DIGITAL KULTURAL. VERNETZTE - KULTUR Kulturberichte 2021 aus Tirol und Südtirol AUTONOME PROVINZ BOZEN
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DIGITAL KULTURAL. VERNETZTE KULTUR Kulturberichte 2021 aus Tirol und Südtirol AUTONOME PROVINCIA PROVINZ AUTONOMA BOZEN DI BOLZANO SÜDTIROL ALTO ADIGE
2 3 Dr. Beate Palfrader, Landesrätin für Bildung, Kultur, Arbeit und Wohnen des Landes Tirol Foto: Land Tirol/Berger Vorwort Digitalisierung bedeutet Umwandlung. Innerhalb eines Jahres hat die Gesellschaft in der Digitalisierung einen wesentlichen Schritt nach vorne gemacht, in allen Sparten der Berufswelt, auch in der Kultur. Das Umdenken hat langsam, aber stetig stattgefunden, um dann mit großen Schritten voranzuschreiten. Marc Ruoß, Marketingleiter der Bank-Media GmbH Unter- nehmensgruppe, regt mit seinem Zitat zum Nachdenken an: „Wer analog denkt, wird die Vorteile der Digitalisierung nie verstehen.“ Mit klaren Worten rückt er den komplexen Umdenkprozess in den Fokus, dem wir von heute auf morgen unterworfen waren und der massiv auch unsere Zukunft prägen wird. Manches und mit Verantwortungsbewusstsein die persönlichen Kom- wurde uns erleichtert, anderes empfinden wir als störend – petenzen auszubauen. jede und jeder reagiert unterschiedlich auf Veränderung. Ob das Digitale als Anreiz empfunden wird, den es zu nutzen gilt, Die neuen Praktiken des Kommunizierens haben auch den IMPRESSUM oder das Umkrempeln des Gewohnten mit Skepsis betrachtet zwischenmenschlichen Umgang grundlegend verändert. Die wird, liegt am einzelnen Menschen. Auswirkungen sind in allen Bereichen unseres Lebens spür- bar, in der Arbeit, Bildung und Politik. Gleichermaßen werden digital-kultural. Vernetzte Kultur Freundschaften anders gepflegt, Zeit und Distanzen erhalten Kulturberichte 2021 aus Tirol und Südtirol „Der Wandel ist in seiner eine neue Dimension. In diesem Zusammenspiel von Technik, Herausgeber: Tiroler und Südtiroler Kulturabteilungen Komplexität noch nicht Gesellschaft und Menschen entwickelt sich die digitale Kultur im digitalen Jahrhundert. Die Veränderungen sind nachhaltig Abteilung Deutsche Kultur Abteilungsdirektor Dr. Volker Klotz, Andreas-Hofer-Straße 18, 39100 Bozen gänzlich vorhersehbar.“ – das Ausmaß und die Reichweite sind noch nicht ersichtlich. Die Beiträge in „digital-kultural. Vernetzte Kultur“ sind teils kulturabteilung@provinz.bz.it, www.provinz.bz.it/kulturabteilung kreativ, teils nachdenklich und geben einen umfassenden Trotzdem weist das Zitat von Ruoß auf den Kern hin: auf den Einblick in die jüngste Digitalisierungswelle: Mit welchen Amt der Tiroler Landesregierung, Abteilung Kultur Willen umzudenken, sich auf etwas Neues einzulassen, Fort- kulturellen Ausdrucksformen reagierten Jugendliche auf den Vorstand HR Dr. Thomas Juen, Michael-Gaismair-Straße 1, 6020 Innsbruck schritt zu akzeptieren, durch Fachwissen am Ball zu bleiben Lockdown? Was fand in den Bibliotheken, Museen, Kinos oder kultur@tirol.gv.at, www.tirol.gv.at Kunstgalerien statt? Was ließen sich Theater oder Musikins- © 2021 titutionen einfallen, um ihr Publikum trotz der Lockdowns zu begeistern? Wird der Mund-Nasen-Schutz Bestandteil der Konzept und Redaktion zukünftigen Alltagskultur bleiben? Dr. Sylvia Hofer MAS, sylvia.hofer@provinz.bz.it Mag. Dr. Petra Streng, petra.streng@vokus.at Der größte Dank gilt allen Autorinnen und Autoren für ihr Redaktionell abgeschlossen am 31. August 2021 Mitwirken und ihre interessanten Inputs. Durch ihre Beiträge zeigen sie auf, wie vielfältig digitalisierte Kultur sein kann, wie Grafik innovativ Kultur auf Veränderungen reagiert und wie bedeut- Mirjam Schenk, mirjamschenkdesign@gmail.com sam der wirtschaftliche Faktor der Kultur ist. Allen Leserinnen und Lesern wünschen wir eine angenehme Lektüre, lassen Sie Lektorat und Korrektur der Südtiroler Beiträge: sich von der Kultur im digitalen Raum faszinieren! Exlibris, Bozen, www.exlibris.bz.it Druck Kraler Druck, Vahrn, www.kraler.bz.it Philipp Achammer, Landesrat für Deutsche Bildung und Kultur, Bildungsförderung, Handel und Dienstleistung, Handwerk, Industrie, Arbeit und für Integration des Landes Südtirol Foto: Michael Cimadom Nachdruck nur mit Zustimmung der Redaktion gestattet. Die Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung der Redaktion wieder.
4 5 Inhalt Vito Zingerle Sir Gulliver Jonathan Klauser digital-kultural. Vernetzte Kultur Museen auf dem Weg in What a Multimedia! 99 Kulturberichte 2021 aus Tirol und Südtirol die digitale Zukunft 60 aut. Architektur und Tirol Notburga Siller Online-ausstellung Sylvia Hofer und Petra Streng Philipp Santer Fotografie und „widerstand und wandel. Einleitung 7 Die digitale Kulturlandschaft das Digitale 63 der Südtiroler über die 1970er-jahre Moni Brüggeller Landesverwaltung 38 in tirol“aut-Tirol 114 Lukas Vincent Gundolf Literarische Einleitung Archäologische Forschungen – Claudia Gadner Renate Mumelter 8 Das Ende der Bussikultur digital! 71 Museum digital, – oder Kino goes digital – Max Elia Schweigkofler doch lieber analog? 46 Johannes Andresen und die Leinwand lebt weiter 118 Digital – wie die Zahl Karl Wiesauer Auf der Reise nach Babel 76 unsere Welt verändert 12 Paul Kofler Tiroler Kunstkataster - Events aus der Dose 120 ein regionales Kulturgüter- Evi Schweigkofler und Karin Volgger Bernhard Kathan inventar im Zeitalter E-Books: Lesen wir künftig 18 „Die Vulnerablen schützen“ digital oder bleiben wir Irene Girkinger und Ina Tartler digitaler Transformation 48 Kulturveranstaltungen beim traditionellen Buch? 78 Manuel Oberkalmsteiner ohne Publikum: Kunst, Kultur und Günter Mühlberger, Gertraud Zeindl, Theater und Tanz 123 Markus Fritz Social Media 22 Ronald Bacher Funktioniert Literatur- Hannes Waldner Landesarchiv vermittlung im Netz? Eine kurze Geschichte Andrea Aschauer und Digitalisierung 50 Ein Erfahrungsbericht 81 des digitalen Spiels – Maskenpflicht, Faustgruß Daniela Zambaldi Kulturgeschichtliches und Zoomfeier 25 Newsletter – Segen und Fluch der Maria Peters vom „Watten“ bis zum Simon Feichter Information auf Anforderung 52 Ich und die Anderen 83 Profi-Gaming 127 Kulturelle Ausdrucks- Daniela Zambaldi Martin Peer Michaela Hutz formen von Jugendlichen im digitalen Raum 31 Newsletter, croce e delizia Weiterbildung digital 94 “Eine Camouflage der dell’informazione on demand 53 besonderen Art – die Maske“ 131 Sarah Mair und Thomas Weiler Eva Rottensteiner Werner Kräutler Digitalisierung und die Autorinnen und Autoren Zeitgeist zeichnen 36 Ich blogge. Also bin ich. 56 Schule 96 Tirol und Südtirol 134
6 SÜDTIROL | Sylvia Hofer und Petra Streng | Einleitung 7 Einleitung Kultur und Digitalisierung Kultur online, Theater- oder Museumsbesuche von zu Hause aus. Das war bis vor kurzem nicht denkbar. Die Schließung der kulturellen Einrichtungen und die schlag- artige Lahmlegung der Kulturszene hat für viele Menschen, „In der Komfortzone der die es gewohnt waren, auf Konzerte oder ins Theater zu ge- hen und Ausstellungen zu besuchen, eine Lücke hinterlassen. eigenen vier Wände Kultur zu All das fehlte plötzlich stark. Die Kultureinrichtungen haben sehen und zu hören ist zwar prompt darauf reagiert und plötzlich konnte man die unter- Studioaufnahme. Information im Register (Nr. 7): Tonibaurich Georg u. Josef, 1941 Reproduktion von Porträts. schiedlichsten Veranstaltungen – ob Tanz, Kino, Kunst oder praktisch, aber der haptische Theater – über den Computer oder das Handy verfolgen. Viele Menschen haben sich auf die Plattformen begeben, um und der olfaktorische Sinn sich wenigstens digital ansatzweise auf eine kulturelle Reise zu begeben, im Bewusstsein, dass ein direkter Besuch ein- fehlen.