GESCHICHTE - Die Politische Meinung - Konrad-Adenauer-Stiftung

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GESCHICHTE - Die Politische Meinung - Konrad-Adenauer-Stiftung
Die Politische Meinung
Nr. 551, Juli/August 2018
Geschichte – was lehrt sie noch ?

                                     GESCHICHTE
                                                                     Was lehrt sie noch?

                                     ZUM SCHWERPUNKT Norbert Lammert, Erinnern als Aufgabe;
                                     Horst Möller, Drohender Identitätsverlust?; Ursula von der Leyen, Tradition und Traditions-
                                     pflege in der Bundeswehr; Lamya Kaddor, Was muslimische Jugendliche über deutsche
                                     Geschichte wissen sollten
                                     INTERVIEW Felix Klein über das neue Amt des Antisemitismus-Beauftragten
Die Politische Meinung

                                     KOMMENTIERT Axel Reitel, Über die Freiheit und ihre Abgründe im ehemaligen
                                     Geltungsgebiet der DDR
                                     ERINNERT Herfried Münkler, Der Dreißigjährige Krieg und das kollektive
                                     Gedächtnis der Deutschen
                                     9 €, Nr. 551, Juli/August 2018, 63. Jahrgang, ISSN 0032-3446, www.politische-meinung.de
GESCHICHTE - Die Politische Meinung - Konrad-Adenauer-Stiftung
Editorial
                                                                                                                       Bernd Löhmann, Chefredakteur
                    K    ann eine Nation Phasen oder Ereignisse der eigenen Geschichte
                         verdrängen, wenn sie das nationale Selbstwertgefühl belasten?
                    Sigmund Freud würde antworten: Krank wird, wer verdrängt;
                                                                                                „Berlin würde sich am Ende Weimar nähern“, warnte der stets mit größter
                                                                                                Bedachtsamkeit formulierende Hans Maier die im Asylstreit entzweite Union.
                    Friedrich Nietzsche jedoch: Gesund ist, wer vergisst.
                                                                                                Der Bruch ließ sich abwenden, doch beunruhigt, dass es überhaupt zu dieser
                    Horst Möller, Historiker
                                                                                                Zuspitzung kommen konnte.
                                                                                                        Eine Union „am Abgrund“ (Wolfgang Schäuble) ist Symptom einer
                                                                                                Gegenwart, in der historisch-politische Selbstverständlichkeiten ins Wanken

         D    ie Herausforderung des Populismus betriff t im Bereich der
              Wissenschaft vielleicht kein Fach so sehr wie die Geschichte.
         Martin Schulze Wessel, Historiker
                                                                                                geraten. Die Mahnung mit Weimarer Verhältnissen wirkt zwar noch, aber sie
                                                                                                hat offenbar an Schrecken verloren. Ermüdungsrisse zeigen auch die aus den
                                                                                                Erfahrungen der Weltkriege und Diktaturen gegossenen Grundfesten der
                                                                                                Bundesrepublik Deutschland und der Europäischen Union – Menschenrechte,
                                                                                                Friede, Freiheit, Solidarität. Allzu mechanisch beschworen, werden sie inzwi-

                         N     ationalismus auf Kosten anderer sowie die Unfähigkeit, mit
                               den dunklen Seiten der eigenen Geschichte umzugehen,
                         schaffen eine Atmosphäre, in der es der jüdischen Bevölkerung
                                                                                                schen hämisch infrage gestellt. „Gutmenschen“ und „gute Europäer“ stehen
                                                                                                bisweilen als Gestrige da; „Wutmenschen“ glauben sich im Besitz der Zukunft.
                                                                                                        In allen europäischen Staaten treten Kräfte hervor, die beleben, was
                         weit schwerer fällt, beruhigt zu leben.
                                                                                                vermeintlich überwunden war: Ausgrenzung, Nationalismus und Verachtung
                         Deidre Berger, Direktorin des American Jewish Committee Berlin
                                                                                                der repräsentativen Demokratie. Skrupel schwinden, der Tabubruch – jüngs-
                                                                                                tes Stichwort: „Vogelschiss“ – wandelt sich vom verräterischen Ausraster zum
                                                                                                routinierten populistischen Instrument.

F  ür junge Menschen insbesondere mit einem außereuropäischen
   Migrationshintergrund lassen sich die Geschehnisse der deutschen
Geschichte allzu leicht als irrelevant für ihr eigenes historisches
                                                                                                        Allenthalben werden unverhohlen Hassbotschaften geäußert und fin-
                                                                                                den über das Internet enorme Verbreitung. Wieder betrifft es Juden in beson-
                                                                                                derer Weise. Josef Schuster, Präsident des Zentralrates der Juden in Deutsch-
Empfinden abtun.
                                                                                                land, beklagt eine neue „Sichtbarkeit“ des Antisemitismus, angefacht nicht
Lamya Kaddor, muslimische Religionspädagogin
                                                                                                zuletzt durch Muslime, die von Hass auf Israel getrieben sind: Mobbing
                                                                                                gegen jüdische Schüler, etliche judenfeindliche Übergriffe auf den Straßen …
                                                                                                        Das entschlossene „Nie wieder!“, das die Erfolgsgeschichte der Bundes-

                         D     ie besten Demokratieförderprogramme, die Witz
                               hatten, … hießen kurz gefasst „Prager Frühling“,
                          Alexander Solschenizyn, Wolf Biermann, Bettina Wegner,
                                                                                                republik begründet hat, erodiert. Zwar ist das 20. Jahrhundert längst zu Ende,
                                                                                                doch darf deshalb die Imprägnierung gegenüber autoritären Sehnsüchten, die
                                                                                                nach 1945 erreicht worden ist, schwinden?
                          „Solidarność“ und natürlich andere.
                                                                                                        Nicht wenige der hochbetagten Überlebenden aus den Konzentrations-
                          Axel Reitel, Journalist und Schriftsteller
                                                                                                lagern äußern sich resigniert. Ihre Hoffnung, dass die Welt aus ihrer Erfah-
                                                                                                rung lerne, sehen sie enttäuscht. In einer Zeit, in der Selbstverständlichkeiten
                                                                                                wanken, ist eines gewiss: An der aktiven Verbundenheit mit denen, die unsag-

         A     uch zum Vermeiden von Fettnäpfchen studieren
               wir Geschichte. Und das ist weit weniger banal, als
         es sich anhört.
                                                                                                bar gelitten haben, erweist sich damals wie heute das Gelingen der demokrati-
                                                                                                schen Ordnung. Wie 1945 sind auch 2018 als Erstes die Unionsparteien in der
                                                                                                Pflicht. „Klarheit schaffen und Orientierung geben“ (Hans Maier) – darin liegt
         Alexander Brakel, Leiter des Auslandsbüros der
                                                                                                ihre historische Leistung, vor allem aber ihr Auftrag.
         Konrad-Adenauer-Stiftung in Jerusalem

                                                                                            1
GESCHICHTE - Die Politische Meinung - Konrad-Adenauer-Stiftung
Inhalt

1    EDITORIAL                           52 INTERVIEW:                              94	LERNENDE SYSTEME                                 Erinnert
                                            „KEINE FEIGENBLATT­                         Marie-Luise Recker
     SCHWERPUNKT                            FUNKTION“                               Reflexion über die deutsche Parlaments-             104 DER DREISSIGJÄHRIGE
                                         Felix Klein über das neue Amt des          geschichte                                              KRIEG
Geschichte –                             ­A ntisemitismus-Beauftragten                                                                      Herfried Münkler
                                                                                    99 DIE NÄCHSTE GROSSE
was lehrt sie noch ?                     57	ANGRIFF AUF DIE                            ­D EBATTE?
                                                                                                                                        Das kollektive Gedächtnis der Deutschen
                                                                                                                                        und die jüngsten Kriege
                                            ­G ESCHICHTE                                Ulf Morgenstern
14 ERINNERN ALS AUFGABE
                                             Martin Schulze Wessel                  Über die neue Relevanz der deutschen                110 DEUTSCHES ARMAGEDDON?
     Norbert Lammert
                                         Populismus versus kritisches Geschichts-   Kolonialgeschichte                                      Hilmar Sack
 Ein Plädoyer für die staatliche
                                         bewusstsein                                                                                    Der Dreißigjährige Krieg und die
­Verantwortung

                                         63 GEGEN OPFERKONKURRENZ
                                                                                    Gelesen                                             Deutschen im 19. Jahrhundert

