Die Wandlungsphasen der traditionellen chinesischen Medizin - Band 3 Udo Lorenzen / Andreas Noll Die Wandlungsphase Erde

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Die Wandlungsphasen der traditionellen chinesischen Medizin - Band 3 Udo Lorenzen / Andreas Noll Die Wandlungsphase Erde
Udo Lorenzen / Andreas Noll

         Die Wandlungsphasen
             der traditionellen
         chinesischen Medizin
                                  Band 3

              Die Wandlungsphase Erde

2. überarbeitete und ergänzte Auflage 2012
Udo Lorenzen / Andreas Noll

Die Wandlungsphasen
der traditionellen
chinesischen Medizin
Band 3

Die Wandlungsphase Erde

2. überarbeitete und ergänzte Auflage 2012

           Verlag Müller & Steinicke München
2. überarbeitete und ergänzte Auflage

© 2012 Müller & Steinicke, München

ISBN 978-3-87569-203-7

Alle Rechte der Verbreitung, auch die der photomechanischen Wiedergabe
oder der Einspeisung und Rückgewinnung in Datenverarbeitungsanlagen,
sind vorbehalten.

Druck und Bindung: EOS-Druck, 86941 St. Ottilien
Vorwort zur ersten Auflage

Dieses dritte Buch unserer Reihe “Die Wandlungsphasen in der traditi-
onellen chinesischen Medizin” beschäftigt sich mit den Aspekten der
Wandlungsphase ERDE. Wie auch in den beiden anderen Bänden “Holz”
und “Metall” versuchen wir, unseren Lesern die Essenz der chinesischen
Medizin näher zubringen, wie sie in den klassischen Büchern formuliert
ist. Klassische Texte zur chinesischen Medizin sind schon vor 2000 Jah-
ren geschrieben worden. Sie zeigen besonders deutlich das ganzheitli-
che Konzept in der Behandlung des kranken Menschen. Indem wir die
Chinesische Medizin (CM) von ihren Wurzeln her begreifen, erweitern wir
unsere Fähigkeiten, die lebendigen Wandlungen in der Natur zu erken-
nen und zu begreifen. Damit helfen wir unseren Patienten und geben uns
selbst die Möglichkeit, in uns ebenfalls diese Bewegungen zu reflektieren.
Denn Wandlungen, eben die fünf Wandlungsphasen, sind fließende As-
pekte unseres Daseins, die sich in allem finden, was geboren wird, sich
entwickelt und reift. Die Wandlungsphase Holz als die impulsive, aber
auch zielgerichtete Kraft, das Metall als konzentrierende, strukturgeben-
de Größe, – und jetzt die Wandlungsphase Erde als alles integrierende
und harmonisierende Instanz.
Die Erde findet ihre jahreszeitliche Entsprechung im Spätsommer, wenn
alles reift und die Natur üppig das Leben nährt. Und so ist auch unse-
re Buchreihe in den letzten Jahren gereift zu einem umfassenden, zu-
nehmend geschlossenen Konzept. An Gewichtung gewonnen haben die
Übersetzungen aus den Klassikern, besonders zu den Anwendungen der
Akupunkturpunkte. Erstmalig ist aus den wichtigsten klassischen Texten
Ursprüngliches zu den Punkten zusammengetragen worden. Wir hoffen,
damit für Therapeuten eine Basis zu schaffen, um unterscheiden zu kön-
nen zwischen einer (in den letzten Jahrzehnten im Westen zu beobach-
tenden) “Indikationslyrik” und tatsächlich gewachsener Empirie von über
2000 Jahren Medizingeschichte. Auch in diesem Buch werden zusätzlich
verschiedene andere Aspekte der chinesischen Medizin vorgestellt, die
ebenfalls ihre Bedeutung für das Ganze haben.

Wir danken allen, die uns bei der Erstellung dieses Buches zur Seite ge-
standen haben: Frau Dr. Chen Qing von der Chengdu University of TCM,
deren Übersetzungshilfe uns bei Ihrem Deutschlandaufenthalt 1994 sehr
hilfreich war; Herrn Ning Chen für die kalligraphische Darstellung der
Schriftzeichen und Herrn Gißler, in dessen Verlag „Müller und Steinicke”
wir auch diesmal wieder unsere Gedanken publizieren dürfen.

                                    5
Wir danken auch allen, die uns haben reifen lassen, allen die uns inspiriert
haben: unseren Schülerinnen und Schülern, unseren Patienten, unsere
Kolleginnen und Kollegen. Vor allem aber ein Dank an unsere Mütter, die
uns den Zugang zur “Mutter Erde” erst eröffnet haben.

