Die Quadratur des Kreises - Belgien auf Regierungssuche
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Februar 2020 Europabüro Brüssel Die Quadratur des Kreises – Belgien auf Regierungssuche Ein Zwischenstand der Regierungsbildung Belgiens Dr. Hardy Ostry, Frederik Lippe rung bildete eine Koalition aus Nationa- „J’en ai marre“ – „mir reichts“ mit diesen listen, Christdemokraten und Liberalen. Worten kommentierte Paul Magnette, Während die extremen Parteien an bei- Chef der französischsprachigen Sozialis- den Rändern insgesamt deutlich dazuge- ten (PS), bereits vor einigen Tagen den wannen, mussten die traditionellen Par- Stand der Gespräche über eine mögliche teien starke Verluste hinnehmen. Allge- Regierungsbildung in Belgien. Die Wah- mein kann das Wahlergebnis damit be- len vom 26. Mai 2019 liegen inzwischen schrieben werden, dass Flandern stark 278 Tage und damit mehr als neun Mo- nach rechts und Wallonien stark nach nate zurück, und noch immer wurde auf links gerutscht sind. föderaler Ebene keine Mehrheit für eine Regierung gefunden. Nach bereits fünf Die gesetzgebende Macht Belgiens wird erfolglosen Versuchen wurden inzwi- vom Föderalen Parlament gemeinsam schen die sechsten Beauftragten von Kö- mit dem König ausgeübt. Die Kompeten- nig Philippe eingesetzt, um eine Mehrheit zen des Königs sind jedoch durch die Ver- für eine Regierung zu finden. Es bleibt fassung stark begrenzt. Das Parlament nun abzuwarten, ob diese Gespräche zu besteht aus dem Senat (Oberhaus) und einem Erfolg führen, oder ob am Ende der Abgeordnetenkammer (Unterhaus). gar Neuwahlen drohen, deren Ergebnisse Die „Kammer“, welche zahlreichere und eine Regierungsbildung sehr wahrschein- wichtigere Zuständigkeiten besitzt, hat lich noch verkomplizieren würden. In der 150 Sitze für die direkt gewählten Volks- Zwischenzeit nähert sich Belgien weiter vertreter. Sie teilt sich in eine niederlän- seinem Weltrekord aus dem Jahr 2011, dische Sprachgruppe (zurzeit 87 Abge- in dem es 541 Tage lang gedauert hat, ordnete) und eine französische Sprach- bis eine neue Föderalregierung gefunden gruppe (zurzeit 63 Abgeordnete) auf. Der wurde. Senat wurde seit der letzten Verfas- sungsänderung im Jahr 1993 stark ver- Die Wahlen – ein Rückblick kleinert und besitzt seitdem weitaus we- niger Macht. Es ist der Ort der Zusam- Bei den Wahlen vom 26. Mai 2019 wur- menkunft der Gemeinschaften und Regi- den in Belgien neben dem föderalen Par- onen. lament die drei Regionalparlamente so- wie das Europäische Parlament gewählt. Die größte Fraktion in der Abgeordneten- Die neuen Regionalregierungen Walloni- kammer wird von den flämischen Natio- ens sowie der Region Brüssel-Hauptstadt nalisten (N-VA) gebildet, obwohl sie konstituierten sich aus Sozialisten, Libe- starke Verluste hinnehmen mussten. Die ralen und Grünen. Die flämische Regie-
Konrad-Adenauer-Stiftung e. V. Länderbericht Februar 2020 zweitgrößte Gruppe stellen die franzö- der belgischen Verfassung als Vermittler sischsprachigen Sozialisten (PS), gefolgt bei Regierungsbildungen weiterhin eine von den rechtsextremen Vlaams Belang. wichtige Rolle. Er kann Politiker auffor- Links- und rechtsextreme Parteien kom- dern, als Informatoren zu wirken bzw. men zusammen auf rund 20 Prozent der eine Regierung zu bilden. Stimmen. Eine mehrheitsfähige Regie- rung muss über mindestens 76 der 150 Das erste Informatorenduo, das vom Kö- Sitze in der Kammer verfügen. 