“ fach etwas anderes ist. Manche Menschen konnten sich dafür begeistern, andere haben diese Art der Kulturübermittlung abgelehnt. Flanieren, das mit dem spontanen Besuch eines Konzerts oder einer Ausstellung belohnt wird? Die selbstverständliche Anreise für einen kulturellen Hoch- genuss ist jeder/jedem die Zeit wert. In der Komfortzone der eigenen vier Wände Kultur zu sehen und zu hören ist zwar Vor allem für jüngere Menschen sind derartige „Auszeiten“ praktisch, aber der haptische und der olfaktorische Sinn problematisch. Hier darf man sich über das überborden- fehlen. Das ist wie Röhrenfernseher und HDTV: Wieso ein de Kommunizieren mit PC, Handy und desgleichen nicht flimmerndes, kleines Bild in Kauf nehmen, wenn es auch ge- wundern. In diesem Sinne sind wir aber alle „Kinder“ dieser stochen scharf geht? Zeit(en). Abstieg vom Monte Sief (Waffenübung), 1908, Foto: Klebelsberg, Raimund von, Sammlung Klebelsberg, Studioaufnahme. Information im Register (Nr. 7): Live-Streams, virtuelle Rundgänge, Podcasts, Videos: Die Mög- Doch das Engagement der Kulturtreibenden in dieser Situ- Institut für Geologie, Universität Innsbruck, Tiroler Archiv für photographische Dokumentation und Kunst, Resch Johann, 1938 lichkeiten der digitalen Welt sind unbegrenzt. Neue interaktive ation ist bewundernswert und vielfältig. Bewahre uns die L60645, CC BY 4.0 Zugänge zu Kunstwerken und Dokumenten machen uns alle Zukunft vor omnipräsenten „Alexas“, die dem einsamen Pu- stärker mit der neuesten Technik vertraut: Augmented-Rea- blikum im Home-Service diverse kulturelle Angebote nur in lity-Anwendungen, neue Apps, berührungs- und bewegungs- digitaler Form ermöglichen ... # sensitive Interfaces, 360°-Projektionen und Techniken zum individuellen Besuch oder der QR-Code für WLAN-Passwörter, Sylvia Hofer und Petra Streng das Abrufen von Dateien oder vom Impfpass. Manche der technischen Errungenschaften, die nunmehr Furore machen, sind zweckdienlich. So etwa in der Archäologie, wo man durch die Digitalisierung zu „besseren“ Erkenntnissen kommt. Doch im gesellschaftlichen Miteinander geht der Kon- takt, die unmittelbare Konfrontation verloren. Der Mensch ist ein soziales Wesen – das wird einem gerade in diesen Zeiten bewusst. Nicht zuletzt lebt die Arbeit von Künstler/-innen und Kulturtreibenden auch vom direkten Austausch mit dem Publikum. Der spontane Kulturgenuss geht bei all den Ver- Studioaufnahme. Friedrich Held auf einem Rad. An Studioaufnahme. Frau Tschurtschenthaler auf Objektaufnahme anstaltungen mit Voranmeldung – und vor allem durch die der Seite ein Mitarbeiter des Fotostudios, der ihn mit einem Rad, 1898 Drähten stabilisiert, 1896 räumliche Distanz – vielfach verloren. Wo bleibt das ziellose Alle Fotos, wenn nicht anders bezeichnet: Fotostudio Waldmüller, Amt für Film und Medien/Autonome Provinz Bozen – Südtirol, CC BY 4.0
8 TIROL | Moni Brüggeller | Literarische Einleitung TIROL | Moni Brüggeller | Literarische Einleitung 9 Literarische Einleitung Das Ende der Bussikultur A us. Vorbei. Der Bussikultur hat die Pandemie den Boden entzogen. Von einem Tag auf den anderen. Blitzschnell! Bussi links und Bussi rechts gibt es nicht mehr. Darf es nicht mehr geben. Abstand ist in Pandemiezeiten das Gebot der Stunde. Und das seit Monaten! Ausgegangen ist die Bussikultur von wenn Hass dahinter steckt. Diese Ambivalenz hat die be- kannte deutsche Konzept- und Performancekünstlerin Mia der jungen Generation. Übergegangen Florentine Weiss in ihrer Skulpture „Love Hate“ wunderbar ist sie aber längst auf alle Altersschich- veranschaulicht. Der in Rost gehaltene Schriftzug liest sich von einer Seite als „Love“ und von der Rückseite als „Hate“. ten. Gebusselt wird immer und über- Viele Monate stand die Arbeit vor dem Siegestor in Mün- all. Auf Teufel komm raus! Ob man will chen. Anlass war das Gedenkjahr „100 Jahre Beendigung des Mia Florentine Weiss veranschaulicht in ihrer Skulptur die Ersten Weltkrieges“. Und anlässlich des Europawahljahres oder nicht. 2019 wurde die Skulptur an zentralen Plätzen verschiedener Ambivalenz von Liebe und Hass Foto: artdepot europäischer Städte aufgestellt. Auf Initiative von artdepot- Den Ursprung der Bussikultur sieht Asfa Wossen-Asserate – Betreiberin Birgit Fraisl kam die Skulptur auch nach Inns- Kunstbetrieb sondern auch mit der Bussi-Bussi-Gesellschaft. mal gesagt. In zwei Romanen - „Der Atem“ und „Die Kälte“ ein äthiopischer Prinz, der seit Jahrzehnten in Deutschland bruck und avancierte vor dem Innsbrucker Goldenen Dachl Diese Gesellschaft ist für Thomas Bernhard „widerwärtig – stellt er seine eigen Krankheitsgeschichte in den Mittel- lebt - in seinem Buch „Manieren: Geschichten von Anstand zu einem begehrten Fotomotiv. und ekelerregend“. Erst am Ende des Buches, das für einen punkt. Analog dazu kann man ganz frech behaupten: Die und Sitte aus sieben Jahrhunderten“, erschienen 2003 bei Riesenskandal sorgte, wird klar, dass der Erzähler nicht von Bussi- Bussi-Gesellschaft ist für Kulturverantwortliche mit- dtv, im Kreis katholischer Aristokratinnen. Wien ist für ihn Hass angetrieben wird sondern von Liebe: Die Liebe zu Wien. unter auch zu ihrem Kapital geworden! Niederschlag findet für das Bussi-Phänomen eine der Ursprungsstädte. Und Die Liebe zu den in Wien lebenden Menschen. das in der medialen Beachtung. Längst finden sich Bespre- wahrlich: In der dortigen Schickeria feiert die Bussikultur Endlich bietet sich die Gele- chungen von Premieren oder Vernissagen nicht nur auf den fröhliche Urständ´. Aber nicht nur dort. Die Bussikultur ist Für den bekannten Psychotherapeuten und Psychiater, Dr. Kulturseiten diverser Medien sondern auch auf den Adabei- längst ein weit verbreitetes Phänomen. Mit Corona hat sich genheit, frei zu sein, zu sagen: Pablo Hagemeyer, der fachlicher Berater der erfolgreichen Seiten. Und dass diese mitunter mehr gelesen werden als die Kulturseiten ist Spiegelbild unserer Gesellschaft. Weitaus das geändert. Schlagartig! Bleib mir vom Pelz. Fremde Fernsehserie „Bergdoktor“ ist und der den vielbeachteten mehr als die Qualität einer Inszenierung interessiert das Gros „Spiegel“-Bestseller „Gestatten, ich bin ein Arschloch“ – 2020 Die mit der Bussikultur einhergehende Oberflächlichkeit kann man sogar unmittelbar erschienen im Verlag der Edel Germany GmbH - geschrie- der Leser, wer im Publikum sass, wer von den Damen im stürzte ab ins Bodenlose. Der Bussikultur und ihren Pro- ben hat, ist die Bussikultur eine reine Geschmackssache und neuen Prada Kleid gesichtet wurde und wer zum wiederhol- ponenten wurde die Bühne geraubt. Denn längst hat sich wieder auf Distanz schicken: durch Corona erscheint vieles in einem anderen Licht: „Für ten Mal zum alten Versace-Fummel gegriffen hat. Und wenn eine eigene Bussi-Bussi-Gesellschaft formiert. Eine Gesell- viele wirkt sie wie Heuchelei. Denn nicht jeder will immer da vielleicht sogar noch eine neue Liebesbeziehung geoutet schaft charakterisiert durch Vordergründigkeit. vor die Tür etwa, wenn das spontan und unerwartet abgebusselt werden. Endlich bie- wird – ja dann hat die Bussi-Bussi-Gesellschaft das, was sie tet sich die Gelegenheit, frei zu sein, zu sagen: Bleib mir am liebsten hat: den schönen Schein. So ist sie eben – die Eine Gesellschaft, der es nicht um Wahrhaftigkeit geht. Büro klein ist. vom Pelz. Fremde kann man sogar unmittelbar wieder auf Bussi-Bussi-Gesellschaft. Oberflächlich. Distanz schicken: vor die Tür etwa, wenn das Büro klein ist. Eine Gesellschaft, die vielmehr das perfekt inszenierte Spiel Oder wenn Leute, die sich wichtig nehmen, einem den Raum „Ihr Auswürfe der Gesellschaft, ihr Maulaffenfeilhalter, ihr mit dem Schein kultiviert. Um die Ambivalenz von Hass und Liebe geht es auch in und die Luft nehmen: Bitte draußen warten!“ Genickschuss-Spezialisten!“ Gnadenlos rechnet Peter Handke „Holzfällen. Eine Erregung“ von Thomas Bernhard. Der Ro- in seinem 1966 in der Regie von Claus Peymann uraufgeführ- Eine Gesellschaft, die manchmal sogar Liebe vortäuscht auch man ist nicht nur eine gnadenlose Abrechnung mit dem „Die Krankheit ist mein Kapital!“, hat Thomas Bernhard ein- ten Stück „Publikumsbeschimpfung“ mit den Zuschauern ab.