Berlin und Kiel, April 1996

                                     6
Vorwort zur zweiten Auflage

„Die Erde hat ihren Platz im Zentrum; Sie ist der üppige Nährboden des
Himmels. Die Erde bildet die Arme und Beine des Himmels, ihre Wirk-
kraft ist so überaus fruchtbar und anmutig zu betrachten, dass man nicht
oft genug darüber sprechen kann. In der Tat, die Erde ist das, was die
fünf Wandlungsphasen und die vier Jahreszeiten zusammenführt. Metall,
Holz, Wasser, Feuer, sie alle haben ihre eigenen Aufgaben. Jedoch, wenn
sie sich nicht auf die Erde als Zentrum beziehen, würden sie alle zusam-
menstürzen.“ (Frühlings- und Herbstanalen)

Es sind nun 15 Jahre vergangen, seitdem wir das Erdebuch in der ersten
Auflage zusammengestellt haben. Das Leben zwischen Himmel und Erde
ist ein fruchtbarer Nährboden für Erfahrungen, Reflexionen und Entwick-
lungen, sodass wir es an der Zeit fanden, auch das Erdebuch neu zu
überarbeiten und zu erweitern.

Gegenüber der ersten Auflage von 1996 sind die Entsprechungen noch
komplexer und praxisorientierter beschrieben, die Darstellung der Leit-
bahn-Punkte wurde wesentlich erweitert und durch viele klassische
Punkteindikationen ergänzt. Auch hat der sinologisch-philosophische Teil
wesentliche Ergänzungen erfahren. Für dieses Buch sind viele originale
chinesische Texte übersetzt worden, die bisher in keiner westlichen Spra-
che zur Verfügung standen. Die Autoren hoffen, damit den interessierten
Lesern und allen Therapeuten der chinesischen Medizin neues Material
an die Hand zu geben, die ihre eigene Theoriebildung und praktische Um-
setzung der chinesischen Medizin fördern und begleiten kann.

In der Vergangenheit hat es immer wieder Anfragen zu den Inhalten der
Wandlungsphasenbücher gegeben. Damit unsere Leserinnen und Leser
die Autoren der einzelnen Kapitel direkt ansprechen können, werden wir
auch in diesem Band die Autorenschaft der zwei Hauptteile kenntlich ma-
chen. So stammen die Kapitel 1-7 von Udo Lorenzen, die Kapitel 8-10
von Andreas A. Noll. Die Punkte der Milz- und Magen-Leitbahn sind ein
Gemeinschaftswerk beider Autoren.

Wir danken an dieser Stelle allen, die an der Fertigstellung dieses Buches
mitgeholfen haben. Besonderen Dank gebürt der Familie von Werner Giß-
ler ( 2009) für ihr Engagement, auch die zweite Auflage der „Erde“ im
Müller & Steinicke Verlag in München zu publizieren.

                                    7
Dieses Buch sei all denjenigen gewidmet, die uns bisher genährt und ver-
sorgt haben im wahrsten Sinne des Wortes: mit Essen, mit Liebe, mit
Fürsorge und mit Wissen, auf dass die Erde in uns wachsen durfte und
niemals stagnierte!

Udo Lorenzen, Kiel, (u.lorenzen@ki.comcity.de)
Andreas A. Noll, Berlin/München (info@praxis-noll.de)
Im Spätsommer 2011

                                   8
Inhalt
Vorwort zur ersten Auflage                                                  5
Vorwort zur zweiten Auflage                                                 7
1          Erde in der Natur                                              15
1.1        Die Essenz der Erde                                            15
1.2        Der rechte Platz der Erde liegt im Zentrum!                    22
2          Erde im Menschen                                               29
2.1        In der Mitte                                                   29
2.2        Die Mitte verloren                                             32
2.3        Die stagnierende Erde                                          35
3          Das Heimatdorf des Qi                                          37
3.1        Bedeutung des Namens                                           37
3.2        Alternative Namen                                              38
3.3        Die Punktekategorien von Magen 36                              39
3.4        Der Stimulus von Magen 36                                      40
3.5        Funktionen und Wirkrichtungen von Magen 36                     41
3.6        Klassische Indikationen                                        42
3.7        Klassische Kombinationen                                       51
4          Elementare Bilder der Erde                                     52
5          Funktionen der Erde im Mikrokosmos Mensch                      55
5.1        Die Beamten der öffentlichen Kornkammern und Speicher          55
5.2        Grundlegendes über die 5 Geschmacksrichtungen                  61
6          Ernährung in der chinesischen Medizin                          72
6.1        Historisches                                                   74
6.2        Der Stellenwert der Diättherapie in der chinesischen Medizin   76
6.3        Energetisches Verhalten der Nahrung                            77
6.3.1      Die Thermik der Nahrung                                        77
6.3.2      Die 5 Geschmacksrichtungen in der Nahrung                      79
6.3.3      Die Wirkrichtungen der Nahrung                                 82
6.3.4      Zuordnung der Nahrungsmittel zu den 5 Wandlungsphasen
           und dem Leitbahnsystem                                          83
6.3.5      Die Kunst der chinesischen Küche                                92
6.3.5.1    Die verschiedenen Kochmethoden                                  92
6.3.5.2    Das Kochen im Zyklus der fünf Wandlungsphasen                   94
6.4        Das Dao des richtigen Essens                                    94
6.4.1      Die richtige Zeit                                               95
6.4.2      Die richtige Einstellung                                        95
6.4.3      Regulierung des Essens im Einklang mit den Jahreszeiten         96
6.4.4      Regeln für ein gutes Essverhalten                               98
6.5        DIE KOCHKUNST DES HERRN VON SUI YUAN                           100
6.6        Grüner Tee                                                     116

