Die Trennung von Publikum und Autor - Neue Näheverhältnisse in der literarischen Öffentlichkeit nach der Digitalisierung - Brill

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Die Trennung von Publikum und Autor
Neue Näheverhältnisse in der literarischen Öffentlichkeit nach der
Digitalisierung

           Johannes Franzen
           Dr., Universität Siegen, Siegen, Deutschland
           johannes.franzen@uni-siegen.de

           Abstract

Die literarische Öffentlichkeit ist in der Digitalisierung einem konfliktreichen Wandel
unterworfen. Insbesondere durch den explosionsartigen Ausbau einer publizistischen
Infrastruktur in den sozialen Medien, die es nicht professionellen Leser:innen sehr
einfach macht, sich an der öffentlichen ästhetischen Kommunikation zu beteiligen,
wurde das Wertungsmonopol etablierter Institutionen gebrochen. Das führt zu einer
diskursiven Machtverschiebung, die auch die Rolle des Autors verändert hat. Neue
Näheverhältnisse zwischen Schriftsteller:innen und Publikum etablieren sich, und
damit auch neue Formen der Autorinszenierung. Dabei werden die Verhältnisse in der
literarischen Kommunikation durcheinandergebracht. Das Publikum kann intensiv
als Komplize oder Feind der Autor:innen in Erscheinung treten. So wird auch die
Vermittlungsrolle professioneller Leser:innen infrage gestellt, was zu kulturkritischen
Abwehrbewegungen gegen die digitale literarische Öffentlichkeit führen kann.

In the digital age, the literary public sphere is undergoing a conflict-ridden trans-
formation. In particular, the explosive expansion of the infrastructure of public
discourse, which makes it very easy for non-professional readers to participate in
public discussions on aesthetic values, has broken the communicative monopoly of
established institutions. This has led to a power shift that has also changed the role of
the author. New relationships of proximity between writers and the public are being
established, and with them new forms of authorial self-fashioning. This changes the
structure of literary communication. The audience can engage with the author, either
as accomplice or as enemy. In this way, the mediating role of professional readers is
challenged, which can lead to defensive polemics against the digital literary public.

© Johannes Franzen, 2022 | doi:10.30965/25890859-05002017
This is an open access article distributed under the terms of the CC BY-NC-ND 4.0 license.
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         Keywords

Digitalisierung – Autorschaft – Öffentlichkeit – Gegenwartsliteratur

digitization – authorship – public – contemporary literature

1        Tod der Autorin: ein neuer Strukturwandel der Öffentlichkeit

Die Trennung von Werk und Autor1 gehört zu den etablierten Dogmen der
Literaturwissenschaft.2 Es handelt sich um eines der wenigen Theoreme,
die es – vor allem über den Weg des schulischen Literaturunterrichts – zu
einer großflächigen gesellschaftlichen Verbreitung gebracht haben. Im
weitesten Sinne besagt es, dass man bei der angemessenen Lektüre eines
literarischen Werkes von der Person des Autors absehen und sich auf die
ästhetische Faktur des Textes konzentrieren sollte.3 Diese Forderung wird
oftmals im Assoziationsraum des Schlagworts ‚Tod des Autors‘ verortet, das
auf die kanonische Polemik Der Tod des Autors von Roland Barthes aus dem
Jahr 1968 zurückgeht – eine Figur, die, wie Carlos Spoerhase angemerkt hat,
„mehr von der Theatralität ihrer Metaphorik“ lebt, „als von der Präzision ihrer
Fragestellungen und der Plausibilität ihrer Lösungsansätze“.4
    In der digitalen Gegenwart gewinnt der inzwischen etwas angestaubte
Konflikt über die Rolle des Autors neues Leben. Die Frage nach der Geltung
und Macht von Autorschaft wird in konkreten Debatten teilweise erbittert
ausgekämpft. Ein spektakulärer Fall ist die Auseinandersetzung zwischen
J.K. Rowling, der Erfinderin des Harry-Potter-Universums, und einem Teil

1 Ein wirklich guter und einheitlicher Weg, in wissenschaftlichen Texten – gerade zum Thema
  Autorschaft – geschlechtergerechte Sprache zu verwenden, wurde noch nicht entwickelt.
  Im Folgenden werde ich im Fall konkreter Schriftsteller:innen den Begriff ‚Autor:innen‘ ver-
  wenden, im Fall des abstrakten etablierten Konzepts der Autorschaft den Begriff ‚Autor‘.
  Dabei handelt es sich zugegebenermaßen um einen nicht durchweg eleganten Kompromiss.
2 Andreas Kablitz hat darauf hingewiesen, dass die Trennung von Autor und Erzähler „den
  Unterschied zwischen einer ‚naiven‘ und einer professionellen Lektüre begründet“ habe,
  und so für die Literaturwissenschaft zum „Prüfstein ihrer Professionalität“ werden konnte
  (Kablitz (2008), S. 35).
3 Dieses Theorem wird in der Literaturtheorie jüngerer Zeit immer wieder herausgefordert.
  Vgl. Schaffrick/Willand (2014), die für den Zeitraum zwischen 2000 und 2014 eine Bibliografie
  von über 550 Beiträgen zum Thema gesammelt haben. Zur aktuellen Forschungsdiskussion
  über den Status des Autors vgl. zudem Franzen (2017).
4 Spoerhase (2007), S. 36.

