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SWP-Aktuell
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Die Reform des Europäischen Parlaments
Nach dem Brexit werden die Sitze neu verteilt – doch bleibt es (vorerst) bei
einer kleinen Lösung
Nicolai von Ondarza / Felix Schenuit

Im Vorfeld der Europawahlen 2019 steht die Reform des Europäischen Parlaments (EP)
auf der Agenda. Zwei Impulse kommen dabei zusammen. Erstens stellt sich nach dem
Brexit die Frage, ob und wie die 73 britischen Sitze neu verteilt werden. Zweitens exis-
tiert ein EP-interner Reformstau, was die Zusammensetzung des Parlaments angeht;
diese Blockade droht sich über die Wahlen 2019 hinaus zu verlängern. Die Regierungen
Italiens und Frankreichs haben – neben anderen – in diesem Zusammenhang die Idee
aufgegriffen, einen aus transnationalen Listen bestehenden EU-Wahlkreis zu schaffen.
Er soll dazu dienen, bei Europawahlen den Parteienwettbewerb auf europäischer Ebene
zu stärken. Doch das EP hat dem Vorschlag nicht zugestimmt; dies bekräftigt den Ein-
druck, dass es im EU-Reformjahr 2018 keine Mehrheiten für föderale Ideen gibt. Die
Diskussionen über einen EU-Wahlkreis haben dennoch Potential. Würde er genutzt,
um Verzerrungen zwischen Stimmenzahl und Sitzverteilung abzubauen, wäre dies ein
wichtiger Beitrag zur Stärkung der demokratischen Legitimation der EU.

In der Debatte um das demokratische Defi-                          Spitzenkandidatenprinzip siehe SWP-
zit der EU spielt das Europäische Parlament                        Aktuell 36/2014).
eine paradoxe Rolle. Zum einen ist es das                             Zum anderen ist das EP aber auch selbst
einzige direkt vom Wähler legitimierte                             Teil des demokratischen Defizits der EU.
Organ der Union und damit Vehikel für                              Fast 40 Jahre liegt die erste Direktwahl zum
deren stärkere Demokratisierung. In die-                           Europäischen Parlament zurück. Doch
sem Sinne sind die Kompetenzen des EP bis-                         noch immer ist die Europawahl eine Anein-
her bei jeder Vertragsänderung ausgeweitet                         anderreihung von nationalen Voten, deren
worden. Der Anteil der EU-Gesetzgebung,                            europäische Legitimitätskraft begrenzt
die mit voller Mitbestimmung des EP ver-                           bleibt. Gewählt werden von den Bürgern
abschiedet wird, liegt inzwischen bei knapp                        nur nationale Parteien. Diese schließen sich
50 Prozent. Nicht zuletzt hat das Parlament                        zwar im EP zu europaweiten Fraktionen
2014 seine neuen Kompetenzen zur Wahl                              zusammen, doch haben Letztere keine eige-
des Kommissionspräsidenten genutzt (zum                            ne Verknüpfung zur Bevölkerung. Trotz des
                                                                   2014 eingeführten Spitzenkandidaten-

Dr. Nicolai von Ondarza ist Stellvertretender Leiter der Forschungsgruppe EU / Europa                                   SWP-Aktuell 11
Felix Schenuit ist Forschungsassistent der Forschungsgruppe EU / Europa                                                  Februar 2018