10 TIROL | Moni Brüggeller | Das Ende der Bussikultur TIROL | Moni Brüggeller | Das Ende der Bussikultur 11 Auch wenn es damals die Bussi-Bussi-Gesellschaft in dem Heute aber buhlt so mancher Theater-Intendant ganz un- Corona hat der Bussi-Bussi-Gesellschaft diese Bühne ge- Krise als Chance! Martin Kusej, Direktor des Burgtheaters, Ausmaß wie heute noch nicht gegeben hat, richtet sich Pe- geniert um die Bussi-Bussi-Gesellschaft. Man bemüht sich nommen. Praktisch über Nacht. Knallhartes Ende einer der wohl bedeutendsten deutschsprachigen Bühne, bringt ter Handke klar gegen die Schickeria, „eine tatenlose Masse, um die Gunst der Schickimicki-Szene. Neue Mitglieder von glamourösen Fassadenpolitik! Aber die Enttäuschung der es in einem Interview mit Stefanie Panzenböck im „Falter“ die gleichgeschaltet atmet, lacht, weint und klatscht“. Und Freundeskreisen werden ob ihres klingenden Namens mit Einen gereicht zur Freude der Anderen. Mit dem Ende der auf den Punkt: „Diese Krise kann uns stärker machen, weil sie Handke hält sich nicht zurück: „Ihr Totengräber der abendlän- Öffentlichkeitswirkung oft mehr geschätzt als so manch mitunter heuchlerischen Bussikultur und der von der Re- uns zwingt, Dinge und Situationen neu zu beurteilen und zu dischen Kultur, ihr Schleimscheißer, ihr Gesinnungslumpen“ ehrlicher Kulturnarr. Aber Vorsicht! Das Interesse der Bussi- gierung verordneten Distanz entsteht eine neue Nähe. Ein verändern. Das ist aber auch eine Überlebensstrategie, denn geht die Anklage in Handkes „Beatdrama“ - der damals Bussi-Gesellschaft ist nur gespielt. Kaum sind die Adabei- Nähe, die aus der Entfernung in die Tiefe geht. Eine Nähe, diese aktuelle Leere ist ‚verordnet‘, erzwungen durch eine ge- 24-jährige Österreichische Autor und spätere Nobelpreis- Fotografen weg, die Pause, die sie als ihre Bühne zu nutzen die der Oberflächlichkeit eine klare Absage erteilt. Theater, fährliche Krankheit. Das weckt auch Instinkte, zu denen auch träger hat das Stück John Lennon gewidmet – weiter. Und verstehen, vorbei, sind sie weg und suchen sich einen neuen Museen, Galerien sind diskursive Orte. Aber dieser Ansatz ist Angst und Flucht gehören.“ Dass Theater ohne Publikum dass das nicht nur zu einem Theatertumult sondern auch zu Schauplatz zur Präsentation ihrer Eitelkeiten. Bis zum Ende in den letzten Jahren immer mehr verloren gegangen. Man aber nicht existieren kann, steht nicht nur für Krusej ausser einem gesellschaftlichen Skandal führte und die von ihm be- einer Vorstellung sind die, die man getrost zur Bussi-Bussi- Frage. Daran können auch die diversen Streaming-Angebote schuldigten „Kriegstreiber“, „Nestbeschmutzer“ und „Mitläu- Gesellschaft zählen kann längst über alle Berge. nichts ändern. Sie verbannen das Publikum nämlich in die fer“ rebellierten, ist längst Teil der neueren Kulturgeschichte. Einsamkeit. Eine Einsamkeit, die krank machen kann. Und Fest steht: Der Bussi-Bussi-Gesellschaft kann man nicht trau- Corona hat der Bussi-Bussi- Krusej mutmaßt „ob die Krankheit, die Menschen ohne Kunst Die Gefahr der Nivellierung der Kultur durch die Bussi-Bu- en. „Der Charme der Österreicher ist nur aufgesetzt!“ warnt befallen würde, nicht noch schlimmer wäre.“ si-Gesellschaft sieht wohl auch Felix Mitterer, wenn er Walter Lendl in seinem Buch „Darum nerven Österreicher“, Gesellschaft diese Bühne bei der Neuaufstellung der Tiroler Volksschauspiele im erschienen im Eichborn Verlag. Mit der Bussi-Bussi-Gesell- genommen. Praktisch über Die Sehnsucht nach dem analogen Leben ist jedenfalls groß. Herbst 2019 seinen Wunsch äußerte: „Die Volksschau- schaft verhält es sich ähnlich: Der Charme ist aufgesetzt, „Analog ist das neue Cool“ – so das Plädoyer von Burgschau- spiele sollen etwas Sprödes bleiben. Theater mit Ecken das Interesse wird vorgetäuscht. Eigentlich geht es immer Nacht. Knallhartes Ende spielerin Caroline Peters, die im vergangenen Jahr neben To- und Kanten – und kein Schickimicki-Festival werden.“ nur um das Eine: die Selbstinszenierung. bias Moretti bei den Salzburger Festspielen als Buhlschaft einer glamourösen Fassaden- in „Jedermann“ brillierte. Für die Post-Pandemie-Zeit hat Angelika Hager in ihrem neuen Buch „Echt. Jetzt!“, erschie- politik! nen bei Kremayr & Scherian, eine brillante Anleitung für die Rückholung in das analoge Leben vorgelegt. Für den Ausstieg aus dem beklemmenden Korsett der Vorschriften der letzten Monate gibt sie einen hippen Kürzel aus der digitalen Welt schielt auf die Gefälligkeit. Nicht nur dem Quotendenken ist als Motto vor: „See you IRL!“ – wobei IRL für „in real life“ das geschuldet, sondern auch der Bussi- Bussi-Gesellschaft. steht. „Der Mensch ist eine Ratte, er ändert sich nie!“ Elfriede Je- Und in diesem wirklichen Leben werden wir dann schnell linek ist davon zutiefst überzeugt. Nur jetzt – nach einer erfahren, dass Friedrich Schiller recht hat, wenn er meint: weltweiten Pandemie – besteht Hoffnung. Der Mensch „Der Mensch ist nur da ganz Mensch, wo er spielt!“ Und da ändert sich vielleicht doch. Gewohntes musste nämlich ge- ist dann wohl auch die Bussikultur wieder „part of the game“ zwungenermaßen neu gedacht werden. Nicht nur im Alltag. und der Bussi-Bussi-Gesellschaft Tür und Tor geöffnet, weil Auch in der Kultur. Bühnen, Museen, Konzertsäle, Galerien sie eines perfekt kann – spielen auf Teufel komm raus! # – sie wurden geschlossen. Nicht nur für ein paar Tage. Für viele Monate. Jähes Ende damit auch für die Bussikultur. Die Moni Brüggeller Bussi-Bussi-Gesellschaft stand vor geschlossenen Türen. Die Kunst- und Kulturschaffenden sind auf neue Formate aus- gewichen. Für die Bussi-Bussi-Gesellschaft ist da kein Platz mehr. „Virtuelles Erleben statt analoge Realität“ wurde zur neuen Prämisse. „Things are crashing down“ prognostizierte Bob Dylan in „I am not there“ lange vor dem gesundheitlichen Supergau. Wie recht er doch behalten sollte. „Crash down“ bedeutete in der Kultur nicht nur geschlossene Türen aller Kultur- einrichtungen sondern auch ein existenzieller Kampf der Kulturschaffenden. Kunst und Kultur im Total-Koma! Die Skulptur „Love Hate“ von Mia Florentine Weiss stand viele Wochen vor dem Goldenen Dachl in Innsbruck. Foto: artdepot Mit Streaming-Formaten wurden neue Räume geschaffen. Theater und Konzerte im Wohnzimmer! Auf Knopfdruck!