19 DROHENDER IDENTITÄTS-
   VERLUST?
                                             Lamya Kaddor
                                         Was muslimische Jugendliche über die
                                                                                    27 SEIN LETZTES DICKSCHIFF                          Impulse
     Horst Möller                                                                       Jacqueline Boysen
                                         deutsche Geschichte wissen sollten
Entwicklung und Perspektiven                                                        Die Lebenserinnerungen von                          120 DIE ZUKUNFT DER
der deutschen Erinnerungskultur                                                     Hans-Peter Schwarz                                      ­W IRTSCHAFTS- UND
                                         70 „UNSERE“ GESCHICHTE
                                                                                                                                            ­WÄHRUNGSUNION
                                             Ulrich Bongertmann
31 INTERVIEW:                                                                       116 „MARKE BIBI“                                        Christian Calliess
                                         Geschichtsunterricht im Integrationsland
    KEINE VERLÄSSLICHE                                                                  Bastian Matteo Scianna                          Bausteine eines Package Deals zur
                                         Deutschland
   ­P ROPHYLAXE                                                                     Benjamin Netanjahu im Lichte neuer                  Reform des Euroraums
Deidre Berger, Direktorin des American                                              Biographien
                                         74 INTERVIEW:
Jewish Committee (AJC) Berlin, über
                                            TRAUMA DER POLNISCHEN                                                                       Aus der Stiftung
die Erinnerungskultur des Holocaust
und Antisemitismus in Europa
                                            NATION                                  Kommentiert
                                         Zeithistoriker Włodzimierz Borodziej                                                           124	NEUERSCHEINUNGEN
                                         über polnische Erinnerungskultur und       79 SCHALES                                              UND PERSONALIA
37	TRAGISCH VERBUNDEN
                                         europäische Geschichte                        REVOLUTIONSGLÜCK
     Shlomo Avineri
                                                                                        Axel Reitel
 Deutsche Erinnerung aus israelischer
                                         84 UNSAGBARKEIT?                           Über die Freiheit und ihre Abgründe im              126 FUNDSTÜCK
­Perspektive
                                             Michael Braun                          ehemaligen Geltungsgebiet der DDR
                                         Literatur in der Empörungsdemokratie
42	NEUER ERLASS ALS
   ­KOMPASS
                                         88 GESCHICHTE UND HEIMAT =
     Ursula von der Leyen
                                            HEIMATGESCHICHTE?
Tradition und Traditionspflege in
                                             Guido Hitze
der Bundeswehr
                                         Pläne für ein „Haus der Geschichte
                                         Nordrhein-Westfalen“
47 DIESES MAL IST ALLES
   ­ANDERS!
     Alexander Brakel
Vom (begrenzten) Nutzen der Geschichte

2          Die Politische Meinung                                                   3         Nr. 551, Juli/August 2018, 63. Jahrgang
GESCHICHTE - Die Politische Meinung - Konrad-Adenauer-Stiftung
Geschichte
                                                                                                                                  —
                   „Grüße aus Auschwitz“                                                         Was lehrt sie noch ?
           Die verstörende Postkartensammlung des polnischen Künstlers
                                 Paweł Szypulski
    Auschwitz, auf polnischem Territorium gelegen, markiert den Tiefpunkt der deutschen
      Geschichte und ist das Symbol unserer historischen Erinnerung schlechthin. Es war
     das größte nationalsozialistische Konzentrations- und V
                                                           ­ ernichtungslager. Hier ermor-
                           dete die SS über eine Million Menschen,
                                 neunzig Prozent waren Juden.
        Paweł Szypulski sammelt historische Ansichtskarten – die älteste entstand 1947,
       also nur zwei Jahre nach der Befreiung des Lagers –, die die Stätten des ­Grauens
          zeigen. Einst wurden die Karten von Touristen, die das Lager besuchten, an
    ­Familienangehörige, Nachbarn und Freunde verschickt – ohne dass die übermittelten
           Grüße und Wünsche etwas von dem Schrecken des Ortes erkennen ließen:
                    „Alles ist bestens, ich vermisse nur Dich und die Sonne.“
         Die Postkarten dokumentieren den Unwillen oder das Unvermögen, die allzu
        ­ onströse Erinnerung bis in die eigene Lebenswirklichkeit hinein zuzulassen.
        m
           Zwar sind die Karten historisch, aber die Frage, die sie aufwerfen, bleibt
                         höchst aktuell: „Was hat das mit mir zu tun?“
                                  Fotos: © Paweł Szypulski,
                   „Greetings from Auschwitz“, Edition Patrick Frey, 2015

4   Die Politische Meinung                                                                   5   Nr. 551, Juli/August 2018, 63. Jahrgang
GESCHICHTE - Die Politische Meinung - Konrad-Adenauer-Stiftung
GESCHICHTE - Die Politische Meinung - Konrad-Adenauer-Stiftung
GESCHICHTE - Die Politische Meinung - Konrad-Adenauer-Stiftung
GESCHICHTE - Die Politische Meinung - Konrad-Adenauer-Stiftung
GESCHICHTE - Die Politische Meinung - Konrad-Adenauer-Stiftung
Schwerpunkt

                                                                                                 Die Gegenwart ist nicht nur, aber doch wesentlich das Produkt der Vergan-
                                                                                                 genheit, und die Zukunft ist nur schwer zu bewältigen ohne Bewusstsein für
                                                                                                 das, was früher war. Die Identität eines Menschen wird wesentlich durch des-
                                                                                                 sen Herkunft bestimmt. Für die Identität von Völkern und Nationen gilt das
                                                                                                 in ähnlicher Weise. Aus der Art, wie sich eine Gesellschaft und ein Staat zur
                                                                                                 eigenen Geschichte verhalten, lassen sich durchaus Rückschlüsse auf das je-
                                                                                                 weilige Selbstverständnis ziehen – und wenn das für eine Nation ganz sicher
                                                                                                 gilt, dann für unsere. Dass dies für uns Deutsche in der Wahrnehmung unse-
                                                                                                 rer Nachbarn ein geradezu prägender Aspekt des Verhältnisses ist, wurde hin-
                                                                                                 reichend häufig und zu Recht beschrieben.
                                                                                                         Nach meinem Kulturverständnis ist der Staat nicht für Kunst zustän-
                                                                                                 dig, wohl aber für die Bedingungen, unter denen sie stattfindet. Welche Bü-

                Erinnern als                                                                     cher geschrieben, welche Theaterstücke inszeniert, welche Bilder gemalt wer-
                                                                                                 den, geht den Staat nichts an. Er muss aber ermöglichen, dass die Kreativität
                                                                                                 der Künste sich entfalten kann, wenn er ein Kulturstaat sein will. Nach die-

                  ­Aufgabe
                                                                                                 sem Verständnis ergibt sich ausdrücklich keine inhaltliche Kompetenz des
                                                                                                 Staates für Kunst und Kultur. Lediglich für einen einzigen Bereich der Kul-
                                                                                                 turpolitik reklamiere ich sie dagegen ausdrücklich: die sogenannte „Erinne-
                                                                                                 rungskultur“! Insofern reden wir, wenn wir über Erinnerung im Allgemeinen
                                                                                                 und Erinnerungskultur im Besonderen sprechen, immer auch über staatliche
                    Ein Plädoyer für die staatliche Verantwortung                                Verantwortung.
                                                                                                         Der Staat kann und darf sich aus dem gesellschaftlichen Nachdenken,
                                                                                                 Entwickeln und Weiterentwickeln des eigenen Selbstverständnisses nicht he-
                                                                                                 raushalten. Er muss sich zur eigenen Geschichte verhalten. In der Art, wie er
                                                                                                 das tut oder verweigert, prägt er die Erinnerungskultur der Gesellschaft.
NORBERT LAMMERT
Geboren 1948 in Bochum, Sozial­          Jedenfalls mit Blick auf die Vergangenheit
                                                                                           ANFANG UND ENDE DER GESCHICHTE
wissenschaftler, 1998 bis 2002           könnte die Politik es sich leicht machen und
  ­kultur- und medienpolitischer         dem englischen Historiker Eric Hobsbawm
 ­Sprecher der CDU/CSU-Bundes-           folgen. Für ihn hat Geschichte in Politiker-            Seit geraumer Zeit sind sowohl ein vermeintlich neues Interesse an Geschichte
tagsfraktion, 2005 bis 2017              hand nichts zu suchen. „Die beste Form der              zu beobachten als auch regelmäßige Klagen über einen erschreckenden Man-
­Präsident des Deutschen Bundes­         Vergangenheitsbewältigung“ sei, „die Vergan-            gel an historischen Kenntnissen zu vernehmen. Für beides gibt es Belege. Wir
tages, seit 2018 Vorsitzender            genheit hinter sich und die Geschichtsschrei-           haben in Deutschland eine bemerkenswerte Zahl von teils sehr aktiven Ge-
   der Konrad-Adenauer-Stiftung.         bung ganz den Historikern zu überlassen.“               schichtswerkstätten. Autobiographische Bücher sind mit bemerkenswerter
                                         Diese prägnante Bemerkung bestätigt zwar                Regelmäßigkeit auf Bestsellerlisten zu finden. Historische Ausstellungen ha-
          die Hobsbawm nachgesagte Freude an einer auffälligen Pointe. Sie unter-                ben eine beachtliche Konjunktur und oft auffallend überdurchschnittliche
          schätzt aber die fundamentale Bedeutung von Vergangenheitsbezügen nicht                Zuschauerzahlen. In Filmen werden historische Stoffe wiederentdeckt. Im
          nur im Allgemeinen, sondern insbesondere für die Konstituierung und Legi-              Fernsehen gibt es für erzählende Dokumentationen historischer Ereignisse
          timierung politischer Ordnungen. Staatliches Handeln vollzieht sich aus-               den Begriff des „Histotainment“.
          nahmslos in historischen Kontexten. Auch die Wahrnehmung staatlichen                           Doch ich zögere, wenn ich von einem vermeintlich neuen Interesse an
          Handelns vollzieht sich zwar nicht immer, aber doch vergleichsweise häufig in          der Geschichte lese. Ich habe den Eindruck, dass die Wahrnehmung dieses
          historischen Kontexten – was für eine sorgfältige, sehr differenzierte Behand-         Interesses vielleicht neuer ist als das Interesse selbst. Ich bin nicht sicher, dass
          lung dieses Themas spricht, besonders aus deutscher Perspektive.                       es ein nachhaltiges Interesse ist; dass es über die offenkundig ausgeprägte

