Exit der Skeptiker Wie sich der Brexit auf die Europawahlen 2019 auswirken wird - Die Zeitschrift
←
→
Transkription von Seiteninhalten
Wenn Ihr Browser die Seite nicht korrekt rendert, bitte, lesen Sie den Inhalt der Seite unten
Europa
Exit der Skeptiker
Wie sich der Brexit auf die Europawahlen 2019 auswirken wird
Nicolai von Ondarza und Felix Schenuit | Der britische Austritt aus der EU ist
der größte politische Erfolg von Gegnern der europäischen Integration –
und wird voraussichtlich wenige Wochen vor den Europawahlen 2019 voll-
zogen. Paradoxerweise aber zwingt der Brexit die EU-skeptischen Partei-
en zum Umbau, parlamentarisch und politisch.
Der 29. März 2019 ist das Datum, politischen Einigung zwar weiter an
an dem das Vereinigte Königreich al- EU-Regeln gebunden, als Drittstaat
ler Voraussicht nach als erstes Land aber nicht mehr in den EU-Instituti-
überhaupt den Austritt aus der Euro- onen repräsentiert sein wird. Mit dem
päischen Union vollzieht. Das ist nur früheren Anführer der UK Indepen-
knapp acht Wochen vor den nächsten dence Party (UKIP) Nigel Farage ver-
Europawahlen, zu denen die Europä- lässt damit nicht nur eine der schil-
erinnen und Europäer in dann nur lerndsten Figuren das Straßburger
noch 27 EU-Staaten an die Wahlurne Parlament, auch auf die Mehrheits-
gerufen werden, um das nächste Eu- verhältnisse zwischen den anderen
ropäische Parlament zu wählen. Parteien wird sich der Brexit spürbar
Noch ist völlig unklar, unter wel- auswirken.
chen Umständen der Brexit dann ab-
laufen wird; selbst eine Verlängerung Die EVP als Gewinner
der Verhandlungen über das Datum Der unmittelbarste Effekt des Bre-
hinweg ist nicht völlig ausgeschlos- xit auf das Europäische Parlament
sen. Doch ob am Ende ein „weicher sind die Verschiebungen zwischen
Brexit“, ein „harter Brexit“ oder „no den Parteien (siehe Grafik 1). Bei
deal“ steht – sobald Großbritanni- den großen Parteien ist die Europä-
en die EU verlässt, werden auch sei- ische Volkspartei (EVP), Heimat der
ne politischen Repräsentanten alle deutschen CDU/CSU, der offensicht-
EU-Institutionen verlassen, ein- liche Gewinner. Denn seit die briti-
schließlich der 73 britischen Abge- schen Konservativen die EVP im Jahr
ordneten im Europäischen Parlament. 2009 verlassen haben, hat die größ-
Dies gilt auch für die Übergangszeit, te europäische Partei keinen Partner
so sie denn zustande kommt, in der im Vereinigten Königreich mehr. Da
Großbritannien nach der vorläufigen alle anderen Fraktionen Abgeordnete
76 IP • November / Dezember 2018
Exit der Skeptiker
Bild nur in
Printausgabe verfügbar
verlieren, steht die EVP als relativer damaligen Spitzenkandidaten Mar-
Gewinner dar. Die europäischen So- tin Schulz Chancen auf das Amt des
zialdemokraten (S&D) verlieren mit Kommissionspräsidenten ausrech-
Labour hingegen die westeuropäische nete, dürfte eine Mehrheitsbildung
sozialdemokratische Partei, die mit im Europaparlament nach 2019 nur
40 Prozent bei den letzten nationalen mit der EVP möglich sein. Der Spit-
Wahlen noch am besten dastand; ak- zenkandidat der EVP hat damit auch
tuell stellen sie 20 S&D-Abgeordnete. die besten Chancen, Präsident der
Die Verluste bei der liberalen ALDE, EU-Kommission zu werden.
