGSKULTUR? Schülergenerationen belegen. Die jüngere deutsche Geschichte erzeugt häufig eher ein Bedürfnis nach Distanz gegenüber dem eigenen Land und der eigenen Geschichte als Es gehört zu den besonders delikaten Aufgaben sowohl für Historiker als einen spontanen Wunsch nach Identifikation. Dafür wird man mit Blick auf auch für staatliche Institutionen, in ihrem jeweiligen Umgang mit histori- den besonderen Verlauf der deutschen Geschichte zumindest Verständnis schen Entwicklungen und Ereignissen weder die Handschriften zu über aufbringen müssen. Jedenfalls erklärt es ein wenig den in den meisten unserer sehen, die Persönlichkeiten für diese Entwicklungen und Ereignisse beigetra- Nachbarländer sehr viel unkomplizierteren Bezug der Bürger zur eigenen Ge- gen haben, noch die großen geschichtlichen Linien hinter solchen Köpfen schichte im Vergleich zu Deutschland. Vielleicht hat dieses Bedürfnis nach verschwinden zu lassen. Denn Geschichte ist immer beides: Sie lässt sich we- Distanz aber auch mit der verständlichen und dennoch unzulässigen Verkür- der von den handelnden Personen lösen, noch lässt sie sich allein durch die zung der Wahrnehmung deutscher Geschichte zu tun. Sie hat weder 1933 be- jeweils Handelnden hinreichend erklären. gonnen, noch war sie 1945 zu Ende. Und auch die heimliche oder besser un- Seit dem Tode Helmut Kohls wird viel darüber nachgedacht und ge- heimliche Variante der umgekehrten Verkürzung führt zum gleichen Befund: schrieben, ob denn der Prozess der Wiedervereinigung ohne seine besondere Die deutsche Geschichte hat nicht 1945 erst begonnen, nachdem sie 1933 Persönlichkeit so stattgefunden hätte. Beachtlich ist, dass es in den bald vermeintlich zu Ende gegangen war. Wir befinden uns immer in der Konti d reißig Jahren nach diesen Ereignissen eine inzwischen weitverbreitete Ver nuität einer Geschichte, die nicht nur viel komplizierter ist als manch andere, mutung gibt, dass sich der Ablauf der Ereignisse ohne seinen persönlichen sondern auch länger, vielfältiger und vielseitiger, als sie in der Regel wahr Beitrag nur schwer vorstellen lässt. So, wie – ohne dass ich dieses Beispiel genommen wird. überstrapazieren möchte – die Gründung des deutschen Nationalstaates ohne den persönlichen Beitrag Otto von Bismarcks kaum nachvollziehbar er- scheint, hätte auch Helmut Kohl die deutsche Einheit nicht wiederherstellen „RÜCKSICHTSLOSE“ können, wenn es nicht die Bürgerrechtsbewegung in der DDR und anderen GESCHICHTSAUFARBEITUNG mitteleuropäischen Staaten gegeben hätte und den Fall der Berliner Mauer in der Amtszeit von George H. W. Bush und Michail Gorbatschow als Staats- Nun ist es eine banale, wenig zielführende Bemerkung, dass Geschichte sich chefs der damaligen Supermächte. Beide Beispiele illustrieren den Zusam- nie wiederholt und die Befassung mit historischen Ereignissen nur als eine menhang von Ereignissen und Personen, die in solchen Situationen an ein- Orientierung für die Bewältigung aktueller und künftiger Herausforderungen flussreichen Positionen sind und mit glücklicher oder unglücklicher Hand taugt. Nach meinem persönlichen Urteil widerlegt die Nachkriegsgeschichte Einfluss auf die Entwicklungen nehmen. Deutschlands allerdings eindrucksvoll die weitverbreitete Vermutung, dass Zu den herausragenden Ereignissen der jüngeren deutschen Ge- sich aus der Geschichte einzig lernen lasse, dass sich nichts aus ihr lernen schichte gehört für mich auch der 17. Juni 1953. Fast jeder, der mit diesem lasse. Wenn es ein Land gibt, für das dies weder objektiv noch im Selbstver- Ereignis einen konkreten Namen verbinden sollte, hätte erhebliche Schwie- ständnis zutrifft, dann ist das wiederum Deutschland. Die bald siebzigjährige rigkeiten. Vereinfacht kann man sagen, dass es den 9. November 1989 ohne Geschichte der Bundesrepublik ist ein bemerkenswerter, jahrzehntelanger den 17. Juni 1953 nicht gegeben hätte – und wohl auch nicht den Ungarnauf- Lernprozess im Umgang mit der eigenen Geschichte und ihrer Aufarbeitung. stand, den Prager Frühling und die Solidarność-Bewegung in Polen in dieser Aber dass es nicht nur in Europa kein zweites Land gibt, das so viel Grund hat Serie von zunächst gescheiterten Aufständen. Freiheitskämpfe verdienen wie wir, sich mit der eigenen Geschichte auseinanderzusetzen, sondern dass nicht erst dann Respekt, wenn sie erfolgreich gewesen sind, sondern schon es tatsächlich auch kein zweites Land gibt, das sich so gründlich wie wir die- dann, wenn sie stattfinden. Gerade deswegen ist Erinnerungskultur mehr als ser eigenen Einsicht gestellt und unterzogen hat, gehört zu den ermutigenden die Erinnerung an herausragende Persönlichkeiten – oder umgekehrt: Eine Erfahrungen und schlägt sich längst auch in der W ahrnehmung D eutschlands der wichtigsten Aufgaben der Erinnerungskultur ist es, an Persönlichkeiten 16 Die Politische Meinung 17 Nr. 551, Juli/August 2018, 63. Jahrgang