14        Die Politische Meinung                                                           15    Nr. 551, Juli/August 2018, 63. Jahrgang
GESCHICHTE - Die Politische Meinung - Konrad-Adenauer-Stiftung
Schwerpunkt                                                                                      Erinnern als Aufgabe, Norbert Lammert

              spontane Neigung, sich mit historischen Sachverhalten zu beschäftigen, hin-                    durch unsere Nachbarn nieder. Dass unser Land überhaupt wieder gleich­
              aus ein nachhaltiges Auf- und Einarbeiten historischer Wahrnehmungen in                        berechtigt in die europäische Völkerfamilie aufgenommen wurde, ist ohne
              aktuelle Lebensbezüge diesseits und jenseits der Politik gibt. Denn so richtig                 unsere konsequente, gründliche und im Wortsinn rücksichtslose Befassung
              der Hinweis auf Literatur und Ausstellungen, Filme und andere einschlägige                     mit der eigenen Geschichte nicht erklärbar.
              Darstellungsformen ist, so einschlägig sind leider auch die Unter­suchungen,
              die das historische Wissen beziehungsweise Nichtwissen nachwachsender
                                                                                                 WAS IST ERINNERUNGSKULTUR?
              Schülergenerationen belegen.
                      Die jüngere deutsche Geschichte erzeugt häufig eher ein Bedürfnis
              nach Distanz gegenüber dem eigenen Land und der eigenen Geschichte als                          Es gehört zu den besonders delikaten Aufgaben sowohl für Historiker als
              einen spontanen Wunsch nach Identifikation. Dafür wird man mit Blick auf                        auch für staatliche Institutionen, in ihrem jeweiligen Umgang mit histori-
              den besonderen Verlauf der deutschen Geschichte zumindest Verständnis                           schen Entwicklungen und Ereignissen weder die Handschriften zu über­
              aufbringen müssen. Jedenfalls erklärt es ein wenig den in den meisten unserer                   sehen, die Persönlichkeiten für diese Entwicklungen und Ereignisse beigetra-
              Nachbarländer sehr viel unkomplizierteren Bezug der Bürger zur eigenen Ge-                      gen haben, noch die großen geschichtlichen Linien hinter solchen Köpfen
              schichte im Vergleich zu Deutschland. Vielleicht hat dieses Bedürfnis nach                      verschwinden zu lassen. Denn Geschichte ist immer beides: Sie lässt sich we-
              Distanz aber auch mit der verständlichen und dennoch unzulässigen Verkür-                       der von den handelnden Personen lösen, noch lässt sie sich allein durch die
              zung der Wahrnehmung deutscher Geschichte zu tun. Sie hat weder 1933 be-                        jeweils Handelnden hinreichend erklären.
              gonnen, noch war sie 1945 zu Ende. Und auch die heimliche oder besser un-                               Seit dem Tode Helmut Kohls wird viel darüber nachgedacht und ge-
              heimliche Variante der umgekehrten Verkürzung führt zum gleichen Befund:                       schrieben, ob denn der Prozess der Wiedervereinigung ohne seine besondere
              Die deutsche Geschichte hat nicht 1945 erst begonnen, nachdem sie 1933                         Persönlichkeit so stattgefunden hätte. Beachtlich ist, dass es in den bald
              vermeintlich zu Ende gegangen war. Wir befinden uns immer in der Konti­                        ­d reißig Jahren nach diesen Ereignissen eine inzwischen weitverbreitete Ver­
              nui­tät einer Geschichte, die nicht nur viel komplizierter ist als manch andere,                mutung gibt, dass sich der Ablauf der Ereignisse ohne seinen persönlichen
              sondern auch länger, vielfältiger und vielseitiger, als sie in der Regel wahr­                  Beitrag nur schwer vorstellen lässt. So, wie – ohne dass ich dieses Beispiel
              genommen wird.                                                                                  überstrapazieren möchte – die Gründung des deutschen Nationalstaates ohne
                                                                                                              den persönlichen Beitrag Otto von Bismarcks kaum nachvollziehbar er-
                                                                                                              scheint, hätte auch Helmut Kohl die deutsche Einheit nicht wiederherstellen
„RÜCKSICHTSLOSE“
                                                                                                              können, wenn es nicht die Bürgerrechtsbewegung in der DDR und anderen
GESCHICHTSAUFARBEITUNG
                                                                                                              mittel­europäischen Staaten gegeben hätte und den Fall der Berliner Mauer in
                                                                                                              der Amtszeit von George H. W. Bush und Michail Gorbatschow als Staats-
              Nun ist es eine banale, wenig zielführende Bemerkung, dass Geschichte sich                     chefs der damaligen Supermächte. Beide Beispiele illustrieren den Zusam-
              nie wiederholt und die Befassung mit historischen Ereignissen nur als eine                     menhang von Ereignissen und Personen, die in solchen Situationen an ein-
              Orientierung für die Bewältigung aktueller und künftiger He­raus­forderungen                   flussreichen Positionen sind und mit glücklicher oder unglücklicher Hand
              taugt. Nach meinem persönlichen Urteil widerlegt die Nachkriegsgeschichte                      Einfluss auf die Entwicklungen nehmen.
              Deutschlands allerdings eindrucksvoll die weitverbreitete Vermutung, dass                               Zu den herausragenden Ereignissen der jüngeren deutschen Ge-
              sich aus der Geschichte einzig lernen lasse, dass sich nichts aus ihr lernen                   schichte gehört für mich auch der 17. Juni 1953. Fast jeder, der mit diesem
              lasse. Wenn es ein Land gibt, für das dies weder objektiv noch im Selbstver-                   Ereignis einen konkreten Namen verbinden sollte, hätte erhebliche Schwie-
              ständnis zutrifft, dann ist das wiederum Deutschland. Die bald siebzigjährige                  rigkeiten. Vereinfacht kann man sagen, dass es den 9. November 1989 ohne
              Geschichte der Bundesrepublik ist ein bemerkenswerter, jahrzehntelanger                        den 17. Juni 1953 nicht gegeben hätte – und wohl auch nicht den Ungarnauf-
              Lernprozess im Umgang mit der eigenen Geschichte und ihrer Aufarbeitung.                       stand, den Prager Frühling und die Solidarność-Bewegung in Polen in dieser
              Aber dass es nicht nur in Europa kein zweites Land gibt, das so viel Grund hat                 Serie von zunächst gescheiterten Aufständen. Freiheitskämpfe verdienen
              wie wir, sich mit der eigenen Geschichte auseinander­zusetzen, sondern dass                    nicht erst dann Respekt, wenn sie erfolgreich gewesen sind, sondern schon
              es tatsächlich auch kein zweites Land gibt, das sich so gründlich wie wir die-                 dann, wenn sie stattfinden. Gerade deswegen ist Erinnerungskultur mehr als
              ser eigenen Einsicht gestellt und unterzogen hat, gehört zu den ermutigenden                   die Erinnerung an herausragende Persönlichkeiten – oder umgekehrt: Eine
              Erfahrungen und schlägt sich längst auch in der W
                                                              ­ ahrnehmung D   ­ eutschlands                 der wichtigsten Aufgaben der Erinnerungskultur ist es, an Persönlichkeiten

16            Die Politische Meinung                                                             17          Nr. 551, Juli/August 2018, 63. Jahrgang
Erinnern als Aufgabe, Norbert Lammert                                                          Schwerpunkt

            zu erinnern, an die sich niemand mehr erinnert, ohne die es diejenigen, an die
            wir uns erinnern, aber sicher ebenso nicht gegeben hätte.
                    Wie verhalten wir uns zur eigenen Geschichte? Wie identifizieren wir
            die Markierungspunkte, die erklären helfen, warum dieses Land heute so ist,
            wie es ist? Was ist uns davon wichtig?
                    Es gibt eine wenn auch vergleichsweise übersichtliche, aber dennoch
            eindrucksvolle deutsche Freiheits- und Demokratiegeschichte, die übrigens
            nicht erst in den 1980er-Jahren begonnen hat. Vielmehr lässt sie sich spätes-
            tens in dem Einfluss der Französischen Revolution auf damals ganz unter-
            schiedlich verfasste kleinere deutsche Territorialstaaten in ihren Anfängen
            finden und nachzeichnen, die über das Wartburgfest und das Hambacher Fest
            in die Frankfurter Paulskirche geführt haben, als gescheiterter Anlauf zur
            Etablierung einer demokratischen Ordnung in einem deutschen National-
            staat. Der Versuch, Demokratie und Nationalstaat gleichzeitig zu realisieren,
                                                                                                          Drohender
                                                                                                      ­Identitätsverlust ?
            war offensichtlich zu ehrgeizig. Aber jeder, der nicht ganz zu Unrecht diesen
            Anlauf als Beispiel für ein Scheitern erklärt, übersieht, dass es unser heutiges
            Grundgesetz ohne die Frankfurter Paulskirchenverfassung so nicht gäbe.

