Die Wandlungsphasen der traditionellen chinesischen Medizin - Band 3 Udo Lorenzen / Andreas Noll Die Wandlungsphase Erde
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Udo Lorenzen / Andreas Noll Die Wandlungsphasen der traditionellen chinesischen Medizin Band 3 Die Wandlungsphase Erde 2. überarbeitete und ergänzte Auflage 2012
Udo Lorenzen / Andreas Noll Die Wandlungsphasen der traditionellen chinesischen Medizin Band 3 Die Wandlungsphase Erde 2. überarbeitete und ergänzte Auflage 2012 Verlag Müller & Steinicke München
2. überarbeitete und ergänzte Auflage © 2012 Müller & Steinicke, München ISBN 978-3-87569-203-7 Alle Rechte der Verbreitung, auch die der photomechanischen Wiedergabe oder der Einspeisung und Rückgewinnung in Datenverarbeitungsanlagen, sind vorbehalten. Druck und Bindung: EOS-Druck, 86941 St. Ottilien
Vorwort zur ersten Auflage Dieses dritte Buch unserer Reihe “Die Wandlungsphasen in der traditi- onellen chinesischen Medizin” beschäftigt sich mit den Aspekten der Wandlungsphase ERDE. Wie auch in den beiden anderen Bänden “Holz” und “Metall” versuchen wir, unseren Lesern die Essenz der chinesischen Medizin näher zubringen, wie sie in den klassischen Büchern formuliert ist. Klassische Texte zur chinesischen Medizin sind schon vor 2000 Jah- ren geschrieben worden. Sie zeigen besonders deutlich das ganzheitli- che Konzept in der Behandlung des kranken Menschen. Indem wir die Chinesische Medizin (CM) von ihren Wurzeln her begreifen, erweitern wir unsere Fähigkeiten, die lebendigen Wandlungen in der Natur zu erken- nen und zu begreifen. Damit helfen wir unseren Patienten und geben uns selbst die Möglichkeit, in uns ebenfalls diese Bewegungen zu reflektieren. Denn Wandlungen, eben die fünf Wandlungsphasen, sind fließende As- pekte unseres Daseins, die sich in allem finden, was geboren wird, sich entwickelt und reift. Die Wandlungsphase Holz als die impulsive, aber auch zielgerichtete Kraft, das Metall als konzentrierende, strukturgeben- de Größe, – und jetzt die Wandlungsphase Erde als alles integrierende und harmonisierende Instanz. Die Erde findet ihre jahreszeitliche Entsprechung im Spätsommer, wenn alles reift und die Natur üppig das Leben nährt. Und so ist auch unse- re Buchreihe in den letzten Jahren gereift zu einem umfassenden, zu- nehmend geschlossenen Konzept. An Gewichtung gewonnen haben die Übersetzungen aus den Klassikern, besonders zu den Anwendungen der Akupunkturpunkte. Erstmalig ist aus den wichtigsten klassischen Texten Ursprüngliches zu den Punkten zusammengetragen worden. Wir hoffen, damit für Therapeuten eine Basis zu schaffen, um unterscheiden zu kön- nen zwischen einer (in den letzten Jahrzehnten im Westen zu beobach- tenden) “Indikationslyrik” und tatsächlich gewachsener Empirie von über 2000 Jahren Medizingeschichte. Auch in diesem Buch werden zusätzlich verschiedene andere Aspekte der chinesischen Medizin vorgestellt, die ebenfalls ihre Bedeutung für das Ganze haben. Wir danken allen, die uns bei der Erstellung dieses Buches zur Seite ge- standen haben: Frau Dr. Chen Qing von der Chengdu University of TCM, deren Übersetzungshilfe uns bei Ihrem Deutschlandaufenthalt 1994 sehr hilfreich war; Herrn Ning Chen für die kalligraphische Darstellung der Schriftzeichen und Herrn Gißler, in dessen Verlag „Müller und Steinicke” wir auch diesmal wieder unsere Gedanken publizieren dürfen. 5