                                       9
7         Erde und ihre Entsprechungen                     131
7.1       Am Himmel                                        131
7.1.1     Himmelsstämme                                    131
7.1.2     Erdenzweige                                      132
7.1.3     Eine Jahreszeit                                  139
7.1.4     Erde in Aktion                                   140
7.1.4.1   Praktisches Verhalten im Spätsommer und in den
          Übergangszeiten                                  142
          10 goldene Regeln für ein zufriedenes Leben      146
7.1.5     Das Klima der Erde                               148
7.1.6     Der Erde - Planet                                159
7.1.7     Die Himmelsrichtung                              159
7.2       Auf der Erde                                     159
7.2.1     Ihr Geschmack ist das Süße                       159
7.2.2     Der Geruch der Erde ist das Wohlriechende        160
7.2.3     Gelb ist die Farbe der Erde                      164
7.2.4     Die Musik der Erde                               168
7.2.4.1   Ein Musikton                                     168
7.2.4.2   Ein Musikinstrument                              175
7.2.5     Ihre Tierart sind die Nackten                    176
7.2.6     Das Haustier ist der Ochse                       178
7.2.7     Das Getreide der Erde                            182
7.2.8     Eine Frucht                                      185
7.2.9     Ein Gemüse                                       186
7.2.10    Eine symbolische Zahl                            189
7.3       Im Menschen                                      194
7.3.1     Die Emotionalität der Erde                       194
7.3.2     Eine geistige Qualität                           208
7.3.2.1   Die harmonische Einheit von Yi und Qi            214
7.3.2.2   Medizin, das ist Idee!                           219
7.3.3     Die Stimme der Erde                              230
7.3.4     Ein spontanes Verhalten                          232
7.3.5     Ihre äußere Entfaltung                           236
7.3.5.1   Magersucht / Anorexia                            237
7.3.5.2   Fettsucht / Adipositas                           242
7.3.6     Die Erde öffnet sich nach außen                  250
7.3.7     Die Erde zeigt ihren Glanz                       252
7.3.8     Eine entsprechende Körperflüssigkeit             256
7.3.9     Der Puls der Erde                                259
7.3.9.1   Pulstastung am Handgelenk                        259
7.3.9.2   Pulstastung am Körper                            259
7.3.9.3   Ein Puls hat Magen-Qi                            260
7.3.9.4   Der physiologische Puls der Erde                 263
7.3.9.5   Der pathologische Puls                           267

                                 10
7.3.9.6    Das Pulsgedicht der Milz                                       270
7.3.10     Die Leitbahnen der Wandlungsphase Erde                         270
7.3.10.1   Die Milz-Leitbahn                                              270
7.3.10.2   Die Magen-Leitbahn                                             274
7.3.11     Die Tugend der Erde ist Vertrauen und Aufrichtigkeit           277
8          Die Wandlungsphase Erde                                        283
8.1        Die Mitte, der Mensch und die Ordnung der Welt                 283
8.2        Der Mensch im Kosmos                                           285
8.3        Innenwelt und Außenwelt                                        287
8.4        Das spätere Leben                                              289
8.5        Mutter - Kind                                                  290
8.6        Erkenntnis - Ratio                                             291
8.7        Meditation und Konzentration                                   292
8.7.1      Die Religion der Mitte: der Buddhismus                         294
8.7.1.2    Heilkunde und Heils-Wege zum Glück im Diesseits und Jenseits   297
8.7.1.3    Der Weg zum Glück – Die Pflege des Lebens                      298
8.7.1.4    Gedichte                                                       301
8.7.1.5    Buddhismus, Daoismus, Konfuzianismus                           307
8.8        Zu Hause                                                       317
8.9        Bindungen                                                      317
8.10       Sich mögen                                                     320
8.11       Überlegungen zu einer „richtigen“ Ernährung                    322
8.1.2      Entgiftung                                                     333
9          Wandlungsphasen - Aspekte in der Erde                          338
9.1        Holz in der Erde                                               338
9.1.1      Zu wenig Holz                                                  338
9.1.2      Zu viel Holz                                                   339
9.2        Feuer in der Erde                                              339
9.2.1      Zu wenig Feuer                                                 340
9.2.2      Zu viel Feuer                                                  341
9.3        Metall in der Erde                                             341
9.3.1      Zu wenig Metall                                                342
9.3.2      Zu viel Metall                                                 342
9.4        Wasser in der Erde                                             343
9.4.1      Zu wenig Wasser                                                344
9.4.2      Zu viel Wasser                                                 344
9.5        Erde in der Erde                                               344
10         Die Zang Fu der Erde                                           346
10.1       Die Milz                                                       346
10.1.1     Die Funktionen der Milz                                        346
10.2       Krankheitsmuster der Milz                                      355

