Du, Ich und Wir Das Teilen emotionaler Erfahrungen - Brill
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Danish Yearbook of Philosophy 54 (2021) 18-37 Du, Ich und Wir Das Teilen emotionaler Erfahrungen Dan Zahavi Professor of Philosophy, Center for Subjectivity Research, Department of Communication, University of Copenhagen, Copenhagen, Denmark Professor of Philosophy, Faculty of Philosophy, University of Oxford, Oxford, England zahavi@hum.ku.dk Abstract Betrachtet man die gegenwärtigen philosophischen Arbeiten über die Natur und den Status von kollektiver Intentionalität und Wir-Intentionen, fällt auf, wie viel Aufwand betrieben wird, um die Struktur gemeinsamer Handlungen zu analysieren und um nachzuweisen, ob die Intention, beispielsweise einen gemeinsamen Spaziergang zu unternehmen oder das Haus gemeinsam zu streichen, auf irgendeine Form der Ich- Intentionalität reduziert werden kann oder nicht. Viel weniger Arbeiten haben sich der Analyse geteilter Stimmungen und Emotionen gewidmet. Dies ist nicht nur deshalb bedauerlich, weil das Teilen von Emotionen (emotional sharing) in der Entwicklung aller Wahrscheinlichkeit nach gemeinsamen Handlungen vorangeht und logisch betrachtet grundlegender ist, sondern auch, weil es eine Art des Zusammenseins mit Anderen konstituiert, die wir untersuchen müssen, wenn wir die Natur des Wir verstehen wollen. Mein vorrangiges Ziel in diesem Beitrag ist es, eine Antwort auf die folgende Frage zu geben: Setzt die Wir-Erfahrung, die Erfahrung, Teil eines Wir zu sein, die Differenzierung von Selbsterfahrung und Fremderfahrung voraus, geht sie ihr voraus, erhält sie sie aufrecht, oder hebt sie sie auf? Um diese Frage zu beantworten, werde ich das Teilen von Emotionen näher betrachten und Quellen heranziehen, die in der gegenwärtigen Sozialontologie zu häufig ignoriert werden, nämlich Einsichten, die sich in der klassischen Phänomenologie und in der gegenwärtigen Forschung zu sozialer Kognition finden lassen. Keywords Kollektive Intentionalität – Wir-Intentionen – Emotionen – Phänomenologie – Intersubjektivität © Dan Zahavi, 2021 | doi:10.1163/24689300-bja10015 This is an open access article distributed under the terms of the cc by 4.0Downloaded license. from Brill.com02/09/2022 06:34:08AM via free access
du, ich und wir 19 1 Kollektive Intentionalität und Intersubjektivität1 Einer derzeit populären, durch philosophische Argumente und empirische Evidenz gestützten Sichtweise zufolge ist die Fähigkeit, Wir-Intentionen zu haben, grundlegend für das menschliche Sozialleben und für die soziale (z.B. institutionelle) Realität. Sie ist eine wesentliche Voraussetzung für die Bildung und Aufrechterhaltung sozialer Normen, Konventionen und institutioneller Gegebenheiten, wie etwa Wahlen, Hochzeiten, Wirtschaftsunternehmen, Eigentumsrechte, Nationalstaaten etc. Es mag sein, dass komplexe soziale Koordination nicht auf Menschen beschränkt ist – verschiedene Tierarten engagieren sich in verschiedenen Formen von kooperativem Verhalten (bspw. gemeinsames Jagen) –, aber, wie Searle argumentiert hat, scheinen Menschen eine Fähigkeit zu einer einzigartigen Art der geteilten oder kollek- tiven Intentionalität zu besitzen, die es ihnen ermöglicht, Ausformungen der sozialen Realität zu erschaffen, die das, was nicht-menschliche Primaten erre- ichen können, bei weitem übertreffen.2 Searles eigene, sehr einflussreiche Untersuchung der