Wir danken auch allen, die uns haben reifen lassen, allen die uns inspiriert haben: unseren Schülerinnen und Schülern, unseren Patienten, unsere Kolleginnen und Kollegen. Vor allem aber ein Dank an unsere Mütter, die uns den Zugang zur “Mutter Erde” erst eröffnet haben. Berlin und Kiel, April 1996 6
Vorwort zur zweiten Auflage „Die Erde hat ihren Platz im Zentrum; Sie ist der üppige Nährboden des Himmels. Die Erde bildet die Arme und Beine des Himmels, ihre Wirk- kraft ist so überaus fruchtbar und anmutig zu betrachten, dass man nicht oft genug darüber sprechen kann. In der Tat, die Erde ist das, was die fünf Wandlungsphasen und die vier Jahreszeiten zusammenführt. Metall, Holz, Wasser, Feuer, sie alle haben ihre eigenen Aufgaben. Jedoch, wenn sie sich nicht auf die Erde als Zentrum beziehen, würden sie alle zusam- menstürzen.“ (Frühlings- und Herbstanalen) Es sind nun 15 Jahre vergangen, seitdem wir das Erdebuch in der ersten Auflage zusammengestellt haben. Das Leben zwischen Himmel und Erde ist ein fruchtbarer Nährboden für Erfahrungen, Reflexionen und Entwick- lungen, sodass wir es an der Zeit fanden, auch das Erdebuch neu zu überarbeiten und zu erweitern. Gegenüber der ersten Auflage von 1996 sind die Entsprechungen noch komplexer und praxisorientierter beschrieben, die Darstellung der Leit- bahn-Punkte wurde wesentlich erweitert und durch viele klassische Punkteindikationen ergänzt. Auch hat der sinologisch-philosophische Teil wesentliche Ergänzungen erfahren. Für dieses Buch sind viele originale chinesische Texte übersetzt worden, die bisher in keiner westlichen Spra- che zur Verfügung standen. Die Autoren hoffen, damit den interessierten Lesern und allen Therapeuten der chinesischen Medizin neues Material an die Hand zu geben, die ihre eigene Theoriebildung und praktische Um- setzung der chinesischen Medizin fördern und begleiten kann. In der Vergangenheit hat es immer wieder Anfragen zu den Inhalten der Wandlungsphasenbücher gegeben. Damit unsere Leserinnen und Leser die Autoren der einzelnen Kapitel direkt ansprechen können, werden wir auch in diesem Band die Autorenschaft der zwei Hauptteile kenntlich ma- chen. So stammen die Kapitel 1-7 von Udo Lorenzen, die Kapitel 8-10 von Andreas A. Noll. Die Punkte der Milz- und Magen-Leitbahn sind ein Gemeinschaftswerk beider Autoren. Wir danken an dieser Stelle allen, die an der Fertigstellung dieses Buches mitgeholfen haben. Besonderen Dank gebürt der Familie von Werner Giß- ler ( 2009) für ihr Engagement, auch die zweite Auflage der „Erde“ im Müller & Steinicke Verlag in München zu publizieren. 7
Dieses Buch sei all denjenigen gewidmet, die uns bisher genährt und ver- sorgt haben im wahrsten Sinne des Wortes: mit Essen, mit Liebe, mit Fürsorge und mit Wissen, auf dass die Erde in uns wachsen durfte und niemals stagnierte! Udo Lorenzen, Kiel, (u.lorenzen@ki.comcity.de) Andreas A. Noll, Berlin/München (info@praxis-noll.de) Im Spätsommer 2011 8
Inhalt Vorwort zur ersten Auflage 5 Vorwort zur zweiten Auflage 7 1 Erde in der Natur 15 1.1 Die Essenz der Erde 15 1.2 Der rechte Platz der Erde liegt im Zentrum! 