WAS UND WIEVIEL ERINNERN?
                                                                                                          Entwicklung und Perspektiven der deutschen Erinnerungskultur

            Solche Zusammenhänge zu verdeutlichen, ist die Aufgabe von Historikern.
            Vor allem aber ist die Erinnerung daran unverzichtbarer Bestandteil des
            Selbstverständnisses unseres Landes. Sie muss deswegen auch als staatliche
            Aufgabe begriffen werden.                                                          HORST MÖLLER
                    Wieviel Erinnerung braucht Demokratie? Braucht sie mehr Bewusst-            Geboren 1943 in Breslau, 1992            Kultur ohne Geschichte ist theoretisch un-
            sein ihrer historischen und kulturellen Voraussetzungen als andere politische       bis 2011 Direktor des Instituts für      denkbar und praktisch unmöglich; selbst eine
            Systeme? Die Demokratie bedarf tatsächlich mehr als andere Staatsformen            ­Zeitgeschichte München-Berlin,           Revolution setzt sich ständig mit der Vergan-
            der ständigen Selbstvergewisserung, weil sie andere Stützen der Stabilität,         1996 bis 2011 Professor für Neuere       genheit auseinander; ob man sich der Ge-
            über die autoritäre Systeme reichlich verfügen, nicht nur nicht im Repertoire       und Neueste Geschichte an der            schichte bewusst ist oder nicht, wirkt sie doch
            führt, sondern ausdrücklich daraus verbannt hat.                                    Ludwig-Maximilians-Universität           auf Gegenwart und Zukunft. Ohne histori-
                    Kann es auch ein Zuviel an Erinnerung geben? Sicher gibt es das Ri-         München.                                 sche Erinnerung gibt es keine nationale Identi-
            siko der Vergangenheitsfixierung, der Realitätsflucht. Auch dafür gibt es Bei-                                               tät. Allerdings ist es ein wesentlicher Unter-
            spiele. Das Risiko aber, unter Berücksichtigung der tatsächlich stattfindenden                schied, ob eine Gesellschaft aus der Tradition lebt, ihre Wertorientierung aus
            Entwicklungen, Neigungen und Reflexe zu wenig in die Befassung mit der                        der Herkunft und dem „alten Recht“ definiert oder sich an dem seit der Auf-
            eigenen Geschichte und ihrer Lebendigkeit im öffentlichen Bewusstsein zu                      klärung und der Französischen Revolution dezidiert vertretenen Zukunftspa-
            investieren, ist ungleich größer. Denn der Preis der Geschichtsvergessenheit,                 thos orientiert.
            des Verlustes von Erinnerung oder des Verdrängens, ist Kopflosigkeit. Eine                           Nach den Exzessen des 20. Jahrhunderts, dem Ersten Weltkrieg mit
            Gesellschaft, die sich nicht erinnern will oder kann, ein Staat, der so tut, als              mehr als zehn Millionen Toten und dem Zweiten Weltkrieg mit mehr als
            habe er mit seiner eigenen Vergangenheit nichts zu tun, enthauptet sich ge-                   55 Millionen Toten, die sowohl im Namen zukunftsorientierter Missionsideen
            wissermaßen selbst, weil er sich der Mittel beraubt, die er zur eigenen Selbst-               als auch nationaler Imperialismen geopfert wurden, konnte die nationale Er-
            vergewisserung braucht.                                                                       innerung in Europa nicht mehr bleiben, was sie vorher war: die Beschwörung
                                                                                                          einer positiven nationalen Identität.

18          Die Politische Meinung                                                             19         Nr. 551, Juli/August 2018, 63. Jahrgang
Schwerpunkt                                                                                      Drohender Identitätsverlust?, Horst Möller

              Entscheidend für die Erinnerungskultur ist nicht, ob sich eine Gesellschaft                    dung ­e iner rechtsstaatlichen, parlamentarischen Demokratie in West-
              ihrer Geschichte stellen will, sondern wie sie es tut. Kann eine Nation Phasen                 deutschland nach zwölfjähriger Diktatur und mehrjähriger Besatzungsherr-
              oder Ereignisse der eigenen Geschichte verdrängen, wenn sie das natio­nale                     schaft wäre ohne eine radikale Abkehr von der nationalsozialistischen Ver-
              Selbstwertgefühl belasten? Sigmund Freud würde antworten: Krank wird,                          gangenheit und eine Auseinandersetzung damit ausgeschlossen gewesen.
              wer verdrängt; Friedrich Nietzsche jedoch: Gesund ist, wer vergisst. Zwi-                      Insofern war und bleibt für die Erinnerungs­kultur in der Bundesrepublik die
              schen diesen beiden Polen oszilliert der Umgang mit der Vergangenheit. Ohne                    spezifische Prägung durch die Diktatur­erfahrung wesentlich.
              zu zögern, vertrat Thomas Jefferson am Ende des 18. Jahrhunderts die Mei-
              nung: Die Toten haben kein Recht gegen die Lebenden. Aber darf eine Nation
                                                                                                 FUNDAMENTALER
              wirklich die Opfer vergessen, die sie in früheren Epochen ihrer Geschichte
                                                                                                 DEMOKRATISIERUNGSPROZESS
              verursacht hat? Sie darf es nicht!
                      Doch geht es dabei keineswegs um die selbstverständliche Aufgabe der
              Historiker, die Vergangenheit zu erforschen, sondern um die Folgen solcher                     Gegen diese Bewertung wird regelmäßig eingewendet, die Auseinander­
              Ignoranz oder Verdrängung in der Gegenwart. Die Verantwortlichkeit der                         setzung habe zu spät begonnen, sei halbherzig gewesen, zahlreiche durch
              Nachlebenden hat nichts mit einer rückwärtsbezogenen oder aktuellen „Kol-                      ihre Mitgliedschaft in der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei
              lektivschuld“ zu tun. Sie gibt es nicht, und sie zu behaupten, ist schon deshalb               (­NSDAP) oder anderen NS-spezifischen Organisationen belastete Beamte
              fatal, weil „Kollektivschuld“ die tatsächlich Verantwortlichen exkulpieren                     seien im Dienst geblieben oder wieder eingestellt worden, und der ideologi-
              würde. Und alle Erfahrung zeigt, dass eine dauerhafte Verdrängung ohnehin                      sche Einfluss sei in der frühen Bundesrepublik noch spürbar gewesen. Tat-
              nicht gelingt. Doch damit sind wir bei einem weiteren Problem: Geschichte                      sächlich trifft die kritische Einschätzung der Erinnerungsarbeit der Nach-
              ist nicht einfach gegeben, sondern wird durch die Gegenwart, also eine spä-                    kriegszeit nur begrenzt zu. Sie geht in der Regel von Einzelfällen aus oder von
              tere Rezeption, vermittelt und aktualisiert. „Erst im Gedächtnis formt sich                    einer fragwürdigen Reduktion der Belastung auf die bloße Parteimitglied-
              die Wirklichkeit“, schrieb Marcel Proust.                                                      schaft. Doch bleibt diese Einschätzung oberflächlich: Da es am Ende der NS-
                                                                                                             Diktatur etwa 8,5 Millionen Parteigenossen gab, verschwand diese Personen-
                                                                                                             gruppe nach 1945 nicht schlagartig, weil die NSDAP verboten wurde. Die
FORMEN DES ERINNERNS UNTERSCHEIDEN SICH
                                                                                                             aufgrund unseres historischen Urteils kritikwürdige formelle Mitgliedschaft
                                                                                                             in der NSDAP bedeutet nicht zwangsläufig juristisch strafwürdiges Verhal-
              Die Erinnerungskultur wandelt sich also und entwickelt sich trotz der Euro-                    ten. Opportunistisches Verhalten oder politischer Irrtum bedeuten nicht au-
              päisierung national unterschiedlich: Selbst in Bezug auf gemeinsame Erinne-                    tomatisch verbrecherisches Handeln, bedeuten nicht zwangsläufig, dass an-
              rungsorte können Nationen eine verschiedene, ja gegensätzliche Erinnerung                      dere Personen zu Schaden kamen. Jedenfalls konnte sich, um Bert Brecht zu
              verbinden. Regelmäßig aber verblassen Erinnerungen, wenn sie nicht durch                       variieren, die Regierung kein neues Volk aussuchen.
              mediale, politische, museale oder wissenschaftliche Aktualisierung wieder­                             Die interessantere Frage aber lautet: Wie ist es angesichts der Tatsache
              belebt werden. Schließlich ist die Erinnerung generationsspezifisch, die indi-                 zahlreicher NS-Belasteter, auch unter den Beamten, möglich gewesen, inner-
              viduelle Erinnerung ist außerdem selektiv.                                                     halb weniger Jahre so schnell einen stabilen Rechtsstaat und eine stabile De-
                     Nicht allein die Formen des Erinnerns unterscheiden sich, sondern                       mokratie zu begründen? Offenkundig ist: Dieser fundamentale Demokrati-
              ebenso die sich verändernden und überlagernden nationalen Identitäten. Sie                     sierungsprozess der zweiten Hälfte der 1940er- und der frühen 1950er-Jahre
              sind epochen- und kontextspezifisch. Sie bilden sich überdies im Gegen- und                    besitzt in der bundesdeutschen Erinnerungskultur längst nicht den Rang,
              Miteinander zu anderen Nationen, sind generations- und sozialspezifisch, je-                   den er verdient.
              denfalls weder homogen noch unveränderlich.                                                            Und wie verhält es sich mit der Kritik, die Auseinandersetzung sei zu
                     Wie entwickelte sich und wohin geht die Erinnerungskultur in                            spät und zu halbherzig und erst seit den „1968ern“ in Gang gekommen? Letz-
              Deutschland, worin unterscheidet sie sich von der anderer Staaten? Ohne                        teres ist eine selbstgestrickte Legende, die nicht deshalb wahrer wird, weil sie
              jeden Zweifel über­lagerte die Katastrophe des Zweiten Weltkriegs sowie der                    in Öffentlichkeit und Politik ständig wiederholt wird. Kritisierbar ist durch-
              nationalsozialistischen Diktatur mit ihren millionenfachen Massenverbre-                       aus, dass es nicht wenige tatsächlich NS-Belastete gibt, die entkommen sind,
              chen gegen die Nachbarvölker und die europäischen Juden alle anderen histo-                    zu spät entdeckt oder angeklagt wurden oder mit (nicht nur in den Augen von
              rischen Themen: Die innerhalb nur weniger Jahre erfolgende Wiederbegrün-                       Nicht-Juristen) lächerlich geringen Strafen davonkamen. Sind sie repräsenta-