                                                                                                                                    1
prinzips ist so die Wahlbeteiligung bei den    sche Abgeordnetenhaus, während der neue
                 Europawahlen kontinuierlich gesunken –         Deutsche Bundestag mit 709 Mandaten
                 zuletzt auf nur noch 42,6 Prozent. Die         ähnliche Dimensionen hat. Größer als das
                 Frage einer Erneuerung des Europäischen        EP ist bemerkenswerterweise das britische
                 Parlaments ist daher eine Konstante in der     House of Lords mit 794 Mitgliedern. Bei
                 institutionellen Reformdebatte der EU.         dieser Vorgehensweise würde auch der poli-
                                                                tisch heikle Prozess vermieden, in dem die
                                                                Sitzverteilung neu auszuhandeln wäre.
                 Impulse für die EP-Reform                         Die zweite Variante besteht darin, alle
                 2018 öffnet sich ein politisches Zeit- und     oder einen Teil der 73 Sitze so zwischen den
                 Gelegenheitsfenster für eine solche Reform.    27 Mitgliedstaaten zu verteilen, dass die
                 Zum einen können die bisherigen 73 EP-         Ungleichheit der Repräsentation reduziert
                 Sitze Großbritanniens neu verteilt werden.     wird. Die aktuelle Sitzverteilung beruht
                 Zum anderen drängt die Zeit, den entstan-      nicht auf einer mathematischen Formel; sie
                 denen Reformstau aufzulösen, nachdem           wurde zuletzt 2013 nach dem Beitritt Kroa-
                 über Jahre hinweg nur vorläufige Lösun-        tiens gemäß dem Prinzip der »degressiven
                 gen für die EP-Wahlverfahren erreicht          Proportionalität« politisch ausgehandelt.
                 worden sind.                                   Dieser Grundsatz soll zwei Ziele miteinan-
                                                                der verbinden: die Repräsentation der Bür-
                                                                gerinnen und Bürger der EU sowie eine
                 73 leere Sitze                                 Mindestrepräsentation der kleineren Staa-
                 Zunächst macht es der Brexit erforderlich,     ten – bestehen doch zwischen einzelnen
                 über die Sitzverteilung im EP zu entschei-     Mitgliedern starke Unterschiede in der Be-
                 den. Nachdem London seinen Austritts-          völkerungsgröße. Demnach hat jeder Mit-
                 willen gemäß Artikel 50 EUV notifiziert        gliedstaat mindestens sechs Sitze im EP
                 hat, wird das Vereinigte Königreich voraus-    (dieses Minimum gilt etwa für Malta und
                 sichtlich zum 29. März 2019 aus der Union      Luxemburg). Mit wachsender Bevölkerung
                 ausscheiden. Falls es keine Verlängerung       steigt zwar die Zahl der Abgeordneten,
                 der Austrittsverhandlungen gibt, verlässt      doch diese repräsentieren jeweils auch
                 Großbritannien also die politischen Institu-   mehr Bürger. Ein deutscher Abgeordneter
                 tionen der EU etwa einen Monat vor der         etwa vertritt mehr als 800 000 Bürger, ein
                 nächsten Europawahl im Mai 2019                luxemburgischer nur rund 80 000.
                 (siehe SWP-Aktuell 78/2017). Bis dahin            Dieses Prinzip ist vertraglich verankert
                 bleiben die britischen Abgeordneten            und steht – trotz demokratie-theoretischer
                 vollberechtigte Mitglieder des EP. Mit         Kritik an der Ungleichheit der Repräsenta-
                 vollzogenem Austritt jedoch fallen ihre        tion – nicht zur Disposition. Innerhalb des
                 Sitze weg. Im Rahmen der bestehenden           Systems gibt es aber zusätzliche Ungleich-
                 Verträge werden derzeit drei Varianten         heiten, durch die einzelne Staaten benach-
                 zum Umgang mit den 73 leeren Sitzen            teiligt werden. So repräsentieren Abgeord-
                 diskutiert.                                    nete aus Spanien mehr Bürger als jene aus
                    Erstens könnten die Sitze einfach entfal-   Italien, obwohl Italien eine größere Bevöl-
                 len; das EP würde dann von 751 auf 678         kerung als Spanien hat. Die 73 leeren Sitze
                 Abgeordnete schrumpfen. Befürworter die-       könnten daher genutzt werden, um solche
                 ses Weges argumentieren unter anderem,         Verzerrungen abzumildern. Deutschland
                 dass das EP mit einer vertraglich festgeleg-   stellt mit 96 Mandaten bereits das vertrag-
                 ten Maximalgröße von 751 ohnehin zu den        lich vorgesehene Maximum an EP-Abgeord-
                 größten Parlamenten Europas gehört und         neten, kann daher ohne Vertragsänderung
                 die EU so ein Signal dafür setzen könnte,      keine zusätzlichen Sitze bekommen.
                 Kosten zu sparen. Zum Vergleich: Das EP           Der dritte und radikalste Vorschlag sieht
                 ist mehr als doppelt so groß wie das spani-    vor, über die Sitzverteilung nach Mitglied-