22 2 Erde im Menschen 29 2.1 In der Mitte 29 2.2 Die Mitte verloren 32 2.3 Die stagnierende Erde 35 3 Das Heimatdorf des Qi 37 3.1 Bedeutung des Namens 37 3.2 Alternative Namen 38 3.3 Die Punktekategorien von Magen 36 39 3.4 Der Stimulus von Magen 36 40 3.5 Funktionen und Wirkrichtungen von Magen 36 41 3.6 Klassische Indikationen 42 3.7 Klassische Kombinationen 51 4 Elementare Bilder der Erde 52 5 Funktionen der Erde im Mikrokosmos Mensch 55 5.1 Die Beamten der öffentlichen Kornkammern und Speicher 55 5.2 Grundlegendes über die 5 Geschmacksrichtungen 61 6 Ernährung in der chinesischen Medizin 72 6.1 Historisches 74 6.2 Der Stellenwert der Diättherapie in der chinesischen Medizin 76 6.3 Energetisches Verhalten der Nahrung 77 6.3.1 Die Thermik der Nahrung 77 6.3.2 Die 5 Geschmacksrichtungen in der Nahrung 79 6.3.3 Die Wirkrichtungen der Nahrung 82 6.3.4 Zuordnung der Nahrungsmittel zu den 5 Wandlungsphasen und dem Leitbahnsystem 83 6.3.5 Die Kunst der chinesischen Küche 92 6.3.5.1 Die verschiedenen Kochmethoden 92 6.3.5.2 Das Kochen im Zyklus der fünf Wandlungsphasen 94 6.4 Das Dao des richtigen Essens 94 6.4.1 Die richtige Zeit 95 6.4.2 Die richtige Einstellung 95 6.4.3 Regulierung des Essens im Einklang mit den Jahreszeiten 96 6.4.4 Regeln für ein gutes Essverhalten 98 6.5 DIE KOCHKUNST DES HERRN VON SUI YUAN 100 6.6 Grüner Tee 116 9
7 Erde und ihre Entsprechungen 131 7.1 Am Himmel 131 7.1.1 Himmelsstämme 131 7.1.2 Erdenzweige 132 7.1.3 Eine Jahreszeit 139 7.1.4 Erde in Aktion 140 7.1.4.1 Praktisches Verhalten im Spätsommer und in den Übergangszeiten 142 10 goldene Regeln für ein zufriedenes Leben 146 7.1.5 Das Klima der Erde 148 7.1.6 Der Erde - Planet 159 7.1.7 Die Himmelsrichtung 159 7.2 Auf der Erde 159 7.2.1 Ihr Geschmack ist das Süße 159 7.2.2 Der Geruch der Erde ist das Wohlriechende 160 7.2.3 Gelb ist die Farbe der Erde 164 7.2.4 Die Musik der Erde 168 7.2.4.1 Ein Musikton 168 7.2.4.2 Ein Musikinstrument 175 7.2.5 Ihre Tierart sind die Nackten 176 7.2.6 Das Haustier ist der Ochse 178 7.2.7 Das Getreide der Erde 182 7.2.8 Eine Frucht 185 7.2.9 Ein Gemüse 186 7.2.10 Eine symbolische Zahl 189 7.3 Im Menschen 194 7.3.1 Die Emotionalität der Erde 194 7.3.2 Eine geistige Qualität 208 7.3.2.1 Die harmonische Einheit von Yi und Qi 214 7.3.2.2 Medizin, das ist Idee! 219 7.3.3 Die Stimme der Erde 230 7.3.4 Ein spontanes Verhalten 232 7.3.5 Ihre äußere Entfaltung 236 7.3.5.1 Magersucht / Anorexia 237 7.3.5.2 Fettsucht / Adipositas 242 7.3.6 Die Erde öffnet sich nach außen 250 7.3.7 Die Erde zeigt ihren Glanz 252 7.3.8 Eine entsprechende Körperflüssigkeit 256 7.3.9 Der Puls der Erde 259 7.3.9.1 Pulstastung am Handgelenk 259 7.3.9.2 Pulstastung am Körper 259 7.3.9.3 Ein Puls hat Magen-Qi 260 7.3.9.4 Der physiologische Puls der Erde 263 7.3.9.5 Der pathologische Puls 267 10
7.3.9.6 Das Pulsgedicht der Milz 270 7.3.10 Die Leitbahnen der Wandlungsphase Erde 270 7.3.10.1 Die Milz-Leitbahn 270 7.3.10.2 Die Magen-Leitbahn 274 7.3.11 Die Tugend der Erde ist Vertrauen und Aufrichtigkeit 277 8 Die Wandlungsphase Erde 283 8.1 Die Mitte, der Mensch und die Ordnung der Welt 283 8.2 Der Mensch im Kosmos 285 8.3 Innenwelt und Außenwelt 287 8.4 Das spätere Leben 289 8.5 Mutter - Kind 290 8.6 Erkenntnis - Ratio 291 8.7 Meditation und Konzentration 292 8.7.1 Die Religion der Mitte: der Buddhismus 294 8.7.1.2 Heilkunde und Heils-Wege zum Glück im Diesseits und Jenseits 297 8.7.1.3 Der Weg zum Glück – Die Pflege des Lebens 298 8.7.1.4 Gedichte 301 8.7.1.5 Buddhismus, Daoismus, Konfuzianismus 307 8.8 Zu Hause 317 8.9 Bindungen 317 8.10 Sich mögen 320 8.11 Überlegungen zu einer „richtigen“ Ernährung 322 8.1.2 Entgiftung 333 9 Wandlungsphasen - Aspekte in der Erde 338 9.1 Holz in der Erde 338 9.1.1 Zu wenig Holz 338 9.1.2 Zu viel Holz 339 9.2 Feuer in der Erde 339 9.2.1 Zu wenig Feuer 340 9.2.2 Zu viel Feuer 341 9.3 Metall in der Erde 341 9.3.1 Zu wenig Metall 342 9.3.2 Zu viel Metall 342 9.4 Wasser in der Erde 343 9.4.1 Zu wenig Wasser 344 9.4.2 Zu viel Wasser 344 9.5 Erde in der Erde 344 10 Die Zang Fu der Erde 346 10.1 Die Milz 346 10.1.1 Die Funktionen der Milz 346 10.2 Krankheitsmuster der Milz 355 11