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ihrer Leser:innen. Seit 2019 wird Rowling vorgeworfen, sich transfeindlich
zu äußern. Das begann mit Tweets der Autorin zum Konflikt um Fragen
der Geschlechtsidentität und führte schließlich zu einem Essay, in dem die
Autorin ihre Sicht der Dinge zu geschlechterpolitischen Fragen ausführlich
darlegte.5 Rowlings Äußerungen stießen insbesondere in den sozialen Medien
auf heftigen Widerspruch. Der Konflikt eskalierte schließlich zu einer inter-
nationalen Kontroverse, die für das öffentliche Bild der Autorin bestimmend
wurde.6
   Die Kontroverse um Rowling bezeugt, dass es sich in solchen Prozessen der
Aushandlung von Deutungsmacht um eine für die Autor:innen ausgesprochen
unangenehme Erfahrung handeln kann. Leser:innen nutzten die digitale
Öffentlichkeit, um sich und das geliebte Werk von der ungeliebten Autorin zu
distanzieren. Dabei wurde Rowling eine recht konkrete Form des Theorems
vom ‚Tod des Autors‘ zuteil. Zwischenzeitlich trendete auf Twitter sogar der
rabiate Hashtag „#RIPJKRowling“, der die Autorin kurzerhand für tot erklärte.
Ein weiterer Schlachtruf, der in den sozialen Medien schnelle Verbreitung
fand, lautete: „Harry Potter has no author“. Auf der Videoplattform TikTok
wurde unter diesem Motto der Name der Autorin öffentlich von den Covern
ihrer Bücher getilgt.7
   Der ‚Tod der Autorin‘ im Zeichen einer Entzweiung von Publikum und
Urheber:in erscheint als performativer Akt der Rezeption, der die digitale
Bühne benötigt, um die Organisation der Rezipient:innen untereinander zu
gewährleisten. Die Fans der Harry-Potter-Bücher wurden mit der schmerz-
haften Erkenntnis konfrontiert, dass die Erfinderin ihres geliebten fiktionalen
Universums in einem extremen politischen Widerspruch zu ihnen stand.
Diese Erfahrung, die sich in einer massenhaften Performanz schockierter
Entgeisterung zum Ausdruck brachte, kann durch den etablierten Verweis
darauf, dass man zwischen Werk und Autor trennen muss, nicht befriedet
werden. Ereignisse wie der Konflikt zwischen Rowling und ihren Fans zeigen,
wie stark es sich bei dieser Trennung um eine Vorschrift handelt, Teil einer prä-
skriptiven Theorie, die mit der Realität der Rezeption oft wenig zu tun hat. Von
den Fans eines Kultbuches wird eine stark abweichende politische Haltung
der Autorin als reale Katastrophe erfahren, die zwangsläufig die Lektüre des
Buches kontaminiert.8

5   Vgl. Hofmann (2020) und Rowling (2020).
6   Vgl. Fischer (2020).
7   Vgl. Wagoner (2020).
8   Vgl. Lewis (2020).

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    Der Skandal um Rowlings Äußerungen macht deutlich, wie problematisch
die vage theoretische Forderung nach einer Trennung von Werk und
Autor erscheint, wenn man sie mit realen literaturhistorischen Konflikten
konfrontiert. Es wird die Aufgabe zukünftiger Literaturwissenschaftler:innen
sein, den Skandal um Rowling, der alles andere als abgeschlossen erscheint,
umfänglich aufzuarbeiten. Der Fall kann allerdings bereits jetzt als Illustration
für eine tendenzielle Verschiebung im Machtgefüge der literarischen
Öffentlichkeit zugunsten der Rezipient:innen dienen. Man könnte diese
Veränderung in Anlehnung an den inzwischen fast sprichwörtlichen Titel von
Jürgen Habermas’ klassischer Studie von 1962 als eine Art ‚Strukturwandel der
literarischen Öffentlichkeit‘ beschreiben.
    Tatsächlich hat Habermas in einem unlängst veröffentlichten Beitrag mit
dem Titel Überlegungen und Hypothesen zu einem erneuten Strukturwandel
der politischen Öffentlichkeit seine Analyse von 1962 erweitert, insbesondere
in Bezug auf den aktuellen Medienwandel. Demnach handelt es sich bei der
Digitalisierung „um eine mit der Einführung des Buchdrucks vergleichbare
Zäsur in der menschheitsgeschichtlichen Entwicklung der Medien“.9 Aus
dieser Beobachtung werden, wie bereits in den 1960er Jahren, weitreichende
kulturgeschichtliche Konsequenzen abgeleitet, die wie damals auch eine
kulturkritische Einfärbung aufweisen.
    In Strukturwandel der Öffentlichkeit bezog sich das Niedergangsnarrativ
noch vor allem auf den Siegeszug der Massenmedien. Habermas beklagte
damals einen öffentlichkeitshistorischen „Zerfall“, der sich im Verlauf des 19.
Jahrhunderts angekündigt und bis in die Gegenwart der 1960er Jahre vollzogen
habe: „[A]nstelle der literarischen Öffentlichkeit tritt der pseudo-öffentliche
oder scheinprivate Bereich des Kulturkonsums.‟10 Aus aktivem Räsonnement
wird also im Zeichen der Kulturindustrie der passive Konsum.
    Dieser Zerfall, der durch ein angebliches Absinken des intellektuellen und
ästhetischen Niveaus und die verminderten Eintrittskosten der Massenkunst
bewirkt wurde, stand in Strukturwandel der Öffentlichkeit in einem erkenn-
baren mediengeschichtlichen Kontext: „Das Verhalten des Publikums nimmt
unter dem Zwang des ‚Don’t talk back‘ eine andere Gestalt an. Die Sendungen,
die die neuen Medien ausstrahlen, beschneiden, im Vergleich zu gedruckten
Mitteilungen, eigentümlich die Reaktion des Empfängers.‟11
    Ähnliche kulturkritische Affekte gegen die Folgen des medialen Wandels
lassen sich in Bezug auf die Digitalisierung beobachten. Allerdings wurde die