35 Sitze nig mit Sondierungen beauftragt wurde, werden von links- bzw. rechtsextremen bestand aus Johan Vande Lanotte von Parteien belegt, mit denen alle anderen den flämischen Sozialisten (SP.A) sowie Parteien die Zusammenarbeit ausschlie- Didier Reynders von den frankophonen ßen. Auch die frankophonen Christdemo- Liberalen (MR). Sie versuchten vor allem, kraten (CDH) entschieden sich mit ihren den Weg für eine lila-gelbe Koalition frei fünf Sitzen freiwillig für einen Platz in der zu machen. Dieses Ziel scheiterte jedoch Opposition. Es müssen somit nicht 76 an den inhaltlichen Unterschieden zwi- von 150 Sitzen gefunden werden, son- schen den beiden größten Parteien der dern 76 von 115. Eine stabile Mehrheits- jeweiligen Landesteile. Die N-VA möchte findung erweist sich dadurch als äußerst entweder eine Mitte-Rechts-Regierung kompliziert. mit einem sozio-ökonomischen Pro- gramm oder alternativ eine linkere Re- Drei mögliche Koalitionen werden seit der gierung mit institutionellen Reformen. Wahl intensiv diskutiert. Zum einen eine Die PS steht dagegen für eine Linkspolitik „lila-gelbe“ Mehrheit aus Sozialisten und mit sozialen Reformen und spricht sich Liberalen beider Landesteile sowie der N- gegen eine Staatsreform aus. Lanotte VA, benannt nach der Parteifarbe der N- und Reynders traten deshalb nach 131 VA (gelb) und lila - die Mischfarbe aus Tagen und fünf Auftragsverlängerungen dem Blau der Liberalen und dem Rot der erfolglos von ihrem Auftrag zurück. Sozialisten. Sie kämen zusammen auf 92 Sitze. Die zweite mögliche Koalition war Das zweite Informatorenduo, welches bis zum Rausschmiss eines PS-Abgeord- der König ins Feld schickte, bestand aus neten die sogenannte „Regenbogen“-Re- Rudy Demotte (PS) und Geert Bourgeois gierung, bestehend aus Sozialisten, Libe- (N-VA). Doch auch die beiden Politiker ralen und Grünen beider Landesteile – je- konnten ihre eigenen Parteien nicht einer doch ohne die stärkste Partei Flanderns, Einigung näherbringen und gaben ihr die N-VA. Diese Mehrheit, welche aus Amt nach vier Wochen erfolglos auf. Es vielen unterschiedlichen ideologischen bestanden unverändert zu große inhaltli- Parteien bestanden hätte, wäre lediglich che Unterschiede zwischen den flämi- auf 76 von 150 Sitzen gekommen. Wür- schen Nationalistischen und den franko- den die flämischen Christdemokraten, phonen Sozialisten. Auffällig waren hier die CD&V, sich an dieser Koalition betei- bereits die verhärteten Fronten, die ver- ligen, kämen sie zusammen auf eine mehrt auch in den Medien kommuniziert komfortable Mehrheit von 88 Sitzen. wurden. Diese dritte Möglichkeit wird „Vivaldi“- Koalition genannt, benannt nach dem Nachdem fast fünf Monate erfolglos da- Komponisten der „Vier Jahreszeiten“ in ran gearbeitet worden war, eine Mehrheit Anspielung auf die vier verschiedenen für eine lila-gelbe Regierung zu schmie- Parteifarben. den, beauftragte der König PS-Chef Paul Magnette als alleinigen Informator. Er Auf der Suche nach einer Re- versuchte erstmals, eine Mehrheit für gierung eine Regenbogen-Regierung zu bilden. Dieses von der PS favorisierte Bündnis, Der belgische König besitzt zwar nur das nur über eine hauchdünne Mehrheit noch wenig Macht, spielt allerdings nach von 76 der 150 Parlamentssitze verfügen
Konrad-Adenauer-Stiftung e. V. Länderbericht Februar 2020 würde, wurde jedoch von den franzö- Ebene Opposition spielen zu können, sischsprachigen Liberalen (MR) abge- während man auf regionaler Ebene Ver- lehnt. Mit einer Beteiligung der CD&V antwortung trägt. Bis zum 9. März erwar- käme dieses Bündnis immerhin auf 88 tet der König nun den ersten Bericht der Sitze in der Kammer (Vivaldi-Koalition). neuen Informatoren mit einem Zwi- Allerdings wird diese mögliche Mehrheit schenstand. von der CD&V blockiert, die darauf be- harrt, dass die N-VA Teil der Föderalre- Drohen Neuwahlen? gierung sein soll. Somit scheiterte auch der Versuch Magnettes mit der Suche Das Wahlergebnis vom 26. Mai 2019 hat nach einer Alternative