Erinnern als Aufgabe, Norbert Lammert Schwerpunkt zu erinnern, an die sich niemand mehr erinnert, ohne die es diejenigen, an die wir uns erinnern, aber sicher ebenso nicht gegeben hätte. Wie verhalten wir uns zur eigenen Geschichte? Wie identifizieren wir die Markierungspunkte, die erklären helfen, warum dieses Land heute so ist, wie es ist? Was ist uns davon wichtig? Es gibt eine wenn auch vergleichsweise übersichtliche, aber dennoch eindrucksvolle deutsche Freiheits- und Demokratiegeschichte, die übrigens nicht erst in den 1980er-Jahren begonnen hat. Vielmehr lässt sie sich spätes- tens in dem Einfluss der Französischen Revolution auf damals ganz unter- schiedlich verfasste kleinere deutsche Territorialstaaten in ihren Anfängen finden und nachzeichnen, die über das Wartburgfest und das Hambacher Fest in die Frankfurter Paulskirche geführt haben, als gescheiterter Anlauf zur Etablierung einer demokratischen Ordnung in einem deutschen National- staat. Der Versuch, Demokratie und Nationalstaat gleichzeitig zu realisieren, Drohender Identitätsverlust ? war offensichtlich zu ehrgeizig. Aber jeder, der nicht ganz zu Unrecht diesen Anlauf als Beispiel für ein Scheitern erklärt, übersieht, dass es unser heutiges Grundgesetz ohne die Frankfurter Paulskirchenverfassung so nicht gäbe. WAS UND WIEVIEL ERINNERN? Entwicklung und Perspektiven der deutschen Erinnerungskultur Solche Zusammenhänge zu verdeutlichen, ist die Aufgabe von Historikern. Vor allem aber ist die Erinnerung daran unverzichtbarer Bestandteil des Selbstverständnisses unseres Landes. Sie muss deswegen auch als staatliche Aufgabe begriffen werden. HORST MÖLLER Wieviel Erinnerung braucht Demokratie? Braucht sie mehr Bewusst- Geboren 1943 in Breslau, 1992 Kultur ohne Geschichte ist theoretisch un- sein ihrer historischen und kulturellen Voraussetzungen als andere politische bis 2011 Direktor des Instituts für denkbar und praktisch unmöglich; selbst eine Systeme? Die Demokratie bedarf tatsächlich mehr als andere Staatsformen Zeitgeschichte München-Berlin, Revolution setzt sich ständig mit der Vergan- der ständigen Selbstvergewisserung, weil sie andere Stützen der Stabilität, 1996 bis 2011 Professor für Neuere genheit auseinander; ob man sich der Ge- über die autoritäre Systeme reichlich verfügen, nicht nur nicht im Repertoire und Neueste Geschichte an der schichte bewusst ist oder nicht, wirkt sie doch führt, sondern ausdrücklich daraus verbannt hat. Ludwig-Maximilians-Universität auf Gegenwart und Zukunft. Ohne histori- Kann es auch ein Zuviel an Erinnerung geben? Sicher gibt es das Ri- München. sche Erinnerung gibt es keine nationale Identi- siko der Vergangenheitsfixierung, der Realitätsflucht. Auch dafür gibt es Bei- tät. Allerdings ist es ein wesentlicher Unter- spiele. Das Risiko aber, unter Berücksichtigung der tatsächlich stattfindenden schied, ob eine Gesellschaft aus der Tradition lebt, ihre Wertorientierung aus Entwicklungen, Neigungen und Reflexe zu wenig in die Befassung mit der der Herkunft und dem „alten Recht“ definiert oder sich an dem seit der Auf- eigenen Geschichte und ihrer Lebendigkeit im öffentlichen Bewusstsein zu klärung und der Französischen Revolution dezidiert vertretenen Zukunftspa- investieren, ist ungleich größer. Denn der Preis der Geschichtsvergessenheit, thos orientiert. des Verlustes von Erinnerung oder des Verdrängens, ist Kopflosigkeit. Eine Nach den Exzessen des 20. Jahrhunderts, dem Ersten Weltkrieg mit Gesellschaft, die sich nicht erinnern will oder kann, ein Staat, der so tut, als mehr als zehn Millionen Toten und dem Zweiten Weltkrieg mit mehr als habe er mit seiner eigenen Vergangenheit nichts zu tun, enthauptet sich ge- 55 Millionen Toten, die sowohl im Namen zukunftsorientierter Missionsideen wissermaßen selbst, weil er sich der Mittel beraubt, die er zur eigenen Selbst- als auch nationaler Imperialismen geopfert wurden, konnte die nationale Er- vergewisserung braucht. innerung in Europa nicht mehr bleiben, was sie vorher war: die Beschwörung einer positiven nationalen Identität. 18 Die Politische Meinung 19 Nr. 551, Juli/August 2018, 63. Jahrgang
Schwerpunkt Drohender Identitätsverlust?, Horst Möller Entscheidend für die Erinnerungskultur ist nicht, ob sich eine Gesellschaft dung e iner rechtsstaatlichen, parlamentarischen Demokratie in West- ihrer Geschichte stellen will, sondern wie sie es tut. Kann eine Nation Phasen deutschland nach zwölfjähriger Diktatur und mehrjähriger Besatzungsherr- oder Ereignisse der eigenen Geschichte verdrängen, wenn sie das nationale schaft wäre ohne eine radikale Abkehr von der nationalsozialistischen Ver- Selbstwertgefühl belasten? Sigmund Freud würde antworten: Krank wird, gangenheit und eine Auseinandersetzung damit ausgeschlossen gewesen. wer verdrängt; Friedrich Nietzsche jedoch: Gesund ist, wer vergisst. Zwi- Insofern war und bleibt für die Erinnerungskultur in der Bundesrepublik die schen diesen beiden Polen oszilliert der Umgang mit der Vergangenheit. Ohne spezifische Prägung durch die Diktaturerfahrung wesentlich. zu zögern, vertrat Thomas Jefferson am Ende des 18. Jahrhunderts die Mei- nung: Die Toten haben kein Recht gegen die Lebenden. Aber darf eine Nation FUNDAMENTALER wirklich die Opfer vergessen, die sie in früheren Epochen ihrer Geschichte DEMOKRATISIERUNGSPROZESS verursacht hat? Sie darf es nicht! Doch geht es dabei keineswegs um die