10.2.1 Milz-Qi-Schwäche 355 10.2.2 Milz-Yang-Leere 367 10.2.3 Kälte und Nässe bedrängen die Milz 369 10.2.4 Nässe-Hitze in Milz und Magen 374 10.3 Der Magen 379 10.3.1 Die Funktionen des Magens 380 10.4 Krankheitsmuster des Magens 382 10.4.1 Magen-Qi-Schwäche 382 10.4.2 Magen-Qi-Leere und Kälte 387 10.4.3 Magen-Feuer 388 10.4.4 Magen-Yin-Schwäche 390 10.4.5 Nahrungsblockaden im Magen 393 10.4.6 Eindringen von Kälte 395 10.4.7 Das Magen Qi steigt gegenläufig nach oben 396 11 Die Qi-Höhlen der Erde 401 11.1 Punkte der Milz-Leitbahn Zu Tai Yin 401 11.2 Punkte der Magen-Leitbahn Zu Yang Ming 467 Bibliographie 566 Index 590 Index Nahrungsmittel / Arzneimittel 603 12
Tu - die Wandlungsphase Erde 土 13
1 Erde in der Natur 1.1 Die Essenz der Erde Die goldene Zeit des Jahres kommt im Spätsommer mit der Erde auf die Erde. Sie zeigt ihre üppige Fülle und Pracht in der Natur mit ihren reifen Früchten, die goldgelb in der Sonne erglühen. In dieser Zeit dient die Erde allen Wesen: fürsorglich nährend und freizügig gebend. Mutter Erde ver- teilt ihre Früchte uneingeschränkt an alle Bedürftigen. In der chinesischen Schriftsprache haben wir drei Zeichen, die verschie- dene Aspekte der Erde angeben: a) Das elementare Zeichen ist Tu 土 = Erde, Erdboden, Lehm, Staub, Land, Gebiet, einheimisch, ein unbearbeiteter, aber fruchtbarer Ackerbo- den. Tu ist in diesem Sinne eine der fünf Wandlungen Wu Xing 五行 in der Natur. Als Radikalzeichen No. 32 bedeutet es die Erde, aus der alle Dinge hervorgehen oder geboren werden. Die obere Linie symbolisiert die Erdkruste, die untere Linie den stei- nigen Untergrund und der senkrechte Strich alle Dinge, welche die Erde hervorzubringen vermag (Wieger, L. 81 A). Andere Sprach- forscher sehen in dem Zeichen einen Erdklumpen auf dem Acker (Wang)1, oder einen Erdhügel in der Art der Grabhügel, wie sie noch heute in der Nähe der chinesischen Dörfer zu finden sind (Lindquist)2. Der Sinologe Bernhard Karlgren interpretiert Tu gar als einen phallusför- migen Pfahl auf einem heiligen Altar (Grammata Serica, No. 62 a). Hier haben wir das Bild eines erigierten männlichen Gliedes vor uns, das Fruchtbarkeit symbolisiert. Als Radikalzeichen steht Tu im Schriftzeichen für viele Handlungen, die sich auf Ackerbau und Feldarbeit beziehen. Feld und Erde zusammen bedeuten Dorf, Wohnsitz, Heimat, ein Weiler, chin. Li 里. In den Punktenamen hat Li etwas sehr Intimes und Privates, es bietet Zuflucht in ein Heimatdorf, dem wir uns vertrauensvoll zuwenden können, wenn uns Kraft und Stärke zu verlassen drohen. 1 Wang Hong Yuan: The Origins of Chinese Characters, Beijing, 1993, S. 74 2 C. Lindquist: Eine Welt aus Zeichen, München, 1990, S. 167 15