den europäischen Grünen und der
Europäischen Linken sind hingegen Verlustgeschäft für EU-Kritiker
deutlich geringer. Noch größer sind die Auswirkun-
Für das Machtverhältnis im Euro- gen bei den EU-skeptischen Fraktio-
paparlament ist das entscheidend: Ne- nen. Seit dem Zuwachs bei den Wah-
ben den zu erwartenden Verlusten so- len 2014 nehmen tendenziell antieu-
zialdemokratischer Parteien etwa in ropäisch eingestellte Parteien knapp
Italien, Deutschland oder Frank- 20 Prozent der Sitze im EP ein, ver-
reich wird der Brexit dazu beitragen, teilen sich aber auf drei Fraktionen,
dass die EVP die Position als stärkste in denen jeweils britische Abgeord-
Fraktion auch nach den Wahlen 2019 nete eine wichtige Rolle spielen. Die
fast sicher hat. Das wird sich eben- – bis dato – moderat EU-skeptische
falls auf das Spitzenkandidatenprin- Fraktion der Europäischen Konser-
zip auswirken. Während der Kampf vativen und Reformer (EKR) wird
um die Position als größte Fraktion von zwei Säulen getragen, den briti-
2014 noch als offenes Rennen galt, bei schen Tories und der polnischen Frei-
dem sich auch die S&D unter ihrem heits- und Gerechtigkeitspartei (PiS),
IP • November / Dezember 2018 77Europa
die zusammen 37 der 73 EKR-Abge- gestimmt. Die EFDD wird den Bre-
ordneten stellen. Das Europaparla- xit kaum überleben, und die anderen
ment verliert damit die mitunter kon- kleinen Partner werden sich umori-
struktivsten Abgeordneten aus dem entieren. Die Schwedendemokraten
EU-skeptischen Lager. Auch nach etwa haben die EFDD im Juli 2018
dem Brexit hat die EKR mit Parteien in Richtung EKR verlassen. Und die
aus 17 EU-Staaten genügend Mitglie- Alternative für Deutschland, deren
der, um als Fraktion fortzubestehen – aktuell einziger Europa-Abgeordne-
allerdings mit einer dann deutlichen ter (von ursprünglich sieben) in der
Prägung aus Mittel- und Osteuropa, EFDD sitzt, wird sich dann auch neu
aus dem 31 der 54 übrigen EKR-Ab- orientieren müssen.
geordneten stammen. Die ebenfalls fundamental EU-kri-
Vor dem Zusammenbruch steht tische Fraktion „Europa der Nationen
hingegen die fundamental EU-kriti- und Freiheit“ (ENF) hat zwar keine
sche Fraktion des „Europa der Frei- britische Mitgliedspartei, ist aber für
heit und Direkten Demokratie“ den Fraktionsstatus (noch) auf ein-
(EFDD). Diese Fraktion ist von Be- zelne britische Mitglieder angewie-
ginn an eine Zweckgemeinschaft aus sen. Angesichts erwartbarer Zuwäch-
UKIP und italienischer Fünf-Ster- se etwa für die italienische Lega dürf-
ne-Bewegung gewesen. Während te die ENF sich aber auch nach den
UKIP via Brexit das Europaparlament Wahlen 2019 wieder bilden können.
verlässt, hat die Fünf-Sterne-Bewe- Kurzum: Das EU-skeptische Spek-
gung ihre EU-Kritik zumindest rhe- trum wird sich nach dem Brexit und
torisch abgemildert – und im EP bei- den Europawahlen 2019 neu ordnen
spielsweise für das Artikel-7-Verfah- müssen. Insbesondere die EFDD steht
ren gegen Viktor Orbáns Regierung vor dem Aus. Für diese Neuordnung
Folgen des Brexit 1: Verluste bei den Fraktionen im EP*
68
52 (-1) 219 (-2)
(-6)
188 (-20)
73 (-19)
42 (-19)
35 (-1)
51 (-1)
23 (-4)
* aktuelle Sitzverteilung (Verluste in Klammern)
78 IP • November / Dezember 2018Exit der Skeptiker
gibt es zwei grundsätzliche Szenarien: Bereits im Sommer 2018 haben die
eine fortgesetzte Spaltung in eine mo- EU-Institutionen entschieden, wie
deratere, stärker mittel- und osteuro- mit den 73 Sitzen nach dem Brexit
päisch geprägte EKR-Fraktion sowie umgegangen werden soll – 27 werden
eine klar rechtspopulistische, funda- an 14 unterrepräsentierte Mitglied-
mental EU-kritische ENF, die mitei- staaten verteilt, um bestehende Un-
nander um jede einzelne Partei und gleichgewichte bei der Repräsentati-
die Vorherrschaft im EU-skeptischen on im Parlament auszugleichen (sie-
Lager ringen. Die zweite Option ist he Grafik 2).
eine EU-skeptische Sammelfraktion,
die von der ungarischen Fidesz (jetzt Verschiebungen zur Euro-Zone
EVP) über die EKR-Fraktion bis hin Das Europaparlament wird damit erst-
zu EFDD und ENF reichen könnte. mals spürbar kleiner und schrumpft
Eine solche Sammelfraktion, wie sie von 751 auf 705 Abgeordnete. Frank-
etwa vom italienischen Innenminis- reich etwa erhält fünf zusätzliche Ab-
ter und Lega-Chef Matteo Salvini an- geordnete, Irland zwei. Deutschland
gestrebt und von Donald Trumps ehe- hingegen gewinnt keine weiteren Par-
maligem Berater Steve Bannon medi- lamentarier hinzu, weil es bereits das
enwirksam unterstützt wird, hätte vertraglich festgelegte obere Limit von
nach den Wahlen 2019 durchaus das 96 Abgeordneten erreicht hat.
