Fremdbleiben in der Geschichte. Annäherung an ein universales Sinnkonzept des Fremden - Ingenta Connect
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Zeitschrift für Weltgeschichte — Interdisziplinäre Perspektiven pen Jahrgang 21 - Heft 01 - Frühjahr 2020, Peter Lang, Berlin, S. 185–209 Christian Wevelsiep Fremdbleiben in der Geschichte. Annäherung an ein universales Sinnkonzept des Fremden Einleitung Es ist eines jener Bilder, die sich nicht vergessen lassen. Am 2. September 2015 ertranken die Kinder Alan und Ghaleb Kurdi vor der Küste des türkischen Bade- orts Bodrum. Alan Kurdis lebloser Körper wurde an den Strand geschwemmt, nachdem ein mit Flüchtlingen überladenes Boot vor der Küste gekentert war. Das Bild ging um die Welt und erzeugte eine Zeit lang eine gewisse mediale Sprengkraft. Es stand aber auch symbolisch für die zahlreichen Todesfälle im Mittelmeerraum, für das nicht enden wollende Sterbenmüssen aus Not und für das Dilemma der internationalen Staatenwelt. Wie kann man sich einem solchen Bild nähern und wie kann man das Leiden, das in ihm abgebildet wird, bewältigen? Kann man es bewältigen? Und in allgemeinere Begriffe gefasst: Mit welchen Mitteln sind die Phänomene von Flucht und Vertreibung, von Gewalt und Zwang überhaupt als ein Gegenstand der Erkenntnis greifbar? Können wir die unzähligen Geschichten der Vergangenheit in eine angemessene Sprache überführen, können wir diese Vergangenheit also in eine lebbare Zukünftigkeit überführen? Es sind offensichtliche moralphilosophische Fragen, die zunächst vage und unbestimmt bleiben müssen. Die dringlichsten Fragen der Gegenwart – wir können sie hier nicht beantworten, aus leicht nachvollziehbaren Gründen. Sicherlich gibt es Gegenstände der Forschung, denen man sich aus verschiedenen Perspektiven annähern kann, etwa Prozesse der Zwangsmigration, die man aus einer historischen Vogelperspektive beschreiben mag. Ebenso fehlende ethische Prinzipien oder moralische Verfehlungen, die man gegebenenfalls der Politik vor Augen hält. Dazu wäre man natürlich auf historische Daten und aktuelle Zahlen verwiesen, um einen objektiven Standpunkt zu gewinnen. Hier soll es freilich vor allem um eine geschichtsphilosophische Fragestellung gehen, deren Beantwortung einen weiten Bogen über die Geschichtstheorie ver- langt. Sie lässt sich zunächst auf eine bewusst einfache Fragestellung reduzieren, deren Kern moralische Inhalte aufweist: Lässt sich ein geschichtliches Bewusst- sein, das sich dem Phänomen des Fremden in der Geschichte widmet, auf eine © 2020 Christian Wevelsiep - http://doi.org/10.3726/ZWG0120209 - Dieses Werk ist lizenziert unter einer Creative Commons Namensnennung 4.0 Internationalen Lizenz Weitere Informationen: https://creativecommons.org/licenses/by/4.0/
186 | Christian Wevelsiep: Annäherung an ein universales Sinnkonzept des Fremden ZWG-01-2020 Verbindlichkeit einer übergreifenden Geschichte zurückführen? Kann die schier unendliche Mannigfaltigkeit, die sich aus den einzelnen Erfahrungen, Brüchen und Grenzüberschreitungen speist, in eine sinnvolle Geschichte überführt werden? Der Anspruch ist unter Umständen missverständlich: Eine erzählbare Geschichte kann eine Form der Verhältnisbestimmung des Menschen sein – zu sich, zur „Welt“ und zur Vergangenheit. Aber solche erzählbaren Geschichten, die eine Verbindlichkeit beanspruchen, haben ja bekanntlich ihre Geltungskraft eingebüßt, sie sind im Sog des postmodernen und posthistorischen Denkens scheinbar verabschiedet worden.1 Diese Verabschiedung bleibt umstritten. Die Theorie der Geschichte ist trotz aller gegenteiligen Bekundungen auf Sinndi- mensionen verwiesen, welche die Vergangenheit in ihrer historischen Bedeutung für die Zukunftsentwürfe der Gegenwart nutzt. Die angeeignete Gegenwart wird lebendig und sinnvoll im erkennenden Rückgriff auf das Gewordene. Es lässt sich mit Jörn Rüsen also eine Lebensdienlichkeit des Historischen behaupten, die eine „Orientierungsfunktion des historischen Wissens“ begründet.2 Geschichts- wissenschaft und kulturelles Gedächtnis bilden Sinnkriterien des historischen Denkens, die sich grundsätzlich narrativ darstellen lassen. Die Geschichte ver- liert dabei nichts „von ihrer Tatsächlichkeit“,3 sondern sie gewinnt ein Profil als gedeutete Geschichte für die Gegenwart. Dabei steht die Behauptung im Raum, dass es inmitten der historischen Aneignung etwas Fremdes gibt, das als Negatives wie ein Stachel im Bewusst- sein der Menschen besteht. Zugleich ist dieses Negative Motor der kulturellen Sinnproduktion; es macht im Sinne der Historik aus Zeit Sinn.4 Worum es sich bei diesem Fremden handelt, auf welchen Ebenen es erfahren wird und in welche Zusammenhänge es eingebettet werden kann, steht in Frage. Zunächst können wir behaupten, dass Geschichte nicht mit vollkommener Selbstdurch- sichtigkeit, sondern mit Verdecktheit zu tun hat. Zwar sollten krisenhafte, Leid hervorbringende Ereignisse verstanden, gedeutet und bewältigt werden. Nega- tive Erfahrungen sollten in ihrer Bedrohlichkeit aufgefangen und deutend in zukünftige Handlungschancen umgeformt werden – darin erschließt sich der 1 Jean Francois Lyotard: Das postmoderne Wissen. Ein Bericht, Graz 1986. 2 Jörn Rüsen: Kann gestern besser werden? Zum Bedenken der Geschichte, Berlin 2003, S. 26. 3 Ebd. 4 Jörn Rüsen: Zeit und Sinn. Strategien historischen Denkens, Frankfurt am Main 2012; Hans Michael Baumgartner: Kontinuität und Geschichte. Zur Kritik und Metakritik der historischen Vernunft, Frankfurt am Main 1972.