9		    Habermas (2021), S. 486.
10		   Habermas (1990), S. 248.
11		   Ebd., S. 261.

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von Habermas 1962 beklagte Passivität der Rezeption als Ziel von medien-
skeptischen Ängsten in der Gegenwart durch eine allgegenwärtige und aufdring-
liche Partizipation abgelöst. Damals stand im Mittelpunkt des Verlustnarratives
noch ein Verschwinden, nämlich das Verschwinden des räsonierenden
Publikums der literarischen Öffentlichkeit. Die Verlusterzählungen der
Gegenwart dagegen beziehen sich auf einen Überschuss an öffentlichen
Äußerungen, der in einer Explosion an (unberufenen) Meinungen seinen
Ausdruck findet. Die neuen Medien veränderten, schreibt Habermas in seinem
Aufsatz, „auf radikale Weise das bisher in der Öffentlichkeit vorherrschende
Kommunikationsmuster. Denn sie ermächtigen alle potentiellen Nutzer
prinzipiell zu selbständigen und gleichberechtigten Autoren.‟12
   An die Stelle passiver Rezeption ist demnach „der anarchische Austausch
spontaner Meinungen“ getreten. „Wie der Buchdruck alle zu potentiellen
Lesern gemacht hatte, so macht die Digitalisierung alle zu potentiellen
Autoren.‟13 Dieser pointierten Zusammenfassung der öffentlichkeits-
historischen Machtverschiebung folgt die charakteristische Warnung vor den
Folgen einer unkontrollierten Teilhabe. Habermas vermutet, der Rückgang von
Leser:innen gedruckter Zeitungen habe zu einem Verlust an Aufmerksamkeit
für politische Prozesse geführt:

       Ich muss mich daher auf informierte Vermutungen beschränken.
       Einerseits scheint der dramatische Bedeutungsverlust der Printmedien
       gegenüber den vorherrschenden audiovisuellen Medien für ein sinkendes
       Anspruchsniveau des Angebots zu sprechen, also auch dafür, dass die
       Aufnahmebereitschaft der Bürger und die intellektuelle Verarbeitung
       von politisch relevanten Nachrichten und Problemen eher abgenommen
       haben.14

So hat sich im Rahmen des ‚neuen Strukturwandels der Öffentlichkeit‘ zwar die
Stoßrichtung der Analyse verändert, nicht aber die Sorge um eine Öffentlich-
keit, die von einem ‚falschen‘ Medienkonsum bedroht wird. Man kann darüber
streiten, ob diese Sorge berechtigt ist – die zugrunde liegende Analyse einer
Machtverschiebung in der öffentlichen Kommunikation erscheint in jedem
Fall zutreffend. Gerade in Bezug auf das literarische Feld, wo eine besondere
Nervosität hinsichtlich der Berechtigung ästhetischer Urteile herrscht, sind
die Verwerfungen infolge des neuen Strukturwandels überdeutlich. Und auch

12		   Habermas (2021), S. 487.
13		   Ebd., S. 489.
14		   Ebd., S. 491.

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hier herrscht streckenweise große Sorge vor dem, was Habermas mit Blick
auf politischen Journalismus als eine Tendenz zur „Entprofessionalisierung“
diagnostiziert.15 Ein Beispiel für diese Art der Klage, speziell über den Wandel
der literarischen Öffentlichkeit, lieferte 2020 die Literaturkritikerin Sigrid
Löffler in einem Interview mit dem Deutschlandfunk Kultur.

       Der professionelle Kritiker hat nämlich heute unerwünschte Konkurrenz
       bekommen, nämlich dieses elektronische Stammtischgeschnatter. Jeder
       Konsument, jeder Buchkäufer darf sich heute auch automatisch als
       Kritiker betrachten. Im Internet dominieren dann zumeist diese Ama­
       teure, die meisten sind Amateure, Blogger, Hobbykritiker. Und die
       twittern vor sich hin mit subjektiven Geschmacksurteilen. Willkürliche
       Begeisterungsanfälle, die meistens nicht begründet sind. Da wird unter
       dem Deckmantel einer angeblichen Demokratisierung der Kritik die
       Literaturkritik in Wahrheit entprofessionalisiert.16

Dass sich mit der Digitalisierung die Struktur des literarischen Feldes ver-
ändert hat, wird heute kaum jemand bestreiten. Die Intensität der Debatten,
die darüber geführt werden (Löfflers Polemik ist ein Beispiel dafür), zeigen,
dass dieser Wandel alles andere als abgeschlossen ist. Trotzdem erscheint es
produktiv, einen Schritt von den Kontroversen zurückzutreten und sich die
Frage zu stellen, welchen Einfluss die digitale Öffentlichkeit auf das Verhältnis
von Autor:in und Publikum hat.