kollektiven Intentionalität bleibt streng einer Spielart des methodologischen und ontol- ogischen Individualismus verpflichtet. Der ontologische Individualismus besagt, dass mentale Zustände notwendigerweise jemandem eigen sind, sie sind notwendigerweise die Zustände von jemandem, und dieser Jemand muss ein Individuum sein. Kurz gesagt können nur Individuen Subjekte men- taler Zustände sein. Folglich behauptet Searle, dass jegliche Intentionalität, einschließlich kollektiver Intentionalität, dem Bewusstsein von einzelnen Individuen zugeschrieben und darin lokalisiert werden muss. Daraus folgt, dass, wann immer Menschen eine Intention teilen, jedes Individuum seine eigene Intention hat, und es nicht so etwas wie eine einzige (token) Intention gibt, die – in einem wörtlichen Sinn – geteilt werden kann. Dies bedeutet aller- dings nicht, dass Searle versuchen würde, Wir-Intentionen auf Ich-Intentionen zu reduzieren. In seinem 1990 erschienenen wegweisenden Aufsatz ‚Collective Intentions and Actions’ lehnt Searle diese Idee explizit ab und vertritt die Sichtweise, dass Wir-Intentionen primitiv (im Sinne von nicht weiter zerleg- bar) sind.3 Allerdings bestreitet er auch jede Unvereinbarkeit zwischen der 1 Dieser Beitrag ist die Übersetzung eines Artikels, der ursprünglich in englischer Sprache erschienen ist: Zahavi, D., „You, Me, and We: The Sharing of Emotional Experiences“, Journal of Consciousness Studies 22, Nr. 1–2 (2015): 84–101. 2 Vgl. Searle, J., The Construction of Social Reality (Cambridge: The Free Press, 1995). 3 Vgl. Searle, J., „Collective intentions and actions“, in Intentions in Communication, Cohne, P., Morgan, J. & Pollack, M.E. (Hrsg.), (Cambridge, MA: mit Press, 1990), 404. Danish Yearbook of Philosophy 54 (2021) 18-37 Downloaded from Brill.com02/09/2022 06:34:08AM via free access
20 zahavi Behauptung, dass Wir-Intentionen irreduzibel sind, und der Behauptung, dass jegliche Intentionalität nur im Geist einzelner Individuen existiert. Vielmehr geht Searle angesichts seiner weithin bekannten Befürwortung des Internalismus und seines Engagements für die Sichtweise, dass kein psycholo- gischer Zustand die Existenz von irgendeinem anderen Individuum voraus- setzt als die jenes Subjekts, dem der Zustand zugeschrieben wird, sogar so weit, zu argumentieren, dass ein Individuum Wir-Intentionen haben kann, selbst wenn kein anderes Subjekt existiert. Konsequenterweise berücksichtigt Searle solipsistische Wir-Intentionalität und hat darauf bestanden, dass ein Individuum kollektive Intentionalität besitzen kann, selbst wenn es sich dabei um ein „Gehirn im Tank“ handelt.4 Man kann verschiedenste Bedenken bezüglich Searles radikalem Internalismus sowie seiner Behauptung haben, dass ein Individuum Wir- Intentionen haben und kollektive Intentionalität besitzen kann, selbst wenn sonst niemand existiert,5 aber ich möchte mich auf einen anderen und etwas unbekannteren Aspekt von Searles Theorie konzentrieren. Gegen Ende seines 1990 erschienenen Beitrages stellt Searle die Frage, ob es irgendwelche allge- meinen grundlegenden Fähigkeiten und Phänomene gibt, die von kollektiver Intentionalität vorausgesetzt werden. Dies bejahend, behauptet er, eine der wesentlichen Voraussetzungen sei ein „biologically primitive sense of the other person as a candidate for shared intentionality“.6 Damit es also möglich ist, koll- ektive Intentionen zu haben oder auf