ZWG-01-2020 Christian Wevelsiep: Annäherung an ein universales Sinnkonzept des Fremden | 187 moralisch-politische und historische Charakter menschlichen Sinns. Gleichwohl bleibt in dieser Orientierung etwas Unerschlossenes und Unerfülltes bestehen, für das die pragmatischen Begriffe fehlen. In der Geschichte bestehen übermächtige Widerfahrnisse durch Gewalt und Schicksal, es besteht das Leiden an politischen und unpolitischen Gewaltverhältnissen und ein Überschuss an Erwartungen, die nicht erfüllt werden. Fremdwerden in der Geschichte ist somit ein Motiv moderner Zeiterfahrung nach der Epoche religiöser Heilserwartung. Solche „Entfremdung“ wird überwunden, insofern es gelingt, Kontingenz und Zwang in handlungs- praktische Bewältigung umzuformen. Nicht zuletzt, indem sich die Subjekte im Fluss der Zeit einbringen und sich durch selbstgewählte Zwecke freisetzen. Die Überwindung einer „Entfremdung“ und die Problematik eines Fremdbleibens in der Geschichte liegen jedoch nahe beieinander. Es sind kaum Geschichten denk- bar, deren Leiden nicht erzählt werden können. Noch sind Orientierungen im Angesicht solcher Geschichten denkbar, die nicht aus der humanen Vernunft und Zweckmäßigkeit herrühren. Und doch steht die Behauptung im Raum, dass sich Geschichte nicht als Sinntotalität erfassen lässt. Erzählbare Geschichten syn- thetisieren allgemeine Ideen, Erfahrungen und Erwartungen in ein einheitliches Gebilde, das sich in einen orientierenden, handlungssteuernden Zusammenhang einbetten lässt. Aber indem die Subjekte Kriterien des historischen Sinns für sich ausbilden, indem sie Deutungsabsichten und Zeitvorstellungen produktiv „behandeln“, müssen sie gleichsam mit dem Unabgeschlossenen, Kontingenten, Nichtverstandenen und dem Unvernünftigen umgehen, das gewissermaßen zu allen Zeiten Teil der Geschichte war.5 Lebensdienlich wird solches geschichtliche Bewusstsein dann, so lautet die These, wenn sich historische Sinnkriterien am Maßstab der Vernunft neben dem Unverstandenen und Nichtintegrierbaren, den beunruhigenden Spielräumen der Kontingenz und den Deutungsunschär- fen ausbilden und bewähren können. Diesem Fremdbleiben in der Geschichte entsprechen diverse Anschauungen, Bilder, Repräsentationen. Im Rahmen der Historik ließen sich diese Formen auf Typen historischen Erzählens zurück- führen: Traditionale, exemplarische bis hin zu kritischen Erzählungen könnten demnach systematisch ausgewiesen werden.6 Hier freilich ist es das Ziel, dem Motiv der lebensdienlichen Memoria auf andere Weise gerecht zu werden: Es sollen Stufen historischen Fremdwerdens aufgewiesen werden, die einen inneren 5 Reinhart Koselleck: Vom Sinn und Unsinn der Geschichte, Frankfurt am Main 2010. 6 Jörn Rüsen: Was ist Geschichte., in: Ders.: Kann gestern (wie Anm. 2), S. 109-140; Ders: Die vier Typen historischen Erzählens, in: Ders.: Zeit (wie Anm. 4), S. 148-217.
188 | Christian Wevelsiep: Annäherung an ein universales Sinnkonzept des Fremden ZWG-01-2020 Zusammenhang aufweisen, ohne sich den Ansprüchen einer Sinntotalität zu unterwerfen. Das Ziel wäre es demgemäß, die Lebensdienlichkeit der Memoria am Maßstab des Umgangs mit dem Fremden aufzuzeigen. Die Erfahrung des Fremden in der Achsenzeit Das Fremde ist ein schillernder Topos. Es enthält eine Fülle von verwandten, nahe beieinander liegenden Bedeutungen. Im Geflecht denkbarer Fremderfah- rungen drängt sich dem modernen Zeitgenossen vermutlich die Erfahrung einer Entfremdung auf, eine Entfremdung, die sich als Erschütterung eines Epochen- befunds erweist. Am „Fin de siècle“ empfanden die Zeitgenossen bekanntlich eine seltsame Leere, die zu füllen wäre, ein Erschrecken über den Entzug von Sinn, wie auch die grundstürzende Einsicht, dass Kulturen sterblich sind. Man mag sich fragen, ob sich an diesem historischen Punkt, an dem sich Formen des politischen Existentialismus ausprägten, erstmalig eine radikale Entfrem- dung Ausdruck verschaffte. Wenn wir die herausragenden Schriften dieser Zeit hinzuziehen, gewinnt der Befund an Schärfe: Der Gedanke der transzendenta- len Obdachlosigkeit (G. Lukács), Edmund Husserls Diagnose einer Krise des europäischen Menschentums oder der eigentümliche „Erfolg“, den Oswald Spenglers Untergang des Abendlands verzeichnen durfte – die Motive dringen in die Richtung eines strengen Kulturpessimismus. Die Kultur war als sterbliche, zerbrechliche Lebensform entfremdet worden. Aber diese spezifische Krisenepoche hatte lange Vorläufe und Entwicklungs- formen, die weit in die Geschichte zurückweisen. Dass der Mensch an der Zuweisung einer Verantwortung scheitert, bzw. dass er die neugewonnene Souveränität im Umgang mit der Welt thematisierte, ist ein Gedanke, der sich bereits in der Achsenzeit abzeichnete. Die Entfremdung war hier mit dem Moment der Selbsterkenntnis des Menschen verbunden, der sich als exzentri- sches Wesen vorstellte. Der Mensch „entdeckte“ seine Stellung im kosmischen Ganzen, seine Überwältigung, seine Endlichkeit und Ohnmacht. Eine der möglichen Antworten auf die Erfahrung des Fremden bietet sich im Begriff der Achsenzeit an. Für Karl Jaspers stellt die Zeit vom 8. bis zum 2. vorchristlichen Jahrhundert eine axiale Epoche von großer Besonderheit dar, in der sich etwas menschheitsgeschichtlich Erstaunliches ereignete. Die damals bekannte Welt, die wir vereinfachend zwischen Ost und West aufteilen können, teilte eine radikale Veränderung in ihrer Selbstbewusstwerdung. Europa, Indien, China erfuhren eine neuartige Form des Weltbewusstseins. Der Weltbegriff, der sich unabhängig voneinander in allen Kulturen auszudehnen begann, stellte den Menschen als exzentrisches Wesen vor. Der Mensch „entdeckte“ seine Stellung im kosmischen
ZWG-01-2020 Christian Wevelsiep: Annäherung an ein universales Sinnkonzept des Fremden | 189 Ganzen, seine Überwältigung, seine Endlichkeit und Ohnmacht. Er durchlebte gewissermaßen eine erste existentialistische Erfahrung, obwohl ihm die neu- zeitliche Sprache und die neuzeitlichen Begriffe fehlten. Er erfuhr sich, schreibt Jaspers, als ein Wesen, das radikale Fragen stellte, auf einen Abgrund von Be- freiung und Erlösung zielend, mit dem Bewusstsein für die „Unbedingtheit in der Tiefe des Selbstseins“, mit der Klarheit für die Transzendenz.7 Der Achsenzeit komme von daher eine so große Bedeutung zu, weil sich in jener Zeit etwas im Bewusstseinshaushalt der Menschheit entwickelte, für das sich die Sprache des Existentialismus geradezu aufdrängt. Man kann es den Absolutismus der Wirk- lichkeit nennen (H. Blumenberg), die Einsicht in die humane Grenzsituation, das Bewusstsein für die Unbedingtheit. Diesem Erkenntnisprozess, der sich unabhängig in allen damaligen Kulturen entwickelte, kommt eine Ähnlichkeit zu, die den vereinheitlichenden Begriff der Achsenzeit rechtfertigt. Er erlaubt die vereinheitlichende Sicht auf die Mannigfaltigkeit aller Geschichten, er legt darüber hinaus eine Ontologie nahe, die sich in der Sprache Eric Voegelins einem ewigen Sein in der Zeit annähert.8 Verschiedene Interessen kommen im Begriff der Achsenzeit zum Ausdruck, etwa der „Kulturvergleich“ zwischen Europa und Asien.9 Unter welchen Bedingungen kam es in Griechenland und in China im Zuge der Herausbildung von Herrschaft zu einer Distanz schaffenden Welterfahrung? Einen Einblick in die sogenannte „Zeit der Streitenden Reiche“, konkret die Situation im Staate Zheng im 6. Jahrhundert v. Chr., eröffnet eine vage Annäherung. Mit dieser Epoche sind soziale Umwälzungen verbunden, die im Grunde auf die Frage zurückführen, wie die Welt wieder zu Ruhe, Ordnung und Einheit geführt werden konnte. Religion und Tradition mussten den Ver- lust ihrer Überzeugungskraft eingestehen und nach neuen Antworten suchen. Vor dieser Umwälzung galt die Gewissheit, dass der Hochgott Tian ins irdische Geschehen eingreift und alle irdischen Angelegenheiten von oben herab regelte – 7 Karl Jaspers: Vom Ursprung und Ziel der Geschichte, Frankfurt am Main 1995, S. 15. Ferner Aleida Assmann: Einheit und Vielfalt in der Geschichte. Jaspers Begriff der Achsenzeit neu betrachtet, in: S. N. Eisenstadt (Hg.): Kulturen der Achsenzeit, Bd. 2: Ihre institutionelle und kulturelle Dynamik, Teil 1: China und Japan, Frankfurt am Main 1992, S. 330-340. 8 Eric Voegelin: Anamnesis. Zur Theorie der Geschichte und Politik, München 1966. 9 Stefan Breuer: Kulturen der Achsenzeit. Leistungen und Grenzen eines geschichtswis- senschaftlichen Konzepts, in: Saeculum 45 (1), 1994, S. 1-33; Günter Dux: Die Genese der Philosophie in der Geistesgeschichte der Menschheit. Griechische und chinesische Antike im Kulturvergleich, in: Dialektik (2), 2003, S. 125-155.