selbstverständliche Aufgabe der Historiker, die Vergangenheit zu erforschen, sondern um die Folgen solcher Gegen diese Bewertung wird regelmäßig eingewendet, die Auseinander Ignoranz oder Verdrängung in der Gegenwart. Die Verantwortlichkeit der setzung habe zu spät begonnen, sei halbherzig gewesen, zahlreiche durch Nachlebenden hat nichts mit einer rückwärtsbezogenen oder aktuellen „Kol- ihre Mitgliedschaft in der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei lektivschuld“ zu tun. Sie gibt es nicht, und sie zu behaupten, ist schon deshalb (NSDAP) oder anderen NS-spezifischen Organisationen belastete Beamte fatal, weil „Kollektivschuld“ die tatsächlich Verantwortlichen exkulpieren seien im Dienst geblieben oder wieder eingestellt worden, und der ideologi- würde. Und alle Erfahrung zeigt, dass eine dauerhafte Verdrängung ohnehin sche Einfluss sei in der frühen Bundesrepublik noch spürbar gewesen. Tat- nicht gelingt. Doch damit sind wir bei einem weiteren Problem: Geschichte sächlich trifft die kritische Einschätzung der Erinnerungsarbeit der Nach- ist nicht einfach gegeben, sondern wird durch die Gegenwart, also eine spä- kriegszeit nur begrenzt zu. Sie geht in der Regel von Einzelfällen aus oder von tere Rezeption, vermittelt und aktualisiert. „Erst im Gedächtnis formt sich einer fragwürdigen Reduktion der Belastung auf die bloße Parteimitglied- die Wirklichkeit“, schrieb Marcel Proust. schaft. Doch bleibt diese Einschätzung oberflächlich: Da es am Ende der NS- Diktatur etwa 8,5 Millionen Parteigenossen gab, verschwand diese Personen- gruppe nach 1945 nicht schlagartig, weil die NSDAP verboten wurde. Die FORMEN DES ERINNERNS UNTERSCHEIDEN SICH aufgrund unseres historischen Urteils kritikwürdige formelle Mitgliedschaft in der NSDAP bedeutet nicht zwangsläufig juristisch strafwürdiges Verhal- Die Erinnerungskultur wandelt sich also und entwickelt sich trotz der Euro- ten. Opportunistisches Verhalten oder politischer Irrtum bedeuten nicht au- päisierung national unterschiedlich: Selbst in Bezug auf gemeinsame Erinne- tomatisch verbrecherisches Handeln, bedeuten nicht zwangsläufig, dass an- rungsorte können Nationen eine verschiedene, ja gegensätzliche Erinnerung dere Personen zu Schaden kamen. Jedenfalls konnte sich, um Bert Brecht zu verbinden. Regelmäßig aber verblassen Erinnerungen, wenn sie nicht durch variieren, die Regierung kein neues Volk aussuchen. mediale, politische, museale oder wissenschaftliche Aktualisierung wieder Die interessantere Frage aber lautet: Wie ist es angesichts der Tatsache belebt werden. Schließlich ist die Erinnerung generationsspezifisch, die indi- zahlreicher NS-Belasteter, auch unter den Beamten, möglich gewesen, inner- viduelle Erinnerung ist außerdem selektiv. halb weniger Jahre so schnell einen stabilen Rechtsstaat und eine stabile De- Nicht allein die Formen des Erinnerns unterscheiden sich, sondern mokratie zu begründen? Offenkundig ist: Dieser fundamentale Demokrati- ebenso die sich verändernden und überlagernden nationalen Identitäten. Sie sierungsprozess der zweiten Hälfte der 1940er- und der frühen 1950er-Jahre sind epochen- und kontextspezifisch. Sie bilden sich überdies im Gegen- und besitzt in der bundesdeutschen Erinnerungskultur längst nicht den Rang, Miteinander zu anderen Nationen, sind generations- und sozialspezifisch, je- den er verdient. denfalls weder homogen noch unveränderlich. Und wie verhält es sich mit der Kritik, die Auseinandersetzung sei zu Wie entwickelte sich und wohin geht die Erinnerungskultur in spät und zu halbherzig und erst seit den „1968ern“ in Gang gekommen? Letz- Deutschland, worin unterscheidet sie sich von der anderer Staaten? Ohne teres ist eine selbstgestrickte Legende, die nicht deshalb wahrer wird, weil sie jeden Zweifel überlagerte die Katastrophe des Zweiten Weltkriegs sowie der in Öffentlichkeit und Politik ständig wiederholt wird. Kritisierbar ist durch- nationalsozialistischen Diktatur mit ihren millionenfachen Massenverbre- aus, dass es nicht wenige tatsächlich NS-Belastete gibt, die entkommen sind, chen gegen die Nachbarvölker und die europäischen Juden alle anderen histo- zu spät entdeckt oder angeklagt wurden oder mit (nicht nur in den Augen von rischen Themen: Die innerhalb nur weniger Jahre erfolgende Wiederbegrün- Nicht-Juristen) lächerlich geringen Strafen davonkamen. Sind sie repräsenta- 20 Die Politische Meinung 21 Nr. 551, Juli/August 2018, 63. Jahrgang