deren Grundlage zu handeln, muss man konsequenterweise voraussetzen, „that the others are agents like yourself, that they have a similar awareness of you as an agent like themselves, and that these awarenesses coalesce into a sense of us as possible or actual collective agents“.7 Searle führt diese Ideen nicht im Detail aus, aber ich finde sie sehr anregend und glaube vor allem, dass sie in einer Art und Weise, die weit über alles hin- ausgeht, was Searle vermutlich im Sinn hatte, weiterentwickelt und verteidigt werden können (und auch wurden). In der Einleitung zu The Construction of Social Reality merkt Searle an, dass den großen Philosophen-Soziologen des frühen zwanzigsten Jahrhunderts die adäquaten Werkzeuge fehlten, insbesondere eine ausreichend entwickelte Theorie der Intentionalität, um mit Wir-Intentionalität umgehen zu können.8 4 Vgl. ebda., 404–407. 5 Vgl. Schmid, H.B., Plural Action: Essays in Philosophy and Social Science (Dordrecht: Springer, 2009). 6 Searle, „Collective intentions and actions“, 415. 7 Ebda., 414. 8 Vgl. Searle, The Construction of Social Reality, xii. Danish Yearbook of Philosophy 54 (2021) 18-37 Downloaded from Brill.com02/09/2022 06:34:08AM via free access
du, ich und wir 21 Searle bezieht sich auf die Werke von Weber, Simmel und Durkheim, vergisst aber Schütz, dessen Buch von 1932, Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt, mehr mit Searles Projekt gemein hat als bloß den Titel. Was wir bei Schütz sowie anderen Phänomenolog*innen9 wie Husserl, Scheler, Stein, Reinach, Walther, Heidegger, Gurwitsch, Sartre und Merleau-Ponty finden, sind nicht nur komplex durchdachte Analysen der Intentionalität, des Bewusstseins des eigenen Selbst und Anderer und der Intersubjektivität, sondern zudem eine gezielte Untersuchung der Wir-Intentionalität und ihres Anteils am Aufbau der sozialen Realität. In der Tat ist einer der Beiträge aus der Phänomenologie ein konzertiertes Bemühen, die Art und Weise zu erforschen, wie Individuen in ihren Erfahrungen in gegenseitiger Beziehung stehen, und diese Analyse kollektiver Intentionalität anhand einer Beschreibung interpersonalen Verstehens und reziproken (An)Erkennens zu begründen. Wenn Searle behauptet, etwas, was er aus seinem Disput mit Dreyfus gelernt habe, sei, dass Phänomenolog*innen „do not have much to contribute to the topics of the logical structure of intentionality or the logical structure of social and insti- tutional reality“,10 ist es nur zu verlockend, daraus zu schließen, dass er nicht wirklich wusste, wovon er sprach. 2 Empathie, Emotionale Ansteckung und Geteilte Emotionen Wie eben angedeutet, denke ich, dass eine Untersuchung der kollektiven Intentionalität und sozialen Realität, also Themen, die traditionell in der Sozialontologie diskutiert werden, von den Ergebnissen aus der Debatte und Erforschung der sozialen Kognition profitieren kann und sollte. Zuerst möchte ich einige wichtige Differenzierungen zwischen emotionaler Ansteckung, Empathie und Teilen von Emotionen hervorheben, die sich als hilfreich erwei- sen werden. In der gegenwärtigen Diskussion über Empathie gehen die Meinungen, wie genau die Beziehung zwischen emotionaler Ansteckung und Empathie zu verstehen ist, stark auseinander. Während Eisenberg argumentiert hat, 9 [Für im Englischen neutrale Begrifflichkeiten wurde, wann immer möglich, versucht, im Deutschen eine gendersensible Schreibweise zu verwenden. Hierfür wurde die weitestgehend inklusive Schreibweise *innen gewählt. Anm. d. Übers.]