2         Fälschung des Autors: neue Näheverhältnisse zwischen Autor und
          Publikum

Ausgangspunkt der Überlegungen zum Verhältnis zwischen Autor und
Publikum ist die Beobachtung, dass es technische Innovationen so einfach
machen wie nie zuvor, sich an der öffentlichen Kommunikation über Kunst
und Kultur zu beteiligen. Die schiere Menge an Möglichkeiten, die eigene
Meinung digital zu publizieren, hat zu einer Explosion des nicht professionellen
ästhetischen Diskurses geführt (das, was Löffler als „Stammtischgeschnatter“
bezeichnet). Die Tatsache, dass man auf persönlichen Websites, auf Blogs,
Rezensionsplattformen und vor allem in den sozialen Medien extrem schnell
und kostengünstig eine Einschätzung zu einem ästhetischen Artefakt abgeben

15		   Ebd., S. 494.
16		   Löffler zitiert nach Sahner/Scholl (2020).

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kann, hat dazu geführt, dass das Publikationsmonopol der etablierten Medien
gebrochen wurde.
   Dazu kommt, dass die Rezipient:innen dieser Medien sich immer mehr
von weitgehend passiven Konsument:innen in aktive ‚Prosument:innen‘ ver-
wandeln, die die inhaltliche Arbeit ihrer Medien aktiv begleiten. Die oft zahl-
reichen Nutzer:innenkommentare unter den online verfügbar gemachten
Texten von Zeitungen etwa sind Zeugnisse eines Bedürfnisses nach
Partizipation. Und auch diese Entwicklung verläuft alles andere als konflikt-
frei. So wird in diesem Zusammenhang immer wieder ein eklatanter Mangel
an Zivilität beklagt.17 Alan Rusbridger, der ehemalige Chefredakteur des
Guardian, schildert in seinem Buch Breaking News. The Remaking of Journalism
and Why It Matters Now, wie diese Art, die eigenen Leser:innen kennenzu-
lernen, zu Beginn durchaus verstörend wirken konnte:

       Suddenly we had a return channel. For 200 years journalism had been
       about pushing stuff out at readers. And now, here they were – not in a
       letter arriving a day or two later which might (possibly) find its way to
       a writer via the letters desk some time thereafter. Here were real live
       readers – sometimes thousands of them – responding instantly to things
       you were telling them.18

Der Furor, der in dieser Art von Partizipation zuweilen zum Ausdruck
kommt, scheint nicht nachgelassen zu haben – im Gegenteil. 2014 schrieb
die Journalistin Andrea Diener in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung
einen Artikel darüber, dass es inzwischen zum Arbeitsalltag von digitalen
Medienmacher:innen gehört, ständig beschimpft zu werden: „Ich lese diese
Kommentare voller Hass, voller Herablassung jeden Tag, denn ich bin, wenn
ich nicht gerade Reisegeschichten schreibe, auch für die sozialen Medien
zuständig.‟19 Dieser Zustand scheint weit entfernt vom vordigitalen Zeitalter
des empörten Leser:innenbriefes. Zwar hat die Digitalisierung diesen Mangel an
Zivilität nicht aus dem Nichts heraus erzeugt; der Ausbau einer publizistischen
und kommunikativen Infrastruktur hat allerdings die Voraussetzung dafür
geschaffen, dass er offen und gemeinsam ausgelebt werden kann. Gleichzeitig
markiert diese Explosion der Feedbackkultur eine Erweiterung der Teilhabe an
der ästhetischen Kommunikation. Digitale Praktiken der Geschmacksbildung

17		   Vgl. Springer/Kümpel (2018), S. 242.
18		   Rusbridger (2019), S. 107.
19		   Diener (2014), S. 15.

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sind, wie Johannes Paßmann und Cornelius Schubert gezeigt haben, ein
wichtiger Bestandteil der Kommunikation in den sozialen Medien:

       Aktivitäten wie Liken, Teilen, Folgen, Retweeten, Taggen, Bookmarken,
       Antworten, Kommentieren und nicht zuletzt das Posten von Texten,
       Bildern und Klängen auf den Plattformen sozialer Medien sind nicht nur
       Formen des Ausdrucks von Geschmack, sondern immer auch Praktiken
       der Geschmacksbildung.20

Diese geschmackssoziologische Beobachtung gilt gerade für den Literatur­
betrieb: Auf Social-Reading-Plattformen wie Goodreads oder LovelyBooks
etwa haben sich umfangreiche und vitale Communities gebildet, in denen –
unabhängig vom etablierten Diskurs und seinen Gatekeepern – ein ausführ-
liches und intensives Gespräch über Literatur stattfindet. Gerhard Lauer hat
diesen alternativen Literaturbetrieb in seinem Buch Lesen im digitalen Zeitalter
anhand zahlreicher Beispiele analysiert und spricht von einer „popkulturellen
Dehierarchisierung der Kultur“.21
   Diese Dehierarchisierung hat Folgen für traditionelle Konzepte der
Autorschaft. Lauer geht unter anderem auf die Plattform Wattpad ein, wo
Autor:innen Geschichten veröffentlichen, die von ihrem Publikum im Prozess
des Entstehens kommentiert werden. Diese Praxis folgt dem „distributed
mentoring“, das von Fan-Fiction-Seiten bekannt ist.22 Die Autor:innen dieser
Texte entwickeln ihre Stimmen und ihren Stil in direkter Kommunikation mit
den Leser:innen, die oftmals selbst Autor:innen sind. Lauer sieht in dieser
digitalen Form der Autorschaft einen Bruch mit der autoritativen Tradition
der Moderne:

       Geschichten in gefühlter Echtzeit zu teilen, zu kommentieren oder
       selbst weiterzuschreiben, das alles ist längst Praxis. Friedrich Schlegels
       romantischer Traum von der Aufhebung der getrennten Rolle des
       Lesers, Autors und Kritikers ist millionenfacher Alltag für die Autoren
       auf Wattpad, die so gar nichts von den auratischen Autorenfiguren der
       Moderne haben.23