190 | Christian Wevelsiep: Annäherung an ein universales Sinnkonzept des Fremden ZWG-01-2020 die Achtung des Sittenkodex, die Wahrung der hierarchischen Formen, die Vorschriften für das tägliche Miteinander. Die Zeit der Streitenden Reiche steht demgegenüber für eine Zeit der Ruhelosigkeit und Orientierungssuche.10 Aber hier ist nun weniger die interne Differenzierung des philosophischen Weltbildes von Interesse als vielmehr das prinzipiell gebrochene Verhältnis zur Vergangenheit. In dieser hatte sich ein tradiertes Ethos lange Zeit behaupten können, das nun auf neue Kriterien hin formiert wird. Auf wenige Sätze redu- ziert kann man behaupten: Das Wissen wird unsicher, es verliert die Evidenz der tradierten Situationsgewissheit. Kriterien des Nützlichen (li, yong), des Guten (shan), des Natürlichen (tian) und des Praktikablen (ke) werden neu durchdacht.11 Der Einfluss des Vergangenen schwindet, die Unruhe entsteht aus dem umstrittenen Hier und Jetzt. Man orientiert sich nicht mehr am „zeit- lich Fernen, sondern am Nahen, am selbst Erfahrenen und Gesehenen.“12 Auf der Oberfläche erkennen wir hier eine Zeit der Verunsicherung. Der Mensch verliert den Halt an einer Kultur, die ihm durch magische Rituale, das zeitlich Ferne und Ewige ein Gefühl der Fraglosigkeit vermittelt hatte. Er verliert diese kulturelle Evidenz und gewinnt gleichsam den freien Blick auf sich selbst. Der Mensch wird zu einem Thema als Ergebnis einer gesellschaftlichen Krise, die sich auf einem kritischen Verhältnis zum Vorhergehenden gründet. Es ist eine Krisenerfahrung, für die sich das existentialistische Idiom anbietet. Es geht damit weit über Herrschaftstechniken und religiöse Formen hinaus. 10 Es wäre an dieser Stelle schwierig, die geistesgeschichtlichen und normativen Entwürfe dieser Zeit auf einen Nenner zu reduzieren. Die Antworten waren vielschichtig, wie man schon an der Unterscheidung von Konfuzianismus, Legismus und Daoismus erkennen kann. Die zugrundeliegenden Leitoperationen berühren sich ein Stück weit und sind doch getrennt zu behandeln: die konfuzianische Tradition etwa zielt auf eine internalisierte Moral, die gemeinschaftsdienlich wirkt, im Legismus geht es um Herr- schaftstechniken und den Vorrang der Institutionen, im Daoismus geht es dagegen um die Bewahrung der Natur und ein „Zurück“ zur verlorenen Natürlichkeit. Selbst letztere Richtung ist nicht unpolitisch, fungiert vielmehr als eine kosmologische Entsprechungs- lehre zwischen menschlichem Handeln und Naturprozessen, aus der sich eine konkrete Politik schlussfolgern lässt. Vgl. Heiner Roetz: Zum Wandel des Welt- und Selbstver- ständnisses im achsenzeitlichen China. Günter Dux’ historischgenetische Theorie der Kultur im Lichte klassischer chinesischer Textzeugnisse, in: Günter Dux, Jörn Rüsen (Hg.): Strukturen des Denkens. Studien zur Geschichte des Geistes, Wiesbaden 2014, S. 79-102. 11 Ebd., S. 82. 12 Ebd., S. 83.
ZWG-01-2020 Christian Wevelsiep: Annäherung an ein universales Sinnkonzept des Fremden | 191 Es ist nun weniger der „Strukturvergleich“ zwischen Ost und West, Asien und Europa, der hier von Interesse ist. Vielmehr das grundlegende Verhältnis des Menschen zu sich und „seiner“ Geschichte, das in jenem achsenzeitlichen Aufbruch thematisch wurde. Es kann, wie wir im Folgenden sehen werden, nur in einer dialektischen Auseinandersetzung begriffen werden. Was die Gegensätze zwischen kulturellen Sinnsystemen überformt, ist der neuartige Versuch, der Geschichte einen tragenden, leitenden Sinn zuzusprechen. Sei es kraft natur- philosophischer Denkbewegungen oder religiöser Symbolisierung – der Sprung von der Achsenzeit zur Neuzeit ergibt sich aus dem erhofften Privileg der Ge- schichtsgestaltung. Die Idee der Menschheit in der Person, von Kant oder Herder insinuiert, mündet in geschichtsstiftender Kompetenz, die alsbald umstritten und bezweifelt werden sollte. Aber zuerst wird man sich auf jenen Gedanken berufen können, der im Grunde bis heute das nicht eingelöste Geltungsmoment beschreibt: Der Mensch bemächtigt sich seiner Geschichte, indem er der Sorge um die Sicherung aller Daseinsverhältnisse Ausdruck verleiht. Ausdrücke, die in kulturellen Sinnsystemen unterschiedlichste Formen und Entwicklungen, Zyklen und Umwälzungen erfuhren. Insgesamt aber geht es um die neu erwor- bene Souveränität im Umgang mit der Welt. Geltung erlangt diese, wenn sie sich nicht von dem Gedanken einer gemeinsamen Vernunftgeschichte – aller katastrophalen Begebenheiten zum Trotz – abbringen lässt. Verschiedene Motive sprechen gegen die Erfüllung eines solchen Anspruchs, das irreduzible metaphy- sische Bedürfnis des Menschen etwa, seine Orientierungslosigkeit angesichts der anonymen Ziellosigkeit aller Geschichte, nicht zuletzt die Spannung zwischen Weltzeit und Lebenszeit. Können diese offensichtlichen vitalen Kräfte aber die Idee einer lebensdienlichen Geschichte außer Kraft setzen? Gemeinsame Geschichte jenseits des Eurozentrismus Gab es ein „Tor“, durch das sich alle Kulturen hindurchbewegten und das sie schließlich zu eigenen Antworten und Sinnsystemen führte? Der existentielle und ontologische Ton Jaspers’ legt eine solche Annahme nahe. Seine Reflexionen hatten aber auch einen „ökumenischen“ Aspekt und diesem soll hier die ganze Aufmerksamkeit gelten. Die große Ökumene stellte für Jaspers die Heraus- forderung dar, die sich als Möglichkeit grenzenloser Kommunikation darstellte und auf den Horizont einer universalen Menschheitsgeschichte verweist. In der Achsenzeit gaben sich die universalen Züge zu erkennen, durch die sich die Herausforderung der Epoche erweist. Die Idee, die sich hinter diesen Andeu- tungen verbirgt, gibt eine Ahnung von dem spezifischen Weltgefühl wieder, das vermutlich nach der Epoche des Totalen, sprich nach 1945, die zeitgenössische