12 SÜDTIROL | Max Elia Schweigkofler | Digital – wie die Zahl unsere Welt verändert SÜDTIROL | Max Elia Schweigkofler | Digital – wie die Zahl unsere Welt verändert 13 DAS PRÄDIGITALE ZEITALTER Teilweise Realisierung der Analytical Engine, kurz vor Seit Anbeginn der Zeit haben Menschen das Bedürfnis, Dinge, Babbages Tod 1871 Eindrücke und Erlebnisse aus ihrem Leben auf irgendeine Foto: Science Museum London Weise festzuhalten. Die Höhlenmenschen malten ihre Jagd- / Science and Society Picture Library, Wikimedia Commons züge an Felswände, ein paar Jahrtausende später konnte man mit Feder und Papier Wissen festhalten, irgendwann dann Fotos schießen, dann viele Fotos hintereinander – man sah sich das Ganze als Film an – und schließlich entdeckte man, dass Schall eine Membran im Mikrofon zum Schwingen bringt und sich diese Schwingungen dann in Platten eingra- vieren lassen. All diese genialen Erfindungen haben eines gemeinsam: Sie wollen das Leben – Momente, Emotionen, Leidenschaft, ja Kultur – bewahren. Bei den eben genannten Verfahren wird ein Originalsignal direkt und stufenlos in ein Medium übertragen. Eine solche Art der Übertragung nennt man heute „analog“. Die Nadel auf dem Plattenspieler be- wegt sich analog zur Schwingung der Membran im Mikro- fon, die Uhrzeiger drehen sich analog zum Zeitverlauf, der Kamerafilm wird analog zum einfallenden Licht geprägt und hält einen Moment fest. AM ANFANG WAR DIE ZAHL Wir beginnen unsere digitale Reise im Jahre 1837, als ein Ma- thematiker namens Charles Babbage dachte, das Rechnen wäre ihm viel zu mühsam und Kalkulationen bestünden oh- nehin immer nur aus denselben Schritten, die sich dann – je Digital – wie die Zahl nach mathematischer Problemstellung – auf verschiedene Weise wiederholen ließen. Deshalb entwarf er eine Maschine, die Analytical Engine, welche eine Rechnung in Form einer unsere Welt verändert Lochkarte einlesen, darauf basierend Zahlen speichern, mit ihnen rechnen und schließlich ein Resultat ausdrucken konn- te. Dabei musste die Maschine basierend auf der Eingabe ############################################################################ entscheiden, welcher Teilschritt als nächster zu berechnen war und wie oft hintereinander gewisse Schritte wiederholt D werden mussten. Es war die Geburtsstunde des Rechners, Porträt von Ada King, Gräfin von Lovelace igitaluhr, digitales Fernsehen, Digi- „Digit“ heißt im Englischen wörtlich einfach nur „Ziffer“. Also heute auch Computer genannt („to compute“, englisch für Foto: Alfred Edward Chalon - Science Museum Group, Wikimedia Commons talradio: Willkommen im digitalen müsste „digital“ eigentlich nur die Darstellung von etwas in „rechnen“). Zahlen sein. Bedeutet das also, dass alles, was wir heutzu- Zeitalter. Immer mehr Dinge in unse- tage digital nennen – Bilder, Videos, Musik –, einfach nur aus Sechs Jahre nach Babbages Erfindung veröffentlichte die Ma- Auch wenn die Erfindungen von Babbage und Lovelace genial rem Leben werden digital. Das Wort digital Zahlen besteht? Im Grunde ja! thematikerin Ada Lovelace eine Methode, um mithilfe der waren, konnten sie zu ihren Lebzeiten nie in die Realität um- kommt im heutigen Sprachgebrauch im- Analytical Engine, sobald sie denn realisiert werden würde, gesetzt werden. Die Kosten für eine solche Maschine waren Wir werden uns jetzt auf eine kurze Reise begeben, in der eine Serie aus Bernoulli-Zahlen zu errechnen. Der erste Algo- für die damaligen Entscheidungsträger nicht einschätzbar. mer häufiger vor und hat oft den Zweck, Sie verstehen werden, wie alles, was wir digital nennen, im rithmus für einen Computer war geschrieben und Lovelace Zudem war man nicht sicher, ob sie funktionieren würde. irgendetwas besonders modern und hi- Prinzip eigentlich nur eine Übersetzung realer Dinge in Zah- gilt seitdem als erste Programmiererin der Geschichte. Sie Dass die Analytical Engine tatsächlich funktioniert hätte, tech wirken zu lassen. Doch was genau len und wieder zurück ist. Dabei werden diese Dinge in mög- erkannte als Erste, dass mit der Programmierung beliebig wurde erst rund hundert Jahre später in einer Rekonstruk- lichst viele Teile zerstückelt und jedem dieser Schnipsel ein komplexe Befehle formuliert und dann automatisch ausge- tion nach den Originalplänen bewiesen. will uns dieses Wort eigentlich sagen? Was präziser Wert in Form einer Zahl zugewiesen. Dadurch wird führt werden können. Zudem erwähnte sie erstmals, dass bedeutet es, wenn etwas plötzlich zu ei- es möglich, aus den vielen Zahlen wieder das Original oder eine solche Maschine einen physischen, berührbaren Teil, also Bis dahin war der Begriff „Computer“ vielmehr eine Berufs- nem digitalen Etwas wird? Und bedeutet eine hinreichend gute Kopie davon zu konstruieren. die kupfernen Räder und Lochkarten, und einen symboli- bezeichnung für Hilfskräfte, die immer wiederkehrende Be- es dann, dass es notwendigerweise auch schen Teil, die codierten Berechnungen, hat und begründete rechnungen im Auftrag von Mathematikern ausführten. so die Unterscheidung zwischen Hardware und Software. besser ist?