20            Die Politische Meinung                                                             21          Nr. 551, Juli/August 2018, 63. Jahrgang
Schwerpunkt                                                                                         Drohender Identitätsverlust?, Horst Möller

              tiv für das Gesamtbild? Keineswegs, allerdings prägen sie nachhaltig die Erin-                    Goerdeler-Kreis nahestand, forderte eine „Revision des deutschen Geschichts-
              nerungskultur. Die Gesellschaft konnte in dieser Hinsicht nicht homogen                           bildes“, der Journalist Ernst Müller-Meiningen jr. eine „Lösung des Nazi­
              sein. Und folglich begegnet in ihr neben der selbstkritischen Auseinanderset-                     problems“ und veröffentlichte sein Buch Die Parteigenossen.
              zung zugleich das von Hermann Lübbe so genannte „Beschweigen“, das er                                      Dies sind nur wenige von vielen Hundert Titeln zur kritischen Ausein-
              als ­u nvermeidlich für eine Re-Integration in die sich entwickelnde demokra-                     andersetzung mit der NS-Vergangenheit. Hinzu kamen zahlreiche, ebenfalls
              tische Gesellschaft ansah.                                                                        in den ersten Nachkriegsjahren gegründete kulturpolitische Zeitschriften,
                       Stimmt die Erinnerungskultur mit der tatsächlichen historischen Ent-                     die sich auf das gleiche Problem konzentrierten. Dutzende blieben zwar kurz-
              wicklung der sogenannten Vergangenheitsbewältigung – oder, wie man heute                          lebig, etwa 25 erschienen jedoch über längere Zeiträume, zum Teil bis heute.
              sagt, der „Aufarbeitung“ – überein? Tatsächlich setzte sie nicht erst spät, son-                  Die bekanntesten Zeitschriften sind Die Wandlung, herausgegeben von Karl
              dern schon früh – 1945/46 – ein, blieb aber für Jahrzehnte durch Aktualitäts-                     Jaspers und Dolf Sternberger, die Frankfurter Hefte, herausgegeben von Walter
              schübe charakterisiert. Mit anderen Worten: Phasen intensiver und weniger                         Dirks und Eugen Kogon, die Deutsche Rundschau von Rudolf Pechel, Die
              intensiver oder gar lascher Auseinandersetzung lösten sich ab, wofür jeweils                      Sammlung von Otto Friedrich Bollnow, Wilhelm Flitner und Hermann Nohl,
              Gründe erkennbar sind. Aber nicht nur die zeitlichen Schübe müssen unter-                         Der Ruf, herausgegeben von Alfred Andersch, später gemeinsam mit Hans
              schieden werden, sondern auch die systematischen Felder: erstens politische                       Werner Richter, und Die Gegenwart, herausgegeben unter anderem von Benno
              Fundamentalentscheidungen 1945 beziehungsweise 1949 und in den Folge-                             Reifenberg.
              jahren; zweitens der öffentliche Diskurs über Ursachen, Wirkungen und Ideo-                                Sie alle setzten sich mit dem Nationalismus in Deutschland, mit der
              logie des Nationalsozialismus; drittens juristische Ahndung; viertens finan­ziel­le               NS-Diktatur, seiner Ideologie und seinen Verbrechen auseinander und for-
              Entschädigung von Opfern.                                                                         derten eine neue Wertorientierung der Gesellschaft und eine neue politische
                       Die Bundesrepublik wurde seit 1949 zu einer rechtsstaatlichen parla-                     Ethik. Walther Hofers Dokumentation Der Nationalsozialismus aus den
              mentarischen Demokratie, also dem Gegenteil der NS-Diktatur. Sie hat in                           1950er-Jahren brachte es bis zur Wiedervereinigung 1990 auf 1,1 Millionen
              nahezu siebzig Jahren jeglichen Extremismus erfolgreich bekämpft und zählt                        verkaufte Exemplare, Das Tagebuch der Anne Frank erreichte schon bis 1981 54
              trotz mancher „Schönheitsfehler“ zu den stabilsten Demokratien Europas                            Auflagen mit 1,79 Millionen Exemplaren.
              und der Welt.                                                                                              Eine Bibliographie aller Essays, literarischen und wissenschaftlichen
                                                                                                                Werke, Dokumentationen, Zeitungsartikel, Rundfunk- und später Fernseh-
                                                                                                                sendungen während des vierzigjährigen Bestehens der „alten“ Bundesrepu­blik
KRITISCHE AUSEINANDERSETZUNG
                                                                                                                würde mehrere dicke Bände füllen. Das von der Bundeszentrale für politische
MIT DEM NATIONALSOZIALISMUS
                                                                                                                Bildung 1987 herausgegebene Handbuch Gedenkstätten für die Opfer des Natio­
                                                                                                                nal­s ozialismus umfasst in seiner zweiten, ergänzten Auflage von 1995 allein
              Wie verhält es sich mit dem zweiten Sektor, dem öffentlichen Diskurs? An-                         für die „alte“ Bundesrepublik 1.830 Seiten.
              ders, als die oft bemühte Verdrängungsthese behauptet, setzte diese Debatte
              bald nach Kriegsende ein. Dabei muss berücksichtigt werden, dass die Masse
                                                                                                    IGNORANZ UND UNWILLEN,
              der deutschen Bevölkerung nach 1945 mit der Bewältigung der existenziellen
                                                                                                    FAKTEN ZUR KENNTNIS ZU NEHMEN
              und alltäglichen Probleme beschäftigt war. Im Übrigen sind Diskurse dieser
              Art stets auf die „schreibende Zunft“ beschränkt, obgleich sie auch öffentlich
              rezipiert werden, wie man beispielsweise an Auflagenhöhen von Zeitschriften                       1948/49 gründeten Bayern und Hessen in Verbindung mit mehreren Ländern
              und Büchern, aber auch an demoskopischen Befunden ab­lesen kann.                                  in München das „Institut zur Erforschung der nationalsozialistischen Zeit“
                      Schon 1946 erschienen der Essay Die Schuldfrage des vom NS-Regime                         (später umbenannt in Institut für Zeitgeschichte). Schon in der ersten Aus-
              entlassenen Philosophen Karl Jaspers sowie das Buch Der SS-Staat von Eugen                        gabe der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte wurde 1953 Kurt Gersteins Bericht
              Kogon, das zwischen 1946 und 1974 eine Auflage von 350.000 Exemplaren                             über Massenerschießungen von Juden veröffentlicht. Diese Beispiele intensi-
              erlebte. Ebenfalls im Jahr 1946 veröffentlichten der liberale Historiker Fried-                   ver Berichterstattung ließen sich fortführen, und sie zeigen: Die ständige Be-
              rich Meinecke sein Buch Die deutsche Katastrophe und der Kommunist Alexan-                        hauptung, in der Bundesrepublik sei die NS-Vergangenheit „verdrängt“ wor-
              der Abusch, der spätere Kulturminister der DDR, Irrweg einer Nation. Der                          den, belegt die Ignoranz und den Unwillen, Fakten zur Kenntnis zu nehmen.
              konservative Historiker Gerhard Ritter, der selbst dem Widerstand um den                          Man könnte aber auch fragen: Welches politische Interesse liegt dieser Igno-