192 | Christian Wevelsiep: Annäherung an ein universales Sinnkonzept des Fremden ZWG-01-2020 Philosophie ergriffen hatte. Nach dem Zusammenbruch wuchs die Überzeugung, dass sich alle Geschichte fortan nicht mehr in getrennten Sphären und fremden Kulturen abspielen würde. Nach dem Zivilisationsbruch legte sich die Berufung auf ein Traditionserbe nahe, das nun durch den tiefsten Zweifel, aber auch von eindringlichem Ernst erfüllt wurde, dem universalen Subjekt Menschheit Form, Größe, Verantwortung und Orientierung zu verleihen. So in etwa mag man den hohen Ton Jaspers’ interpretieren, dessen Denken auf eine neue Subjektivität in der Geschichte zielte, wo vorher ein unbegreiflicher Subjekt- und Humani- tätsverlust erfahren wurde. Aber: die Idee einer geschichtlichen Einheit, mit der alle kulturellen Schranken überwunden werden sollten, kann auch höchst irreführend sein. Sie legt Gedanken einer Verallgemeinerungsfähigkeit nahe, die aus allem Fremden etwas Eigenes „macht“, die über das Fremde verfügt und es in das Schema der „Geschichtsfähigkeit“ zwingt. Die Konstruktion der Weltgeschichte kann so zu einem Tribunal ausarten. Der Gedanke, dass die Ge- schichte (des Westens) einem Plan unterliegt, entstammt bekanntlich der älteren Geschichtsphilosophie. Für Hegel ging es um den Schmerz des Negativen, der eine notwendige Durchgangsstufe zur Freiheit darstellte. Auch die historische Hermeneutik hat sich bekanntlich mit diesem unabweisbaren Gedanken des Fortschritts im Bewusstsein der Freiheit intensiv auseinandergesetzt. Es war in diesem Zusammenhang Johann Gustav Droysen, der sich dem teleologischen Denken mit einer besonderen Stoßrichtung gewidmet hat. Sein „Alexander der Große“ verdeutlicht exemplarisch die Grundzüge der geschichtsphilosophi- schen Erbschaft. In der Geschichte Alexanders wie insgesamt in der Geschichte des Hellenismus offenbarten sich nach Droysen Siege höheren Rechts. Dem Makedonen wurde hier offensichtlich mehr zugesprochen, als die Rede von der historischen Größe erwarten lässt. Die Eroberungen Alexanders stünden im Horizont einer hohen Sendung, von der sich die gegenwärtige Welt ihre Her- kunft und Berechtigung verdankt. Alexander war es gelungen, das Perserreich zu unterwerfen. Dabei ging es nicht um die Arrondierung eines Weltreiches, sondern darum, dem fernen Ruf der Geschichte zu folgen. Der Kampf galt der Gründung einer neuen Zeit: Das Perserreich sei bereits im Fallen begriffen, seine Ordnung obsolet und despotisch; im Werk des Mazedonen hingegen zeigte sich der Ernst einer hohen Sendung: den geknechteten Völkern Freiheit zu schenken und kommende höhere Formen des Staatslebens zu ermöglichen. Leiden und Versöhnung stehen im Zeichen der werdenden Freiheit. Das Griechentum hat also für den Geschichtsphilosophen Droysen eine menschheitsgeschichtliche Leistung vollbracht, deren Wert sich nur in einem weiten Bogen aller Geschichte erschließt. Dem zerrissenen Leben Griechenlands wurden Freiheit und Einheit
ZWG-01-2020 Christian Wevelsiep: Annäherung an ein universales Sinnkonzept des Fremden | 193 zurückgegeben, den Völkern, die sonst rechtlos der Willkür des Despoten gegenüberstanden, Recht und Anerkennung. Alexanders Siege höheren Rechts markierten die Anfänge einer Entwicklung, „die allein das große Problem eines wahrhaft staatlichen Lebens zu lösen vermag.“13 Es handelt sich offensichtlich um genuin eurozentrisches Denken. Der Kulturbegriff, den es verfolgt, lässt sich hierarchisch aufstufen. Das Fremde wird getilgt, weil es am unteren Ende einer vorgestellten Pyramide höherer Kultur- stufen steht. Der Endzweck einer solchen Hierarchie rechtfertigt nachträglich alle Taten, die wir heute als kulturterroristisch oder positivistisch beschreiben würden. Demgegenüber geht der Sinn des Fremden in einem Praxisverständ- nis auf, das wir nicht auf ein Ziel hin denken sollten. Weder individuell noch politisch folgt die Geschichte des Fremden einem instrumentellen Verhältnis. Wir müssen hiergegen von der ursprünglichen Dignität der unteren, inferioren Entwürfe im gemeinsamen Leben ausgehen. Diese eröffnen viele authentische Wege zu vernünftigen Lebensgestalten einschließlich ihrer dazugehörigen Irr- wege. Die Erfüllungsgestalten und Sinnentwürfe, die in der kulturellen Praxis hervorgebracht werden, sind immanent. In ihnen kommt die Existentialität des Lebenssinns zum Ausdruck, die wir als materiales Endziel oder als höchstes Gut 13 Für Droysen ging die Bedeutung des antiken Griechentums weit über die politischen Ordnungen hinaus. Kraft des teleologischen Motivs stellt die Geschichte des Hellenis- mus eine unmittelbare Vorgeschichte des Christentums dar. Das Altertum vollendet sich, indem es das entzweite Leben mit dem Prinzip der Versöhnung vermittelt. Denn das Höchste, was das Altertum aus eigener Kraft vermochte, sei der Untergang des Heidentums gewesen. Das zerrissene Leben war es, das durch die Siege Alexanders und die Größe Griechenlands letztlich überwunden wurde. Das heidnische Leben muss man dazu als trostlos empfinden, als unfähig, Antworten auf den Sinn des individuellen und historischen Leidens zu finden. „Es war die Arbeit der hellenistischen Jahrhunderte, die Elemente einer höheren und wahrhaftigen Einigung zu entwickeln, das Gefühl der End- lichkeit und Ohnmacht. Das Bedürfnis der Buße und des Trosts, die Kraft der tiefsten Demut und der Erhebung zur Freiheit in Gott zu erwecken; es sind die Jahrhunderte der Gottlosigkeit, der tiefsten Zerknirschung, des immer lauter werdenden Rufes nach dem Erlösenden. In Alexander hatte sich der Anthropomorphismus des griechischen Heidentums erfüllt, der Mensch war Gott, Götter nicht mehr.“ Vgl. Johann Gustav Droysen: Geschichte Alexanders des Großen, Erstausgabe 1833 (Hg.: J. Busche), Zürich 1986, S. 536, zitiert nach Friedrich Jäger: Geschichtsphilosophie, Hermeneutik und Kontingenz in der Geschichte des Historismus, in: Wolfgang Küttler, Jörn Rüsen, Ernst Schulin (Hg.): Geschichtsdiskurs, Bd. 3: Die Epoche der Historisierung, Frankfurt am Main 1997, S. 45-66, hier S. 52.