Schwerpunkt Drohender Identitätsverlust?, Horst Möller tiv für das Gesamtbild? Keineswegs, allerdings prägen sie nachhaltig die Erin- Goerdeler-Kreis nahestand, forderte eine „Revision des deutschen Geschichts- nerungskultur. Die Gesellschaft konnte in dieser Hinsicht nicht homogen bildes“, der Journalist Ernst Müller-Meiningen jr. eine „Lösung des Nazi sein. Und folglich begegnet in ihr neben der selbstkritischen Auseinanderset- problems“ und veröffentlichte sein Buch Die Parteigenossen. zung zugleich das von Hermann Lübbe so genannte „Beschweigen“, das er Dies sind nur wenige von vielen Hundert Titeln zur kritischen Ausein- als u nvermeidlich für eine Re-Integration in die sich entwickelnde demokra- andersetzung mit der NS-Vergangenheit. Hinzu kamen zahlreiche, ebenfalls tische Gesellschaft ansah. in den ersten Nachkriegsjahren gegründete kulturpolitische Zeitschriften, Stimmt die Erinnerungskultur mit der tatsächlichen historischen Ent- die sich auf das gleiche Problem konzentrierten. Dutzende blieben zwar kurz- wicklung der sogenannten Vergangenheitsbewältigung – oder, wie man heute lebig, etwa 25 erschienen jedoch über längere Zeiträume, zum Teil bis heute. sagt, der „Aufarbeitung“ – überein? Tatsächlich setzte sie nicht erst spät, son- Die bekanntesten Zeitschriften sind Die Wandlung, herausgegeben von Karl dern schon früh – 1945/46 – ein, blieb aber für Jahrzehnte durch Aktualitäts- Jaspers und Dolf Sternberger, die Frankfurter Hefte, herausgegeben von Walter schübe charakterisiert. Mit anderen Worten: Phasen intensiver und weniger Dirks und Eugen Kogon, die Deutsche Rundschau von Rudolf Pechel, Die intensiver oder gar lascher Auseinandersetzung lösten sich ab, wofür jeweils Sammlung von Otto Friedrich Bollnow, Wilhelm Flitner und Hermann Nohl, Gründe erkennbar sind. Aber nicht nur die zeitlichen Schübe müssen unter- Der Ruf, herausgegeben von Alfred Andersch, später gemeinsam mit Hans schieden werden, sondern auch die systematischen Felder: erstens politische Werner Richter, und Die Gegenwart, herausgegeben unter anderem von Benno Fundamentalentscheidungen 1945 beziehungsweise 1949 und in den Folge- Reifenberg. jahren; zweitens der öffentliche Diskurs über Ursachen, Wirkungen und Ideo- Sie alle setzten sich mit dem Nationalismus in Deutschland, mit der logie des Nationalsozialismus; drittens juristische Ahndung; viertens finanzielle NS-Diktatur, seiner Ideologie und seinen Verbrechen auseinander und for- Entschädigung von Opfern. derten eine neue Wertorientierung der Gesellschaft und eine neue politische Die Bundesrepublik wurde seit 1949 zu einer rechtsstaatlichen parla- Ethik. Walther Hofers Dokumentation Der Nationalsozialismus aus den mentarischen Demokratie, also dem Gegenteil der NS-Diktatur. Sie hat in 1950er-Jahren brachte es bis zur Wiedervereinigung 1990 auf 1,1 Millionen nahezu siebzig Jahren jeglichen Extremismus erfolgreich bekämpft und zählt verkaufte Exemplare, Das Tagebuch der Anne Frank erreichte schon bis 1981 54 trotz mancher „Schönheitsfehler“ zu den stabilsten Demokratien Europas Auflagen mit 1,79 Millionen Exemplaren. und der Welt. Eine Bibliographie aller Essays, literarischen und wissenschaftlichen Werke, Dokumentationen, Zeitungsartikel, Rundfunk- und später Fernseh- sendungen während des vierzigjährigen Bestehens der „alten“ Bundesrepublik KRITISCHE AUSEINANDERSETZUNG würde mehrere dicke Bände füllen. Das von der Bundeszentrale für politische MIT DEM NATIONALSOZIALISMUS Bildung 1987 herausgegebene Handbuch Gedenkstätten für die Opfer des Natio nals ozialismus umfasst in seiner zweiten, ergänzten Auflage von 1995 allein Wie verhält es sich mit dem zweiten Sektor, dem öffentlichen Diskurs? An- für die „alte“ Bundesrepublik 1.830 Seiten. ders, als die oft bemühte Verdrängungsthese behauptet, setzte diese Debatte bald nach Kriegsende ein. Dabei muss berücksichtigt werden, dass die Masse IGNORANZ UND UNWILLEN, der deutschen Bevölkerung nach 1945 mit der Bewältigung der existenziellen FAKTEN ZUR KENNTNIS ZU NEHMEN und alltäglichen Probleme beschäftigt war. Im Übrigen sind Diskurse dieser Art stets auf die „schreibende Zunft“ beschränkt, obgleich sie auch öffentlich rezipiert werden, wie man beispielsweise an Auflagenhöhen von Zeitschriften 1948/49 gründeten Bayern und Hessen in Verbindung mit mehreren Ländern und Büchern, aber auch an demoskopischen Befunden ablesen kann. in München das „Institut zur Erforschung der nationalsozialistischen Zeit“ Schon 1946 erschienen der Essay Die Schuldfrage des vom NS-Regime (später umbenannt in Institut für Zeitgeschichte). Schon in der ersten Aus- entlassenen Philosophen Karl Jaspers sowie das Buch Der SS-Staat von Eugen gabe der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte wurde 1953 Kurt Gersteins Bericht Kogon, das zwischen 1946 und 1974 eine Auflage von 350.000 Exemplaren über Massenerschießungen von Juden veröffentlicht. Diese Beispiele intensi- erlebte. Ebenfalls im Jahr 1946 veröffentlichten der liberale Historiker Fried- ver Berichterstattung ließen sich fortführen, und sie zeigen: Die ständige Be- rich Meinecke sein Buch Die deutsche Katastrophe und der Kommunist Alexan- hauptung, in der Bundesrepublik sei die NS-Vergangenheit „verdrängt“ wor- der Abusch, der spätere Kulturminister der DDR, Irrweg einer Nation. Der den, belegt die Ignoranz und den Unwillen, Fakten zur Kenntnis zu nehmen. konservative Historiker Gerhard Ritter, der selbst dem Widerstand um den Man könnte aber auch fragen: Welches politische Interesse liegt dieser Igno- 22 Die Politische Meinung 23 Nr. 551, Juli/August 2018, 63. Jahrgang