                                    11
10.2.1     Milz-Qi-Schwäche                            355
10.2.2     Milz-Yang-Leere                             367
10.2.3     Kälte und Nässe bedrängen die Milz          369
10.2.4     Nässe-Hitze in Milz und Magen               374
10.3       Der Magen                                   379
10.3.1     Die Funktionen des Magens                   380
10.4       Krankheitsmuster des Magens                 382
10.4.1     Magen-Qi-Schwäche                           382
10.4.2     Magen-Qi-Leere und Kälte                    387
10.4.3     Magen-Feuer                                 388
10.4.4     Magen-Yin-Schwäche                          390
10.4.5     Nahrungsblockaden im Magen                  393
10.4.6     Eindringen von Kälte                        395
10.4.7     Das Magen Qi steigt gegenläufig nach oben   396
11         Die Qi-Höhlen der Erde                      401
11.1       Punkte der Milz-Leitbahn Zu Tai Yin         401
11.2       Punkte der Magen-Leitbahn Zu Yang Ming      467

Bibliographie                                          566
Index		                                                590
Index Nahrungsmittel / Arzneimittel                    603

                                      12
Tu - die Wandlungsphase Erde 土

              13
1 Erde in der Natur
1.1     Die Essenz der Erde
Die goldene Zeit des Jahres kommt im Spätsommer mit der Erde auf die
Erde. Sie zeigt ihre üppige Fülle und Pracht in der Natur mit ihren reifen
Früchten, die goldgelb in der Sonne erglühen. In dieser Zeit dient die Erde
allen Wesen: fürsorglich nährend und freizügig gebend. Mutter Erde ver-
teilt ihre Früchte uneingeschränkt an alle Bedürftigen.

In der chinesischen Schriftsprache haben wir drei Zeichen, die verschie-
dene Aspekte der Erde angeben:

a) Das elementare Zeichen ist Tu 土 = Erde, Erdboden, Lehm, Staub,
Land, Gebiet, einheimisch, ein unbearbeiteter, aber fruchtbarer Ackerbo-
den. Tu ist in diesem Sinne eine der fünf Wandlungen Wu Xing 五行 in der
Natur. Als Radikalzeichen No. 32 bedeutet es die Erde, aus der alle Dinge
hervorgehen oder geboren werden.

Die obere Linie symbolisiert die Erdkruste, die untere Linie den stei-
nigen Untergrund und der senkrechte Strich alle Dinge, welche die
Erde hervorzubringen vermag (Wieger, L. 81 A). Andere Sprach-
forscher sehen in dem Zeichen einen Erdklumpen auf dem Acker
(Wang)1, oder einen Erdhügel in der Art der Grabhügel, wie sie noch
heute in der Nähe der chinesischen Dörfer zu finden sind (Lindquist)2.
Der Sinologe Bernhard Karlgren interpretiert Tu gar als einen phallusför-
migen Pfahl auf einem heiligen Altar (Grammata Serica, No. 62 a). Hier
haben wir das Bild eines erigierten männlichen Gliedes vor uns, das
Fruchtbarkeit symbolisiert.

Als Radikalzeichen steht Tu im Schriftzeichen für viele Handlungen, die
sich auf Ackerbau und Feldarbeit beziehen.

Feld und Erde zusammen bedeuten Dorf, Wohnsitz, Heimat, ein Weiler,
chin. Li 里. In den Punktenamen hat Li etwas sehr Intimes und Privates,
es bietet Zuflucht in ein Heimatdorf, dem wir uns vertrauensvoll zuwenden
können, wenn uns Kraft und Stärke zu verlassen drohen.