14 SÜDTIROL | Max Elia Schweigkofler | Digital – wie die Zahl unsere Welt verändert SÜDTIROL | Max Elia Schweigkofler | Digital – wie die Zahl unsere Welt verändert 15 Platz für eine Million Schriftzeichen bietet, definitiv behoben EIN UND AUS werden. Bis heute werden regelmäßig neue Unicode-Stan- Den Beginn der digitalen Revolution markierte eine Er- dards veröffentlicht, bei denen immer wieder neue Zeichen, findung des Jahres 1947: der Transistor, die Grundlage des zum Beispiel Emojis, eine Zahl zugewiesen bekommen. modernen Computers. Dabei kann ein Transistor nicht wirklich viel. Im Grunde lässt er lediglich elektrischen Strom in sich hinein- und dann wieder aus sich hinausflie- VON DER ZAHL ZUM BILD ßen – oder er tut es eben nicht, indem er dem Stromfluss Nun sind die Dinge, die auf unseren Bildschirmen abgebildet einen Riegel vorschiebt. Im Normalfall blockiert er alles, werden, weit mehr als nur Buchstaben und selbst die kön- was in ihn hineinströmt. Doch sobald über einen dritten nen mit der ihnen zugewiesenen Zahl zwar identifiziert, aber Zugang elektrische oder magnetische Spannung zugeführt deshalb noch lange nicht abgebildet werden. Wir müssen wird, wird ein Schalter umgelegt und der Strom kann pas- also wieder in unsere Trickkiste greifen und uns überlegen, sieren. Dasselbe konnte zuvor zwar auch schon die in den wie wir unterschiedliche Farben und ganze Bilder digital dar- 1920er-Jahren entwickelte glühbirnenähnliche Vakuum- stellen könnten. röhre, nur war diese weit weniger zuverlässig, wesentlich teuer und nahm viel Platz in Anspruch. Nun kann man mit Dies funktioniert am besten, wenn wir ein Bild in möglichst einem Transistor zwar etwas ein- und ausschalten, von den viele winzig kleine Punkte, sogenannte Pixel, aufteilen. Bei Funktionsmöglichkeiten digitaler Geräte ist er jedoch noch einem Schwarz-Weiß-Bild können wir einem schwarzen Punkt weit entfernt. Dadurch, dass ein Transistor nur zwischen einfach die Zahl 0 und einem weißen Punkt die Zahl 1 zuwei- zwei Extremen, nämlich hoher und niedriger Stromspan- sen. Zudem reservieren wir ganz am Anfang unserer Kollektion nung, unterscheiden muss, ist er aber sehr zuverlässig. 0 und 1 zur Kennzeichnung von „aus“ und „ein“. Prinzip der additiven Farbmischung an Zahlen – der Bilddatei – noch ein bisschen Platz, um zu Geringe Abweichungen im Signal spielen für ihn keine Rol- English Wikipedia user Firstfreddy, Wikimedia Commons SharkD at English Wikipedia by Jacobolus, Wikimedia Commons bestimmen, wie viele Pixel hoch und breit das Bild sein soll, le. Aber vor allem sind Transistoren richtig schnell. Der ers- damit diese dann auch richtig angeordnet werden. te Transistor, der entwickelt wurde, konnte 10.000 Mal pro Sekunde zwischen den beiden Zuständen „ein“ und „aus“ denken, das heißt, dass wir zwischen den zehn uns be- VON DER ZAHL ZUM TEXT Komplizierter wird das Ganze, sobald wir den einzelnen hin- und herwechseln. kannten Ziffern von 0 bis 9 unterscheiden. Wenn wir an Auch wenn wir jetzt sehr viel über Zahlen gehört haben, Pixeln Farben zuordnen möchten. Das menschliche Auge eine größere Zahl denken, fügen wir vorne einfach eine nützt uns das relativ wenig, wenn wir zum Beispiel Buch- erkennt vor allem die drei Primärfarben Rot, Grün und Mit der Zeit wurden Transistoren immer kleiner und schneller zusätzliche Stelle hinzu und können so bis 99 zählen. Dann staben darstellen wollen. Wir brauchen also eine Möglichkeit, Blau beziehungsweise Mischungen davon. Jeder dieser drei und man konnte viele von ihnen auf verschiedene Weise brauchen wir wieder eine neue Stelle, um bis 999 zu zäh- um Texte im Computer repräsentieren zu können. Anstatt Farben wird also wiederum eine Zahl zugewiesen. Je mehr aneinanderreihen, was dann einen integrierten Schaltkreis len und so weiter. Wenn wir im binären System die höchste uns eine spezielle Form der Speicherung für einzelne Buch- wir von den drei Farben in den Cocktail hineingeben, desto ergab, den man umgangssprachlich einfach „Chip“ nannte. uns verfügbare Ziffer, also die 1, erreicht haben, machen wir staben zu überlegen, nehmen wir dafür ganz einfach Zahlen heller wird die Farbmischung. Wir sind hierbei völlig frei, Durch das Aneinanderreihen war es möglich, komplexere dasselbe und fügen einfach immer wieder neue Stellen hinzu. und weisen jedem Buchstaben eine Zahl zu. 1963 wurde der wie viel Speicher wir pro Farbe verwenden wollen. Eine Schaltungen zu bauen und so ein kanalähnliches, mit Strom Dadurch können wir mit fünf Stellen schon 32 verschiedene „American Standard Code for Information Interchange“, kurz gängige Variante ist, für jede der drei Farben 1 Byte – mit betriebenes Entscheidungssystem zu realisieren. Mittler- Kombinationen erreichen, bei 10 Stellen sind es 1.024 und ASCII, veröffentlicht, welcher sowohl allen englischen Groß- dem man, wie wir mittlerweile wissen, bis 255 zählen kann weile kann ein Transistor bis zu 50 Nanometer klein sein bei 20 sogar 1.048.576 – exponentielles Wachstum und so. und Kleinbuchstaben als auch den Ziffern von 0 bis 9 und – zu reservieren. Die Qualität eines digitalen Bildes hängt – ein Blatt Papier ist 100.000 Nanometer dick – und seinen Das heißt, wir können mit lediglich zwei Ziffern genauso gut verschiedenen Satz- und Sonderzeichen jeweils eine 7 Bit also zum einen davon ab, wie viele Bits wir für jede der Zustand millionenfach pro Sekunde wechseln. Bei der Funk- wie im Dezimalsystem jede erdenkliche Zahl darstellen. Jede große Zahl zuordnete. Nun gibt es auf unserem Planeten na- drei Farben wählen, um ein möglichst breites Farbspektrum tionsweise solcher Transistoren spielt das Element Silizium dieser Stellen in einer solchen Zahl ist eine binäre Ziffer, ein türlich nicht nur englischsprachige Individuen und so nutzten abzudecken, und zum anderen davon, in wie viele Pixel eine so entscheidende Rolle, dass eine ganze Bucht in San „binary digit“ oder kurz einfach „Bit“. Einen halbwegs nütz- Menschen aus verschiedenen Ländern das letzte fehlende wir das Bild einteilen. Je mehr Pixel, desto detailreicher Francisco danach benannt wurde, das Silicon Valley. lichen „Happen“, der acht dieser Bits enthält und dadurch die Bit, um einen Byte für die Schriftzeichen ihrer eigenen Spra- und genauer können Bilder dargestellt werden. Dadurch Zahlen von 0 bis 255 umfasst, nannte man „Byte“ (von „bite“, che zu vervollständigen. Das Problem dabei war, dass diese wird die Gesamtanzahl benötigter Bits zum Speichern einer Aber wie kommen wir nun von diesem sehr schnellen Ein- englisch für „Bissen“). Auf diese Art und Weise kommen wir nationalen Standards natürlich vollkommen inkompatibel Bilddatei und damit deren Dateigröße aber recht schnell und Ausschalten zur Berechnung und Darstellung von etwas zur heute gängigen digitalen Maßeinheit, wobei ein Kilo- miteinander waren, und als schließlich auch noch die asiati- ziemlich groß. Möchte man Bildern nun auch noch Leben Nützlichem? byte 1.024 (210) Bytes hat, was wiederum 8.192 Bits – also schen Sprachen mit tausenden Sonderzeichen am digitalen einhauchen, so speichert man einfach viele von ihnen in genauso vielen Ziffern, die entweder 0 oder 1 sein können Markt mitmischten, stieß man mit dieser Strategie schnell einer Sequenz ab, lässt sie nacheinander erscheinen und BINÄRE ZAHLEN – entspricht. Wer etwa eine Festplatte mit einem Terabyte an seine Grenzen. In Japan war dieses Codierungsproblem so erhält so ein Video. Zum Glück gibt es eine Methode, mit der wir mit