So zeigt der Punkt Zu San Li 足三里 (Ma 36) = Heimat der Drei am Fuß eine enge Beziehung zu Himmel, Erde und Mensch, ebenso wie Tong Li 通里 (He 5) = freier Durchgang ins Innere seine Verbindung zu unseren ge-heim-sten Gefühlen und Ängsten. Dort, wo wir zu Hause sind, können wir uns sicher fühlen, dürfen wir Ge- fühle zeigen und Energie auftanken. Unsere Scholle gibt uns die Sicher- heit und Geborgenheit des Heimatdorfes. Ein Tu Ren 土人 ist ein „geerdeter“ Mensch oder ein Einheimischer, Tu Hua 土話 bedeutet die einheimische Sprache oder Dialekt. In einem der ältesten chinesischen Klassiker, dem Shu Jing (Buch der Aufzeichnungen, ca. 400 v. Chr.), wird die Qualität der Erde Tu so be- schrieben: „Erde bedeutet säen und ernten“3. Auch hier finden wir die Idee des fruchtbaren Bodens, aus dem Nährendes hervorgeht. b) Das zweite Schriftzeichen für Erde ist Di 地. Sein Radikal ist (natürlich) Tu 土, daneben das Zeichen für ein antikes Utensil, entweder ein Trichter oder ein Trinkgefäß (Wieger, L 107 B). Das Shuo Wen Jie Zi, das älteste etymologische Wörterbuch Chinas, gibt eine andere Erklärung: „Am Anfang trennt sich das ursprüngliche Qi: das leichte und klare Yang bildet den Himmel, das schwere und trübe Yin bildet die Erde. Jetzt kön- nen die 10000 Wesen sich ordnungsgemäß entwickeln!“ In der chinesischen Naturphilosophie sind Yin und Yang, Himmel und Erde (Tian Di 天地) die ersten Manifestationen des Dao 道 nach der Tren- nung des Yuan Qi 元氣 in Yin und Yang. Di = Erde bildet das ursprüngliche Yin, welches sich trüb und schwer absinkend materialisiert. Es ist die Erde als Materie und Substanz, es ist räumlich Begrenztes. Diese Erde Di ist Land, Gebiet, Grund und Boden, auf dem wir stehen und der uns Bo- denständigkeit gibt. Sie ist unser überschaubarer und sinnlich fassbarer Lebensraum. Das Phonetikum im Schriftzeichen von Di ist Ye 也 und hat in seiner ursprünglichsten Bedeutung einen ganz anderen Sinn: Wir finden eine Zeichnung der weiblichen Genitalien resp. der Vulva (Shuo Wen Jie Zi). 3 Jia Se 稼穡 = Landwirtschaft betreiben. 16
Di - Erde als Raum 地 17
Die Vagina ist das geheimnisvolle Weibliche (Xuan Pin 玄牝), das Tor zu allen Wundern, wie es so schön im Dao De Jing des Lao Zi heißt.4 Sie ist die Ein- und Ausgangspforte für das Empfangen und Heraustreten des Lebens. Wir finden hier eine Parallele zur Etymologie von Tu, nur wird mehr der weibliche Anteil der Fruchtbarkeit betont. Di 地 in den Punktenamen zeigt uns deutlich die Präsenz der Erde: Di Cang 地倉 (Ma 4) = Kornspeicher der Erde weist auf die Lokalisation des Punktes seitlich des Mundwinkels hin. Der Mund ist die Eintrittspforte des irdischen (Nahrungs-) Qi, der Magen der Speicher für das Getreide. Di Ji 地機 (Mi 8) = Beweger der Erde gibt uns die Kraft dieses Punktes als Xi (Spalt) -Punkt an, stagnierende Erde (resp. Milz-Qi) zu bewegen. Di Wu Hui 地五會 (Gbl 42) = Fünf Versammlungen der Erde weist nicht nur auf den festen Bodenkontakt hin, den die fünf Zehen des Fußes ha- ben sollten, sondern auch auf die Einwirkungsmöglichkeiten dieses Punk- tes bei einem gestörten Nahrungs- und Säftetransport. Die Milz hasst übermäßige Nässe, welche über die Füße eindringen kann. Gbl 42 kann im Ke-Zyklus Feuchtigkeit aktivieren und ausleiten. Das Wai Tai Mi Yao5, ein klassisches Buch der Gelehrtenmedizin aus der Tang-Zeit (752 n. Chr.) sagt: „Di Wu Hui beherrscht Schwellungen und Entzündungen der Brüste (Ru Yong 乳癰).“ Hier wird eine weitere Bezie- hung zur Erde resp. der Magen-Leitbahn ausgedrückt, die weibliche Brust als Nahrungsquelle der Säuglinge. Di Chong 地衝 (Ni 1)6 = Durchgangsstraße der Erde zeigt ebenfalls die Verwurzelung mit dem Erdboden über diesen Punkt an. Als yin-igster Punkt im Mikrokosmos Mensch, unter der Fußsohle gelegen, bildet er den Gegenpol zum Bai Hui 百會 -Punkt (Du 20), der, am Kopf lokalisiert, das Yang im Menschen am deutlichsten repräsentiert. c) Das dritte Schriftzeichen für Erde ist Kun 坤. Kun heißt Erde, weiblich, gehorsam, untergeordnet und steht als reines Yin für Das Empfangende im Buch der Wandlungen, dem Yi Jing 易經. 4 Zum Beispiel im Vers 1 und 6. 5 Zitiert aus: Zhen Jiu Jing Xue Tu Kao von Huang Zhu Zha, 1886 n. Chr., Qing-Dynastie. 6 Di Chong ist ein alternativer Name von Yong Quan 涌泉 (Ni 1). 19