. 10 Searle, J., „Neither Phenomenological Description Nor Rational Reconstruction: Reply to Dreyfus”, Revue International de Philosophie, Nr. 2/217 (2001): 277–284 [der Originaltext verweist auf folgende, mittlerweile aber eingestellte Onlinequelle: http://socrates.berkeley. edu/~jsearle/articles.html [1. Juli 2014]]. Danish Yearbook of Philosophy 54 (2021) 18-37 Downloaded from Brill.com02/09/2022 06:34:08AM via free access
22 zahavi dass es bei Empathie und emotionaler Ansteckung darum geht, einfach die- selbe Emotion wie jemand anderer auf eine Art und Weise, die weder stark selbstbezogen noch besonders auf den Anderen orientiert ist, zu fühlen,11 hat Darwall behauptet, dass emotionale Ansteckung die elementarste Form von Empathie darstellt und Mimikry einer ihrer wesentlichsten Mechanismen ist.12 Für Andere hingegen hat es sich als notwendig herausgestellt, sich für eine eingeschränktere Definition von Empathie zu entscheiden, die es erlaubt, die Differenzierung zwischen Empathie auf der einen Seite und emotionaler Ansteckung auf der anderen Seite zu wahren.13 Beispielsweise wurde argu- mentiert, dass emotionale Ansteckung selbstbezogen ist, während Empathie wesentlich fremdbezogen ist.14 Die letztgenannte Sichtweise ist eine, die wir auch in den Analysen der Natur und Struktur von Einfühlung15 innerhalb der klassischen Phänomenologie finden. Betrachten wir, um zwei von Schelers Beispielen zu verwenden, die Situation, in der man eine Kneipe betritt und durch die vergnügte Atmosphäre mitgerissen wird, oder den Fall, wenn man auf eine Begräbnisprozession trifft und die Stimmung sinkt. Eine charakteristische Eigenschaft dessen, was wir als emotionale Ansteckung (Gefühlsansteckung bei Scheler) kennen, ist, dass man buchstäblich mit der fraglichen Emotion angesteckt werden kann.16 Sie wird auf einen selbst übertragen. Sie wird zur eigenen Emotion und als solche in der Erste-Person-Perspektive erlebt. Folglich ist im Falle von Gefühlsansteckung das Gefühl phänomenal nicht als fremdes gegeben, sondern als eigenes.17 Ist man von der Wut, Panik oder Heiterkeit Anderer angesteckt, kann es sein, dass man sich der Anderen nicht einmal als distinkte Individuen bewusst ist. 11 Vgl. Eisenberg, N., Altruistic Emotion, Cognition, and Behaviour (Hillsdale, NJ: Lawrence Erlbaum, 1986), 31. 12 Vgl. Darwall, S., „Empathy, sympathy, care“, Philosophical Studies 89, Nr. 2/3 (1998): 264–266. 13 Vgl. Decety, J., Michalska, K.J. & Akitsuki, Y., „Who caused the pain? An fMRI investigation of empathy and intentionality in children“, Neuropsychologia 46, Nr. 11 (2008): 2607–2614 und De Vignemont, F. & Singer, T., „The empathic brain: How, when and why?“, Trends in Cognitive Sciences 10, Nr. 10 (2006): 435–441. 14 Vgl. De Vignemont, F., „Affective mirroring: Emotional contagion or empathy?“, in Atkinson and Hilgard’s Introduction to Psychology, Nolen-Hoeksema, S, Frederikson, B., Loftus, G.R. & Wagenaar, W.A. (Hrsg.), (Florence, KY: Cengage Learning, 152009), 787. 15 [Der englische Text spricht auch an dieser Stelle von „empathy“. In der Übersetzung wurde in den Passagen, die sich direkt mit klassischen Phänomenolog*innen beschäftigen, der Begriff „Einfühlung“ gewählt, da dies der Begriff ist, den Husserl und Stein verwenden. In jenen Passagen des Artikels, die stärker in gegenwärtigen Debatten verwurzelt sind, wurde „empathy“ durch „Empathie“ übersetzt, da diese Begrifflichkeit gegenwärtig gängiger zu sein scheint. Anm. d. Übers.]. 16 Vgl. Scheler, M., The Nature of Sympathy (London: Transaction Publishers, 2008), 15. 17 Vgl. ebda., 37. Danish Yearbook of Philosophy 54 (2021) 18-37 Downloaded from Brill.com02/09/2022 06:34:08AM via free access