ledig- Speicherplatz besitzt, der hat darauf ca. 8 Billionen Felder, präsent, dass man dafür sogar ein eigenes Wort erfand: „Mo- lich zwei Werten eine ganze Menge an Information, ja de die zwischen 0 und 1 unterscheiden, gespeichert. jibake“, was so viel wie „Buchstabenverwandlung“ bedeutet. Bei der Entwicklung von digitalen Kameras war die größte facto alles, was wir heute digital nennen, ausdrücken kön- Im Deutschen waren vor allem die Umlaute und das Eszett zu überwindende Hürde die Geschwindigkeit, mit der Bilder nen. Diese zweiteilige Art der Repräsentation nennen wir Mittlerweile operieren die meisten Computer nicht öfters von falschen Kodierungen betroffen, sodass anstelle in kürzester Zeit von einem lichtempfindlichen Chip erkannt „binär“. Statt zwischen „ein“ und „aus“ kann man auch mehr nur mit acht, sondern mit 32 oder 64 Bit großen des betreffenden Buchstabens einfach ein komisches Quad- und in ein Speichermedium übertragen werden müssen. sagen, man unterscheidet zwischen „wahr“ und „falsch“ „Bissen“. Ein heute übliches 64-Bit-Betriebssystem nutzt rat angezeigt wurde. Mit der Einführung von Unicode sollte Erst seit 2013 wird die Mehrzahl der Filme statt auf analo- oder 1 und 0. Wir sind es gewohnt, in Dezimalzahlen zu also als kleinste Einheit für einzelne Befehle 64 Bits. dieses Problem 1991 schließlich durch eine 16-Bit-Zahl, die gem 35-mm-Film digital aufgenommen, qualitativ sind erst
16 SÜDTIROL | Max Elia Schweigkofler | Digital – wie die Zahl unsere Welt verändert SÜDTIROL | Max Elia Schweigkofler | Digital – wie die Zahl unsere Welt verändert 17 geschaffen werden, der jedem mit einem Internet-Anschluss zugänglich ist, um so die Forschung schneller voranzubringen. Um auf diese frei verfügbaren Informationen zugreifen zu können, wurden Browser entwickelt, welche die empfange- „Die Erfindung der nen Zahlenpakete lesen und schön darstellen. Damit auch „Bei alledem sollte das Versenden größerer Dateien möglich wurde, teilte man Digitalmusik stellte auf solche Dateien in mehrere Pakete auf, welche dann unab- jedoch eines nicht ver- hängig voneinander, auch auf verschiedenen Routen, zum einen Schlag die ge- Empfänger reisen konnten. gessen werden: All dem samte Musikindustrie zugrunde liegt einfach Telefonlinien-Anbieter erkannten das riesige Potenzial digi- auf den Kopf.“ taler Kommunikation und begannen, über ihre Telefonleitun- nur … die Zahl.“ gen digitale Informationen in Form von hoher und niedriger Stromspannung zu senden, welche von einem Modem ge- lesen werden konnten. Später wurden die Nullen und Einsen Eine Schallwelle (rot), digital repräsentiert (blau) über Glasfaserkabel in Lichtgeschwindigkeit um den Globus Bild: Aquegg, CC BY-SA 3.0, Wikimedia Commons gejagt, bei kürzeren Distanzen setzt man inzwischen auf ver- digitale 4K-Videos analogen Filmen hinsichtlich Auflösung das spiegelnde Material der CD und wurde dann, je nach Gra- schiedene Funktechnologien, die unsere Geräte ganz vom geht es einzig und allein darum, sich selbst zu bereichern. und Farbspektrum ebenbürtig. Nichtsdestotrotz unterschei- vur, zu einem Sensor zurückreflektiert oder nicht. So bekam Kabel befreien und uns das Internet direkt in unsere batte- Sie erpressen ihre Opfer mit enormen Geldforderungen und den sich digitale und analoge Filme immer noch in ihrem Aus- man bei der Messung eine 1 oder eine 0 zurück. Spätestens riebetriebenen mobilen Computer bringen. drohen mit der Veröffentlichung oder Zerstörung wichtiger sehen, weshalb einige Filmschaffende doch noch das analoge ab dem Zeitpunkt, als die meisten PCs mit einem CD-Lauf- Daten. Aufnahmeverfahren bevorzugen. werk ausgestattet waren, begann der illegale Handel mit den Das Internet öffnet uns auf diese Weise unglaublich viele Raubkopien digitaler Musikstücke und die Verkaufszahlen Türen. Texte, Bilder, Videos und Musik werden auf Server Das Internet ist, mit allen seinen guten und schlechten Sei- VON DER ZAHL ZUM TON von Musikalben fielen in den Keller. geladen (Computer, die aufs Bereitstellen – Servieren – von ten, also das geworden, was es heute ist, weil wir Menschen Es wurde bereits erwähnt, dass Schall aus Wellen besteht Dateien spezialisiert sind) und der ganzen Welt zur Verfü- das Bedürfnis haben zu kommunizieren und immer neue Me- und die Wellen, wenn sie auf eine Membran treffen, diese Doch all diese genialen Erfindungen, die so vieles, was wir gung gestellt, Ideen, Werke, Momente werden mit anderen thoden erfinden, unsere Kultur zu teilen. Man könnte sagen, zum Schwingen bringen. Jetzt wollen wir diese Wellen nicht mit unseren Sinnen wahrnehmen können, in die Zahlenwelt geteilt. Ohne Internet müsste ich mit jemandem sprechen, es ist der nächste, natürliche Schritt in der Evolution. mehr wie bisher direkt in eine sich drehende Scheibe pressen, übertragen, konnten ihr wahres Potenzial erst durch eine um eine Pizza zu bestellen. Die Pizza ist übrigens wirklich die sondern versuchen, auch sie in unsere Zahlenwelt zu über- weitere Erfindung entfalten. erste Ware, die über das Internet verkauft wurde. Bei alledem sollte jedoch eines nicht vergessen werden: All tragen. Dazu messen wir die Position dieser Welle in mög- dem zugrunde liegt einfach nur … die Zahl. # lichst engen Zeitabständen und erhalten so einzelne Werte DAS INTERNET Doch das Internet birgt auch unheimlich viele Risiken. Inter- in einem fixen Zeitabstand. Aus diesen getrennten Werten Die erste digitale Nachricht, 1969 von einem Computer in netnutzer geben immer freizügiger intimste Dinge ihres Le- Max Elia Schweigkofler lässt sich dann die ursprüngliche Kurve wieder rekonstru- Los Angeles gesendet, enthielt das Wort „LOGIN“. Beim Emp- bens preis und der Erfolg von Unternehmen ist immer mehr ieren, sie in ein elektrisches Signal umwandeln, welches fänger in Stanford kamen lediglich die Buchstaben „LO“ an. von einer funktionierenden und sicheren IT-Infrastruktur dann wiederum das Fell eines Lautsprechers in Schwingung Den Wissenschaftlern ging es dabei weniger darum, schnel- abhängig. Diese Abhängigkeit ermöglicht es wiederum, versetzt. Die Qualität des Audiosignals hängt dabei von le Kommunikation zwischen Menschen zu ermöglichen, aus etwaigen Schwachpunkten Profit zu schlagen und gro- der Abtastrate (englisch „sample rate“), also der Häufigkeit als vielmehr die damals wertvolle Rechenleistung riesiger ße Schäden anzurichten. Weltweit werden die Einbußen an Messungen, mit der die Welle abgetastet wird, und der Computerräume auf optimale Weise und von verschiede- der Wirtschaft, die auf Cyberkriminalität zurückzuführen Samplingtiefe, der Anzahl an Bits, die pro Abtastwert ver- nen Standorten aus zu nutzen. Im selben Jahr wurden dann sind, auf ca. 6 Billionen Dollar jährlich geschätzt. Nur die wendet werden, ab. Auf Audio-CDs werden beispielsweise insgesamt vier Computer an verschiedenen Orten zu einem Gesamtleistungen der US-amerikanischen und der chine- 44.100 Messungen pro Sekunde gespeichert, bei der jede Netzwerk, von der US-Regierung „ARPANET“ genannt, zu- sischen Wirtschaft sind noch größer. Am Werk sind dabei dieser Messungen die Position der Welle mit einer 16 Bit sammengeschlossen. Zwei Jahre später wurde eine Metho- die sogenannten Hacker und Cracker: Beide gelten als sehr großen Zahl abspeichert. de entwickelt, um auf standardisierte Weise Nachrichten technikaffin, verfügen über weitreichendes Wissen über die zwischen Computern auszutauschen. Um dabei den Namen Funktionsweise verschiedener IT-Systeme und nützen