„Das Zeichen Kun besteht aus lauter geteilten Linien. Die geteilte Linie entspricht der schattigen, weichen, rezeptiven Urkraft des Yin. Die Eigen- schaft des Zeichens ist die Hingebung, sein Bild ist die Erde. Es ist das vollkommene Gegenstück zu dem Schöpferischen Qian ... das Weiblich – Mütterliche gegenüber dem Männlich – Väterlichen!“7 Kun 坤 Qian 乾 Kun ist die Mutter als Nährerin, die in ihrer Weichheit nachgiebig und emp- fangend ist. So unterstützt sie das schöpferische Yang und wirkt segen- bringend. „Nur wenn sie aus dieser Stellung heraustritt und dem Schöpferischen ebenbürtig zur Seite treten will, wird sie böse. Dann ergibt sich der Gegen- satz und Kampf gegen das Schöpferische, der für beide Teile unheilvoll ist.“8 Erst dann, wenn Kun ihre untergeordnete Position zu Qian akzeptiert, können beide harmonisch zusammenarbeiten und Positives bewirken. In- dem das Yin dem Yang folgt, kann es sich verwirklichen.9 Die natürliche Beziehung zwischen Vater (Qian) und Mutter (Kun) in der Familie wird in einem chinesischen Sprichwort sehr anschaulich ausge- drückt: „Der Vater ist der Kopf der Familie, die Mutter ist der Hals. Sie bewegt den Kopf in die Richtung, in die sie ihn haben will.“ Für den Edlen Jun Zi 君子 ergibt sich nach dem Yi Jing folgendes Verhal- ten im Zeichen von Kun 坤: 7 Richard Wilhelm, I Ging, Buch der Wandlungen, S. 6. 8 Ebenda. 9 Die Anwendung dieses Bildes auf partnerschaftliche Beziehungen ist sicher nicht nur geschlechtsspezifisch zu verstehen. Aber die Dynamik in Beziehungen drückt genau diesen Sachverhalt aus. Es entwickelt sich eine Stabilität in einer Paarbeziehung häufig erst dann, wenn die eine Seite eher die nachgiebige ist. Wenn beide Partner stur blei- ben, gibt es keine Harmonie: So gibt der (die) Klügere eben nach! 20
„Wie die Erde (Di 地) als Erde (Tu 土) mächtig ist, so nimmt der Edle 10 durch Großmut und Aufrichtigkeit die Lasten der Welt auf sich.“11 Der Weise folgt dem Beispiel der Erde und kann aus dieser Haltung Ein- fluss gewinnen. Er erträgt ohne Ausnahme Gut und Böse und formt sei- nen Charakter durch Großmut und Aufrichtigkeit. So wirkt er vertrauens- voll und schafft damit Vertrauen. Xin 信 = Vertrauen und Aufrichtigkeit ist die Tugend der Erde und zeigt eben dieses Verhalten (siehe später). Das Schriftzeichen von Kun 坤 zeigt ebenfalls das Radikal Tu 土 = die Erde, das Phonetikum ist Shen 申 = ausdehnen, ausbreiten. Kun, die Mut- ter Erde, verbreitet ihren mütterlichen Einfluss nach allen Richtungen. Sie dehnt ihre Fürsorge auf alle Wesen aus und kennt weder Vorurteile noch Abneigungen. So zeigt uns das Schriftzeichen für Kun noch einmal die Qualität der Erde als hingebungsvolle Mutter. Ein ähnliches Zeichen Shen 神 ist uns wohlbekannt als der Geist, der universell, aber auch individuell richtungsweisenden Einfluss verbreitet. Es enthält das gleiche Lautzeichen. Der Radikal zeigt die drei Zeichen des Himmels (Sonne, Mond und Sterne), die sich überallhin ausbreiten. Gemeint sind die Offenbarungen bzw. Omen der Geister/Götter, die den Gläubigen auf seinem Weg leiten (vergl. Wilder, No. 227). 10 Jun Zi 君子 = der vorbildliche Mensch nach der konfuzianischen Anschauung; Eine Bezeichnung für das Verhalten des Fürsten im Reich, dem Dao folgend. Ein Jun Zi ist auf das Wohl des Ganzen bedacht, und nicht auf sein eigenes. Dadurch kann er sich selbst verwirklichen. 11 Eigene Übersetzung des Zeichen aus: Yi Jing, Book of Change, A New Translation by Gia Fu Feng u. a., Australien, 1986, S. 52. 21