194 | Christian Wevelsiep: Annäherung an ein universales Sinnkonzept des Fremden ZWG-01-2020 missverstehen würden. Sie spiegeln nicht den Abschluss einer Wertehierarchie, sondern ihnen ist die Nichtpartialität der Sinngestalten des Lebens zu eigen.14 Denken wir noch einmal zurück an den Entwurf von Karl Jaspers. Ihm ging es, wie geschildert, um einen Begriff der Geschichte, in dem ein Subjekt namens Menschheit zu sich selbst kommt. Durch die Reduktion des Nicht-Reduzier- baren, Höchsten vollzieht sich die Einheit der Geschichte. Geschichte, so wie sie von Jaspers gewollt und verstanden wurde, spielt sich nicht länger in getrennten Kulturen ab, sie verleiht dem geschichtlichen Subjekt Menschheit vielmehr eine dauerhafte Orientierung – eben eine gemeinsame, friedenstiftende Geschichte.15 Handelt das beschriebene Alexanderbild nicht auch in eben jenem Sinne? Die (europäische) Menschheit kommt zu sich, die Despotie wird überwunden, so wie auch alle politische Unfreiheit und völkische Zerrissenheit. Dazu bedarf es eines starken Arms, der seine Gewalt am rechten Ort einzusetzen vermag, es bedarf einer Autorität, die den Ruf der Geschichte zu deuten weiß. Für Droysen mag diese Autorität in der Person Alexanders und in der weltgeschichtlichen Rolle des Hellenismus gefunden worden sein – für die zeitgenössische Vernunft stehen diese Spekulationen freilich auf einem brüchigen Grund. Es gäbe eine Reihe von Argumenten, die den Vorwurf des Eurozentrischen variieren könnten, aber in erster Linie erkennen wir hier eine zwielichtige Aneignungsvernunft. Der Preis für die Stiftung eines besseren Allgemeinen liegt in der Aneignung des Fremden – und wie man als Nachgeborener weiß: in weiteren Maßnahmen, für die stets eine geschichtliche „Notwendigkeit“ behauptet wurde und die bis zur Vernichtung reichte. Auf diese Weise durch den Ruf der Geschichte beflügelt, können Eroberung, Unterwerfung, Fremdherrschaft und Gewalt nachträglich eine höhere Weihe erhalten. In dieser Form können wir also dem Gedanken Jaspers nicht genügen. Es müssten andere Geschichten erzählt, aber vor allem die geschichtsphilosophischen Voraussetzungen geprüft werden, um eben nicht in jenen Hochmut zu verfallen, der hier offensichtlich am Werk ist. Nicht der Glaube an die Überlegenheit der europäischen Tradition, nicht die Selbstsi- cherheit des Verfügungsdenkens darf die Feder lenken, sondern nur die nicht hintergehbare Vorstellung, dass wir Geschichte ausschließlich als Geschichte im gemeinsamen Leben erfahren. Eine solche Konzeption stellt gerade nicht die „Geschichtsfähigkeit“ historischer Kulturen in das Zentrum. Wir dürfen sie uns nicht, wie geschildert, als hierarchisch aufgestuft vorstellen. 14 Thomas Rentsch: Die Konstitution der Moralität. Transzendentale Anthropologie und Praktische Philosophie, Frankfurt am Main 1999, S. 122-125. 15 Jaspers: Ursprung (wie Anm. 7), S. 22.
ZWG-01-2020 Christian Wevelsiep: Annäherung an ein universales Sinnkonzept des Fremden | 195 Das europäische Geschichtsbewusstsein des Fremden geht insofern von anderen Voraussetzungen aus. Die Grenzen ethnozentrischer Schließung sind bekanntlich von unterschiedlichsten Seiten her kritisiert worden. Es ist die her- metische Abgrenzung aus dem Geist kultureller Eindeutigkeit, die als verzichtbar gilt. Hermetisch wäre ein Europa, das sich durch die Bestimmung des Nicht- dazugehörigen auszeichnet. Zukunftsfähig wäre hingegen ein Europa, das sich durch die Offenheit der historisch inhaltlichen Bestimmungen ausweist, durch vielfältige Quellen und Erfahrungen, aber auch durch formale Eigenschaften: Es lädt nicht die eigene Geschichte werthaft auf, indem es andere abwertet, es distanziert sich vom Gedanken einer ungebrochenen Kontinuität und es relativiert die Idee der Selbstzentrierung. Idealtypisch beschrieben wäre dieses Europa eben nicht der singuläre Ort der Menschenrechte und des Friedens, das helle Zentrum mit einem starken Gefälle an seinen Rändern.16 Was aber wäre es dann? Wie auch immer man an dieses überkommene Ideal herangeht: Der Sinn des Fremden erschließt sich auf anderem Wege. Fremdheit ist nicht in der Logik kultureller Zugehörigkeit durch Abgrenzung zu erfassen, sondern nur als ein starkes Sinnkriterium. Fragilität, Asymmetrien, Negativität und Alterität, also Fremdheit prägen die Grundzüge der primären Welt. Die Ferne und Fremd- heit geschichtlicher Völker in Raum und Zeit stellen kein Hindernis einer auf Globalisierung und Entgrenzung hin angelegten Welt dar, sondern sie prägen die humane Konstitution. Faktisch muss menschliches Leben in Raum und Zeit beginnen und kultiviert werden, dabei wird es nie abstrakt, ungeschicht- lich oder ungeographisch, sondern es bleibt „durchgängiges Konstituens der primären Welt.“17 Ausgehend von der naturalen Basis der Lebensformen prägen sich interexistentielle und individuelle Ethiken aus, bilden sich charakteristische Eigenstile und Sittlichkeitsformen. Schon auf dieser Ebene zeigt sich die Not- wendigkeit der Achtung der fremden Lebensformen. Für die Fülle und den Reichtum geschichtlich konkreter Lebensformen gilt eine interne Unendlichkeit. Die Möglichkeiten der Beschreibung und der Begegnung mit den fremden und anderen Kulturen bliebe auf einen hermeneutischen Universalismus verwiesen, der die gewaltsame Vereinnahmung von vornherein ausschließt. 16 Jörn Rüsen: Europäisches Geschichtsbewusstsein, in: Ders.: Kann gestern (wie Anm. 2), S. 91108. 17 Rentsch: Konstitution (wie Anm. 14), S. 179.
196 | Christian Wevelsiep: Annäherung an ein universales Sinnkonzept des Fremden ZWG-01-2020 Sinnkriterien einer lebensdienlichen Memoria Zwischen Historik und Hermeneutik Der übergreifende Gedanke der folgenden Ausführungen ist, wie geschildert, das Phänomen des Fremdbleibens in der Geschichte. Er hat eine phänomeno- logische und realpolitische Basis: Fremd bleiben die Menschen in der Geschichte, wenn sie Opfer von Krieg und Gewalt werden, wenn sie gezwungen sind, die Heimat zu verlassen, wenn sie auf Dauer in einer Fremde verbleiben müssen. Fremde bleiben sie, wenn sie auf Dauer nicht anerkannt und nicht integriert werden. Diese Erfahrung des Fremdwerdens mit der Welt ist ein soziologisches Thema – exemplarisch im Sinne einer historischen Flüchtlingsforschung. Es ist zugleich ein Thema für eine philosophische Explikation. Für diese gilt die bereits genannte Fragestellung, wie wir eine verbindliche Geschichte angesichts der überbordenden Fülle einzelner Schicksale schreiben könnten. In Frage steht ein geschichtlicher Begriff, mit dem wir verschiedene normative und wissen- schaftliche Anforderungen miteinander in Beziehung setzen. Mit einem solchen Begriff sollten die Spannungen menschlicher Gegensätzlichkeiten thematisiert werden, die sich etwa in den räumlichen Zonen der sozialen Welt, an den poli- tischen Herrschaftsbedingungen und Machtverhältnissen abbilden. Mit diesem Begriff sollte das menschliche Handeln im zeitlichen Vollzug im gleichen Maße wie menschliches Leiden thematisiert werden. Nicht zuletzt sollte er sich einer universalen Menschheitsqualität annähern, die das Verhältnis von Gleichheit und Differenz integrieren kann. Dieser Gesichtspunkt wechselseitiger Anerken- nung sollte aber explizit nicht unter Ausblendung gesellschaftlicher Konflikte oder faktischer Gewaltprozesse entfaltet werden. Es sind zusammengefasst also Ansprüche, die auf ein universalgeschichtliches Sinnkonzept verweisen.18 In einem solchen Sinnkonzept wird das scheinbar sinnlose Leiden, das wir einlei- tend in der Situation am Strand von Bodrum beschrieben haben, thematisch. Es rückt an die vorderste Stelle einer philosophischen Auseinandersetzung, aber es muss zugleich abstrahiert werden. Der nicht immer einfache Standpunkt der Wissenschaft verlangt Abstraktion vom konkreten Leiden, erst wenn wir die moralischen und sozialen Gesichtspunkte erweitern, können die Probleme tiefenschärfer erfasst werden. An diese Stelle des konkreten Leidens rückt daher die Konfliktualität in Geschichte und Gegenwart. Die Konfliktstruktur tendiert 18 Jörn Rüsen: Universalgeschichte als Sinnkonzept, in: Dux: Strukturen (wie Anm. 10), S. 235-250, hier S. 238.