ihre Die Erfindung der Digitalmusik stellte auf einen Schlag die des Empfängers und den Namen des Rechners auseinander- Fähigkeiten, um Sicherheitslücken aufzuspüren und zu ent- gesamte Musikindustrie auf den Kopf. Während Musiker/-in- zuhalten, wurde das @-Zeichen benutzt – die „Electronic larven. Nur in ihren Interessen und Ziele unterscheiden sie nen seit der Erfindung analoger Aufnahmeverfahren einen Mail“ war geboren. Richtig Fahrt nahm das Ganze aber erst in sich. Hacker verschaffen sich zwar Zugang zu sensiblen In- Großteil ihrer Einnahmen aus dem Verkauf von Platten und den 90er-Jahren auf, als der Programmierer Tim Berners-Lee formationen, melden die entdeckten Lücken dann aber dem Kassetten generierten, konnten Tonaufnahmen in digitaler das „World Wide Web“ erfand. In dem Netzwerk, das mitt- betreffenden Unternehmen und geben ihnen Tipps, um diese Form nun ganz einfach und ohne Qualitätsverluste unendlich lerweile Computer auf der gesamten Welt umfasst, sollten zu schließen. Sie nehmen also gewissermaßen eine Berater- oft dupliziert werden. CDs waren dabei das erste digitale Wissenschaftler nicht nur direkt miteinander kommunizieren rolle ein und kassieren dafür oft ordentliche Prämien. Anders Speichermedium von Musik. Das Licht eines Lasers schoss auf können, sondern zusätzlich ein riesiger Informationsspeicher ist es bei den Crackern, den Bad Boys des Internets. Ihnen
18 TIROL | Bernhard Kathan | „Die Vulnerablen schützen“ Einige Anmerkungen zu Pandemieerfahrungen TIROL | Bernhard Kathan | „Die Vulnerablen schützen“ Einige Anmerkungen zu Pandemieerfahrungen 19 Foto: Bernhard Kathan „Die Vulnerablen schützen“ abhanden, hat man kein Ziel mehr vor Augen, dann wird dies nehmend unübersichtlichen Welt ausgeliefert, Gegenstand als Stress erlebt, selbst dann, wenn man finanziell halbwegs vielfältigster Manipulationen zu sein, nicht mehr selbst über abgesichert ist. Die verringerte Aufnahmefähigkeit mag auch das eigene Leben bestimmen zu können. Phantasiert werden mit einer Überreizung zu tun haben, die sich dem Internet Eingriffe in den eigenen Körper, sei es mit Hilfe von Watte- Einige Anmerkungen zu und Socialmedia verdankt. stäbchen, Nadeln oder Impfstoffen. Denkt man an den Zu- griff, den IT-Giganten selbst auf unser intimstes Leben haben, dann sind solche Ängste gar nicht so abwegig. Sie haben sich Pandemieerfahrungen Nichts mehr scheint geblieben von der anfänglichen Hoff- nur auf seltsame Weise verschoben, wobei die Verschiebung nung, das pandemiebedingte Herunterfahren vieler Aktivi- zwingend ist, wäre es doch sonst nicht mehr so einfach mög- täten könnte Raum für neue Auseinandersetzungen schaffen, lich, über Plattformen wie Amazon einzukaufen oder sich ein Umdenken, unser Leben oder unsere Wirtschaftsweise „W durch das Internet zu zappen. betreffend, zur Folge haben. Die Balkonkonzerte und mit ih- as mache ich? Noch schwie- So ein merkwürdiges Desinteresse überkommt mich, hat von mir Besitz ergriffen. Sind das die Folgen der Pandemie, die Folgen nen die anfänglich gegenseitige Fürsorge sind einer gewissen riger: Wie geht es mir? Wenn der ‚Isolation’? Vielleicht kristallisiert sich da nur etwas heraus, Reizbarkeit gewichen, die ihren vielfältigsten Ausdruck fand, Auf einer zweiten Ebene machen solche Diskurse das brüchi- etwa in abstrusesten Verschwörungstheorien. Wir haben es ge Verhältnis zwischen dem einzelnen und der Gesellschaft ich das wüsste? Seit gestern was schon immer da war. In welcher Bedürftigkeit bin ich ge- landet? Jetzt höre ich schon der jungen Frau über mir beim Sport nicht allein mit einem biologischen Problem zu tun. Jede bzw. staatlichen Institutionen deutlich. Ich muss manchmal nehme ich Johanniskraut 900, ich habe zu und freue mich. Und wenn mir beim Zahnarzt die Sprech- Seuche, ob Pest, Typhus, Cholera, Tollwut, BSE oder Covid19 an meinen Vater denken, der im Jahr 1934 nach einem Ty- Angst, dass ich in eine Depression hinein- stundenhilfe ihren dicken Bauch gegen die Schulter drückt, dann ist auch in ihren Metaphern zu begreifen, die auf aktuelle Be- phusausbruch mit seinen Geschwistern und Eltern im elterli- freut es mich, dass ich körperlichen Kontakt zu einem andern findlichkeiten der Gesellschaft verweisen. Mit etwas Abstand chen Haus von amtswegen unter Quarantäne gestellt wurde. rutsche. Mir ist es seelisch unwohl. Mir ist Menschen habe kann. Wo bin ich da denn seelisch gelandet?“ wird man sich die Frage stellen, was Verschwörungstheorien Die Haustüre wurde mit einem Brett zugenagelt. Das wäre an es so unlustig, so weinerlich, so jammerig trotz aller Widersprüchlichkeiten miteinander verbindet, was sich nicht nötig gewesen. Aufgrund ihrer Schwächung waren die Vorstellung, beim Nasenabstrich mit einem Wattestäb- die Eingesperrten gar nicht in der Lage, das Haus zu ver- zu Herzen. Irgendetwas muss sich ändern. So einer meiner Freunde letzthin in einem Brief. Eine gewisse chen würde ein Microchip implantiert, mit der Behauptung, lassen. Das Brett sollte nur deutlich machen, dass es jedem Ich möchte nicht mehr so weiterleben, so Müdigkeit hat sich spürbar breit gemacht, eine bleierne Schwe- Corona sei von Großen und Mächtigen wie Bill Gates von verboten war, das Haus zu betreten. Versorgt wurden die re. Und diese Trägheit ist auch bei Freunden zu bemerken, die lange Hand geplant gewesen, um die Freiheitsrechte einzu- Kranken von einer zwergwüchsigen Nonne, deren Kopfbe- mit mir allein, nur mir selbst verantwort- ich lange als wach und offen erlebt habe. Und so erreichen mich schränken, mit der Befürchtung, eine Impfung mache im- deckung seitlich in zwei Flügeln endete. Auch sie durfte das lich. Ich weiß, dass es keine Lösung geben immer wieder Emails mit Sätzen wie: „Danke für den Text. Ich potent oder zeugungsunfähig, miteinander gemein haben. Haus, solange es unter Quarantäne stand, nicht verlassen. habe ihn noch nicht gelesen. Ich fühle mich in letzter Zeit nicht Starb eines der Familienmitglieder, so wurde ein Sarg von kann, aber es bedrückt mich trotzdem, mehr aufnahmefähig ...“ Eigentlich müsste man sich in Zeiten, in Das verbindende all der Verschwörungstheorien findet sich außen durch die Öffnung unter dem Brett geschoben, nicht gerade die Ausweglosigkeit, die in mir ist. denen wenig zu tun ist, erholen. Kommen aber Zeitstrukturen in tiefsitzenden Ängsten, einer immer komplexeren und zu- ohne an ein Seil zu denken, um ihn leichter wieder heraus-