1.2 Der rechte Platz der Erde liegt im Zentrum! Die Erde als Sinnbild für universelle Fruchtbarkeit und Verteilerin müt- terlicher Fürsorge braucht einen Ort, von dem aus sie wirken kann. Der angestammte Platz von Tu, der Wandlungsphase Erde, liegt seit altersher in der Mitte. Einen passus classicus hierzu finden wir im Chun Qiu Fan Lu:12 „Die Erde hat ihren Platz in der Mitte; sie ist der üppige Ackerboden des Himmels. Die Erde bildet die Arme und Beine des Himmels, ihre Wirk- kraft ist so überaus fruchtbar und anmutig zu betrachten, dass man nicht oft genug darüber sprechen kann. In der Tat, die Erde ist das, was die fünf Wandlungsphasen und die vier Jahreszeiten zusammenführt. Metall, Holz, Wasser, Feuer, sie alle haben ihre eigenen Aufgaben. Jedoch, wenn sie sich nicht auf die Erde als Zentrum beziehen, würden sie alle zusam- menstürzen. ... Demnach ist die Erde die Kontrolleurin der fünf Wand- lungsphasen und ihr Qi deren vereinigendes Prinzip.“ Im Mikrokosmos Mensch symbolisiert die Milz das Prinzip des Mittelpunk- tes. Das Nei Jing gibt darüber Auskunft: „Huang Di fragt: Die Milz beherrscht keine der vier Jahreszeiten; wie lässt sich das erklären?“ Qi Bo antwortet: “Die Milz ist die Erde Tu, sie regiert im Zentrum. Beständig (fördert) sie das Wachstum der vier Zang (-Organe) durch (den Lauf) der vier Jahreszeiten. 18 Tage jeder Jahreszeit werden ihr anvertraut, um zu regieren. Daher kommt es, dass sie keine eigene Jahreszeit beherrscht“ (Su Wen, Kap. 29). Erde regiert die Übergangsphasen zwischen den Jahreszeiten im Großen und den Wandel der fünf Zang-Organe im Kleinen. Von der Mitte her ist sie die zentrale Durchgangsphase für alle anderen Wandlungen. Die Erde ist die Nabe im Rad des Lebens, ohne sie gerät alles aus den Fugen. Ist die Erde im Zentrum, läuft unser Leben „rund“, Schwankungen können ausgeglichen, Extreme vermieden werden. In unserer Mitte ruhend kön- nen wir die Dinge sich entwickeln lassen, da jede Entwicklung einen Mit- telpunkt hat, von dem aus sie gesteuert wird. Wie wir noch sehen werden, geht die zentrale Funktion der Milz, die Assimilation und Integration von Fremdeinflüssen, weit über die stoffliche Nahrungsaufnahme und -ver- wertung hinaus! 12 Perlen aus den Frühlings- und Herbstanalen, ca. 135 v. Chr., zitiert aus: J. Needham: Science and Civilisation in China, Vol. II, S. 250. 22
Kun - Mutter Erde 坤 23
Das Zentrum, chinesisch Zhong Yang 中央, zeigt im Schriftzei- chen von Zhong 中 eine Zielscheibe, die genau in der Mitte von ei- nem Pfeil durchbohrt wird (Wieger, L. 109 A). Eine andere Interpre- tation sieht im Zeichen eine Stange mit dekorativen Streifen in der Mitte eines Kreises. Die Schattenbewegung im Tagesverlauf wur- de als einfache Sonnenuhr zur Zeitmessung verwendet (Wang).13 Der zweite Teil des Binoms, Yang 央, bedeutet ebenfalls die Mitte, aber auch ersuchen, bitten, weit und ausgedehnt. Das Zeichen zeigt einen Menschen, der eine Last auf den Schultern trägt. Um die Balance zu halten, muss das Gewicht