ZWG-01-2020 Christian Wevelsiep: Annäherung an ein universales Sinnkonzept des Fremden | 197 im menschlichen Bewusstsein im Allgemeinen zur Auflösung. Das Leiden soll aufgehoben und die Isolation des Einzelnen überwunden werden, so wie beispielsweise eine als Krise eingestufte Fluchtbewegung durch Verfahren der Integration behoben werden sollte. Diese Semantik der Krise ist ein politisches Thema. Aber sie berührt eigentlich nur am Rande eine Thematik, die wir hier eigens in das Zentrum rücken: Zwischen einem gegebenen Konflikt und seiner gesellschaftlichen Lösung steht der irritierende Aspekt des Fremdbleibens in der Geschichte. Dieser ist nicht psychologisch zu verstehen. Das Fremdwerden und Fremdbleiben hat eine philosophisch-anthropologische Dignität, die über ein augenblickliches Gefühl hinausgeht. Fremdwerden und Fremdbleiben in der Geschichte ist ein Thema der Anthropologie geschichtlicher Zeiterfahrung. Es berührt die großen Fragen, die sowohl an die Historik wie an die hermeneutischen Traditionen gerichtet werden. Wie kann man dem Chaos geschichtlicher Befunde eine rationale Ordnung abgewinnen, welche Verstehenslehre lässt sich der Unvernunft des Geschehens entgegenhalten? Reinhart Koselleck hat in diesem Zusammenhang nach den theoretischen Vorgaben gefragt, die begreiflich machen, warum sich Geschichten ereignen, wie sie sich vollziehen und wie sie folglich erzählt werden können.19 Es geht in hermeneutischer Tradition um das eminente Spannungsverhältnis von Sprache und Sachverhalt. Über Heideggers Existentialanalyse hinausgehend,20 erkennt Koselleck die Endlichkeitsbestimmungen des menschlichen Daseins in anthropologischen Oppositionen. Die Zeiten der Geschichte sind nicht identisch mit existentiellen Modalitäten, sie sind nicht auf jenes Dasein zu re- duzieren, das sich dem Verdikt des Todes und der Einsamkeit ausgesetzt sieht. Geschichten werden hingegen ermöglicht durch interexistentielle Bestimmungen der Endlichkeit: Nicht nur das Vorlaufen zum Tod, sondern die Bedingungen von Tötenkönnen und Sterbenmüssen prägen die historischen Erscheinungs- formen zwischen Frieden und Krieg. Die Oppositionen von Innen und Außen, Freundschaft und Feindschaft bestehen gleichsam als Denknotwendigkeit, ohne 19 Reinhart Koselleck: Historik und Hermeneutik, in: Ders.: Zeitschichten. Studien zur Historik, Frankfurt am Main 2000, S. 97-118. 20 Martin. Heidegger: Der Begriff der Zeit. Vortrag vor der Marburger Theologenschaft Juli 1924 (Hg.: Hartmut Tietjen), Tübingen 1989; Ders.: Die Grundbegriffe der Meta- physik. Welt – Endlichkeit – Einsamkeit (Hg.: Friedrich-Wilhelm von Herrmann), Frankfurt am Main 1983 (Freiburger Vorlesung Wintersemester 1929/30); Ders.: Sein und Zeit, Tübingen 192006 (zuerst 1927).
198 | Christian Wevelsiep: Annäherung an ein universales Sinnkonzept des Fremden ZWG-01-2020 die alle moralischen Verhältnisse kurzatmig bleiben. Schließlich bleibt nicht nur der „Hinnahmezwang des Daseins“21 zu registrieren, sondern ferner die Generativität einschließlich möglicher Brucherfahrungen, die Opposition von Herrschaft und Knechtschaft, oben und unten, Geheimnis und Öffentlichkeit. Die Gemeinsamkeit dieser anthropologischen Bestimmungen findet sich im Rätsel der menschlichen Existenz, das als geschichtliches Dasein auf Verstehen hin angelegt ist. In und mit der Sprache versuchen wir, den historischen Be- funden Sinn abzuringen, durch Sprache konstruieren und erfassen wir diese geschichtliche Welt. Welterfahrung ist nur sprachlich möglich, sie verlangt eine hermeneutische Verstehenslehre und sie ist auf Sprachlichkeit als die ihr innewohnende Vollzugsweise verwiesen. Aber wie hell ist das Licht, das vom philosophischen Turm auf das Dunkel der Geschichte geworfen wird – wird die unvernünftige Geschichte durch Einsichtigkeit vernünftig, erhellt also die sprachliche Vermittlung das Geschehen auf eine Weise, dass die Grundstruk- turen des Daseins „Horizonte des Erwartens, des Hoffens, des Wagens und des Nichtverzagens“ eröffnen?22 Oder bleibt das geschichtliche Bewusstsein auf jenes Bild verwiesen, das ungleich skeptischer gestimmt ist: dass sich am Strom der Überlieferung Trümmer des Geschehens, verstreute Texte, theoretische Ver- satzstücke und vor allem verstreute Erinnerungen an das menschliche Leiden aufweisen lassen, die der Historiker an sich vorbei ziehen lässt – um willkürlich einzelne Motive herauszugreifen? Wie auch immer man die Dinge betrachtet, skeptisch oder hoffungsvoll, bleibt doch die Grunderfahrung bestehen, dass die Erfahrung der Geschichte einer uneinholbaren Sinnvorgabe gleicht, die jenem Moment des Fremden in der Geschichte nahe kommt. Es gibt eine verstörende Überlegenheit dessen, was verstanden werden soll und doch nie vollkommen eingeholt werden kann. Die Entzogenheit und Verdecktheit in der primären Welt Die Begriffe des Geschichtlichen und der Existenz stehen in einem inneren Bedeutungszusammenhang. Dieser Zusammenhang ist nicht beliebig und er kann zu gröbsten Missverständnissen führen. Ist die Geschichte als jener Prozess zu verstehen, der einem vordergründigen Plan entspringt, eine höhere Form der Vernunft in der Geschichte hervorbringt? Ist sie ein Geschehen, das 21 Koselleck: Historik (wie Anm. 19), S. 106. 22 Hans-Georg Gadamer: Historik und Sprache. Eine Antwort, in: Koselleck: Zeitschich- ten (wie Anm. 19), S. 119-130, hier S. 121.