22            Die Politische Meinung                                                                23          Nr. 551, Juli/August 2018, 63. Jahrgang
Schwerpunkt                                                                                        Drohender Identitätsverlust?, Horst Möller

              ranz ­zugrunde? Warum prägt sie in erheblichem Maße die Erinnerungskul-                          Bis 1997 hatte die Bundesrepublik Zahlungen geleistet beziehungsweise bis
              tur in der Bundesrepublik? Warum wird diesen Behauptungen nicht wider-                           2030 verbindlich zugesagt, die sich auf 124 Milliarden D-Mark beliefen – ein
              sprochen?                                                                                        Wert, der angesichts der in den früheren Jahrzehnten erheblich höheren
                        Natürlich gab es nicht zu jeder Zeit eine vergleichbar starke Diskus-                  Kaufkraft nach heutigen Kriterien sehr viel höher anzusetzen ist.
              sion über die NS-Vergangenheit, obwohl die Forschung sich immer stärker                                  Seit 1998 leitete die Regierung Gerhard Schröder eine weitere, deut-
              ­i ntensivierte. Hier wie im dritten zentralen Bereich, der justiziellen Ausein­                 lich umfangreichere Entschädigung für Zwangsarbeiter ein. Die vorgesehene
               ander­setzung, gab es zweifellos Lücken und Versäumnisse, und doch zählt                        Summe von zehn Milliarden D-Mark leistete zur Hälfte der Bund, zur Hälfte
               das Gesamtbild. Es wird verzerrt, wenn immer nur diejenigen genannt wer-                        große Unternehmen, die in der NS-Diktatur Zwangsarbeiter beschäftigt hat-
               den, die zu spät oder gar nicht zur Rechenschaft gezogen wurden – tatsäch-                      ten. Bisher hat kein anderer Staat, der für Kriegsverbrechen beziehungsweise
               lich ­machen sie nur einen Bruchteil der Fälle aus.                                             Zwangsarbeit verantwortlich war, auch nur annähernd solche finanziellen
                        Das Institut für Zeitgeschichte München-Berlin hat zwischen 1997                       Entschädigungen geleistet.
                und 2009 auf der Basis sämtlicher deutscher Ermittlungsakten eine Daten-                               Überblickt man die hier geschilderten Stationen der „NS-Aufarbei-
               bank erstellt, deren Quellenbasis der Gedenk- und Forschungsstelle Yad                          tung“, dann wird klar: Es waren keineswegs die „1968er“, die die Ausein­ander­
               ­Vashem in Jerusalem in Kopie zur Verfügung gestellt worden ist. Demzufolge                     setzung mit dem Nationalsozialismus aus der vermeintlichen Verdrängung
                haben westdeutsche (bis 1949) beziehungsweise bundesrepublikanische                            ­geholt haben, sondern die sich immer wieder ergebenden Aktualitätsschübe:
                Justiz­b ehörden bis 2005 insgesamt 36.393 Ermittlungsverfahren gegen                           Sie trugen dazu bei, dass die bundesdeutsche Erinnerungskultur entschei-
                172.294 Personen eingeleitet, davon wurde in 16.740 Fällen Anklage erho-                        dend durch die NS-Thematik bestimmt wurde und bis heute wird. Und doch
                ben, 13.952 rechtskräftige Urteile wurden gesprochen. Auch wenn der Anteil                      wird die „Leistungsbilanz“ dieser jahrzehntelangen Auseinandersetzung mit
                der tatsächlich Verurteilten mit 6.656 Fällen vergleichsweise gering ist, be-                   der NS-Diktatur und ihren Massenverbrechen in der Erinnerungskultur kei-
                weist allein diese hohe Zahl der E ­ rmittlungen, in welchem Ausmaß und wie                     neswegs objektiv gewürdigt, sondern in der Regel werden neben dem notwen-
                intensiv eine justizielle Ausein­a nder­setzung erfolgte. Ging die Zahl der Ver-                digen Gedenken an die Opfer vor allem Defizite hervorgehoben.
               fahren seit Anfang der 1950er-Jahre zunächst zurück, stieg sie nach dem soge-
               nannten Einsatzgruppenprozess in Ulm sowie der Gründung der „Zentralen
                                                                                                   VERENGUNGEN DER DEUTSCHEN
               Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer
                                                                                                   ERINNERUNGSKULTUR VERMEIDEN
               Verbrechen“ in Ludwigsburg 1958 wieder steil an.
                        Natürlich zeigen die Verfahren auch die Grenzen rechtsstaatlicher
               Möglichkeiten. Doch zählt man zu diesen Verfahren und Verurteilungen die                        Anders als die Erinnerungskultur unserer Nachbarländer ist die der Deut-
               alliierten sowie ausländischen Urteile sowie die hier nicht eingerechneten der                  schen fast nur negativ durch antitotalitäre Abgrenzung definiert: ­Obwohl es
               ehemaligen DDR hinzu, dann belegt dies: Insgesamt wurden Zehntausen-                            inzwischen auch in anderen Nationen partiell Selbstkritik gibt, orientieren sie
               de NS-Täter zur Rechenschaft gezogen – eine Zahl, die in Relation zu den                        sich ganz überwiegend an ihren positiven nationalen Geschichts­bildern,
               vergleichsweise wenigen, die bedauerlicherweise einer Verurteilung entgangen                    selbst wenn sie – geschichtswissenschaftlich gesehen – auch problematische
               sind, doch ein völlig anderes Bild ergibt, als es in der öffentlichen Erinnerung                Komponenten haben. Demgegenüber neigt die deutsche Erinnerungskultur
               vorherrscht.                                                                                    zu pointierter Selbstkritik. Tatsächlich können die Deutschen in Bezug auf
                                                                                                               den Nationalsozialismus gar nicht kritisch genug sein, doch besteht die deut-
                                                                                                               sche Geschichte zum Glück nicht allein aus der NS-Diktatur.
ENTSCHÄDIGUNG FÜR ZWANGSARBEITER
                                                                                                                      Ihren zwölf Jahren steht im 20. Jahrhundert nicht nur die vierzehnjäh-
                                                                                                               rige Geschichte der Weimarer Republik, sondern vor allem die fast siebzig­
              Der letzte hier zu nennende Aspekt der Auseinandersetzung mit der NS-­                           jährige Geschichte der Bundesrepublik als Rechtsstaat und parlamentarische
              Vergangenheit ist die sogenannte Wiedergutmachung, ein meines Erachtens                          Demokratie gegenüber. Sie wird erinnerungspolitisch unterbelichtet, was
              verfehlter Begriff, weil eine „Wiedergutmachung“ im strengen Sinn ausge-                         höchst bedenkliche Folgen für die nationalen Identitätsbilder, vor allem je-
              schlossen ist, es also ausschließlich um materielle Entschädigungen gehen                        doch für die politische Bildung jüngerer Generationen hat, weil sie über die
              kann. Seit den frühen 1950er-Jahren hat die Regierung Konrad Adenauer sol-                       Diktatur meist mehr wissen als über die Demokratie. Es geht aber darum, die
              che Entschädigungen realisiert.                                                                  permanenten Verengungen der deutschen Erinnerungskultur zu vermeiden.

24            Die Politische Meinung                                                               25          Nr. 551, Juli/August 2018, 63. Jahrgang
Drohender Identitätsverlust?, Horst Möller                                                   Gelesen

            Inzwischen gibt es Debattenbeiträge, in denen höchst verschämt, wenn über-
            haupt, von deutschen Kulturleistungen beziehungsweise einer deutschen
            Kultur die Rede ist. Wie die Kultur anderer Nationen auch, besitzt auch die
            deutsche unverkennbar transnationale Komponenten, steht also in ständiger
            Wechselbeziehung mit der Kulturentwicklung der europäischen Nachbarn.
            Wenn jedoch die Integrationsbeauftragte der vorhergehenden Bundesregie-
            rung bestreitet, dass es deutsche Kultur überhaupt gibt und sich kaum je-
            mand darüber aufregt, ist das nicht nur ignorant, sondern skandalös – ein
            Beispiel für nicht gelungene Integration.
                    Nur korrekte Diagnosen erlauben angemessene Therapien. Das zeigt
            beispielsweise die Debatte über Antisemitismus. Dieser muss selbstverständ-
            lich in jeglicher Form bekämpft werden. Doch verschärft sich das Problem,
                                                                                                                 Sein letztes
                                                                                                                 Dickschiff
            wenn etwa bei Mahnveranstaltungen nicht zwischen Antisemitismus in
            Deutschland und von Deutschen unterschieden wird. Tatsächlich importiert
            Deutschland mit der großen Zahl arabischer Zuwanderer deren anti-israeli-
            sche Grundhaltung, die auch in antisemitische Aktionen umschlagen kann.