20		   Paßmann/Schubert (2021).
21		   Lauer (2020), S. 157.
22		   Aragon/Davis (2019).
23		   Lauer (2020), S. 128.

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   Das Phänomen der Fan-Fiction erscheint besonders einschlägig für
die Umschwünge im Verhältnis von Autor, Werk und Publikum. Für die
Urheber:innen handelt es sich um eine direkte Herausforderung der
‚Werkherrschaft‘ durch das kreative Begehren des Publikums, sich an der
Ausgestaltung eines fiktionalen Universums zu beteiligen. Gerade im Fall
von Harry Potter gibt es ein ungeheures Aufkommen an Geschichten von
Laienautor:innen, die die von Rowling entworfene Welt und die Figuren als
Spielmaterial für eigene Entwürfe verwenden.
   Dieser Umstand verstärkt natürlich auch das Konfliktpotenzial im Verhält­
nis von Autor und Publikum. Ein Teil des Publikums hat sich bereits in das
Werk eingeschrieben und kann so Anspruch auf Miteigentümerschaft stellen.
Die Frage nach der Werkherrschaft, also danach, wem eine fiktionale Welt
gehört, ist in der digitalen Gegenwart komplizierter geworden. Während sich,
wie Heinrich Bosse gezeigt hat, seit dem 18. Jahrhundert durch Innovationen
im Urheberrecht und einen kulturellen Wandel der Autorschaftsvorstellungen
die Frage nach dem narrativen Eigentumsrecht immer leichter beantworten
ließ (Werke gehören den Verfasser:innen), lassen sich, wie die Kontroverse um
Rowling zeigt, die Eigentumsverhältnisse im Zeichen digitaler Partizipation
nicht mehr so leicht entwirren.24
   Das Verhältnis von Autor:innen zu ihren Fanautor:innen ist in den
meisten Fällen konstruktiv, was sicherlich mit der Tatsache zu tun hat, dass
die Mehrzahl der Fan-Fictions nicht darauf angelegt ist, Geld zu verdienen.
Allerdings gibt es durchaus Stimmen, die das Fortschreiben des eigenen
Universums als Angriff auf die Integrität des eigenen Werkes, als Entmachtung
und Enteignung erfahren und dagegen vorgehen. Autor:innen wie Anne Rice
oder George R. R. Martin etwa sprechen sich gegen Fan-Fiction aus und ver-
suchen, ihre Entstehung zu verhindern.25
   Die Digitalisierung hat, wie sich zeigt, das Verhältnis von Nähe und Distanz
zwischen Autor und Publikum durcheinandergebracht und damit auch
Verwirrung in Bezug auf den Status des Werkes gestiftet. Einerseits kann das
Publikum das Werk von seiner Urheberin regelrecht entfremden, anderer-
seits gibt es genug Fälle, in denen die Leser:innen als Verbündete des Autors
auftreten. Auch dieses Phänomen spielt sich vor allem im Assoziationsraum
des Konzepts ‚Fan‘ ab.26 Die publizistische Infrastruktur des Internets und ins-
besondere die sozialen Medien fördern die Vergemeinschaftung der Rezeption
auf eine Art, die es den Künstler:innen ermöglicht, die geballte Macht ihrer

24		   Vgl. Bosse (2014).
25		   Vgl. Jackson (2018).
26		   Vgl. Roose/Schäfer/Schmidt-Lux (2017).

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Die Trennung von Publikum und Autor                                                              125

Rezipient:innen hinter sich zu versammeln, etwa wenn es darum geht, sich
gegen eine unliebsame Kritik zur Wehr zu setzen.27
   Die Nähe zu den Fans, die dazu nötig ist, muss allerdings hergestellt und
kultiviert werden, indem sich Autor:innen in den sozialen Medien aufhalten,
sich also überhaupt erst als Objekt und Subjekt einer digitalen Nähebeziehung
anbieten. Es gibt Autor:innen, die das virtuos beherrschen und eine vitale
Gemeinschaft ihrer Rezipient:innen im Umfeld ihrer Accounts versammeln.
Im englischsprachigen Bereich wäre etwa Stephen King zu nennen, im
deutschsprachigen sind es Autor:innen wie Saša Stanišić, Clemens Setz oder
Sibylle Berg, die auf Twitter mit ihren Leser:innen, aber eben auch mit der
weiteren Gemeinde Literaturinteressierter kommunizieren.
   Die sozialen Medien sind dabei – wie jede öffentliche Arena, in der
Literatur stattfindet – gleichermaßen Ort der Kommunikation wie der
Selbstvermarktung. Damit wird die digitale Sphäre zu einem weiteren
Schauplatz von Autorinszenierung, die dazu dient, Aufmerksamkeit für das
eigene Werk zu erzeugen und poetologische Vorstellungen zu vermitteln.
Natürlich haben sich Schriftsteller:innen bereits lange vor der Digitalisierung
auf diese Art betätigt.28 Allerdings hat die Digitalisierung eine spezifische
Form und Intensität von Autorinszenierung hervorgebracht, die sich vor allem
in Anlehnung an den Begriff des Influencers beschreiben lässt.29
   Ein Problem der heuristischen Operationalisierbarkeit dieses Vergleichs ist,
dass es sich bei ‚Influencer‘ um einen Kampfbegriff handelt, der alles andere
als wertfrei verwendet wird. Tatsächlich verdichtet sich in diesem Begriff die
kulturkritische Abwehr, die sich in Bezug auf die meisten neuen Formen von
Autorinszenierung beobachten lässt.30 Es handelt sich um ein neuerliches
Transparentwerden der Tatsache, dass Kunst verkauft werden muss. Diese
Tatsache wird meist durch die „anti-ökonomische illusio“ verschleiert, dass
Kunst und Kommerz nichts miteinander zu tun haben (sollten).31
   Bevor neue Formen der Autorinszenierung als ‚erlaubte‘ Kulturtechnik
kanonisiert werden, stehen die entsprechenden Strategien immer in einem
gewissen Zwielicht. Das gilt auch und gerade für den Autor als Influencer.
Ein Beispiel aus dem Alltag des digitalen Literaturbetriebs illustriert das
Irritationspotenzial dieser aufmerksamkeitsökonomischen Innovation.