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Februar 2018

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staaten hinaus einen zusätzlichen europäi-    und transparente« Lösung zu finden und
schen Wahlkreis zu schaffen, in den dann      sie dem Rat vorzuschlagen, dessen Zustim-
Abgeordnete per transnationalen Listen        mung erforderlich ist.
gewählt würden. So könnten die europäi-          Der durch diesen Beschluss veranlasste
schen Parteien erstmals direkt um Sitze im    EP-Bericht wurde im Plenum am 11. No-
EP konkurrieren. Der Brexit würde es er-      vember 2015 mit 52 Prozent der Stimmen –
möglichen, einen solchen europäischen         also nur mit vergleichsweise knapper Mehr-
Wahlkreis zu schaffen, ohne den anderen       heit – angenommen. In dem Bericht for-
Mitgliedstaaten bestehende Sitze »wegzu-      dern die MdEPs, den europäischen Charak-
nehmen«. Jüngst haben sich die italienische   ter von Europawahlen zu stärken; unter
Regierung, der französische Präsident Em-     anderem sollen zu diesem Zweck europäi-
manuel Macron sowie EU-Kommissions-           sche Parteien auf den Wahlzetteln genannt
präsident Jean-Claude Juncker für solche      und die nationalen Wahlrechte harmoni-
transnationalen Listen starkgemacht.          siert werden. Die Abgeordneten forderten
                                              auch die Schaffung eines gemeinsamen EU-
                                              Wahlkreises, der von den Spitzenkandida-
Reformstau im EP                              ten angeführt werden soll.
Ein zweiter Impuls für die Reform ergibt         Seit dieser Entscheidung liegt der EP-
sich aus einer EP-eigenen Dynamik. Gere-      Vorschlag beim Rat; bislang haben die
gelt werden die Europawahl und die Zu-        Regierungsvertreter jedoch nicht darüber
sammensetzung des EP bislang durch den        entschieden. Die nationalen Parlamente
von 1976 stammenden »Akt zur Einführung       Frankreichs, der Niederlande, Großbritan-
allgemeiner unmittelbarer Wahlen der Ab-      niens, Schwedens und Luxemburgs kriti-
geordneten des Europäischen Parlaments«,      sierten beispielsweise, dass die Vorlage das
der zuletzt 2002 eine Anpassung erfuhr. Im    Prinzip der Subsidiarität nicht einhalte. Ein
EP wird seit geraumer Zeit gefordert, Zu-     Stein des Anstoßes waren für sie etwa kon-
sammensetzung des Parlaments und Wahl-        krete Vorschriften für Wahltage. Seitdem
verfahren erneut zu überarbeiten. Nach-       ist das Verfahren blockiert. Das Europäische
dem das EP durch den Lissabon-Vertrag         Parlament strebt jetzt erneut eine vorläu-
gestärkt worden war, suchte es 2009 dieses    fige Lösung an. Damit soll gewährleistet
Momentum auch für eine Reform des Wahl-       sein, dass die Wahl 2019 trotz fehlender
rechts zu nutzen. Der konstitutionelle Aus-   Zustimmung des Rates zum EP-Vorschlag
schuss ernannte Andrew Duff (ALDE) zum        ordnungsgemäß stattfinden kann und ins-
Berichterstatter. Allerdings dauerte es bis   besondere eine Regelung für die wegfallen-
2013, bis sich das Parlament auf eine Re-     den 73 Sitze Großbritanniens gefunden
form einigen konnte. Vorherige Versionen      wird. Die grundlegende Reform und dauer-
des Berichts enthielten weitreichende For-    hafte Regelung wird erst für die nachfol-
derungen, darunter auch nach Einführung       gende Wahl 2024 anvisiert.
eines EU-Wahlkreises mit 25 MdEPs, fanden        Im Februar 2018 nahm das Parlament
jedoch im EP keine Mehrheit.                  einen Vorschlag für eine temporäre Lösung
   Erst die anstehende Europawahl brachte     an, der die Varianten 2 und 3 kombiniert.
die Abgeordneten in Zugzwang, so dass für     Für 2019 soll das EP demnach zunächst auf
2014 eine vorläufige Lösung beschlossen       705 Mitglieder begrenzt werden, indem
wurde. Dabei stellte sich das EP hinter das   man 27 der britischen Sitze dazu nutzt,
Spitzenkandidatenprinzip, das später auf      Ungleichheiten in der Sitzverteilung aus-
seinen Druck hin etabliert wurde. Von dem     zugleichen (siehe Infographik, S. 4). Die
EU-Wahlkreis dagegen war in dem Vor-          übrigen 46 Sitze sollen für mögliche EU-
schlag keine Rede mehr. Zugleich verpflich-   Erweiterungen oder einen EU-Wahlkreis bei
tete sich das EP mit dem Beschluss, für die   künftigen Wahlen freigehalten werden.
anstehende Wahl 2019 eine »dauerhafte

                                                                                              SWP-Aktuell 11
                                                                                               Februar 2018