ZWG-01-2020 Christian Wevelsiep: Annäherung an ein universales Sinnkonzept des Fremden | 199 durch Absichten, Zwecke, moralische und sittliche Bestrebungen „vollendet“ würde? Diesem älteren Begriff der Geschichtsphilosophie ist bekanntlich hin- reichend Kritik entgegengebracht worden, die wir hier nicht eigens ausführen müssen. Distanzieren wir uns von diesen älteren Vorstellungen, dann bleibt ein Grundkonflikt bestehen: Die Geschichte ist nicht einfach nur ein natürlicher Prozess, der mit den Methoden der Naturwissenschaft entschlüsselt werden könnte, sondern sie entstammt dem Feld der menschlichen Praxis. Diese Praxis ist als Ganze gesehen unübersichtlich, unverständlich, nicht selten widersinnig. Sie ist nicht als die Summe einzelner Handlungen zu verstehen, noch als sinn- volles Produkt eines einmal erworbenen Willens. Sie ist nicht als vernünftig zu beschreiben, aber auch nicht als naturgemäß, insoweit Menschen kulturellen Sinn hervorbringen. Eine Diskrepanz, die zu einem Ausgleich führen soll und insofern ein philosophisches Thema ist. Philosophie der Geschichte in unserem Sinne meint insofern eine bedeutsame Verschiebung: Vom Vernunft hervor- bringenden Sinn der einen Geschichte geht es um den vielfältigen Sinn in der Geschichte, um den Mitteilungssinn, den alle Geschichte hervorbringt. Die Philosophie des 18. Jahrhunderts war bekanntlich von dem Gedanken durch- drungen, dass an der Stelle der fehlenden vernünftigen Absicht der Menschheit so etwas wie eine vernünftige Tendenz in der Geschichte verborgen sei. Dem- gegenüber richtet sich die Philosophie des 20. Jahrhunderts, denken wir nur an die Hermeneutik Gadamers23 oder die Existenzphilosophie Heideggers, auf einen Begriff der Geschichte, der als Ort der Selbsterkenntnis der Menschheit im Modus des Verstehens fungiert. Die Menschen erscheinen nun als Subjekte der Geschichte und als Objekte der Historie, als geschichtsbewusste Wesen. In der Historik erkennen sie den unablässigen Strom des Überlieferungsgeschehens, dem sie mehr als nur geschichtliche Bruchstücke, sondern einen tragenden Sinn entnehmen wollen. „Dieses Bewusstsein ist Bewusstsein vom Historischen und weiß sich zugleich als historisches, das heißt, es vermag sich seiner Identität und Eigenart nur durch Historie zu vergewissern.“24 Die philosophische Grundlage eines solchen Bewusstseins kann insofern, apodiktisch formuliert, nur eine exis- tentialphilosophische sein. Sie muss gewissermaßen auf den unhintergehbaren Sinnbedingungen unseres Daseins aufruhen, die wir als unaustauschbare Wesen 23 Hans Georg Gadamer: Rhetorik, Hermeneutik und Ideologiekritik, in: Karl Otto Apel (Hg.): Hermeneutik und Ideologiekritik, Frankfurt am Main 1971, S. 57-82. 24 Herbert Schnädelbach: Philosophie und Geschichte, in: Hans-Jürgen Goertz (Hg.).: Geschichte. Ein Grundkurs, Reinbek 32007, S. 666-687, hier S. 682.
200 | Christian Wevelsiep: Annäherung an ein universales Sinnkonzept des Fremden ZWG-01-2020 erfahren. Lebensdienliche Geschichte wäre demnach etwas, das sich aus der Endgültigkeit und Einmaligkeit des interexistentiellen wie des geschichtlichen Geschehens heraus ergibt. Dieser Form der Weltgeschichte sind die Aspekte der Wehrlosigkeit und der Ohnmacht, der Fragilität und der Bedrohtheit cha- rakteristisch. Diese Geschichte zerfällt nicht in ein Sein und ein Sollen. Sie ist nichts mehr und nichts weniger als der Vollzug der endlichen Totalität in einer gemeinsamen Grundsituation.25 In ihr gibt sich eine dauerhafte Fremdheit zu erkennen. Fremdheit ist also ein Begriff, für den wir tieferreichende anthropologische Analysen vorschalten müssten. Schon die einfachsten Voraussetzungen wären zu prüfen, wie wir lebensweltlich Fremdheit erfahren. Soziologisch könnten wir das Fremde als eine durchgängige Erfahrung der Moderne beschreiben, wenn wir etwa den Nahbereich von vertrauten Bindungen von dem Fremdwerden mit allen denkbaren Lebensformen der Gegenwart unterscheiden. Anthropologisch betrachtet ist es aber sinnvoll, von einer prinzipiellen wechselseitigen Entzogen- heit und Verdecktheit im gemeinsamen Leben auszugehen, die unhintergehbar zur menschlichen Praxis gehören. Unabhängig von räumlicher oder sozialer „Ferne“ gilt für die Phänomenologie, dass Ferne und Fremdsein die Konstitution der menschlichen Welt ausmachen. Alterität ist konstitutiv, das heißt, Fremd- heit beginnt nicht erst, wenn wir einen Horizont überschreiten und jenseits einer Grenze auf „Andere“ stoßen. Sie beginnt im konkreten Lebensvollzug, insoweit wir selbst uns nur als fragile, endliche Wesen verstehen können. So wie der Gang der Geschichte immer nur als stotternder zu verstehen ist, so unter- liegt die menschliche Praxis der Tendenz zur Verdeckung, Unbekanntheit und Verborgenheit. Solche Fremdheit prägt von Beginn an unsere gesellschaftliche Lebenspraxis auch im moralrelevanten Sinne. Der Ausgangspunkt, vom dem aus wir eine gemeinsame Geschichte entfalten können, liegt im Bewusstsein der interexistentiellen Negativität. Nicht erst wenn wir eine uns fremde Welt erschlie- ßen, ferne Räume erobern und anderen Menschen „begegnen“, beginnt diese Fremdheit, sondern sie ist der früheste Bestandteil unserer praktischen Lebens- situation. Ferne, Fremdheit, Entzogenheit, aber auch Unverfügbarkeit bedingen einen Humanismus der Alterität, einen ethischen Universalismus: für diesen gilt das Bewusstsein der Einmaligkeit und irreduziblen Ganzheit des Fremden und 25 Rentsch: Konstitution (wie Anm. 14), S. 60-62; S. 155-160. 26 Thomas Rentsch: Die Kultur der Differenz, in: Ders.: Negativität und praktische Vernunft, Frankfurt am Main 2000, S. 96-120, hier S. 112-117.
ZWG-01-2020 Christian Wevelsiep: Annäherung an ein universales Sinnkonzept des Fremden | 201 Anderen, ein universalistisches Bewusstsein kultureller Differenzen auf allen Ebenen der Interaktion (und damit nicht erst auf der Ebene von Willkommens- kulturen). Dieser Humanismus des Fremden bewegt sich in seinen praktischen Urteilen in einer Welt singulärer Totalität, Urteile, die uns dazu zwingen, dem Fremden eine bestimmte Gestalt zu verleihen.26 Mit diesem Fremdbleiben in der Geschichte gerät die traditionelle Vorstellung der Geschichte als ethnozentrische Überhöhung ins Wanken. Fremdheit ist demnach kein trennendes, sondern ein verbindendes Element. Das Fremde stört im herkömmlichen Verständnis den Lauf der Geschichte. Es gilt vielleicht als das Widersetzliche, Verstörende, das in keine Meistererzählung so recht passen will oder die Ausübung von herr- schaftsgetriebenen Ideen behindert. Solche Formen des Fremden „dürfen“ nicht bestehen bleiben und müssen der Vernunft angepasst werden. Das Fremde, um das es hier geht, wäre allerdings auf diese Weise missverstanden, denn es ist ein sinnbildendes, produktives Element im historischen Erkenntnisprozess. Die Uneinholbarkeit der Gerechtigkeit Das Fremde im geschichtlichen Prozess ist nicht das personale Fremde. Natürlich bietet es sich an, den Begriff des Fremden vorrangig mit einer Personalisierung gleichzusetzen. Die Figur des „Fremden“ ist eine soziale Figur, mit der wir im Allgemeinen Jemanden in einem sozialen Netz der Vertrautheit bezeichnen, jemanden, der aus den allgemeinen, vertrauten, bekannten Bestimmungen he- rausfällt. Dieser Fremde entzieht sich den formalen Kriterien, die den engeren Bereich des Eigenen bezeichnen. „Es gibt“, so schreibt Bernhard Waldenfels, „keine Welt, in der wir je völlig zu Hause sind und kein Subjekt, das je Herr im eigenen Hause wäre.“27 Dieser eigentümliche Subjektverlust ist von einer Tragweite, die man kaum geringschätzen kann. Sie berührt die Geschichte des 20. Jahrhunderts, in dem sich die doppelte Lähmung des Subjektgedankens entfalten konnte: als spezifisches Syndrom planmäßiger Politik der Vernichtung, aber auch als verhinderte Geschichte der Widerständigkeit. Dieser Verlust gilt seitdem als eine Leerstelle der Selbstbestimmung.28 27 Unter all den Studien, die zum Thema bekannt sind, ragt die Topographie des Fremden von Bernhard Waldenfels heraus: Bernhard Waldenfels: Studien zur Phänomenologie des Fremden, Bd. 1: Topographie des Fremden, Frankfurt am Main 1997, S. 11. 28 Hans Ebeling: Das Subjekt in der Moderne. Rekonstruktion der Philosophie im Zeit- alter der Zerstörung, Reinbek 1993.