genau in der Mitte der Schulter liegen (Li).14 Zhong Yang als Binom betont so mit doppeltem Nachdruck die Mitte als Zentrum. Viele Akupunkturpunkte haben Zhong 中 im Namen: Zhong Fu 中府 (Lu 1) = Schatzhaus der Mitte sammelt die nährenden Ein- flüsse der Milz, um sie mit der Atemluft anzureichern. Erst dann können sie im Menschen wirksam werden. Zhong Zhu 中渚 (SJ 3) = zentrale Insel weist auf den mächtigen Einfluss des San Jiao auf alle Qi-Bewegungen hin. Eine Insel ist angehäufte Erde und hilft uns, wieder festen Boden unter den Füßen zu bekommen, wenn wir unterzugehen drohen. Bei allen chronischen Leiden (Jiu Bing 久病) bietet uns Zhong Zhu eine rettende Insel. Wenn wir unsere Mitte verloren haben, ausgebrannt und „reif für die Insel“ sind, haben wir in dem Punkt SJ 3 ebenso einen sicheren Hafen. Zhong Feng 中封 (Le 4) = blockierte Mitte zeigt uns im Namen seine Wir- kung auf ein gestautes Leber-Qi. Als Metallpunkt zieht er im Ke-Zyklus Metall- (Yang-) Energie ins Holz und kann so die Wandlung zu Feuer her- vorbringen. Le 4 ist ein wichtiger Punkt bei Depressionen mit Störungen im Verdauungstrakt, wie Völlegefühl, Aufgeblähtheit und Müdigkeit. 13 Wang Hong Yuan, a. a. O., S. 194 f. 14 Li Le Yi: Entwicklung der chinesischen Schrift am Beispiel von 500 Schriftzeichen; Bei- jing, 1993, S. 398. 25
Zhong Wan 中脘 (Ren 12) = Kanal der Mitte weist auf die Lage des Punk- tes genau in der Mitte zwischen Schwertfortsatz und Bauchnabel hin. Ebenso ist Ren 12 der Mu-Punkt des Magens, an dieser Stelle versam- melt sich das Qi der Erde besonders stark. In den meisten Punktenamen, die Zhong 中 enthalten, wird die Präsenz der Erde resp. Milz und Magen als Zentrum betont. In anderen Fällen finden wir zentrale Schaltstellen der entsprechenden Leitbahnen oder einfach einen Mittelpunkt in der mikrokosmischen Landschaft. Hier dient Zhong als Lokalisationshilfe.15 15 Die Literatur listet über 20 verschiedene Punkte mit Zhong im Namen auf! Vergl. Ellis- Wiseman-Boss: Grasping the Wind, Paradigm Publications, 1989. 26
Zhong Yang - die Mitte als Zentrum 中央 27
2 Erde im Menschen „Immer wieder treffen mich Rückschläge, die mich auf den Boden werfen, auf dem ich stand. Ich betrachte ihn aus dieser Nähe: die Form der Steine, die mich stolpern ließen und die Beschaffenheit des Sumpfes, der mich einzusaugen versucht. Ich bestaune die List, mit der die Fallstricke gespannt wurden und bin den Fallenstellern auf der Spur.“ Langsam stehe ich wieder auf. MP.B.L. 2.1 In der Mitte Was bedeutet die Erde für den Menschen? Sie ist der Grund und Boden unter unseren Füßen, unsere Grundlage für das individuelle Stehvermö- gen. Ebenso wie in der Natur, vermittelt die Erde in uns Reife, Fruchtbar- keit und mütterliche Fürsorge. Geerdet zu sein heißt, einen Mittelpunkt zu haben, von dem aus wir handeln können. In unserer Mitte verankert, spü- ren wir Gleichgewicht und Harmonie. Wo immer wir uns aufhalten, sind wir integriert und fühlen uns zu Hause. In sich zu Hause, bei sich zu sein, ist die Voraussetzung für ein Zusammengehörigkeitsgefühl in der Gruppe oder in einer Gemeinschaft. Im Spätsommer unseres Lebens können wir, nunmehr gereift, einen klaren Standpunkt beziehen. Wir haben unsere Lektion gelernt und genügend Erfahrungen gesammelt, um die Früchte unserer Bemühungen genießen zu können. Die Erde in uns drückt sich wie jede Wandlungsphase auf verschiedenen Ebenen aus: 29
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