Schwerpunkt Drohender Identitätsverlust?, Horst Möller ranz zugrunde? Warum prägt sie in erheblichem Maße die Erinnerungskul- Bis 1997 hatte die Bundesrepublik Zahlungen geleistet beziehungsweise bis tur in der Bundesrepublik? Warum wird diesen Behauptungen nicht wider- 2030 verbindlich zugesagt, die sich auf 124 Milliarden D-Mark beliefen – ein sprochen? Wert, der angesichts der in den früheren Jahrzehnten erheblich höheren Natürlich gab es nicht zu jeder Zeit eine vergleichbar starke Diskus- Kaufkraft nach heutigen Kriterien sehr viel höher anzusetzen ist. sion über die NS-Vergangenheit, obwohl die Forschung sich immer stärker Seit 1998 leitete die Regierung Gerhard Schröder eine weitere, deut- i ntensivierte. Hier wie im dritten zentralen Bereich, der justiziellen Ausein lich umfangreichere Entschädigung für Zwangsarbeiter ein. Die vorgesehene andersetzung, gab es zweifellos Lücken und Versäumnisse, und doch zählt Summe von zehn Milliarden D-Mark leistete zur Hälfte der Bund, zur Hälfte das Gesamtbild. Es wird verzerrt, wenn immer nur diejenigen genannt wer- große Unternehmen, die in der NS-Diktatur Zwangsarbeiter beschäftigt hat- den, die zu spät oder gar nicht zur Rechenschaft gezogen wurden – tatsäch- ten. Bisher hat kein anderer Staat, der für Kriegsverbrechen beziehungsweise lich machen sie nur einen Bruchteil der Fälle aus. Zwangsarbeit verantwortlich war, auch nur annähernd solche finanziellen Das Institut für Zeitgeschichte München-Berlin hat zwischen 1997 Entschädigungen geleistet. und 2009 auf der Basis sämtlicher deutscher Ermittlungsakten eine Daten- Überblickt man die hier geschilderten Stationen der „NS-Aufarbei- bank erstellt, deren Quellenbasis der Gedenk- und Forschungsstelle Yad tung“, dann wird klar: Es waren keineswegs die „1968er“, die die Auseinander Vashem in Jerusalem in Kopie zur Verfügung gestellt worden ist. Demzufolge setzung mit dem Nationalsozialismus aus der vermeintlichen Verdrängung haben westdeutsche (bis 1949) beziehungsweise bundesrepublikanische geholt haben, sondern die sich immer wieder ergebenden Aktualitätsschübe: Justizb ehörden bis 2005 insgesamt 36.393 Ermittlungsverfahren gegen Sie trugen dazu bei, dass die bundesdeutsche Erinnerungskultur entschei- 172.294 Personen eingeleitet, davon wurde in 16.740 Fällen Anklage erho- dend durch die NS-Thematik bestimmt wurde und bis heute wird. Und doch ben, 13.952 rechtskräftige Urteile wurden gesprochen. Auch wenn der Anteil wird die „Leistungsbilanz“ dieser jahrzehntelangen Auseinandersetzung mit der tatsächlich Verurteilten mit 6.656 Fällen vergleichsweise gering ist, be- der NS-Diktatur und ihren Massenverbrechen in der Erinnerungskultur kei- weist allein diese hohe Zahl der E rmittlungen, in welchem Ausmaß und wie neswegs objektiv gewürdigt, sondern in der Regel werden neben dem notwen- intensiv eine justizielle Auseina ndersetzung erfolgte. Ging die Zahl der Ver- digen Gedenken an die Opfer vor allem Defizite hervorgehoben. fahren seit Anfang der 1950er-Jahre zunächst zurück, stieg sie nach dem soge- nannten Einsatzgruppenprozess in Ulm sowie der Gründung der „Zentralen VERENGUNGEN DER DEUTSCHEN Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer ERINNERUNGSKULTUR VERMEIDEN Verbrechen“ in Ludwigsburg 1958 wieder steil an. Natürlich zeigen die Verfahren auch die Grenzen rechtsstaatlicher Möglichkeiten. Doch zählt man zu diesen Verfahren und Verurteilungen die Anders als die Erinnerungskultur unserer Nachbarländer ist die der Deut- alliierten sowie ausländischen Urteile sowie die hier nicht eingerechneten der schen fast nur negativ durch antitotalitäre Abgrenzung definiert: Obwohl es ehemaligen DDR hinzu, dann belegt dies: Insgesamt wurden Zehntausen- inzwischen auch in anderen Nationen partiell Selbstkritik gibt, orientieren sie de NS-Täter zur Rechenschaft gezogen – eine Zahl, die in Relation zu den sich ganz überwiegend an ihren positiven nationalen Geschichtsbildern, vergleichsweise wenigen, die bedauerlicherweise einer Verurteilung entgangen selbst wenn sie – geschichtswissenschaftlich gesehen – auch problematische sind, doch ein völlig anderes Bild ergibt, als es in der öffentlichen Erinnerung Komponenten haben. Demgegenüber neigt die deutsche Erinnerungskultur vorherrscht. zu pointierter Selbstkritik. Tatsächlich können die Deutschen in Bezug auf den Nationalsozialismus gar nicht kritisch genug sein, doch besteht die deut- sche Geschichte zum Glück nicht allein aus der NS-Diktatur. ENTSCHÄDIGUNG FÜR ZWANGSARBEITER Ihren zwölf Jahren steht im 20. Jahrhundert nicht nur die vierzehnjäh- rige Geschichte der Weimarer Republik, sondern vor allem die fast siebzig Der letzte hier zu nennende Aspekt der Auseinandersetzung mit der NS- jährige Geschichte der Bundesrepublik als Rechtsstaat und parlamentarische Vergangenheit ist die sogenannte Wiedergutmachung, ein meines Erachtens Demokratie gegenüber. Sie wird erinnerungspolitisch unterbelichtet, was verfehlter Begriff, weil eine „Wiedergutmachung“ im strengen Sinn ausge- höchst bedenkliche Folgen für die nationalen Identitätsbilder, vor allem je- schlossen ist, es also ausschließlich um materielle Entschädigungen gehen doch für die politische Bildung jüngerer Generationen hat, weil sie über die kann. Seit den frühen 1950er-Jahren hat die Regierung Konrad Adenauer sol- Diktatur meist mehr wissen als über die Demokratie. Es geht aber darum, die che Entschädigungen realisiert. permanenten Verengungen der deutschen Erinnerungskultur zu vermeiden. 24 Die Politische Meinung 25 Nr. 551, Juli/August 2018, 63. Jahrgang