202 | Christian Wevelsiep: Annäherung an ein universales Sinnkonzept des Fremden ZWG-01-2020 Das Fremde ist in dieser Tradition also weitaus vielschichtiger als die schillern- de Begegnung mit einem Unbekannten. Es umfasst menschliche Erfahrungen des Fremdbleibens wie auch die irritierende Einsicht in den widersinnigen, ungerech- ten oder gar absurden Gang der Geschichte. Die Geschichte bleibt fremd, inso- weit etwas sich dem Gerechtigkeitsempfinden entzieht. Sie bleibt dunkel, weil immer unabgeschlossene und unerfüllte Geltungsmomente erkennbar bleiben. Am Beispiel der Gerechtigkeit lässt sich dieser Zug des Historischen erläutern. Das Thema ist so alt wie die Geschichtsschreibung selbst. Herodot und Thukydides, die als die Väter der antiken Geschichte gelten, haben auf verschie- dene Weise nach dem Verhältnis von Tatbestand und Urteilsbildung gefragt.29 Herodot blieb dabei der mythischen Tradition treu, er sah in allen Geschichten eine innewohnende Gerechtigkeit walten, die den Menschen früher oder später ihre Vermessenheit und Verblendung vor Augen hielten. Thukydides erweiterte dieses Deutungsschema, indem er den Menschen als ein Wesen der Macht prä- sentierte. Eine Macht, die unausweichlich in die politischen Bezüge eingelassen war und als selbständige Größe in der Geschichte zu betrachten sei, im Maße ihres Steigens und Fallens, ihrer Intensität, ihres Zwangs und ihrer Eigengesetz- lichkeit.30 Damit war aber bereits das Thema der ausbleibenden Gerechtigkeit gesetzt, das sich im Grunde bis in die Neuzeit durchhalten sollte: die Geschichte vollstreckt keine ihr innewohnende Gerechtigkeit und keine Moral. Es ist die Ahnung einer Negativitätsfeststellung, die sich durch keine Schuldtitel, keine nachholende Entsühnung, kein irdisches oder überirdisches Weltgericht ein- holen ließe. Die Gerechtigkeit, die sich im konkreten Recht realisieren lässt, entzieht sich als historisch einmaliges Geschehen dem Menschen. Wir können mit Reinhart Koselleck der Geschichte keine präzise Anleitung zur moralischen Urteilsbildung entnehmen; 31 der gestalteten Geschichte wohnt keine immanente Gerechtigkeit inne, die ein wie auch immer gestaltetes Urteil aus dem geschicht- lichen Geschehen ergibt. 29 Thukydides: Der Peloponnesische Krieg (Übers. u. hg. v. Georg Peter Landmann), Düsseldorf u. Zürich 1991; Bruno Bleckmann: Der Peloponnesische Krieg, München 2007, S. 13; Wolfgang Will: Thukydides und Perikles. Der Historiker und sein Held, Bonn 2003; ferner Hartmut Leppin: Thukydides und die Verfassung der Polis. Ein Beitrag zur politischen Ideengeschichte des 5. Jahrhunderts v. Chr., Berlin 1999. 30 Reinhart Koselleck: Geschichte, Recht und Gerechtigkeit, in: Ders.: Zeitschichten (wie Anm. 19), S. 336-358. 31 Ebd., S. 338.
ZWG-01-2020 Christian Wevelsiep: Annäherung an ein universales Sinnkonzept des Fremden | 203 Diese Einsicht ist unter historiographischem Blickwinkel trivial. Sie verliert aber etwas von dieser Trivialität, wenn sie auf das Verhältnis von Sprache und Sachverhalt gelenkt wird, wenn wir also berechtigterweise danach fragen, wie Leidensgeschichten über ihr unerfülltes Vergangen-Sein hinausgeführt werden könnten. Auch ohne eine einklagbare Gerechtigkeit sind Geschichten zu erzäh- len, die eine besondere Aufmerksamkeit verdienen. Geschichten, die sich von der frühen Neuzeit bis zur jüngsten Gegenwart erstrecken und das moderne europäische Bewusstsein um eine historische Dimension erweitern, auch wenn sie die Gegenwart nicht klüger machen. Durch die Darstellung eines Textes scheint die Geschichte über ihr schlichtes trauriges Vergangen-Sein hinausgeführt zu werden. Eine Ahnung von dem, was fehlt, durchwirkt alle Geschichten, die nie erzählt werden konnten. Die Geschichte erscheint von diesem Gesichtspunkt her als sinnwidrig. Erst wenn wir die Vergangenheit „aufarbeiten“, unerkannte und unerzählte Geschichten erschließen und neue Quellen ins Licht rücken, wird ein wert- und zweckhafter Überschuss menschlicher Leidensdeutung erkennbar. „Die Vergangenheit ist in diesen Voraussetzungen und Umständen immer schon gegenwärtig. Daher sind wir im Handeln und Leiden immer schon über diese Vergangenheit in der Gegenwart hinaus. Das historische Denken biegt nun dieses Darüberhinaus- sein des menschlichen Lebens über seine Voraussetzungen, Bedingungen und Umstände zurück auf die Vergangenheit. Es macht sie als Geschichte bewusst und dabei gewinnen sie eine eigene Bedeutung. Auf diese Weise wird die Ver- gangenheit aus einer vorgegebenen Vorgeschichte in der Gegenwart zur einer bedeutungsvollen Geschichte für die Gegenwart und für deren sinnhafte Erstre- ckung in die Zukunft.“32 Jörn Rüsen spricht im Zusammenhang der Historik für eine interessante Tendenz gegenüber und in aller Geschichte. Man kann es das Begehren nennen, die Vergangenheit besser zu machen und die Schwere der Erfahrung, das Widersinnige und Negative in der historischen Denkbewegung mit Bedeutung anzureichern. Wie weit können wir diesem Interesse an der Geschichte gerecht werden? Geschichte, insbesondere die Geschichte der Gewalt, ist ein schwer erfassbarer Gegenstand. Eine vergangene Wirklichkeit soll für die Gegenwart sprachlich erfasst werden. Ihre vergangene Realität also mithilfe der Sprache entschlüsselt werden. Im Blick auf die „neuesten“ Verfahren der Historie und die Ansammlung 32 Rüsen: Kann gestern (wie Anm. 2), S. 34.
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