du, ich und wir 23 Da ich die Emotion als meine eigene erfahre und nicht als unsere Emotion, darf Gefühlsansteckung nicht mit dem Teilen von Emotionen verwechselt werden. Emotionale Ansteckung stellt weder eine Wir-Erfahrung dar noch konstituiert sie eine solche. Gefühlsansteckung muss ebenso von Einfühlung unterschieden werden, denn Letztere beinhaltet einen Fokus auf und ein Bewusstsein vom Anderen.18 Stein formuliert dies in ihrer Dissertation Zum Problem der Einfühlung aus dem Jahr 1916 so, dass einfühlend die Emotion eines Anderen zu erfahren sich notwendigerweise davon unterscheidet, wie man die Emotion erfahren würde, wenn es die eigene wäre.19 Vielmehr ist es so, dass ich mir während einer einfühlenden Erfahrung bewusst bin, dass die nachempfundene Erfahrung jemand anderer macht. Aus diesem Grund verwirft Stein den Vorschlag, Einfühlung solle dazu führen, dass wir die Emotion, die wir am Anderen beobachten, selbst erleben oder dass Einfühlung irgendwie zu einer Übertragung der Erfahrung des Anderen in das eigene Bewusstsein führt. Theodor Lipps, der als erster Empathie (oder Einfühlung) im Kontext der sozialen Kognition diskutierte, hat ursprünglich vorgeschlagen, dass man Einfühlung als eine Art innerliche Nachahmung erklären kann (ein Vorschlag, der in der Folgezeit unter Vertreter*innen der Simulationstheorie sehr populär wurde).20 Als Antwort darauf insistiert Stein, dass selbst wenn ein beobachteter Ausdruck dazu führen kann, dass der/die Beobachter*in den Ausdruck imitiert, und selbst wenn als Folge der engen Verknüpfung zwis- chen Ausdruck und Erlebnis der/die Beobachter*in anschließend die asso- ziierte Emotion selbst erfährt, dies bloß erklären würde, warum ein gewisses Erlebnis in ihm/ihr aufgetreten ist. Es würde keine Erklärung dafür liefern, wie der/die Beobachter*in dazu kam, den Anderen zu verstehen. Etwas selbst zu fühlen und empathisch zu verstehen, was jemand anderer fühlt, sind zwei sehr unterschiedliche Dinge. Ersteres beinhaltet per se weder ein Wissen über die Herkunft des Gefühls noch ein Wissen über die Ähnlichkeit zwischen dem eigenen Gefühl und dem eines Anderen. In Wahrheit führt es weder an noch für sich zu einem Verständnis des mentalen Lebens des Anderen.21 Für Phänomenolog*innen ist Einfühlung die Bezeichnung für unsere Erfahrung des leiblichen und expressiven psychischen Erlebens des Anderen, eine Erfahrung, die, anstatt den Unterschied zwischen Selbsterfahrung und 18 Vgl. ebda., 64. 19 Vgl. Stein, E., Zum Problem der Einfühlung (Freiburg: Herder, 2008). 20 Vgl. Lipps, T., „Das Wissen von fremden Ichen“, in Psychologische Untersuchungen I, Lipps, T. (Hrsg.), (Leipzig: Engelmann, 1907), 694–722. 21 Vgl. Stein, Zum Problem der Einfühlung, 35–6. Siehe auch: Gurwitsch, A., Human Encounters in the Social World (Pittsburgh, PA: Duquesne University Press, 1979), 24–5. Danish Yearbook of Philosophy 54 (2021) 18-37 Downloaded from Brill.com02/09/2022 06:34:08AM via free access