27		   Vgl. Franzen (2021).
28		   Vgl. Fischer (2018).
29		   Zum Berufsfeld ‚Influencer:in‘ vgl. auch den Beitrag von Tanja Prokić in diesem Heft.
30		   Vgl. Mark (2021).
31		   Jürgensen/Kaiser (2011), S. 9.

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  Am 31. Juli 2021 veröffentlichte der Autor Cormac McCarthy einen Tweet,
der schnell tausende Male geteilt und zehntausende Male gelikt wurde:

       My publicist is on my case about my infrequent use of this infernal
          website
       He says engagement is down and so are metrics and something something
       who cares
       There
       I wrote a tweet
       Are you happy now Terry32

Hier wird die amüsierte Verärgerung eines etablierten Autors über die
Ansprüche der digitalen Selbstvermarktung inszeniert. Einer der Gründe,
warum dieser Tweet so erfolgreich war, ist, dass er gewisse kulturkritische
Vorannahmen bestätigt. Das literarische Leben ist demnach inzwischen voll-
ständig in der Personalisierung aufgegangen, oberflächlich-populistische
Faktoren wie „engagement“ und „metrics“ bestimmen die ästhetische
Kommunikation. Die eigentliche Macht hat nicht mehr der Autor, hier im
Gewand des Großautors, sondern die periphere Figur des „publicist“, der nur
mit seinem Vornamen („Terry“) angesprochen wird.
   Das entspricht in gewisser Weise der Kritik des Literaturbetriebs in vor-
digitalen Zeiten, die sich durch die gesamte moderne Literaturgeschichte
zieht. Dieser Kritik liegt die Befürchtung zugrunde, das Literarische könnte
von unliterarischen Faktoren überwölbt oder verdrängt werden.33 Der Humor
des Tweets, der die charakteristische Selbstironie digitaler Kommunikation
bedient, sorgte allerdings dafür, dass die Twitter-Gemeinde nicht abwehrend,
sondern zustimmend reagierte. Immerhin beteiligte sich der Autor an der
spielerischen Kommunikation und zeigte so seine, wenn auch skeptische,
Zugehörigkeit zur Öffentlichkeit der sozialen Medien.
   Die Deutung dieses Ereignisses wird dadurch verkompliziert, dass sich bald
herausstellte, dass die extreme Reaktion auf den Tweet deplatziert gewesen
war. Es handelte sich nämlich um eine Fälschung. Der Cormac McCarthy auf
Twitter erwies sich als ein satirischer Fake-Account. Der Autor, so wurde über
den Verlag bekannt gegeben, war selbst nie auf Twitter. Dieses Durcheinander
wurde dadurch verstärkt, dass Twitter den Account verifiziert hatte – in einem
Prozess, der gerade dazu dienen soll, die realen Profile von Prominenten
von Fälschungen zu unterscheiden. Twitter hatte diese Verifizierung

32		   https://twitter.com/hannahrosewoods/status/1421808289382273030?s=20 (04.09.2021).
33		   Vgl. Assmann (2014).

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Die Trennung von Publikum und Autor                                                             127

aufgrund des hohen Reaktionsaufkommens unaufgefordert vorgenommen.
Das Näheverhältnis von Autor und Publikum, markiert durch eben jene
‚metrischen‘ Faktoren, die der falsche McCarthy in seinem Tweet anklagte,
führte also dazu, dass er für den realen Autor gehalten wurde.
   Damit erscheint der gefälschte Tweet als im doppelten Sinne gelungene
Satire auf den digitalen Literaturbetrieb. Die beklagte Entmachtung des
Autors, der sich dem Druck hingeben muss, ein Influencer zu sein, erschien so
plausibel, dass sie Tausende von Reaktionen herausforderte, die dann zu einer
realen – und ultimativen – Entmachtung führten, nämlich der kurzfristigen
Verifikation des Diebstahls seiner Identität.34

3         Entmachtung der Kritik: neue Distanzverhältnisse zwischen
          Autor und Publikum

Das digitale Dramolett um den falschen McCarthy verweist auf übergreifende
strukturelle Veränderungen in der Art und Weise, wie Autorschaft auf den
Literaturmarkt zurückwirkt. In diesem Kontext wird das Wirtschaftsmodell
‚Influencer‘ als Vorbild neuer Autorschafsmodelle zum Gegenstand von
grundsätzlicher Kritik. Ein Beispiel ist ein kurzer verärgerter Beitrag im
Deutschlandfunk, der sich mit der Rezeption des Buches Marianengraben von
Jasmin Schreiber befasste. Dieses Buch sei bereits ein Beststeller gewesen,
„bevor irgendeine Feuilletonkritik geschrieben, oder das erste Exemplar beim
Endkunden gelandet ist“.35
   Der Grund sei, dass die Autorin „einen Internetfankreis“ besitze, den der
Verlag gezielt bespielt habe. Die deutliche Suggestion dahinter ist, dass hier
durch ein geschicktes Bubble-Management ein Buch an den Gatekeepern der
ästhetischen Bewertung vorbeigeschleust wurde. Diese Machtverschiebung
wird am Ende des Beitrags explizit benannt: „Somit entsteht, Gott sei’s
geklagt, eine neue Herausforderung für die klassische Literaturkritik, die ihre
Reichweite mehr und mehr teilen muss mit anderen Akteuren.‟36
   Was hier zum Ausdruck kommt, ist die Sorge, das neue Näheverhältnis von
Autor und Publikum könnte zu einer Gefahr für die Literatur werden. Indem

34		   Inzwischen wurde der Account gelöscht, allerdings waren zum Zeitpunkt der Niederschrift
       dieses Aufsatzes bereits mehrere neue Accounts entstanden. Es handelt sich um eins von
       zahlreichen Phänomenen der literaturbetrieblichen Fälschungen auf Twitter. So gibt es
       etwa die fragwürdige Praxis, falsche Todesmeldungen zu lancieren, auf die Medien dann
       regelmäßig hereinfallen (vgl. Metz (2020)).
35		   Drees (2020).
36		   Ebd.