Drohender Identitätsverlust?, Horst Möller Gelesen Inzwischen gibt es Debattenbeiträge, in denen höchst verschämt, wenn über- haupt, von deutschen Kulturleistungen beziehungsweise einer deutschen Kultur die Rede ist. Wie die Kultur anderer Nationen auch, besitzt auch die deutsche unverkennbar transnationale Komponenten, steht also in ständiger Wechselbeziehung mit der Kulturentwicklung der europäischen Nachbarn. Wenn jedoch die Integrationsbeauftragte der vorhergehenden Bundesregie- rung bestreitet, dass es deutsche Kultur überhaupt gibt und sich kaum je- mand darüber aufregt, ist das nicht nur ignorant, sondern skandalös – ein Beispiel für nicht gelungene Integration. Nur korrekte Diagnosen erlauben angemessene Therapien. Das zeigt beispielsweise die Debatte über Antisemitismus. Dieser muss selbstverständ- lich in jeglicher Form bekämpft werden. Doch verschärft sich das Problem, Sein letztes Dickschiff wenn etwa bei Mahnveranstaltungen nicht zwischen Antisemitismus in Deutschland und von Deutschen unterschieden wird. Tatsächlich importiert Deutschland mit der großen Zahl arabischer Zuwanderer deren anti-israeli- sche Grundhaltung, die auch in antisemitische Aktionen umschlagen kann. Die Lebenserinnerungen von Hans-Peter Schwarz INFRAGESTELLUNG POSITIVER NATIONALER IDENTITÄTEN In der gegenwärtigen Entwicklung Europas sind auch in der nationalen Erin- nerungskultur höchst fragwürdige und bedauerliche Re-Nationalisierungen JACQUELINE BOYSEN zu beobachten. Die deutsche Antwort darf nicht darin bestehen, diesen Feh- Geboren 1965 in Hamburg, ausführliche Erinnerungen zu Papier ge- ler auch in Deutschland zu begehen. Doch ist die permanente Infragestellung freie Journalistin, Moderatorin bracht hat. Daraus ist ein letztes „Dick- positiver nationaler Identitäten oder die Reduzierung der Erinnerungskultur und Publizistin, Berlin. schiff“ geworden, wie er selbst die volumi- auf den Nationalsozialismus problematisch, weil sie zu gesellschaftlicher Ver- nösen Bände aus eigener Feder nannte. unsicherung führen. Und diese Entwicklung ist in einer zunehmend multi- Hans-Peter Schwarz: Von Adenauer Nun legt es an – neben seinen hochsee- kulturellen Gesellschaft nur zu offensichtlich. Solche Verunsicherungen pro- zu Merkel. Lebenserinnerungen eines tauglichen Biographien über Adenauer, vozieren radikale beziehungsweise nationalistische – „identitäre“ – Antworten. kritischen Zeitzeugen, hrsg. von Kohl, Springer. Hans-Peter Schwarz his- Der beängstigende Vertrauensverlust in die demokratische Kultur und Hanns Jürgen Küsters, Deutsche torisiert sich selbst. ihre Institutionen ist nicht zuletzt auf einen befürchteten Identitätsverlust Verlagsanstalt, München 2018, Wenn ein bedeutender, zumal sprach- zurückzuführen. Auf der anderen Seite teilt der größte Teil selbst der inte 736 Seiten, 50,00 Euro. begabter Politikwissenschaftler über seine grierten Zuwanderer die bisherigen Schwerpunkte der deutschen Erinne- eigene Zeitzeugenschaft mehr als eintau- rungskultur nicht; auch darauf müssen Antworten gefunden werden. Sie send Seiten verfasst und diese Memoiren müssen – ohne die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus aufzu- Das Bild auf dem Cover könnte treffender auf fast 700 Textseiten posthum veröf- geben – gerade den rechtsstaatlichen, demokratischen, menschenrechtlichen nicht sein: Der Professor schaut einem Ar- fentlicht werden, ist dies ein Ereignis für Traditionen und dem religiösen Toleranzprinzip in Deutschland, die sich aus gument hinterher, er scheint die Reaktion sich. Und Ereignisse bergen Überraschun- naturrechtlichen und aufklärerischen, aber auch christlichen Wertorientie- auf eine spitzbübische oder spitzfindige gen – da bildet dieser Band keine Aus- rungen über Jahrhunderte entwickelt haben, einen zentralen Ort in der Erin- Analyse zu erwarten. Ins Auge sticht – der nahme. Für Leser von heute sind Passagen nerungskultur zuweisen. Und dafür bleibt die ständige Betonung des Gegen- Verlust dieses Großen seiner Zunft ist beachtenswert, die Schwarz selbst ange- satzes von Diktatur und Demokratie unentbehrlich. betrüblich. Umso erfreulicher, dass Hans- sichts seines beachtlichen akademischen Peter Schwarz zum Ende seines Lebens Werdegangs und seines politischen 26 Die Politische Meinung 27 Nr. 551, Juli/August 2018, 63. Jahrgang