                                                                                                          3
Graphik:
    Reformvorschläge zur Sitzverteilung im EP nach dem Austritt Großbritanniens

                       EU-Wahlkreis als Antwort auf das                sollten bei der Beurteilung der Initiative
                       Demokratiedefizit der Union?                    vier Aspekte berücksichtigt werden: die
                       Der Vorschlag, bereits für die Wahl 2019        grundlegenden Ziele der Reform, deren
                       einen EU-Wahlkreis einzuführen, fand im         konkrete Ausgestaltung und die sich daraus
                       EP-Plenum im Februar 2018 keine Mehr-           ergebenden rechtlichen Anforderungen
                       heit. Selbst bei Zustimmung durch das Par-      sowie die politischen Hürden, die es zu
                       lament wäre jedoch mehr als fraglich gewe-      überwinden gilt.
                       sen, ob der Wahlkreis für 2019 tatsächlich         Erklärtes Ziel der Befürworter eines EU-
                       gekommen wäre. Schließlich muss die             Wahlkreises ist es, die demokratische Legi-
                       Grundsatzentscheidung über die Verteilung       timation der Union zu verbessern, indem
                       der britischen Sitze und die Einführung         der europäische Charakter von EP-Wahlen
                       transnationaler Listen einstimmig im Euro-      gestärkt wird. Wenn europäische Parteien
                       päischen Rat erfolgen. Auch dort sind die       über transnationale Listen auch nur um
                       Meinungen gespalten. Zuletzt haben sich         eine kleine Zahl an EP-Sitzen direkt kon-
                       die sieben südlichen EU-Staaten ebenso wie      kurrieren, so das Argument, würden sie im
                       Irland hinter die Initiatoren Frankreich        Europawahlkampf deutlich sichtbarer wer-
                       und Italien gestellt, die transnationale Lis-   den. Zudem müssten die europäischen Par-
                       ten fordern. Auf der anderen Seite wandten      teien erstmals eigene Kandidatinnen und
                       sich etwa die Visegrád-Staaten (Polen, Slo-     Kandidaten benennen und sich damit zu-
                       wakei, Tschechien, Ungarn) öffentlich da-       mindest auf eine Grundausrichtung für den
                       gegen.                                          Wahlkampf einigen. In Kombination mit
                          Darüber hinaus zeigt ein genauerer Blick     dem – weiterhin umstrittenen – Spitzen-
                       auf den Reformvorschlag, wie viele Fragen       kandidatenprinzip soll dies dazu beitragen,
                       noch offen sind und wie viel politischer        die Europawahlen von ihrem bisherigen
                       Wille nötig wäre, um den europäischen           »second order«-Status zu befreien.
                       Wahlkreis einzuführen – vor allem wenn             Kritiker der Einführung eines EU-Wahl-
                       dies noch für 2019 geschehen soll. Generell     kreises halten dem jedoch entgegen, dass