Potenzial, die mindestens zweitgröß- Die Neuverteilung orientiert
te Fraktion im EP zu werden oder die sich an Verschiebungen bei den Be-
EVP sogar noch zu übertrumpfen. völkerungsgrößen der Mitgliedstaa-
Die Verschiebungen finden jedoch ten. Dennoch gibt es auch einen po-
nicht nur zwischen den Parteien, son- litischen Effekt. Mit Großbritanni-
dern auch den Mitgliedstaaten statt. en verlässt der größte Nicht-Euro-
Folgen des Brexit 2: Zusätzliche Sitze für Mitgliedstaaten*
Frankreich 74 (+5) Schweden 20 (+1)
Spanien 54 (+5) Österreich 18 (+1)
Italien 73 (+3) Finnland 13 (+1)
Niederlande 26 (+3) Slowakei 13 (+1)
Irland 11 (+2) Dänemark 13 (+1)
Polen 51 (+1) Kroatien 11 (+1)
Rumänien 32 (+1) Estland 6 (+1)
* aktuelle Sitzverteilung (Zusätzliche Sitze in Klammern)
IP • November / Dezember 2018 79Europa
Staat die EU, mehr als 85 Prozent terhaus bis hin zu Neuwahlen waren
der EU-Wirtschaftskraft sind nach bei Drucklegung der IP weiterhin im
dem Brexit auf die Euro-Zone kon- Bereich des Denkbaren. Insbesonde-
zentriert. Gleichzeitig gehen 22 der re erlaubt Artikel 50 bei einem ein-
27 umverteilten Sitze an Euro-Mit- stimmigen Beschluss der EU-27 mit
gliedstaaten. Im Ergebnis steigt der Großbritannien, die Austrittsver-
Anteil von EU-Parlamentariern aus handlungen zu verlängern. Dies ist
dem Euro-Raum von derzeit 65 auf politisch aktuell von keiner der bei-
demnächst 72 Prozent. Besonders den Seiten gewollt, aber angesichts
profitiert davon „der Süden“ – näm- der politischen Krise in London nicht
lich die Euro-Staaten Frankreich, Ita- auszuschließen.
lien und Spanien. Dies hätte einige bislang kaum
Die 46 übrigen britischen Sit- bedachte Konsequenzen, auch für
ze fallen zunächst nach dem Grund- die Europawahlen. Bei einer Verlän-
satz „kleinere EU, kleineres Parla- gerung der Artikel-50-Verhandlun-
ment“ weg. Sie dienen aber nicht nur gen bliebe Großbritannien bis zur
als Reserve für potenzielle nächsten Frist weiterhin EU-Mit-
Ein Teil der Erweiterungen der Union, glied mit allen Rechten und Pflichten.
sondern auch für die Idee Hierzu gehören auch das Recht auf
britischen Sitze wird
der Einführung transnati- 73 EP-Abgeordnete und die Pflicht,
zur Zukunftsreserve onaler Listen. Diese Idee, im Mai 2019 Europawahlen durch-
die besonders Frankreichs zuführen. Für die EU würde das be-
Präsident Emmanuel Macron unter- deuten, dass die Veränderung bei der
stützt, sieht die Nutzung der 46 Sit- Sitzverteilung vorerst ruhen würde.
ze für einen europaweiten Wahlkreis Das sehen auch die entsprechenden
vor, in dem europäische Parteien di- Rechtstexte vor.