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man das Werk über den Kopf der ästhetischen Gesetzgeber hinweg direkt an
das Publikum vermarktet, werden die geltenden Kriterien der Bewertung aus-
gehebelt. Der Autor erscheint in dieser Vorstellung als Volkstribun, der von
seiner digitalen Bühne die Leser:innen unvermittelt adressieren kann. Auch
in diesem Fall sind die medialen und institutionellen Voraussetzungen der
populistisch anmutenden Vergemeinschaftung vor allem in der publizistischen
und kommunikativen Infrastruktur des Internets zu suchen.
   Moritz Baßler führt in seinem Essay Der Neue Midcult, der eine Debatte
über die Maßstäbe literarischer Wertung ausgelöst hat, den Aufstieg eines
neuen ‚Midcults‘ auf die Phänomene der ästhetischen Vergemeinschaftung
in der Digitalisierung zurück. „Soziale Medien und das interaktive Web 2.0“
setzten „professionelle Gatekeeper-Funktionen“ sowohl auf der Rezeptions-
als auch auf der Produktionsebene außer Kraft.37 Das zeige sich etwa in Bezug
auf den riesigen Erfolg der Instagram-Poetin Rupi Kaur, deren Texte bei den
klassischen Institutionen ästhetischer Bewertung höchstwahrscheinlich noch
nicht einmal registriert werden würden. Für die begeisterte Rezeption Kaurs
spiele das aber, wie Baßler feststellt, keine Rolle:

       Es ließe sich allerdings auch mit einigem Recht sagen, dass literatur-
       wissenschaftlich geschulte Lyrikkritik hier weder zuständig noch irgend-
       wie vonnöten ist. Die Userinnen in den Sozialen Medien sind vollständig
       in der Lage, sich ohne professionelle Richtschnur über die Qualitäten zu
       verständigen, die diese Gedichte für sie haben.38

Die Plattformen der digitalen Rezeption erscheinen also als Orte, in denen die
eine Form des literarischen Wertens ausgehebelt und eine andere inthronisiert
wird. Diese Diagnose ist bei Baßler mit einem Niedergangsnarrativ verbunden.
Denn das, was hier abgeschafft wird, ist die Ästhetik des Anspruchsvollen,
Schwierigen, Komplexen, die sich seit der Moderne als hochkulturelle
Leitästhetik etabliert hat (eine Traditionslinie, die vor allem von Musil bis
Foster Wallace reicht).
   Baßlers Polemik kann als Verteidigung der Institutionen professioneller
Lektüre angesehen werden, die durch das neue Näheverhältnis von Autor
und Publikum bedroht werden: „Was dagegen hier nicht mehr benötigt wird“,
schreibt er, „sind informierte Interventionen von außen, etwa aus Kritik und
Wissenschaft. Wo sie überhaupt wahrgenommen werden, werden sie wie alles
andere unter der Kategorie ‚entspricht mir/entspricht mir nicht‘ prozessiert;

37		   Baßler (2021). Zur Debatte vgl. Schmidt (2021), Kessler (2021) und Dotzauer (2021).
38		   Baßler (2021).

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Die Trennung von Publikum und Autor                                                   129

die Autorität des Urteils aber verbleibt innerhalb der Bubble.‟39 Das wiederum
stelle ein Problem für die Literatur selbst dar. Denn ohne die vermittelnde
Instanz professioneller Leser:innen läuft das Publikum Gefahr, vornehmlich
ideologische und ästhetische ‚Wohlfühltexte‘ zu konsumieren.
   Als Beispiel für diese Machtverschiebung nennt Baßler den Fall der
Kontroverse um Takis Würgers Roman Stella, dem von der professionellen Kritik
vorgeworfen wurde, an seinem Stoff, den Verbrechen des Nationalsozialismus,
ästhetisch und ethisch auf brachiale Art gescheitert zu sein.40 Eine Reaktion
auf diesen kollektiven Verriss war ein eigentümlicher offener Brief einer
Gruppe von Buchhändler:innen, die den Feuilletons „Brandrodungskritiken“
vorwarfen und eine offene Kampfansage an die Deutungsmacht der Litera­
turkritik aussprachen. Das Feuilleton würde „bisweilen weit entfernt von
der Meinung der Leserschaft und der BuchhändlerInnen“ urteilen.41 Dieser
ästhetische Populismus ist charakteristisch für die literarische Öffentlichkeit
im digitalen Zeitalter. Baßler analysiert den Konflikt um Stella als den Verlust
eines Konsenses der ästhetischen Wertung: „Wir haben einfach keinen
konsensfähigen Wertungsmaßstab mehr dafür, und damit gerät auch die
Gatekeeperfunktion ins Wanken, die Verlegern, Kritikerinnen und Professoren
so lange eigen war.‟42
   Eine andere Interpretation der Kontroverse wäre, dass es diesen Konsens
nie gab; stattdessen werden schlicht die schon lange existierenden Bruchlinien
des ästhetischen Diskurses im Zeichen der digitalen Machtverschiebung
transparent. Dieses Transparentwerden steigert das Selbstbewusstsein, mit
dem sich Leser:innen, die sich bisher von den Institutionen der literarischen
Wertungsmacht ausgeschlossen gefühlt haben, nun gegen diese Institutionen
zur Wehr setzen.
   Baßlers Verteidigung der professionellen Lektüre und der modernen
Maßstäbe für Literatur schießt dort etwas über ihr Ziel hinaus, wo er die neuen
digitalen Wertungsgemeinschaften in eine deutliche Analogie zu politischen
Pathologien der Gegenwart setzt. In seinem Essay heißt es, nicht nur im
Ästhetischen habe „das Phänomen der niedrigqualifizierten Meinungsblasen“
derzeit Konjunktur. Diagnostiziert wird eine „Strukturgleichheit“ mit
der „Armee der selbsternannten Querdenker und geistigen Exilanten,
der Aluhütchenträger und Rechtsausleger“ und deren „Verachtung von