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eine solche Reform die demokratische             eine Zweitstimme bei den Wählern konkur-
Legitimität der EU gerade auch schwächen         rieren. Aus Frankreich kommt zudem der
könnte. Die Befürchtung ist, dass zum            Vorschlag, die Grundvoraussetzung für eine
einen MdEPs erster und zweiter Klasse ent-       solche Liste sollte sein – ähnlich den Vor-
stehen und zum anderen die Bindung zwi-          gaben zur Bildung einer EP-Fraktion –, dass
schen Abgeordneten und Wahlbevölkerung           Kandidaten aus sieben Ländern auf den ers-
noch geringer wird, als sie es bei EP-Abge-      ten sieben Plätzen der Liste vertreten sein
ordneten gerade in großen Mitgliedstaaten        müssten. Damit würde verhindert, dass eine
ohnehin schon ist. Hier entgegnen Reform-        Handvoll großer Mitgliedstaaten die »trans-
befürworter, dass alle MdEPs weiterhin die-      nationalen« Listen dominieren könnte.
selben Rechte und Pflichten hätten und               Umstritten ist selbst unter den Befürwor-
jeder von ihnen alle EU-Bürger vertreten         tern eines EU-Wahlkreises, ob die Reform
würde. Auch die Sorge, eine unterschied-         auch formell mit dem Spitzenkandidaten-
liche Art der Wahl von MdEPs könnte zu           prinzip verbunden werden soll. Einige for-
Spannungen im Parlament führen, weisen           dern, dass die jeweiligen Spitzenkandida-
die Befürworter zurück. Sie machen gel-          ten dann auch die transnationale Liste
tend, dass etwa bei Parlamentswahlen in          ihrer Partei anführen, um sich so – anders
Deutschland und Ungarn ebenfalls über            als etwa Jean-Claude Juncker 2014 – direkt
Erst- und Zweitstimmen votiert wird.             zur Wahl zu stellen. Unabhängig davon
                                                 müssten die europäischen Parteien einen
                                                 internen Mechanismus schaffen, mit dem
Ausgestaltung eines EU-Wahlkreises               sie die Kandidatinnen und Kandidaten auf
und transnationaler Listen                       ihrer transnationalen Liste nominieren –
In der Frage, wie ein solcher Wahlkreis zu       sie bekämen damit einen wesentlich stärke-
gestalten wäre, werden unterschiedliche          ren Zugriff auf das EP, da dieses Recht bis-
Modelle diskutiert. Dies betrifft zunächst       lang den nationalen Parteien vorbehalten
seine Größe. Häufig wird auf einen Vor-          ist. Umgehend nach der Ablehnung des
schlag Bezug genommen, den Andrew Duff           EU-Wahlkreises im EP betonten führende
im Jahr 2011 wiederholt einbrachte. Dem-         Abgeordnete, dass mit der Entscheidung
nach wären 25 MdEPs für eine transnatio-         keineswegs der Spitzenkandidaten-Prozess
nale Liste im EP vorgesehen. Eine zweite –       abgeschafft worden sei und das EP darauf
wenig wahrscheinliche – Variante bestünde        bestehe, dieses 2014 eingeführte Verfahren
darin, alle 73 britischen Mandate künftig        beizubehalten.
über eine transnationale Liste zu besetzen.
Am weitesten geht die Vorstellung des fran-
zösischen Präsidenten Macron, in einem           Ein Mittel zur Verbesserung der
zweiten Schritt 2024 rund die Hälfte der         Repräsentation?
Europa-Abgeordneten über den EU-Wahl-            Zwar könnte ein EU-Wahlkreis dazu beitra-
kreis wählen zu lassen. Dies würde jedoch        gen, dass eine echte europäische Parteien-
das gesamte System der EP-Sitzverteilung         konkurrenz entsteht. Wenig ändern würde
in Frage stellen. Mittelfristig wäre politisch   er indes am Problem der ungleichen Reprä-
am ehesten durchzusetzen, mit 30 bis 50          sentation. Allerdings ließe sich die Einfüh-
Mandaten einen Teil der durch den Brexit         rung einer Zweitstimme bei der Europa-
frei werdenden Sitze für einen EU-Wahl-          wahl auch dazu nutzen, Verzerrungen zwi-
kreis zu nutzen.                                 schen Stimmenzahl und Sitzverteilung zu
   Zu klären wäre anschließend vor allem         korrigieren, wie sie durch das System der
das Wahlsystem. Bei Einführung eines EU-         degressiven Proportionalität entstehen.
Wahlkreises würden die europäischen Par-         Diese Abweichungen sind politisch nicht
teien mit einer eigens aufgestellten und         unbedeutend. Bei der Wahl 2014 lagen die
in allen Mitgliedstaaten gültigen Liste um       Parteien der sozialdemokratischen Fraktion

                                                                                                 SWP-Aktuell 11
                                                                                                  Februar 2018