1   Wang Hong Yuan: The Origins of Chinese Characters, Beijing, 1993, S. 74
2   C. Lindquist: Eine Welt aus Zeichen, München, 1990, S. 167

                                         15
So zeigt der Punkt Zu San Li 足三里 (Ma 36) = Heimat der Drei am Fuß
eine enge Beziehung zu Himmel, Erde und Mensch, ebenso wie Tong Li
通里 (He 5) = freier Durchgang ins Innere seine Verbindung zu unseren
ge-heim-sten Gefühlen und Ängsten.

Dort, wo wir zu Hause sind, können wir uns sicher fühlen, dürfen wir Ge-
fühle zeigen und Energie auftanken. Unsere Scholle gibt uns die Sicher-
heit und Geborgenheit des Heimatdorfes.

Ein Tu Ren 土人 ist ein „geerdeter“ Mensch oder ein Einheimischer,
Tu Hua 土話 bedeutet die einheimische Sprache oder Dialekt.

In einem der ältesten chinesischen Klassiker, dem Shu Jing (Buch der
Aufzeichnungen, ca. 400 v. Chr.), wird die Qualität der Erde Tu so be-
schrieben: „Erde bedeutet säen und ernten“3. Auch hier finden wir die Idee
des fruchtbaren Bodens, aus dem Nährendes hervorgeht.

b) Das zweite Schriftzeichen für Erde ist Di 地. Sein Radikal ist (natürlich)
Tu 土, daneben das Zeichen für ein antikes Utensil, entweder ein Trichter
oder ein Trinkgefäß (Wieger, L 107 B).

Das Shuo Wen Jie Zi, das älteste etymologische Wörterbuch Chinas, gibt
eine andere Erklärung:

„Am Anfang trennt sich das ursprüngliche Qi: das leichte und klare Yang
bildet den Himmel, das schwere und trübe Yin bildet die Erde. Jetzt kön-
nen die 10000 Wesen sich ordnungsgemäß entwickeln!“

In der chinesischen Naturphilosophie sind Yin und Yang, Himmel und
Erde (Tian Di 天地) die ersten Manifestationen des Dao 道 nach der Tren-
nung des Yuan Qi 元氣 in Yin und Yang. Di = Erde bildet das ursprüngliche
Yin, welches sich trüb und schwer absinkend materialisiert. Es ist die Erde
als Materie und Substanz, es ist räumlich Begrenztes. Diese Erde Di ist
Land, Gebiet, Grund und Boden, auf dem wir stehen und der uns Bo-
denständigkeit gibt. Sie ist unser überschaubarer und sinnlich fassbarer
Lebensraum.
Das Phonetikum im Schriftzeichen von Di ist Ye 也 und hat in seiner
ursprünglichsten Bedeutung einen ganz anderen Sinn: Wir finden eine
Zeichnung der weiblichen Genitalien resp. der Vulva (Shuo Wen Jie Zi).

3   Jia Se 稼穡 = Landwirtschaft betreiben.

                                            16
Di - Erde als Raum 地

         17
Die Vagina ist das geheimnisvolle Weibliche (Xuan Pin 玄牝), das Tor zu
allen Wundern, wie es so schön im Dao De Jing des Lao Zi heißt.4
Sie ist die Ein- und Ausgangspforte für das Empfangen und Heraustreten
des Lebens. Wir finden hier eine Parallele zur Etymologie von Tu, nur wird
mehr der weibliche Anteil der Fruchtbarkeit betont.

Di 地 in den Punktenamen zeigt uns deutlich die Präsenz der Erde:

Di Cang 地倉 (Ma 4) = Kornspeicher der Erde weist auf die Lokalisation
des Punktes seitlich des Mundwinkels hin. Der Mund ist die Eintrittspforte
des irdischen (Nahrungs-) Qi, der Magen der Speicher für das Getreide.

Di Ji 地機 (Mi 8) = Beweger der Erde gibt uns die Kraft dieses Punktes als
Xi (Spalt) -Punkt an, stagnierende Erde (resp. Milz-Qi) zu bewegen.

Di Wu Hui 地五會 (Gbl 42) = Fünf Versammlungen der Erde weist nicht
nur auf den festen Bodenkontakt hin, den die fünf Zehen des Fußes ha-
ben sollten, sondern auch auf die Einwirkungsmöglichkeiten dieses Punk-
tes bei einem gestörten Nahrungs- und Säftetransport. Die Milz hasst
übermäßige Nässe, welche über die Füße eindringen kann. Gbl 42 kann
im Ke-Zyklus Feuchtigkeit aktivieren und ausleiten.

Das Wai Tai Mi Yao5, ein klassisches Buch der Gelehrtenmedizin aus der
Tang-Zeit (752 n. Chr.) sagt: „Di Wu Hui beherrscht Schwellungen und
Entzündungen der Brüste (Ru Yong 乳癰).“ Hier wird eine weitere Bezie-
hung zur Erde resp. der Magen-Leitbahn ausgedrückt, die weibliche Brust
als Nahrungsquelle der Säuglinge.