                                                                                                                Die Lebenserinnerungen von Hans-Peter Schwarz
INFRAGESTELLUNG POSITIVER
NATIONALER IDENTITÄTEN

            In der gegenwärtigen Entwicklung Europas sind auch in der nationalen Erin-
            nerungskultur höchst fragwürdige und bedauerliche Re-Nationalisierungen          JACQUELINE BOYSEN
            zu beobachten. Die deutsche Antwort darf nicht darin bestehen, diesen Feh-       Geboren 1965 in Hamburg,                             ausführliche Erinnerungen zu Papier ge-
            ler auch in Deutschland zu begehen. Doch ist die permanente Infragestellung      freie Journalistin, Moderatorin                      bracht hat. Daraus ist ein letztes „Dick-
            positiver nationaler Identitäten oder die Reduzierung der Erinnerungskultur      und Publizistin, Berlin.                             schiff“ geworden, wie er selbst die volumi-
            auf den Nationalsozialismus problematisch, weil sie zu gesellschaftlicher Ver-                                                        nösen Bände aus eigener Feder nannte.
            unsicherung führen. Und diese Entwicklung ist in einer zunehmend multi-          Hans-Peter Schwarz: Von Adenauer                     Nun legt es an – neben seinen hochsee-
            kulturellen Gesellschaft nur zu offensichtlich. Solche Verunsicherungen pro-     zu Merkel. Lebenserinnerungen eines                  tauglichen Biographien über Adenauer,
            vozieren radikale beziehungsweise nationalistische – „identitäre“ – Antworten.   ­kritischen Zeitzeugen, hrsg. von                    Kohl, Springer. Hans-Peter Schwarz his-
                    Der beängstigende Vertrauensverlust in die demokratische Kultur und       Hanns Jürgen Küsters, Deutsche                      torisiert sich selbst.
            ihre Institutionen ist nicht zuletzt auf einen befürchteten Identitätsverlust     ­Verlagsanstalt, München 2018,                           Wenn ein bedeutender, zumal sprach-
            zurückzuführen. Auf der anderen Seite teilt der größte Teil selbst der in­te­      736 Seiten, 50,00 Euro.                            begabter Politikwissenschaftler über seine
            grier­ten Zuwanderer die bisherigen Schwerpunkte der deutschen Erinne-                                                                eigene Zeitzeugenschaft mehr als eintau-
            rungskultur nicht; auch darauf müssen Antworten gefunden werden. Sie                                                                  send Seiten verfasst und diese Memoiren
            müssen – ohne die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus aufzu-          Das Bild auf dem Cover könnte treffender             auf fast 700 Textseiten posthum veröf-
            geben – gerade den rechtsstaatlichen, demokratischen, menschenrechtlichen        nicht sein: Der Professor schaut einem Ar-           fentlicht werden, ist dies ein Ereignis für
            Traditionen und dem religiösen Toleranzprinzip in Deutschland, die sich aus      gument hinterher, er scheint die Reaktion            sich. Und Ereignisse bergen Überraschun-
            naturrechtlichen und aufklärerischen, aber auch christlichen Wertorientie-       auf eine spitzbübische oder spitzfindige             gen – da bildet dieser Band keine Aus-
            rungen über Jahrhunderte entwickelt haben, einen zentralen Ort in der Erin-      Analyse zu erwarten. Ins Auge sticht – der           nahme. Für Leser von heute sind Passagen
            nerungskultur zuweisen. Und dafür bleibt die ständige Betonung des Gegen-        Verlust dieses Großen seiner Zunft ist               beachtenswert, die Schwarz selbst ange-
            satzes von Diktatur und Demokratie unentbehrlich.                                ­betrüblich. Umso erfreulicher, dass Hans-           sichts seines beachtlichen akademischen
                                                                                              Peter Schwarz zum Ende seines Lebens                Werdegangs und seines politischen

26          Die Politische Meinung                                                           27         Nr. 551, Juli/August 2018, 63. Jahrgang
Gelesen                                                                                         Sein letztes Dickschiff, Jacqueline Boysen

­ irkens als Ratgeber vermutlich selbst
W                                               Schwarz ist 1934 in Lörrach geboren – sein      tung mit ­einem von Georg Simmel ent-                 der von Hamburg über Köln schließlich
gar nicht unbedingt zu den erhellendsten        Jahrgang hat sich vor NS-Verseuchung            lehnten Begriff der „engagierten Objekti-             einem Ruf nach Bonn folgt, nicht der Ver-
zählen würde. Es sind jene Kapitel, in de-      noch retten können. In der Diktatur             vität“ drehte nach rechts.                            suchung, Mächtigen nach dem Munde zu
nen er spezielle Biotope schildert: seine       ­v erlebt er eine idyllische Kindheit im             Wie entwickelt sich das Konservative?            reden. Auch ruht er sich nicht auf seinen
Herkunft, die Hochschulreformen, das             Markgräflerland. Als Sohn des Dorfschul­       Diese Frage ist heute von großer Aktua­               Lorbeeren aus. Er ist ehrlich dankbar für
alte Bad Godesberg – Schwarz ist eng ver-        lehrers ist ihm ein hohes Bildungsethos        lität. Schwarz thematisiert sie nicht aus-            alles Erreichte – insbesondere übrigens für
woben mit der Bonner Republik.                   geschenkt worden, dem er zeitlebens treu       drücklich. Implizit aber wird in seinen               die verschiedentlich liebevoll erwähnte
     Das einerseits ob seiner historischen       bleibt: Auch in Kapiteln, in denen er längst   Schilderungen der Jahrzehnte nachvoll-                treusorgende Ehefrau und die wohlgerate-
Schuld geschmähte, andererseits wirt-            als renommierter Professor auftritt, taucht    ziehbar, wie der Wissenschaftler vom Bür-             nen Kinder. Der überzeugte Transatlanti-
schaftlich rasch prosperierende Teil-            immer wieder arglos das Wort „studieren“       gerlich-Liberalen mit profunder christ­               ker ist fortwährend unterwegs, auf Kon­
deutschland lag in den frühen Jahren             auf. Schwarz begriff sich zeitlebens als       licher Färbung und persönlichem Ent-                  ferenzen und in Gremien engagiert und
nicht nur unter Mehltau, wie die 68er in         „Studierender“– und in seinem Sprachge-        faltungswillen zum CDU-Mitglied und                   fungiert als Herausgeber maßgeblicher
munterer Selbstlegitimierung später dia­         brauch ist das keine gender­gerechte Vari-     schließlich zum nationalkonservativen                 Handbücher und gewichtiger Quellenedi-
gnos­t izierten. Die Bundesrepublik war in       ante des Wortes Student, sondern meint         Einwanderungskritiker wird. Für den                   tionen. Schwarz prägt die Politikwissen-
jungen Jahren zwar bevölkert von alten           wortwörtlich den Gelehrten im andauern-        Parteieintritt in den 1980er-Jahren mögen             schaft und Zeitgeschichtsforschung der
Nazis, verstockten Vertriebenen und              den Prozess des Lernens, des Sich-Bildens      Karrieregründe mitentscheidend gewesen                Bundesrepublik so wie diese ihn – mit sei-
Wehrmachtsoldaten, die ihre Ritterkreuze         – so stolz er im Verlauf des Lebens auf das    sein, ein Hauch Opportunismus. Vor al-                ner sozial­wissenschaftlichen Grundlagen-
versteckten. Sie lebte mit Familien wie den      Erreichte auch sein wird.                      lem aber ist die Mitgliedschaft einem Re-             forschung erwirbt er auf verschiedenen
Schwarzens, bei denen laut Schwarz „Got-              Unbedingt beachtenswert, weil selten      flex gegen die uniform linke und nicht                Feldern seiner Disziplin Meriten. Die
tesglaube, Nationalismus, Militarismus          fundiert aus der Innensicht eines Beteilig-     immer tolerante Umgebung zuzuschrei-                  Freude daran teilt er mit dem Leser.
und gut lutherischer Obrigkeitsgehorsam          ten geschildert, sind die Kapitel, die sich    ben. Der schrille Grundton in der univer-                  Der Band lebt von kleinen Aperçus wie
eine aus heutiger Sicht seltsame, aber im        um die Reformen an den bundesdeutschen         sitären Welt verletzt ihn in seiner Bürger-           über den seinerzeit hoffnungsvoll einge-
damaligen Deutschland nicht ganz seltene         Hochschulen in den 1970er-Jahren drehen.       lichkeit und weckt seinen intellektuellen             führten Gemeinschaftskundeunterricht in
Verbindung eingegangen waren“. Aber es           Schwarz ist junger Professor, der jüngste      Widerspruchsgeist. Schon Willy Brandts                Schulen – von Altmeister Theodor Eschen-
gab auch Optimismus, Zukunftsfreude              deutsche Professor und ambitioniert mit        Regierungserklärung mit dem Postulat                  burg liebevoll „Fahrschule für ­Politik“ ge-
und den Ehrgeiz von jungen Menschen              Forschung und Lehre befasst, während die       „Wir stehen nicht am Ende unserer Demo-               nannt. Und natürlich über H  ­ elmut Kohl
vom Schlage eines Hans-Peter Schwarz.            hierarchische Ordinarien­u niversität mu-      kratie, wir fangen gerade erst richtig an“            und dessen Rittertafel. Kohl habe gespürt,
                                                 tiert und sich zur Massenuniversität mit       hat Schwarz als Frechheit empfunden.                  „dass seine Bonner Trutzburg auf Sand ge-
                                                 drittelparitätischen Leitungsstrukturen        „Mehr Demokratie wagen“ ist eine Provo-               baut war, ohne genau zu wissen, wie dem
INNERFAMILIÄRE PROZESSE                          auswächst.                                     kation für jene, die das demokratische                zu begegnen sei“. Typisch für beide, Bun-
DES BESCHWEIGENS                                      Als junger Politikwissenschaftler an      Wagnis längst eingegangen sind.                       deskanzler und Biograph, ist eine Beschrei-
                                                 der Universität Hamburg erlebt er Studen-                                                            bung der Kohl’schen ­Monologe im Vor-
                                                 tenproteste, die nun moderne Theorie­                                                                stand der Konrad-Adenauer-Stiftung.
 Vermutlich hat sie niemand gefragt, ob          befrachtung der Politik- und Geschichts-       DER „HAUPTSTADTPROFESSOR“                             Allerlei Nichtigkeiten werden aufgespießt,
 sie sich vom Nationalsozialismus befreit        wissenschaft und die politischen Rankü-                                                              Schludrigkeit beklagt und „gegen die ‚Ver-
 ­f ühlten. Als junge Erwachsene aber lebten     nen hautnah mit. Im Rückblick zeichnet                                                               bonzung‘ der eigenen Partei […] gewettert,
sie befreit. „Ich selbst fand den politischen    er ein aufschlussreiches Sittengemälde ei-     Schwarz begreift sich in seiner Rolle als             als sei er nicht längst zum Oberbonzen ge-
Irrtum der geliebten Eltern vermutlich           ner Welt im Umbruch. Dass ihm anderes          Wissenschaftler alter Schule auch als poli-           worden“. Hemdsärmeligkeit liebt Schwarz
­genauso genierlich wie sie selbst.“ So be-      vorschwebte, wird deutlich. Authentisch        tischer Akteur, er genießt als arrivierter            gar nicht. Dass der Kanzler gern den Histo-
 schreibt Schwarz den innerfamiliären            sind seine damals angestellten hochschul-      Ratgeber in außenpolitischen Fragen die               riker hervorkehrt, muss auf den Wissen-
 Prozess des Beschweigens. Es hätte ihn          politischen Überlegungen – in voller           Nähe zu Diplomaten, Ministerialen, Poli-              schaftler schamlos und peinlich gewirkt
 gereizt, die Eltern zu befragen, aber es er-    Länge abgedruckt. Verkämpft hat sich           tikern und zu namhaften Geistesgrößen.                haben; so bleibt zwischen dem Pfälzer und
 schien ihm ungehörig.                           Schwarz damals nicht. Doch seine Hal-          Doch erliegt der „Hauptstadtprofessor“,               ihm eine Distanz.