                                                                                                             5
S&D nach absoluten Stimmen mit 26,74                    die Verzerrungen aufgrund der degressiven
                 Prozent knapp vor der konservativen EVP,                Proportionalität auszugleichen. Dies würde
                 die 26,67 Prozent erreichte. Die EVP gewann             die Repräsentativität des Europäischen
                 jedoch vor allem in kleineren EU-Staaten –              Parlaments und somit die demokratische
                 mit dementsprechend mehr Abgeordneten                   Legitimität der EU deutlich stärken. Nach
                 pro Stimmenzahl. Durch das fragmentierte                dem Scheitern des EU-Wahlkreises im EP
                 Europawahl-System kam die EVP so auf                    könnte dieses Potential ein Argument sein,
                 einen Sitzanteil von 28,8 Prozent, die S&D              um die Idee bis 2024 am Leben zu halten.
                 dagegen nur von 25,3 Prozent (vgl. Tabelle).
                    Diese Abweichung hatte gravierende
                 Folgen, da bei der Wahl des Kommissions-                Weitere Harmonisierung des EU-Wahl-
                 präsidenten gemäß Spitzenkandidaten-                    rechts wäre nötig
                 Verfahren das Ergebnis der Europawahlen                 Eine entscheidende Hürde für die Schaf-
                 »berücksichtigt« wird. Die EVP als größte               fung eines EU-Wahlkreises besteht darin,
                 Fraktion beanspruchte das Amt für ihren                 dass das Wahlrecht für Europawahlen in
                                                                         den Mitgliedstaaten harmonisiert werden
                 Tabelle                                                 müsste. Technisch sind die EP-Wahlen noch
                 EP-Wahl 2014: Verhältnis von Stimmen-                   immer eine Aneinanderreihung von natio-
                 anteil und Sitzen                                       nalen Wahlen, die jenseits allgemeiner Vor-
                                                                         gaben (z.B. Termin, Verhältniswahlrecht)
                 Fraktion     Stimmen- Sitze     Sitze    Differenz      durchaus unterschiedlich ablaufen. So gibt
                              anteil   (ideal)   (real)   (real-ideal)   es etwa kein gemeinsames Wahlalter und
                 GUE/NGL        8,26%     62       52     –10            keinen gemeinsamen Termin für die Wahl-
                 G/EFA          7,67%     58       50      –8            registrierung. Ebenso wenig sind die an-
                 S&D          26,74%     201     191      –10            tretenden Parteien verpflichtet, sich einer
                 ALDE           8,83%     66       67        1           europäischen Partei zuzuordnen. Harmoni-
                 EVP          26,67%     200     221       21            sierungsversuche waren schon mehrfach
                                                                         Grund dafür, dass die Reform des EP ab-
                 ECR            7,89%     59       70      11
                                                                         gelehnt wurde – weshalb die Aufmerksam-
                 EFDD           7,29%     55       48      –7
                                                                         keit stärker auf diesen Faktor gerichtet
                 Fraktions-     6,63%     50       52        2
                                                                         werden sollte.
                 lose
                                                                            Bereits im EP-Bericht von 2015 wurde
                 Quelle: .
                                                                         nationalen Europawahl-Gesetzgebungen
                                                                         verlangt. Aber weil mehrere Forderungen
                 Spitzenkandidaten Jean-Claude Juncker.                  in Konflikt mit nationalen Wahlrechtstradi-
                 Nach der vagen Formulierung im EU-Ver-                  tionen stehen, wurden die Vorschläge bis
                 trag hätte allerdings auch die S&D den                  dato von den Mitgliedstaaten im Rat abge-
                 Posten für ihren Kandidaten Martin Schulz               lehnt. Angesichts dieser Blockade ist gerade
                 reklamieren können – unter Verweis auf                  für die Einführung eines EU-Wahlkreises zu
                 ihren Sieg nach absoluten Stimmen. Weil                 klären, welche Wahlrechtsharmonisierung
                 das EP aber zunächst einmal vor allem das               zwingend notwendig ist und auf welche
                 Spitzenkandidatenprinzip gegen die natio-               Aspekte mit Rücksicht auf nationale Gepflo-
                 nalen Regierungen im Europäischen Rat                   genheiten verzichtet werden kann. Beispiels-
                 durchsetzen wollte, versammelten sich die               weise wäre es zwar europaweit politisch
                 großen Fraktionen rasch hinter der EVP                  leichter zu vermarkten, die EP-Wahlen an
                 und Juncker. Die transnationalen Listen                 einem einzigen Tag abzuhalten. Doch gibt
                 könnten genutzt werden, um entlang der                  es Mitgliedstaaten mit traditionell anderen
                 europaweit abgegebenen Zweitstimmen                     Wahltagen – wie die Niederlande –, die da-
                 Ausgleichsmandate festzulegen und damit                 gegen zu Recht ihr Veto einlegen dürften.