Di Chong 地衝 (Ni 1)6 = Durchgangsstraße der Erde zeigt ebenfalls die
Verwurzelung mit dem Erdboden über diesen Punkt an. Als yin-igster
Punkt im Mikrokosmos Mensch, unter der Fußsohle gelegen, bildet er den
Gegenpol zum Bai Hui 百會 -Punkt (Du 20), der, am Kopf lokalisiert, das
Yang im Menschen am deutlichsten repräsentiert.

c) Das dritte Schriftzeichen für Erde ist Kun 坤. Kun heißt Erde, weiblich,
gehorsam, untergeordnet und steht als reines Yin für Das Empfangende
im Buch der Wandlungen, dem Yi Jing 易經.

4   Zum Beispiel im Vers 1 und 6.
5   Zitiert aus: Zhen Jiu Jing Xue Tu Kao von Huang Zhu Zha, 1886 n. Chr., Qing-Dynastie.
6   Di Chong ist ein alternativer Name von Yong Quan 涌泉 (Ni 1).

                                           19
„Das Zeichen Kun besteht aus lauter geteilten Linien. Die geteilte Linie
entspricht der schattigen, weichen, rezeptiven Urkraft des Yin. Die Eigen-
schaft des Zeichens ist die Hingebung, sein Bild ist die Erde.
Es ist das vollkommene Gegenstück zu dem Schöpferischen Qian ... das
Weiblich – Mütterliche gegenüber dem Männlich – Väterlichen!“7

                    Kun 坤                                    Qian 乾

Kun ist die Mutter als Nährerin, die in ihrer Weichheit nachgiebig und emp-
fangend ist. So unterstützt sie das schöpferische Yang und wirkt segen-
bringend.

„Nur wenn sie aus dieser Stellung heraustritt und dem Schöpferischen
ebenbürtig zur Seite treten will, wird sie böse. Dann ergibt sich der Gegen-
satz und Kampf gegen das Schöpferische, der für beide Teile unheilvoll
ist.“8

Erst dann, wenn Kun ihre untergeordnete Position zu Qian akzeptiert,
können beide harmonisch zusammenarbeiten und Positives bewirken. In-
dem das Yin dem Yang folgt, kann es sich verwirklichen.9

Die natürliche Beziehung zwischen Vater (Qian) und Mutter (Kun) in der
Familie wird in einem chinesischen Sprichwort sehr anschaulich ausge-
drückt:

„Der Vater ist der Kopf der Familie, die Mutter ist der Hals. Sie bewegt den
Kopf in die Richtung, in die sie ihn haben will.“

Für den Edlen Jun Zi 君子 ergibt sich nach dem Yi Jing folgendes Verhal-
ten im Zeichen von Kun 坤:

7   Richard Wilhelm, I Ging, Buch der Wandlungen, S. 6.
8   Ebenda.
9   Die Anwendung dieses Bildes auf partnerschaftliche Beziehungen ist sicher nicht nur
    geschlechtsspezifisch zu verstehen. Aber die Dynamik in Beziehungen drückt genau
    diesen Sachverhalt aus. Es entwickelt sich eine Stabilität in einer Paarbeziehung häufig
    erst dann, wenn die eine Seite eher die nachgiebige ist. Wenn beide Partner stur blei-
    ben, gibt es keine Harmonie: So gibt der (die) Klügere eben nach!

                                            20
„Wie die Erde (Di 地) als Erde (Tu 土) mächtig ist, so nimmt der Edle                   10

durch Großmut und Aufrichtigkeit die Lasten der Welt auf sich.“11

Der Weise folgt dem Beispiel der Erde und kann aus dieser Haltung Ein-
fluss gewinnen. Er erträgt ohne Ausnahme Gut und Böse und formt sei-
nen Charakter durch Großmut und Aufrichtigkeit. So wirkt er vertrauens-
voll und schafft damit Vertrauen.

Xin 信 = Vertrauen und Aufrichtigkeit ist die Tugend der Erde und zeigt
eben dieses Verhalten (siehe später).

Das Schriftzeichen von Kun 坤 zeigt ebenfalls das Radikal Tu 土 = die
Erde, das Phonetikum ist Shen 申 = ausdehnen, ausbreiten. Kun, die Mut-
ter Erde, verbreitet ihren mütterlichen Einfluss nach allen Richtungen. Sie
dehnt ihre Fürsorge auf alle Wesen aus und kennt weder Vorurteile noch
Abneigungen. So zeigt uns das Schriftzeichen für Kun noch einmal die
Qualität der Erde als hingebungsvolle Mutter.