rekt um Wähler konkurrieren könn- Aus Brüsseler Sicht wären Euro-
ten. Für 2019 ist die Einführung aber pawahlen in einem Land, was sich
vor allem am Widerstand aus der EVP weiterhin auf dem Weg zum Exit be-
gescheitert, eine unter anderem von findet, eine unbequeme Angelegen-
Macron und Angela Merkel geforder- heit. Gravierender noch wären die
te Einführung zu den Wahlen 2024 Konsequenzen für Großbritanni-
bleibt – als Zukunftsmusik – aber en. In der angespannten innenpoli-
möglich. tischen Lage würden Europawahlen
wohl nahezu zwangsläufig zu einer
Das Verlängerungsrisiko Art zweitem Referendum über den
Bei der Analyse der Auswirkungen Brexit werden. Der UKIP würde neu-
des Brexit auf die Europawahlen darf es Leben eingehaucht. Brexit-Befür-
jedoch nicht vergessen werden: Auch worter würden schon die Verlänge-
in den wenigen verbleibenden Mo- rung als Betrug am Referendum an-
naten vor dem anvisierten Austritt greifen, und Brexit-Gegner würden
sind die Brexit-Verhandlungen wei- für den Verbleib in der EU trommeln.
terhin von maximaler Unsicherheit Eine explosive Mischung – aber nur
geprägt. Ein Austritt ohne Einigung, ein Randszenario.
aber auch ein Scheitern des Verhand- Nicht unterschätzt werden sollte
lungsergebnisses im britischen Un- zuletzt der psychologische Effekt auf
80 IP • November / Dezember 2018Exit der Skeptiker
die Europawahlen, wenn Großbri- EU-Mitgliedschaft ist seit dem Bre-
tannien wie erwartet kurz vorher die xit europaweit gestiegen. In Kombi-
EU verlässt. Die aktuellen Verhand- nation mit der Niederlage Marine Le
lungen konzentrieren sich vor allem Pens bei den französischen Präsident-
auf die wirtschaftlichen und tech- schaftswahlen scheinen die meisten
nischen Aspekte des Brexit. Gleich- EU-skeptischen Parteien
zeitig scheint die Uhr für das Verei- daraus die Lehre gezogen Die Zustimmung zur
nigte Königreich gewissermaßen ste- zu haben, nicht mehr die
EU ist seit dem Brexit
hengeblieben sein, denn noch hat das Mitgliedschaft in der EU
Land die EU nicht verlassen. Kurz vor an sich infrage zu stellen, europaweit gestiegen
den Europawahlen wird die Schwere sondern – als Mitglied –
des Brexit aber in aller Deutlichkeit ihre fundamentalen Werte und poli-
offensichtlich – britische Vertreter, tische Ausrichtung von einer kosmo-
die alle EU-Institutionen verlassen, politischen Ausrichtung hin zu einer
Brexit-Befürworter in Großbritanni- stärkeren Abschottung grundlegend
en, die den Vollzug des Austritts fei- verändern zu wollen.
ern, und eine EU, die um ihr zweit- Sowohl der Brexit selbst als auch
größtes Mitglied ärmer ist. Plötzlich die damit erzwungene Neuordnung
steht vor den Toren der EU ein west- des EU-skeptischen Spektrums un-
europäisches Land, das eine Alterna- terstreichen damit die Bedeutung der
tive zum europäischen Integrations- kommenden Europawahlen als Rich-
prozess sucht. tungsentscheidung über die Zukunft
der EU. Auf dem Spiel steht hierbei
Historischer Einschnitt nicht weniger als die grundlegende
Am Europawahlkampf kann dieser Ausrichtung der weiteren europäi-
historische Einschnitt nicht spurlos schen Integration.
vorübergehen. Zusätzlich zu zahl-
reichen Prozessen der Selbstverge-
wisserung in den verbleibenden 27
EU-Staaten hat der Brexit zuletzt Dr. Nicolai von
auch Einfluss auf die politische Aus- Ondarza leitet die
richtung EU-skeptischer Parteien in Forschungsgruppe
anderen Mitgliedstaaten genommen. EU/Europa bei der Stif-
tung Wissenschaft und
Das Erzwingen und Gewinnen Politik (SWP) in Berlin.
des britischen Austrittsreferendums
ist zwar der größte bisherige politi-
sche Erfolg EU-skeptischer Bewe-
gungen und wurde von euroskepti-
schen Parteien als Vorbild gefeiert. Felix Schenuit
Doch gleichzeitig haben der Verlauf ist Forschungsassis-
der Brexit-Verhandlungen, die politi- tent in der Forschungs-
gruppe EU/Europa bei
sche Dauerkrise in London und das der SWP.
schmerzhafte Ringen Großbritanni-
ens mit seiner Entscheidung in ande-
ren EU-Staaten bis dato eher abschre-
ckende Wirkung; die Zustimmung zur
IP • November / Dezember 2018 81Sie können auch lesen