SWP-Aktuell 11
Februar 2018

6
In drei Punkten wäre es allerdings zwin-    tens drei Prozent der Stimmen erreichen
gend erforderlich, das Europawahlrecht         müssen, um einen Sitz im EP zu bekom-
zu harmonisieren, damit sich ein EU-Wahl-      men. Es bleiben lediglich Spanien und
kreis verwirklichen lässt. Erstens setzt die   Deutschland, für welche die Klausel rele-
Einführung transnationaler Listen voraus,      vant wäre. Gäbe es eine transnationale
dass die europäischen Parteien stärker mit     Liste, müsste aber auch für diese entschie-
den Europawahlen verknüpft werden. Bis-        den werden, ob und in welcher Höhe eine
lang stimmt man bei diesen Wahlen für          europaweite Sperrklausel sinnvoll wäre.
nationale Parteien, die sich zwar im EP und
darüber hinaus zu gemeinsamen europäi-
schen Parteien zusammenschließen kön-          Rechtliche und politische Heraus-
nen, deren europäische Parteizugehörigkeit     forderungen
im Wahlkampf jedoch fast keine Rolle           Grundsätzlich gilt: Die Einführung eines
spielt. Da die transnationalen Listen aber     europaweiten Wahlkreises wäre ohne eine
auf Basis der europäischen Parteien geführt    risikoreiche EU-Vertragsänderung möglich.
würden, bedürfte es eines Links, mit dem       Denn der EU-Vertrag definiert zwar Min-
die Zugehörigkeit nationaler Parteien zu       dest- und Maximalgröße der nationalen
den entsprechenden europäischen Parteien       Wahlkreise, bindet dies aber explizit nicht
erkennbar wird. Eine klare Zuordnung der       an die Nationalität der Abgeordneten. Be-
Zweitstimme zu den europäischen Parteien       fürworter eines europaweiten Wahlkreises
wäre insbesondere dann notwendig, sollten      argumentieren daher, dass die Kandidaten
die transnationalen Listen, wie oben vor-      auf den transnationalen Listen nicht in
geschlagen, für Ausgleichsmandate genutzt      ihrer Eigenschaft als Staatsbürger eines Mit-
werden.                                        gliedstaates, sondern als EU-Bürger antre-
   Zweitens gibt es bisher keine einheit-      ten würden. Schon jetzt kann etwa ein
liche Frist, innerhalb derer Kandidaten und    Deutscher in Frankreich kandidieren, ohne
Kandidatinnen für Europawahlen regis-          dass die Obergrenze von 96 »deutschen«
triert werden müssen. Die nationalen Fris-     MdEPs berührt wäre, sollte er ins Parlament
ten reichen von drei Monaten (Schweden)        einziehen.
bis zu weniger als drei Wochen (Griechen-         Dennoch bestehen vier zentrale, eng mit-
land, Spanien). Die Kandidaten für trans-      einander verbundene Hürden. Erstens gibt
nationale Listen müssten jedoch zu einem       es bei einer Reform des EP auch für EU-Ver-
einheitlichen Zeitpunkt registriert werden.    hältnisse viele Vetospieler, die das Vorha-
   Drittens stellt sich insbesondere aus       ben blockieren oder eigene Vorteile fordern
deutscher Sicht die Frage nach einer ein-      können. So verleiht Artikel 223 AEUV dem
heitlichen Sperrklausel für die Europa-        EP das Recht, zunächst einen Vorschlag für
wahlen. Wie das Bundesverfassungsgericht       die Europawahlen zu machen. Wie um-
2014 entschieden hat, ist die deutsche Drei-   kämpft die Mehrheiten dabei sein können,
Prozent-Hürde grundgesetzwidrig, solange       zeigte nicht zuletzt die Entscheidung über
sie sich ausschließlich auf den deutschen      den EU-Wahlkreis im Februar 2018, bei der
Teil der Europawahlen bezieht. Seitdem         das Meinungsbild bis zum Schluss unklar
bemüht sich die Bundesregierung, eine für      blieb. Der Vorschlag des Parlaments muss
alle EU-Staaten verpflichtende Mindesthür-     anschließend allerdings nicht nur einstim-
de von drei Prozent für die nächsten Euro-     mig vom Rat beschlossen werden, sondern
pawahlen einzuführen. Für die meisten          bedarf auch einer Zustimmung der Mit-
anderen Mitgliedstaaten ist dies jedoch von    gliedstaaten im Einklang mit ihren jewei-
untergeordneter Bedeutung – entweder           ligen verfassungsrechtlichen Vorschriften.
haben sie eine eigene nationale Sperrklau-     In Deutschland muss etwa der Bundestag
sel oder ihre Anzahl an MdEPs ist so klein,    zustimmen. Zusätzlich müssten jeweils die
dass Parteien rein mathematisch mindes-        nationalen Gesetzgebungen für die Europa-

                                                                                               SWP-Aktuell 11
                                                                                                Februar 2018