Ein ähnliches Zeichen Shen 神 ist uns wohlbekannt als der Geist, der
universell, aber auch individuell richtungsweisenden Einfluss verbreitet.
Es enthält das gleiche Lautzeichen. Der Radikal zeigt die drei Zeichen
des Himmels (Sonne, Mond und Sterne), die sich überallhin ausbreiten.
Gemeint sind die Offenbarungen bzw. Omen der Geister/Götter, die den
Gläubigen auf seinem Weg leiten (vergl. Wilder, No. 227).

10   Jun Zi 君子 = der vorbildliche Mensch nach der konfuzianischen Anschauung; Eine
     Bezeichnung für das Verhalten des Fürsten im Reich, dem Dao folgend. Ein Jun Zi ist
     auf das Wohl des Ganzen bedacht, und nicht auf sein eigenes. Dadurch kann er sich
     selbst verwirklichen.
11   Eigene Übersetzung des Zeichen aus: Yi Jing, Book of Change, A New Translation by
     Gia Fu Feng u. a., Australien, 1986, S. 52.

                                          21
1.2      Der rechte Platz der Erde liegt im Zentrum!
Die Erde als Sinnbild für universelle Fruchtbarkeit und Verteilerin müt-
terlicher Fürsorge braucht einen Ort, von dem aus sie wirken kann. Der
angestammte Platz von Tu, der Wandlungsphase Erde, liegt seit altersher
in der Mitte.

Einen passus classicus hierzu finden wir im Chun Qiu Fan Lu:12

„Die Erde hat ihren Platz in der Mitte; sie ist der üppige Ackerboden des
Himmels. Die Erde bildet die Arme und Beine des Himmels, ihre Wirk-
kraft ist so überaus fruchtbar und anmutig zu betrachten, dass man nicht
oft genug darüber sprechen kann. In der Tat, die Erde ist das, was die
fünf Wandlungsphasen und die vier Jahreszeiten zusammenführt. Metall,
Holz, Wasser, Feuer, sie alle haben ihre eigenen Aufgaben. Jedoch, wenn
sie sich nicht auf die Erde als Zentrum beziehen, würden sie alle zusam-
menstürzen. ... Demnach ist die Erde die Kontrolleurin der fünf Wand-
lungsphasen und ihr Qi deren vereinigendes Prinzip.“

Im Mikrokosmos Mensch symbolisiert die Milz das Prinzip des Mittelpunk-
tes. Das Nei Jing gibt darüber Auskunft:

„Huang Di fragt: Die Milz beherrscht keine der vier Jahreszeiten; wie lässt
sich das erklären?“ Qi Bo antwortet: “Die Milz ist die Erde Tu, sie regiert im
Zentrum. Beständig (fördert) sie das Wachstum der vier Zang (-Organe)
durch (den Lauf) der vier Jahreszeiten. 18 Tage jeder Jahreszeit werden
ihr anvertraut, um zu regieren. Daher kommt es, dass sie keine eigene
Jahreszeit beherrscht“ (Su Wen, Kap. 29).

Erde regiert die Übergangsphasen zwischen den Jahreszeiten im Großen
und den Wandel der fünf Zang-Organe im Kleinen. Von der Mitte her ist
sie die zentrale Durchgangsphase für alle anderen Wandlungen. Die Erde
ist die Nabe im Rad des Lebens, ohne sie gerät alles aus den Fugen. Ist
die Erde im Zentrum, läuft unser Leben „rund“, Schwankungen können
ausgeglichen, Extreme vermieden werden. In unserer Mitte ruhend kön-
nen wir die Dinge sich entwickeln lassen, da jede Entwicklung einen Mit-
telpunkt hat, von dem aus sie gesteuert wird. Wie wir noch sehen werden,
geht die zentrale Funktion der Milz, die Assimilation und Integration von
Fremdeinflüssen, weit über die stoffliche Nahrungsaufnahme und -ver-
wertung hinaus!
12   Perlen aus den Frühlings- und Herbstanalen, ca. 135 v. Chr., zitiert aus: J. Needham:
     Science and Civilisation in China, Vol. II, S. 250.

                                           22
Kun - Mutter Erde 坤

        23
Das Zentrum, chinesisch Zhong Yang 中央, zeigt im Schriftzei-
chen von Zhong 中 eine Zielscheibe, die genau in der Mitte von ei-
nem Pfeil durchbohrt wird (Wieger, L. 109 A). Eine andere Interpre-
tation sieht im Zeichen eine Stange mit dekorativen Streifen in der
Mitte eines Kreises. Die Schattenbewegung im Tagesverlauf wur-
de als einfache Sonnenuhr zur Zeitmessung verwendet (Wang).13

Der zweite Teil des Binoms, Yang 央, bedeutet ebenfalls die Mitte, aber
auch ersuchen, bitten, weit und ausgedehnt. Das Zeichen zeigt einen
Menschen, der eine Last auf den Schultern trägt. Um die Balance zu
halten, muss das Gewicht genau in der Mitte der Schulter liegen (Li).14

Zhong Yang als Binom betont so mit doppeltem Nachdruck die Mitte als
Zentrum.