Gelesen Sein letztes Dickschiff, Jacqueline Boysen irkens als Ratgeber vermutlich selbst W Schwarz ist 1934 in Lörrach geboren – sein tung mit einem von Georg Simmel ent- der von Hamburg über Köln schließlich gar nicht unbedingt zu den erhellendsten Jahrgang hat sich vor NS-Verseuchung lehnten Begriff der „engagierten Objekti- einem Ruf nach Bonn folgt, nicht der Ver- zählen würde. Es sind jene Kapitel, in de- noch retten können. In der Diktatur vität“ drehte nach rechts. suchung, Mächtigen nach dem Munde zu nen er spezielle Biotope schildert: seine v erlebt er eine idyllische Kindheit im Wie entwickelt sich das Konservative? reden. Auch ruht er sich nicht auf seinen Herkunft, die Hochschulreformen, das Markgräflerland. Als Sohn des Dorfschul Diese Frage ist heute von großer Aktua Lorbeeren aus. Er ist ehrlich dankbar für alte Bad Godesberg – Schwarz ist eng ver- lehrers ist ihm ein hohes Bildungsethos lität. Schwarz thematisiert sie nicht aus- alles Erreichte – insbesondere übrigens für woben mit der Bonner Republik. geschenkt worden, dem er zeitlebens treu drücklich. Implizit aber wird in seinen die verschiedentlich liebevoll erwähnte Das einerseits ob seiner historischen bleibt: Auch in Kapiteln, in denen er längst Schilderungen der Jahrzehnte nachvoll- treusorgende Ehefrau und die wohlgerate- Schuld geschmähte, andererseits wirt- als renommierter Professor auftritt, taucht ziehbar, wie der Wissenschaftler vom Bür- nen Kinder. Der überzeugte Transatlanti- schaftlich rasch prosperierende Teil- immer wieder arglos das Wort „studieren“ gerlich-Liberalen mit profunder christ ker ist fortwährend unterwegs, auf Kon deutschland lag in den frühen Jahren auf. Schwarz begriff sich zeitlebens als licher Färbung und persönlichem Ent- ferenzen und in Gremien engagiert und nicht nur unter Mehltau, wie die 68er in „Studierender“– und in seinem Sprachge- faltungswillen zum CDU-Mitglied und fungiert als Herausgeber maßgeblicher munterer Selbstlegitimierung später dia brauch ist das keine gendergerechte Vari- schließlich zum nationalkonservativen Handbücher und gewichtiger Quellenedi- gnost izierten. Die Bundesrepublik war in ante des Wortes Student, sondern meint Einwanderungskritiker wird. Für den tionen. Schwarz prägt die Politikwissen- jungen Jahren zwar bevölkert von alten wortwörtlich den Gelehrten im andauern- Parteieintritt in den 1980er-Jahren mögen schaft und Zeitgeschichtsforschung der Nazis, verstockten Vertriebenen und den Prozess des Lernens, des Sich-Bildens Karrieregründe mitentscheidend gewesen Bundesrepublik so wie diese ihn – mit sei- Wehrmachtsoldaten, die ihre Ritterkreuze – so stolz er im Verlauf des Lebens auf das sein, ein Hauch Opportunismus. Vor al- ner sozialwissenschaftlichen Grundlagen- versteckten. Sie lebte mit Familien wie den Erreichte auch sein wird. lem aber ist die Mitgliedschaft einem Re- forschung erwirbt er auf verschiedenen Schwarzens, bei denen laut Schwarz „Got- Unbedingt beachtenswert, weil selten flex gegen die uniform linke und nicht Feldern seiner Disziplin Meriten. Die tesglaube, Nationalismus, Militarismus fundiert aus der Innensicht eines Beteilig- immer tolerante Umgebung zuzuschrei- Freude daran teilt er mit dem Leser. und gut lutherischer Obrigkeitsgehorsam ten geschildert, sind die Kapitel, die sich ben. Der schrille Grundton in der univer- Der Band lebt von kleinen Aperçus wie eine aus heutiger Sicht seltsame, aber im um die Reformen an den bundesdeutschen sitären Welt verletzt ihn in seiner Bürger- über den seinerzeit hoffnungsvoll einge- damaligen Deutschland nicht ganz seltene Hochschulen in den 1970er-Jahren drehen. lichkeit und weckt seinen intellektuellen führten Gemeinschaftskundeunterricht in Verbindung eingegangen waren“. Aber es Schwarz ist junger Professor, der jüngste Widerspruchsgeist. Schon Willy Brandts Schulen – von Altmeister Theodor Eschen- gab auch Optimismus, Zukunftsfreude deutsche Professor und ambitioniert mit Regierungserklärung mit dem Postulat burg liebevoll „Fahrschule für Politik“ ge- und den Ehrgeiz von jungen Menschen Forschung und Lehre befasst, während die „Wir stehen nicht am Ende unserer Demo- nannt. Und natürlich über H elmut Kohl vom Schlage eines Hans-Peter Schwarz. hierarchische Ordinarienu niversität mu- kratie, wir fangen gerade erst richtig an“ und dessen Rittertafel. Kohl habe gespürt, tiert und sich zur Massenuniversität mit hat Schwarz als Frechheit empfunden. „dass seine Bonner Trutzburg auf Sand ge- drittelparitätischen Leitungsstrukturen „Mehr Demokratie wagen“ ist eine Provo- baut war, ohne genau zu wissen, wie dem INNERFAMILIÄRE PROZESSE auswächst. kation für jene, die das demokratische zu begegnen sei“. Typisch für beide, Bun- DES BESCHWEIGENS Als junger Politikwissenschaftler an Wagnis längst eingegangen sind. deskanzler und Biograph, ist eine Beschrei- der Universität Hamburg erlebt er Studen- bung der Kohl’schen Monologe im Vor- tenproteste, die nun moderne Theorie stand der Konrad-Adenauer-Stiftung. Vermutlich hat sie niemand gefragt, ob befrachtung der Politik- und Geschichts- DER „HAUPTSTADTPROFESSOR“ Allerlei Nichtigkeiten werden aufgespießt, sie sich vom Nationalsozialismus befreit wissenschaft und die politischen Rankü- Schludrigkeit beklagt und „gegen die ‚Ver- f ühlten. Als junge Erwachsene aber lebten nen hautnah mit. Im Rückblick zeichnet bonzung‘ der eigenen Partei […] gewettert, sie befreit. „Ich selbst fand den politischen er ein aufschlussreiches Sittengemälde ei- Schwarz begreift sich in seiner Rolle als als sei er nicht längst zum Oberbonzen ge- Irrtum der geliebten Eltern vermutlich ner Welt im Umbruch. Dass ihm anderes Wissenschaftler alter Schule auch als poli- worden“. Hemdsärmeligkeit liebt Schwarz genauso genierlich wie sie selbst.“ So be- vorschwebte, wird deutlich. Authentisch tischer Akteur, er genießt als arrivierter gar nicht. Dass der Kanzler gern den Histo- schreibt Schwarz den innerfamiliären sind seine damals angestellten hochschul- Ratgeber in außenpolitischen Fragen die riker hervorkehrt, muss auf den Wissen- Prozess des Beschweigens. Es hätte ihn politischen Überlegungen – in voller Nähe zu Diplomaten, Ministerialen, Poli- schaftler schamlos und peinlich gewirkt gereizt, die Eltern zu befragen, aber es er- Länge abgedruckt. Verkämpft hat sich tikern und zu namhaften Geistesgrößen. haben; so bleibt zwischen dem Pfälzer und schien ihm ungehörig. Schwarz damals nicht. Doch seine Hal- Doch erliegt der „Hauptstadtprofessor“, ihm eine Distanz. 28 Die Politische Meinung 29 Nr. 551, Juli/August 2018, 63. Jahrgang