                                                                                                           7
wahlen geändert werden; in Deutschland         heit zwischen europäischen Parteien her-
                                wäre das Europawahlgesetz betroffen.           stellen. Dies würde aber ein komplex aus-
                                   Zweitens gibt es den Faktor Zeit. Um die    tariertes System erfordern.
                                Europawahlen durchführen zu können,               Die größte Herausforderung für eine
                                müssen bis spätestens Anfang 2019 die          EP-Reform ist die Kombination aus knapper
                                europarechtlichen wie nationalen Grund-        Zeit, hoher rechtlicher Komplexität und
                                lagen dafür geklärt sein. Nötig machen dies    politischen Konflikten. Zwar bedürfte es
                                unter anderem Fristen für die Registrierung    keiner Vertragsänderung. Notwendig wären
                                von Kandidaten. Drittens existieren in der     jedoch Einstimmigkeit im Rat, Zustim-
                                Frage, wie die EU auszurichten ist, zwi-       mung des EP sowie Änderung der Europa-
                                schen den Mitgliedstaaten und zwischen         wahl-Gesetze in allen 27 Mitgliedstaaten.
                                politischen Gruppierungen grundsätzliche          Nachdem der Rat den EP-Vorschlag von
                                Differenzen, die sich auch bei der Reform      2015 blockiert und das Parlament im Feb-
                                des EP niederschlagen. Denn die Schaffung      ruar 2018 erneut eine vorläufige Lösung
© Stiftung Wissenschaft und     eines EU-Wahlkreises, die damit verbunde-      beschlossen hat, ist klar: In den europäi-
Politik, 2018                   ne Stärkung der europäischen Dimension         schen Institutionen gibt es derzeit keine
Alle Rechte vorbehalten
                                von Europawahlen und die zumindest im-         Mehrheiten für föderale Reformvorschläge.
Das Aktuell gibt die Auf-       plizite Verknüpfung der Reform mit dem         2018 – ausgerufen als Reformjahr – beginnt
fassung der Autoren wieder.     Spitzenkandidatenprinzip – all dies hat        so mit einer Einigung auf den kleinsten ge-
In der Online-Version dieser    einen föderalen Charakter, wie er nicht nur    meinsamen Nenner. Weitreichende Neue-
Publikation sind Verweise auf   von Mitgliedstaaten wie Ungarn oder Polen      rungen hinsichtlich des EP bleiben voraus-
andere SWP-Schriften und
wichtige Quellen anklickbar.    abgelehnt wird.                                sichtlich aus, und die Auflösung des EP-
                                   Die Prozesse innerhalb der europäischen     internen Reformstaus wird auf 2024
SWP-Aktuells werden intern
einem Begutachtungsverfah-      Parteien bilden eine vierte Herausforde-       vertagt.
ren, einem Faktencheck und      rung. Eine transnationale Liste würde die         Das Mindestziel für die kommenden Ver-
einem Lektorat unterzogen.
Weitere Informationen
                                Differenzen zwischen den nationalen Glie-      handlungen zwischen den EU-Institutionen
zur Qualitätssicherung der      dern dieser Parteien offenlegen – und zwar     sollte daher sein, bei der Verteilung der
SWP finden Sie auf der SWP‐     noch deutlich stärker, als dies bereits bei    britischen Sitze einen Spielraum zu belas-
Website unter https://www.
swp-berlin.org/ueber-uns/       der Einigung auf Spitzenkandidaten für die     sen, damit sich später ein EU-Wahlkreis
qualitaetssicherung/            Wahl 2014 geschah. So müssten sich etwa        einführen ließe. Im Rahmen der für 2019
Stiftung Wissenschaft und       die deutsche CDU und die ungarische            beschlossenen vorläufigen Lösung sollten
Politik                         FIDESZ auf eine transnationale Liste mit       jedenfalls keine weiteren Beharrungskräfte
Deutsches Institut für
Internationale Politik und      einem zumindest rudimentären Wahlpro-          geschaffen werden.
Sicherheit                      gramm einigen.                                    Gerade Deutschland, das besonders von
Ludwigkirchplatz 3­4
                                                                               der Ungleichheit bei Europawahlen betrof-
10719 Berlin                                                                   fen ist, hätte ein Interesse daran, die Re-
Telefon +49 30 880 07-0         Ausblick                                       form des EP langfristig voranzutreiben.
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www.swp-berlin.org              Die derzeitigen Impulse für eine Reform        Nachdem das Parlament den Weg zur Ein-
swp@swp-berlin.org              des Europäischen Parlaments eröffnen eine      führung eines EU-Wahlkreises für die
ISSN 1611-6364                  neue Perspektive in der komplexen Debatte      Wahlen 2019 versperrt hat, sind jetzt die
                                über das demokratische Defizit der EU. Wie     Mitgliedstaaten am Zug. Notwendig ist vor
                                die Analyse zeigt, könnte ein europäischer     allem eine Verständigung darüber, wie sich
                                Wahlkreis dazu beitragen, die Europa-          die Europawahlen 2019 so ausgestalten las-
                                wahlen stärker zu europäisieren und eine       sen, dass die demokratische Legitimation
                                europäische Parteienkonkurrenz zu schaf-       der EU gestärkt wird. Essentiell dafür wäre,
                                fen. Ein Allheilmittel wäre er jedoch nicht.   am Spitzenkandidatenprinzip festzuhalten.
                                Insbesondere ließe sich die ungleiche Re-
                                präsentation im EP nur reduzieren, wenn
                                die transnationalen Listen für Ausgleichs-
                                mandate genutzt würden, die Wahlgleich-

   SWP-Aktuell 11
   Februar 2018

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