24 zahavi Fremderfahrung aufzuheben, diese Asymmetrie als notwendigen und per- sistierenden existentiellen Umstand auffasst. Während die Erfahrung des Einfühlens in der Erste-Person-Perspektive gegeben ist, ist die eingefühlte Erfahrung dem empathisch Einfühlenden nicht in der Erste-Person- Perspektive gegeben. Darauf zu bestehen, dass sie es wäre, würde bedeuten, dass man genau das verfehlt, was charakteristisch für Einfühlung ist, nämlich der Umstand, dass sie eine Art der auf Andere gerichteten Intentionalität ist, die es ermöglicht, dass sich Fremderfahrungen als fremd und nicht als die eige- nen offenbaren können.22 Noch wichtiger ist, dass es sich, obwohl ich keinen Erste-Person-Zugang zu der eingefühlten Erfahrung habe – bspw. ist Schmerz nicht als mein Schmerz gegeben –, dennoch so verhält, dass die eingefühlte Erfahrung mir unmittelbar im Hier und Jetzt gegeben ist.23 Dementsprechend kontrastiert Stein Einfühlung mit einem eher kognitiven Verständnis der Erfahrung Anderer, welches diese Erfahrung intendiert, ohne sie unmittelbar zu erfassen. Eine Möglichkeit, diesen Leitgedanken zu veranschaulichen, ist folgende: Genauso wie es einen Unterschied macht, an einen Löwen zu denken, sich einen Löwen vorzustellen und einen Löwen zu sehen, sollten wir auch den Unterschied beachten, ob wir uns (vage) auf Emils Mitgefühl und Liebe bezie- hen, uns vorstellen, wie es für ihn sein muss, sorgend und liebend zu sein, oder empathisch sein Mitgefühl und seine Liebe in der persönlichen Begegnung erleben. In letzterem Fall ist meine Vertrautheit mit Emils Erfahrungsleben gekennzeichnet durch eine gewisse Direktheit und Unmittelbarkeit, wie sie meinen wie auch immer gearteten Vorstellungen von ihm in seiner Abwesenheit nicht zukommen. Wir können dies auch so ausdrücken, dass Empathie eine besondere Art von Wissen vermittelt, und zwar durch eine dis- tinkte Fremd-Person-Kenntnis anstatt einer Erste-Person-Kenntnis. Während Empathie also eine besondere Art des Verstehens liefert, bedeutet dies nicht, dass sie eine besonders profunde oder tiefgreifende Art von Verstehen bieten würde. Um dies zu erreichen, könnten theoretische Schlussfolgerungen und imaginative Simulationen erforderlich sein. Die Besonderheit des empathis- chen Zugangs liegt eher darin, dass dieser grundlegend und intuitiv ist, das heißt, dass die empathisch erlebte Erfahrung unmittelbar als im Hier und Jetzt existierend gegeben ist.24 22 Husserl, E., Erste Philosophie (1923/24). Zweiter Teil. Theorie der phänomenologischen Reduktion, in Boehm, R. (Hrsg.), Husserliana 8 (Den Haag: Martinus Nijhoff, 1959), 176. 23 Stein, Zum Problem der Einfühlung, 5. 24 Für eine deutlich umfassendere Diskussion der phänomenologischen Darstellung von Empathie und ihrer Beziehungen zu Themen in der gegenwärtigen Forschung über soziale Kognition siehe Zahavi, D., „Empathy, embodiment and interpersonal understanding: From Lipps to Schutz“, Inquiry 53, Nr. 3 (2010): 285–306; Zahavi, D., „Empathy and other-directed Danish Yearbook of Philosophy 54 (2021) 18-37 Downloaded from Brill.com02/09/2022 06:34:08AM via free access