zu einer lila-gelben ein Ergebnis hervorgebracht, das Belgien Regierung. unregierbar erscheinen lässt. Das Erstar- ken der extremen Parteien, der Verlust Mitte Dezember führten Joachim Coens der traditionellen politischen Mitte sowie (CD&V) und Georges-Louis Bouchez (MR) die Kompromisslosigkeit einzelner politi- als Informatoren die Sondierung im Auf- scher Akteure haben das Land in eine trag des Königs fort. Sie nahmen die Ge- Krise gestürzt. Die Fronten innerhalb der spräche über eine Mehrheit um die N-VA drei möglichen Optionen für eine Mehr- und PS (lila-gelb) wieder auf, an denen heit sind bereits seit den Wahlen unver- sich die Informatoren vor Paul Magnette ändert. Eine lila-gelbe Regierung wird zuletzt erfolglos probiert hatten. Obwohl durch die PS blockiert, die eine Koalition rund 30 Treffen der Parteichefs von N-VA mit der N-VA kategorisch ausschließt. Für und PS stattfanden, konnte der unverän- eine Regenbogen-Regierung besteht seit dert bestehende Konflikt zwischen den dem Rausschmiss eines PS-Abgeordne- beiden größten Parteien der jeweiligen ten keine Mehrheit mehr, und für eine Vi- Landesteile nicht gelöst und kein Kom- valdi-Regierung fehlt die Zustimmung promiss erzielt werden. der CD&V. Nach fünf erfolglosen Versu- chen des Königs, durch Informatoren Der fünfte Versuch, eine Mehrheit für eine mehrheitsfähige Regierung zu bil- eine Regierung zu finden, fand mithilfe den, ist während des aktuell sechsten von Vizepremier Koen Geens (CD&V) Versuchs allen Beteiligten klar, dass es so statt. Doch auch Geens trat frühzeitig nicht weitergehen kann. und merklich verbittert von seinem Amt zurück, nachdem PS-Chef Magnette ka- Fraglich ist nun, wie eine Lösung in dieser tegorisch in den Medien ausschloss, wei- aussichtslos erscheinenden Lage gefun- tere Gespräche mit der N-VA führen zu den werden kann. Sollte keine Partei ihre wollen. Seitdem sind die Liberalen Sabine Blockadehaltung aufgeben und einen Laurelle (MR) und Patrick Dewael (Open Kompromiss für eine Regierungsbildung VLD) im Auftrag des Königs unterwegs, eingehen, hat König Philippe eigentlich Sondierungsgespräche zu führen. Die nur noch zwei Optionen: Er kann eine In- beiden Vorsitzenden der Abgeordneten- terimsregierung aus Experten einsetzen. kammer sowie des Senats beschäftigen Jedoch würde auch eine Expertenregie- sich nach Magnette erstmals wieder mit rung eine Mehrheit im Parlament benöti- der Bildung einer Vivaldi-Regierung. Da- gen. gegen spricht sich jedoch nach wie vor CD&V aus, die weiterhin eine Regie- Die zweite Möglichkeit ist das Ausrufen rungsbeteiligung der N-VA fordert. Die von Neuwahlen. Dies kann durch die Auf- Hartnäckigkeit, mit der CD&V die Einbin- lösung der Kammern durch den König ge- dung der N-VA fordert, ist zum einen der schehen. Alternativ könnten Neuwahlen Tatsache geschuldet, dass man bereits in durch eine Revision der Verfassung erfol- Flandern gemeinsam regiert. Gerade gen, was automatisch Neuwahlen zur deshalb will man N-VA nicht in die lukra- Folge hätte. Die amtierende Regierung tive Position bringen, auf nationaler Wilmès und eine Mehrheit in der Kammer
Konrad-Adenauer-Stiftung e. V. Länderbericht Februar 2020 müssten beiden Optionen jedoch zustim- Flandern mit der niederländisch spre- men, was zurzeit nicht absehbar ist. Es chenden Mehrheit und im Süden in das sprechen sich zudem fast alle demokrati- französisch sprechende, wirtschaftlich schen Akteure gegen Neuwahlen aus. Le- schwächere Wallonien auf. Das ehemals diglich die extremen Parteien, allen voran zentralistische Land besitzt u.a. durch der rechtsextreme Vlaams Belang, favo- Unabhängigkeitsbestrebungen aus Flan- risieren ungeniert Neuwahlen, natürlich dern inzwischen