Sein letztes Dickschiff, Jacqueline Boysen Interview Ausdrücklich begrüßt er natürlich die Wie- dass dem Band ein Namensverzeichnis dervereinigung. Am 3. Oktober 1990 jubelt fehlt, dass er keine Zeittafel enthält und Schwarz, vehementer Befürworter des Bei- dass auf so einfache redaktionelle Eingriffe tritts, dass „die deutsche Geschich- wie das Eliminieren von Wortw ieder te als Geschichte der Bundesrepublik“ wei- holungen oder altväterlicher Wendungen tergehe und das „Ende der Identitätsneu- verzichtet wird. Dass auch mal von rose“ erreicht sei. Skeptisch betrachten die „deutsch“ die Rede ist, wenn es nur um Bonner Kreise die Bürgerrechtler der DDR, die Bund esrepublik geht, ist kein leicht ver- deren selbstgestrickte, zumeist im Pfarr- zeihlicher Fehler. Einige allzu eitle Schnör- haus kultivierte Kulturträgerschaft und de- kel hätten mühelos geradegezupft werden ren politischer Idealismus am Rhein nichts können. Und manche politische Entwick- gelten – Schwarz ist da keine Ausnahme. lung käme besser heraus, wenn der Text gestrafft worden wäre. „Lex Schwarz“ nennt der vielbeschäftigte Lehrstuhlinha- APOLOGET DER ALTEN ber das Limit von 450 Seiten für eine Ha- B UNDESREPUBLIK bilitationsschrift. Dieses Gesetz hätte auch hier ohne inhaltliche Verluste Anwendung finden können. Keine verlässliche Prophylaxe Das Jahrhundert neigt sich seinem Ende Insgesamt bilden diese außergewöhn- zu und es kommt damit auch zu einem lichen Lebenserinnerungen – wie von Bruch. Fad und nervös erscheint ihm die Schwarz nicht anders zu erwarten – das Diskussion über gesamtdeutsche Identi- Entstehen der alten Bundesrepublik vor- tät, falsch das engere europäische Zusam- züglich ab. Seine Zeitzeugenschaft geht menwirken. Der Zeithistoriker und die über Erleben hinaus: Bewusst hat er sie mit- Über die Erinnerungskultur des Holocaust und die zunehmenden Tendenzen Zeitläufe entfremden sich. Ins 21. Jahr- gestaltet und von ihrem Erfolg profitiert. des Antisemitismus in Europa hundert tritt Schwarz nicht mehr mit der Implizit macht der Band deutlich, wa- Offenheit, die ihm zuvor eigen war. Er rum so vielen bewundernswürdigen Her- bleibt ein Apologet der alten Bundesrepu- ren dieser Generation das Verständnis für blik. Den Euro und die Europäische Union Entwicklungen und Entscheidungen verfechten jene, die zuvor die Zweistaat- heute abgeht, warum sie ihrer Störgefühle lichkeit befürwortet hätten – das disquali- oder gar ihrer Zukunftsangst im 21. Jahr- DEIDRE BERGER fiziere das Einigungsprojekt insgesamt. hundert nicht Herr werden. Den Rückweg Geboren 1953 in City of St. Louis, Deidre Berger: Die damalige AJC-Lei- Die Tagespolitik wird ihm suspekt. De- in eine imaginierte Welt vermeintlich Montana (USA), seit 2000 Direktorin des tung war der Überzeugung, dass dies – mokratie brauche den Nationalstaat. Die übersichtlicher Verhältnisse zu wünschen, American Jewish Committee (AJC) trotz allem, was passiert war – der beste globale Entwicklung, die er in seinem vor- erscheint nach der Lektüre des Bandes in- Berlin / Lawrence and Lee Ramer Institut Weg war, um einer Rückkehr zum Fa- letzten Buch „Völkerwanderung“ nennt, des noch abwegiger, als es ohnehin ist. Die für Deutsch-Jüdische Beziehungen. schismus vorzubeugen. Wir wollten einen lehnt er vehement ab. Generation Merkel sollte dies – ebenso wie Beitrag dazu leisten, dass eine stärkere Dennoch ist sein Rückblick frei von alle Nachkommenden – ermutigen, ihrer- Das American Jewish Committee war Demokratie entsteht, als es die Weimarer Bitterkeit – und lebt von seiner Detail- seits unbeirrt einen eigenen Weg zu ge- nach dem Holocaust die erste jüdische Republik gewesen ist. Bereits seit seiner genauigkeit, Ironie und Formulierungs- hen – die politischen Väter haben das auch Organisation, die Kontakt mit Deutsch- Gründung 1906 versteht sich das AJC als kraft. Kurios ist, dass Hans-Peter Schwarz getan und uns Europa vererbt. Die Gene- land suchte. Können Sie uns erklären, eine zivilgesellschaftliche Kraft, die das ungeniert die beachtliche Höhe ihm ge ration Schwarz hatte ein schlimmeres Ver- wie das vor dem Hintergrund des Ge- Wohl und die Sicherheit von Juden und botener Honorare verrät. Misslich indes, mächtnis zu schultern. schehenen möglich war? Minderheiten schützt, indem sie Brücken 30 Die Politische Meinung 31 Nr. 551, Juli/August 2018, 63. Jahrgang
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