28         Die Politische Meinung                                                               29          Nr. 551, Juli/August 2018, 63. Jahrgang
Sein letztes Dickschiff, Jacqueline Boysen                                                         Interview

Ausdrücklich begrüßt er natürlich die Wie-     dass dem Band ein Namensverzeichnis
dervereinigung. Am 3. Oktober 1990 jubelt      fehlt, dass er keine Zeittafel enthält und
Schwarz, vehementer Befürworter des Bei-       dass auf so einfache redaktionelle Eingriffe
tritts, dass „die deutsche Geschich-           wie das Eliminieren von Wort­w ieder­
te als Geschichte der Bundesrepu­blik“ wei-    holungen oder altväterlicher Wendungen
tergehe und das „Ende der Identitätsneu-       verzichtet wird. Dass auch mal von
rose“ erreicht sei. Skeptisch betrachten die   „deutsch“ die Rede ist, wenn es nur um
Bonner Kreise die Bürgerrechtler der DDR,      die Bun­d es­repu­blik geht, ist kein leicht ver-
deren selbstgestrickte, zumeist im Pfarr-      zeihlicher Fehler. Einige allzu eitle Schnör-
haus kultivierte Kulturträgerschaft und de-    kel hätten mühelos geradegezupft werden
ren politischer Idealismus am Rhein nichts     können. Und manche politische Entwick-
gelten – Schwarz ist da keine Ausnahme.        lung käme besser heraus, wenn der Text
                                               gestrafft worden wäre. „Lex Schwarz“
                                               nennt der vielbeschäftigte Lehrstuhlinha-
 APOLOGET DER ALTEN                            ber das Limit von 450 Seiten für eine Ha-
­B UNDESREPUBLIK                               bilitationsschrift. Dieses Gesetz hätte auch
                                               hier ohne inhaltliche Verluste Anwendung
                                               finden können.
                                                                                                        Keine verlässliche
                                                                                                           Prophylaxe
Das Jahrhundert neigt sich seinem Ende              Insgesamt bilden diese außergewöhn-
zu und es kommt damit auch zu einem            lichen Lebenserinnerungen – wie von
Bruch. Fad und nervös erscheint ihm die        Schwarz nicht anders zu erwarten – das
Diskussion über gesamtdeutsche Identi-         Entstehen der alten Bundesrepublik vor-
tät, falsch das engere europäische Zusam-      züglich ab. Seine Zeitzeugenschaft geht
menwirken. Der Zeithistoriker und die          über Erleben hinaus: Bewusst hat er sie mit-             Über die Erinnerungskultur des Holocaust und die zunehmenden Tendenzen
Zeitläufe entfremden sich. Ins 21. Jahr-       gestaltet und von ihrem Erfolg profitiert.                                     des Antisemitismus in Europa
hundert tritt Schwarz nicht mehr mit der            Implizit macht der Band deutlich, wa-
Offenheit, die ihm zuvor eigen war. Er         rum so vielen bewundernswürdigen Her-
bleibt ein Apologet der alten Bundesrepu-      ren dieser Generation das Verständnis für
blik. Den Euro und die Europäische Union       Entwicklungen und Entscheidungen
verfechten jene, die zuvor die Zweistaat-      heute abgeht, warum sie ihrer Störgefühle
lichkeit befürwortet hätten – das disquali-    oder gar ihrer Zukunftsangst im 21. Jahr-           DEIDRE BERGER
fiziere das Einigungsprojekt insgesamt.        hundert nicht Herr werden. Den Rückweg              Geboren 1953 in City of St. Louis,                   Deidre Berger: Die damalige AJC-Lei-
Die Tagespolitik wird ihm suspekt. De-         in eine imaginierte Welt vermeintlich               ­Montana (USA), seit 2000 Direktorin des             tung war der Überzeugung, dass dies –
mokratie brauche den Nationalstaat. Die        übersichtlicher Verhältnisse zu wünschen,            American Jewish Committee (AJC)                     trotz allem, was passiert war – der beste
globale Entwicklung, die er in seinem vor-     erscheint nach der Lektüre des Bandes in-            ­Berlin / Lawrence and Lee Ramer Institut           Weg war, um einer Rückkehr zum Fa-
letzten Buch „Völkerwanderung“ nennt,          des noch abwegiger, als es ohnehin ist. Die           für Deutsch-Jüdische Beziehungen.                  schismus vorzubeugen. Wir wollten einen
lehnt er vehement ab.                          Generation Merkel sollte dies – ebenso wie                                                               Beitrag dazu leisten, dass eine stärkere
     Dennoch ist sein Rückblick frei von       alle Nachkommenden – ermutigen, ihrer-              Das American Jewish Committee war                    Demokratie entsteht, als es die Weimarer
Bitterkeit – und lebt von seiner Detail-       seits unbeirrt einen eigenen Weg zu ge-             nach dem Holocaust die erste jüdische                Republik gewesen ist. Bereits seit seiner
genauigkeit, Ironie und Formulierungs-         hen – die politischen Väter haben das auch          Organisation, die Kontakt mit Deutsch-               Gründung 1906 versteht sich das AJC als
kraft. Kurios ist, dass Hans-Peter Schwarz     getan und uns Europa vererbt. Die Gene-             land suchte. Können Sie uns erklären,                eine zivilgesellschaftliche Kraft, die das
ungeniert die beachtliche Höhe ihm ge­         ration Schwarz hatte ein schlimmeres Ver-           wie das vor dem Hintergrund des Ge-                  Wohl und die Sicherheit von Juden und
botener Honorare verrät. Misslich indes,       mächtnis zu schultern.                              schehenen möglich war?                               Minderheiten schützt, indem sie Brücken

30          Die Politische Meinung                                                                 31         Nr. 551, Juli/August 2018, 63. Jahrgang
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