39		   Ebd.
40		   Vgl. Franzen (2019).
41		   Börsenblatt (2019).
42		   Baßler (2019).

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Bildungseliten, Wissenschaft und generell durch Ausbildung qualifizierten
Positionen“.43
    Gerade weil diese Analogie übertrieben wirkt – verglichen werden Men­
schen, die Wissenschaft ablehnen, mit Menschen, die gerne Wohlfühl-Literatur
lesen –, zeigt sie, wie stark die Abwehr sein kann, die der Strukturwandel der
literarischen Öffentlichkeit erzeugt. Diese Abwehr gehört zu den traditionellen
Reaktionsformen auf mediale Umbrüche. Sie stellt in gewisser Weise ein
Korrektiv gegen die Exzesse der digitalen Innovation dar, die eben auch eine
Reihe von Konfliktpotenzialen etabliert hat. Das neue Näheverhältnis von
Autor:innen und Publikum bringt wie jedes Näheverhältnis neue Formen der
territorialen Streitigkeiten hervor.
    So oft die Leser:innen in der digitalen Gegenwart als Verbündete des Autors
auftreten, so oft sind sie seine Feinde. Als Peter Handke 2019 der Nobelpreis
zugesprochen wurde, rief das heftige Reaktionen hervor. Insbesondere in den
sozialen Medien wurde die Entscheidung als unwürdig kritisiert: Handkes
Verharmlosung serbischer Kriegsverbrechen, so lautete einer der Vorwürfe,
hätte ihn als preiswürdigen Autor disqualifiziert. Vor allem Saša Stanišić
aktivierte sein Umfeld in den sozialen Medien, um gegen die Entscheidung des
Nobelpreis-Komitees vorzugehen. Er fungierte damit als effektiver Initiator
und Multiplikator der Kritik, die so zu einem öffentlichen Ereignis gemacht
wurde, auf das auch zahlreiche etablierte Medien reagierten.
    Die Debatte über den Zusammenhang von Literatur, Politik und
Verantwortung wurde bald als medienethische Debatte über Diskursmacht
im literarischen Feld der Gegenwart geführt.44 Gerade in etablierten Medien
gab es zahlreiche kritische Stimmen, die Handke als Opfer eines digitalen
Mobs sahen, der sich für seine Werke gar nicht interessieren würde.45 Der
Schriftsteller Thomas Melle bezeichnete Handkes Kritiker in der Frankfurter
Allgemeinen Sonntagszeitung sogar als „Clowns auf Hetzjagd“.46 Der Vorwurf
lautete, ein verdienter Autor sei zwischen die Räder einer unkontrollier-
baren und unbelesenen Öffentlichkeit geraten, die an den angestammten
Institutionen der Debatte vorbei Jagd auf ihn machen würde und nicht in
der Lage sei, das Werk von den Haltungen und Handlungen seines Urhebers
zu trennen.
    Der Streit um Handke ist für eine Analyse des veränderten Verhältnisses
von Autor:innen und Publikum vor allem deshalb interessant, weil die

43		   Baßler (2020).
44		   Vgl. Baum (2019).
45		   Vgl. Bossong (2019).
46		   Melle (2019).

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Die Trennung von Publikum und Autor                                                         131

neuen Möglichkeiten diskursiver Teilhabe in diesem Fall umfassend als
Bedrohung für ein Autorschaftsmodell wahrgenommen wurden, das auf der
Trennung von Werk und Autor beruht. Die Kolumnistin Margarete Stokowski
bezeichnete diese Trennung im Verlauf der Debatte als „eine perfide Form
der Mülltrennung“, die vor allem dazu diene, Autor:innen gegen berechtigte
Vorwürfe zu immunisieren.47
   Es handelt sich auch in diesem Fall um eine Kontroverse, die ohne den
Wandel digitaler Öffentlichkeit kaum vorstellbar ist. Das moderne Konzept
von Autorschaft wird von einem durch die publizistische Infrastruktur
emanzipierten Publikum herausgefordert. Im Gegensatz aber zu der Debatte
um J.K. Rowling ging es im Fall Handke weniger darum, Werk und Urheber
voneinander zu trennen, sondern darum, beides wieder zusammenzubringen.
So unterschiedlich diese Kontroversen sein mögen, sie zeigen, wie stark
der Wandel der literarischen Öffentlichkeit und die damit einhergehende
Machtverschiebung die Grenzen im Verhältnis von Autor und Publikum neu
geordnet haben.

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47		   Stokowski (2019).

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Die Trennung von Publikum und Autor                                                          133

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Sprache und Literatur 51 (2022) 116–133                      Downloaded from Brill.com09/16/2022 09:23:26AM
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