Regionalparlamente mit aus dem Kalkül heraus, daraus Profit weitreichenden Kompetenzen. Belgien schlagen zu können und noch stärker zu leidet zudem an einer tiefen inneren Zer- werden. In einem neuen Wahlkampf rissenheit zwischen den beiden Sprach- würde es vermutlich noch weniger um In- gebieten. Auch die Parteien agieren in- halte wie Klima und Renten gehen, son- folge der Zersplitterung nicht landesweit, dern um die politischen Parteien und um sondern nach Sprachgebieten getrennt. das politische System an sich. Die vo- In Flandern wurden in den letzten Jahren raussichtlichen Ergebnisse eines erneu- eher rechte Parteien gewählt, in Wallo- ten Urnengangs in diesem Kontext lassen nien eher linke Parteien. nicht mehr Stabilität erhoffen, sondern noch mehr Fragilität. Die letzte Föderalregierung bestand aus der N-VA, CD&V sowie MR und Open VLD Der König ist sich seiner Verantwortung mit Charles Michel als liberalem Premier- bewusst und wird Neuwahlen zu vermei- minister. Die Regierung zerbrach jedoch den versuchen. Deshalb ist in den Ge- im Dezember 2018, da die N-VA den glo- sprächen der königlichen Beauftragten balen Migrationspakt der UN nicht mittra- viel Verhandlungsgeschick und Kreativi- gen wollte. Michel regierte bis zu den tät gefragt. Derweil ist fraglich, ob die Wahlen im Mai 2019 zunächst in einer Blockadehaltung einzelner Parteien bzw. Minderheitsregierung weiter. Nach den politischer Akteure noch im Willen der Wahlen führte er das Amt bis zu seiner Wähler liegt. Der belgische König appel- Wahl zum EU-Ratspräsidenten im Okto- lierte deshalb bereits bei seiner Neu- ber 2019 als geschäftsführender Premi- jahrsansprache im Januar an den Realis- erminister fort. Im Anschluss übernahm mus und das Verantwortungsbewusst- die bisherige Haushaltsministerin Sophie sein der Politiker und forderte alle Ak- Wilmès das Amt als geschäftsführende teure auf, „nach Übereinstimmung zu Premierministerin und steht bis heute an streben zum Nutzen für das Allgemein- der Spitze der Regierung. wohl und echte Kompromisse zu schlie- ßen, Vereinbarungen also, bei denen je- Die geschäftsführende Regierung aus Li- der auf etwas verzichtet, damit das beralen beider Landesteile sowie der Ganze dabei am Ende gewinnt“. Die un- CD&V, welche seit den letzten Wahlen terschiedliche Sichtweise zwischen König nur noch auf 38 von 150 Sitzen im Parla- Philippe und PS-Chef Magnette („Mir ment kommt, ist in ihren Gestaltungs- reichts“) wird an deren Wortwahl sehr möglichkeiten stark eingeschränkt. Sie schön deutlich. kann u.a. keinen Haushalt verabschie- den, was gerade in Anbetracht der gra- Die politische Situation in vierenden Schuldenlage Belgiens, die be- Belgien reits von der EU-Kommission angemahnt wurde, besonders besorgniserregend ist. Belgien, das de facto zweigeteilt ist, hat Belgien hat gemessen zum Bruttoin- seit 1970 bereits sechs Staatsreformen landsprodukt die vierthöchsten Schulden hinter sich und gilt trotzdem noch immer in der gesamten EU. Es geht also in die- als schwer regierbar. Neben einer kleinen sem Drama nicht nur um Posten-Gescha- deutschen Minderheit teilt sich das Land cher, sondern um den Staatshaushalt, im Norden in das wirtschaftlich starke der eine große Bedeutung für das Land und die Bevölkerung hat.
Konrad-Adenauer-Stiftung e. V. Dr. Hardy Ostry Leiter Europabüro Brüssel www.kas.de/bruessel hardy.ostry@kas.de Der Text dieses Werkes ist lizenziert unter den Bedingungen von „Creative Commons Namensnennung-Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 international”, CC BY-SA 4.0 (abrufbar unter: https://creativecom mons.org/licenses/ by-sa/4.0/legalcode.de) www.kas.de
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