Viele Akupunkturpunkte haben Zhong 中 im Namen:

Zhong Fu 中府 (Lu 1) = Schatzhaus der Mitte sammelt die nährenden Ein-
flüsse der Milz, um sie mit der Atemluft anzureichern. Erst dann können
sie im Menschen wirksam werden.

Zhong Zhu 中渚 (SJ 3) = zentrale Insel weist auf den mächtigen Einfluss
des San Jiao auf alle Qi-Bewegungen hin. Eine Insel ist angehäufte Erde
und hilft uns, wieder festen Boden unter den Füßen zu bekommen, wenn
wir unterzugehen drohen. Bei allen chronischen Leiden (Jiu Bing 久病)
bietet uns Zhong Zhu eine rettende Insel. Wenn wir unsere Mitte verloren
haben, ausgebrannt und „reif für die Insel“ sind, haben wir in dem Punkt
SJ 3 ebenso einen sicheren Hafen.

Zhong Feng 中封 (Le 4) = blockierte Mitte zeigt uns im Namen seine Wir-
kung auf ein gestautes Leber-Qi. Als Metallpunkt zieht er im Ke-Zyklus
Metall- (Yang-) Energie ins Holz und kann so die Wandlung zu Feuer her-
vorbringen. Le 4 ist ein wichtiger Punkt bei Depressionen mit Störungen
im Verdauungstrakt, wie Völlegefühl, Aufgeblähtheit und Müdigkeit.

13   Wang Hong Yuan, a. a. O., S. 194 f.
14   Li Le Yi: Entwicklung der chinesischen Schrift am Beispiel von 500 Schriftzeichen; Bei-
     jing, 1993, S. 398.

                                            25
Zhong Wan 中脘 (Ren 12) = Kanal der Mitte weist auf die Lage des Punk-
tes genau in der Mitte zwischen Schwertfortsatz und Bauchnabel hin.
Ebenso ist Ren 12 der Mu-Punkt des Magens, an dieser Stelle versam-
melt sich das Qi der Erde besonders stark.

In den meisten Punktenamen, die Zhong 中 enthalten, wird die Präsenz
der Erde resp. Milz und Magen als Zentrum betont. In anderen Fällen
finden wir zentrale Schaltstellen der entsprechenden Leitbahnen oder
einfach einen Mittelpunkt in der mikrokosmischen Landschaft. Hier dient
Zhong als Lokalisationshilfe.15

15   Die Literatur listet über 20 verschiedene Punkte mit Zhong im Namen auf! Vergl. Ellis-
     Wiseman-Boss: Grasping the Wind, Paradigm Publications, 1989.

                                            26
Zhong Yang - die Mitte als Zentrum 中央

                 27
2 Erde im Menschen

„Immer wieder
treffen mich Rückschläge,
die mich auf den Boden werfen,
auf dem ich stand.
Ich betrachte ihn aus dieser Nähe:
die Form der Steine, die mich
stolpern ließen
und die Beschaffenheit des Sumpfes,
der mich
einzusaugen versucht.
Ich bestaune die List,
mit der die Fallstricke
gespannt wurden
und bin den Fallenstellern
auf der Spur.“

Langsam
stehe ich
wieder auf.
		MP.B.L.

2.1    In der Mitte
Was bedeutet die Erde für den Menschen? Sie ist der Grund und Boden
unter unseren Füßen, unsere Grundlage für das individuelle Stehvermö-
gen. Ebenso wie in der Natur, vermittelt die Erde in uns Reife, Fruchtbar-
keit und mütterliche Fürsorge. Geerdet zu sein heißt, einen Mittelpunkt zu
haben, von dem aus wir handeln können. In unserer Mitte verankert, spü-
ren wir Gleichgewicht und Harmonie. Wo immer wir uns aufhalten, sind
wir integriert und fühlen uns zu Hause. In sich zu Hause, bei sich zu sein,
ist die Voraussetzung für ein Zusammengehörigkeitsgefühl in der Gruppe
oder in einer Gemeinschaft. Im Spätsommer unseres Lebens können wir,
nunmehr gereift, einen klaren Standpunkt beziehen.
Wir haben unsere Lektion gelernt und genügend Erfahrungen gesammelt,
um die Früchte unserer Bemühungen genießen zu können. Die Erde in
uns drückt sich wie jede Wandlungsphase auf verschiedenen Ebenen aus:

                                    29
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