20 TIROL | Bernhard Kathan | „Die Vulnerablen schützen“ Einige Anmerkungen zu Pandemieerfahrungen TIROL | Bernhard Kathan | „Die Vulnerablen schützen“ Einige Anmerkungen zu Pandemieerfahrungen 21 „Parteien agieren, als hätten sie Waren anzubieten. Politiker treten auf, als hätten sie selbst bereits Waren- charakter angenommen. So waren denn auch viele ihrer Auftritte während der Pandemie weniger der Sache als der Eigenwerbung bzw. der Medienpräsenz geschuldet.“ ziehen zu können. Ich erinnere mich noch gut daran, wie Meinungen vertreten. Aber am Ende eines Diskussionspro- mein Vater kurz vor seinem Tod die Anstrengung geschildert zesses wurden sie gebündelt und gelangten zu einer Ent- hat, die es ihn gekostet habe, den toten Bruder in den Sarg scheidung. Übrigens wurden Obmänner solcher Ausschüsse zu heben und danach wieder in seine Kammer zu kriechen. manchmal durch einen Losentscheid bestimmt. Die damals getroffenen Maßnahmen der Seuchenbekämp- Es ist mir schon klar, dass sich ein überschaubares Dorf, das fung mögen heute hart wirken, wurden doch die Einge- man innerhalb von drei Stunden abgehen konnte und in dem schlossenen nicht nur aus der Gemeinschaft ausgeschlossen, alle trotz mancher Feindseligkeiten aufeinander angewiesen Foto: Bernhard Kathan sondern mehr oder weniger dem Tod preisgegeben. Entwe- waren, nicht mit der heutigen komplexen Welt gleichsetzen der überleben oder sterben. Während in der gegenwärtigen lässt. Die Beherrschung einer Pandemie lässt sich nicht nach Pandemie sich die unter Quarantäne Gestellten zwei Wo- unten delegieren. Es sind staatliche, wenn nicht überstaat- Wie im oben erwähnten Gasthaus ging es zu, nur viel schriller von Virologen oder Statistikern. Manches hätte sich ver- chen in eine Art „Do-it-yourself-Gefangenschaft“ zu bege- liche Maßnahmen gefordert. Aber sie funktionieren nur, gibt und lauter. Ständig ploppte irgend etwas auf, sei es von tat- meiden lassen, wären auch Ethnologen und Gesellschafts- ben hatten oder haben, wurde damals für die Betreuung es Bürger, die sich ihrer Verantwortung wie ihrer Pflichten sächlichen oder selbsternannten Experten, um schon gleich wissenschafter ernsthaft zu Rate gezogen worden. Warum der Eingeschlossenen eine Nonne organisiert. Während für bewusst sind. Davon war während der Pandemie wenig wieder zu verlöschen und durch anderes überlagert zu wer- nicht Ethnologen mit einem anderen kulturellen Background? einen Häftling der Staat bzw. die Vollzugsanstalt eine ge- die Rede, verständlich, sind doch aus Bürgern Kunden und den. Zu einem verbindlichen Einigungsprozess kam es nie. Denn wie bereits erwähnt, haben wir es bei einer Pandemie wisse Sorgepflicht hat, habe ich nun von diesbezüglichen Konsumenten, Kundinnen und Konsumentinnen geworden. Wurde von manchen gefordert, einzig „die Vulnerablen“ zu nicht nur mit biologischen Phänomenen, sondern auch mit Pflichten jenen gegenüber, die ihre Wohnung nicht verlassen Im Primat der Ökonomie findet sich heute das gesellschaft- schützen, dann wurde nicht im Detail diskutiert, was das sozialen und gesellschaftlichen Verwerfungen zu tun, nicht durften, nie etwas gehört. Bei der großen Anzahl von Fällen lich Verbindende, das längst auch Bereiche durchdringt, die hieße, welche Folgen es hätte, dass es auf das Einsperren zuletzt mit einer Krise der Demokratie. wäre eine solche Betreuung zwar kaum möglich, aber eine früher nicht davon oder nur kaum berührt waren. In einer einer ziemlich großen Bevölkerungsgruppe hinausliefe. Man ernsthafte diesbezügliche Diskussion wäre von großem Nut- Kirche konnte ich letzthin lesen: „Auch in den schwierigen stelle sich eine Gesellschaft vor, in der alle über 60jährigen, Um noch einmal auf die Typhus-Geschichte zurückzukom- zen gewesen, hätte sie doch beitragen können, das wechsel- Zeiten der Pandemie sind wir bemüht, die Krankenkommu- alle an Immunschwächen, an Lungenerkrankungen und so men: Mochte das Füttern oder das Melken der Kühe, und seitige Verhältnis von Bürger und Staat näher zu bestimmen, nion als Dienstleistung anzubieten.“ Wird Engagement als fort Leidenden aus dem öffentlichen Raum verbannt wür- was es sonst noch zu tun gab, auch nie in Rechnung gestellt was in all den verwaschenen Klagen über die Einschränkung Dienstleistung verstanden, dann hat auch zwischenmensch- den, Altersheime und Pflegeeinrichtungen, in denen sich die worden sein, so war all das von den Überlebenden in den von Freiheitsrechten nicht möglich war. liches oder gesellschaftliches Tun ökonomischen Regeln zu Alten selbst zu pflegen und sich womöglich auch noch selbst Folgejahren mit Gegenleistungen zu beantworten, und sei es gehorchen, wobei die Abgeltung erbrachter Leistungen, wie zu Grabe zu tragen hätten. Wie in diesem Beispiel wäre es in Form symbolischer Gesten. Das konnte von einem raschen Die oben erwähnte Geschichte macht auch einen hohen Grad dies bei politischen Parteien oder Akteuren der Fall ist, auch lohnend gewesen, einmal genauer über die Beschneidung Zuhilfekommen, wie das etwa während der Heuarbeit bei an Selbstorganisation deutlich. Mochten auch nur wenige indirekt erfolgen kann. Die Verschiebung vom Bürger hin zum persönlicher Freiheitsrechte zu diskutieren. In der politischen einem plötzlich niedergehenden Gewitter der Fall sein konn- von der Seuche betroffen sein, so ging sie doch alle Dorf- Konsumenten oder Kunden hat sich zwar lange früher ab- Auseinandersetzung war das nicht möglich, ging es doch oft te, über Krankenbesuche bis hin zu gehaltenen Totenwachen bewohner etwas an. Sicher wurde ein Ausschuss eingerichtet gezeichnet, hat durch das Internet eine enorme Verschärfung genug um Selbstvermarktung und politisches Kleingeld. Ich reichen. Die Toten wurden noch in den Häusern aufgebahrt. und ein Obmann gewählt. Es gab manches zu organisieren. erfahren. kann mich an keine einzige Politikerrede erinnern, die sprach- Auch während der Nacht hatte jemand betend neben dem Man konnte das Vieh im Stall nicht einfach verhungern las- lich genau gewesen wäre und in der die Herausforderungen offenen Sarg zu verharren. Und jedes dieser Engagements sen. Wiesen mussten gemäht, das Heu musste eingebracht Parteien agieren, als hätten sie Waren anzubieten. Politiker einer Demokratie in Zeiten einer Pandemie benannt worden musste wiederum mit Gegenleistungen beantwortet werden. werden. Es war auch an die Zeit nach der Seuche zu denken. treten auf, als hätten sie selbst bereits Warencharakter ange- wären. Und hätte ein Politiker oder eine Politikerin eine sol- Wer für andere eine Totenwache übernahm, dem konnte im Wie in diesem Seuchenfall wurden für zahlreiche gemein- nommen. So waren denn auch viele ihrer Auftritte während che Rede gehalten, sie wäre untergegangen in einem sich folgenden Jahr etwa die Ernte eines Kirschbaums überlas- schaftliche Anliegen Ausschüsse einberufen. Und für jeden der Pandemie weniger der Sache als der Eigenwerbung bzw. endlos ergießenden Medienbrei wie manche kluge Texte, die sen werden. Freilich mied man es in solchen Fällen die ge- dieser Ausschüsse wurde ein Obmann gewählt, den man in der Medienpräsenz geschuldet. Wer nicht medial präsent ist, zum pandemischen Geschehen geschrieben wurden. Genau- haltene Totenwache zu erwähnen. Es ging also weniger um der zeitlichen Distanz als „Experten“ betrachten kann. Und der existiert nicht. Viele Medienberichte zum pandemischen ere Texte sind kaum noch jemand zuzumuten wie sich auch einen ökonomischen als um einen symbolischen Tausch, in von solchen Experten erwartete man, dass sie in sie gesetz- Geschehen, von Social Media-Beiträgen ganz zu schweigen, jeder aus willkürlich Zusammengeklaubtem seine eigene dem wechselseitige Verpflichtungen bestätigt und erneuert ten Erwartungen einlösten. Sie konnten nicht einfach so wie verdanken sich dem Bemühen, sich auf diesem oder jenem Theorie bilden kann, zumeist Theorien für den Hausgebrauch, wurden. Aus solchen Verpflichtungen ist der in der Waren- heutige „Experten“, die letztlich nur bedingt Verantwortung Markt zu positionieren, wobei Informationen oft genug nur Alltagstheorien eben, in denen komplexe Wirklichkeiten auf ökonomie agierende Mensch entlassen. # übernehmen müssen, in die Luft, ins Leere sprechen. Gewiss, noch die Funktion einer Verpackung zukommt, liegen doch einfache Schemata reduziert werden und in denen alle Wi- im Gasthaus wie bei anderen Gelegenheiten wurden viele andere Interessen zugrunde. dersprüche aufgelöst sind. Kein Tag verging ohne Auftritte Bernhard Kathan
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