du, ich und wir 25 Da Phänomenolog*innen darauf bestehen, dass zwischen einfühlendem Verstehen dessen, was jemand anderer erfährt, und dem Machen dieser Erfahrung selbst ein Unterschied besteht, sollte es nicht weiter überraschen, dass sie die weit verbreitete Ansicht zurückweisen, Empathie beinhalte ein Teilen der Erfahrung. Empathisch zu verstehen, dass mein Freund seine Frau liebt, unterscheidet sich wesentlich davon, selbst dessen Frau zu lieben. Es ist nicht erforderlich, dass ich seine Liebe zu seiner Frau teile. Gleichermaßen kann man empathisch die Freude eines Kollegen erfassen, die dieser erfährt, wenn er die Nachricht von seiner Beförderung erhält, auch wenn man persön- lich über diese Information verärgert ist. Die Tatsache, dass man seine Freude nicht teilt, die Tatsache, dass man eine vollkommen andere Emotion spürt, macht die Erfahrung nicht weniger zu einem Fall von Empathie; die eigene Wahrnehmung der Freude des Kollegen erhält dadurch nicht bloß inferentiel- len oder imaginativen Charakter. Ferner muss Empathie nicht reziprok sein, im Gegensatz zu eigentlichem Teilen, wofür Reziprozität wohl eine eindeu- tige Voraussetzung ist. Anzunehmen, dass wir eine Erfahrung teilen, und gleichzeitig zu erklären, dass dies etwas ist, das sich deiner Kenntnis entzieht, scheint nicht viel Sinn zu ergeben.25 Weder emotionale Ansteckung noch Empathie sind Wir-Erfahrungen. Das Teilen von Emotionen, was Scheler „Mitfühlen“ oder „Miteinanderfühlen“ nennt, scheint hierfür vielversprechender zu sein. Scheler bestreitet, dass Mitfühlen als individuelle Erfahrung plus gegenseitiges Wissen verstanden werden könnte. Das bedeutet, er bestreitet, dass Mitfühlen wie folgt zu verste- hen ist: Unabhängig voneinander haben Individuum A eine Token-Erfahrung des Typs x und Individuum B eine Token-Erfahrung des Typs x, außerdem haben beide Kenntnis voneinander. Worauf läuft dann aber eine positive Beschreibung von Mitfühlen hinaus? Mit Begriffen ausgedrückt, die in jüngerer Zeit von Szanto vorgeschlagen wurden, lässt sich sagen, dass Mitfühlen sow- ohl eine Pluralitätsbedingung als auch eine Integritätsbedingung hat.26 Teilen hat weder mit Fusion noch mit einer ineinander verschmolzenen Einheit zu tun. Teilen bedingt eine Pluralität von Subjekten, umfasst aber mehr als eine bloße Addition oder Aggregation. Selbst wenn zwei Individuen zufällig intentionality“, Topoi 33, Nr. 1 (2014a): 129–142 und insbesondere Zahavi, D., Self and Other: Exploring Subjectivity, Empathy, and Shame (Oxford: Oxford University Press, 2014b). 25 Vergleichen wir dies mit einem Fall, bei dem ich jedes Mal, wenn ich alleine in deinem Büro bin, etwas von deinem Ardbeg Uigeadail genieße, ohne dass du darüber Bescheid weißt. Zu behaupten, dass wir uns die Flasche Whisky teilen, scheint in diesem Fall weit hergeholt zu sein. 26 Vgl. Szanto, T., „Husserl on collective intentionality“, in Social Reality: The Phenomenological Approach, Salice, A. & Schmid, H.B. (Hrsg.), (Dordrecht: Springer, 2015), 145–172. Danish Yearbook of Philosophy 54 (2021) 18-37 Downloaded from Brill.com02/09/2022 06:34:08AM via free access
26 zahavi dieselbe Art von Erfahrung machen würden, wäre dies kein Fall einer geteilten Erfahrung. Trotz der Ähnlichkeit der beiden Erfahrungen wären diese nicht in der erforderlichen Weise integriert. Vergleichen wir dies mit einem Paar, das sich gemeinsam an einem Film erfreut. Die beiden sehen und genießen nicht nur jede/r den Film für sich, sondern erfahren auch, dass der/die Andere den Film verfolgt und genießt, was wiederum die Struktur und Qualität des eigenen Vergnügens beeinflusst. Kurz gesagt, was Individuen fühlen, wenn sie etwas gemeinsam machen, ist nicht unabhängig von der Beziehung, die sie zueinander haben. Wir haben es hier mit emotionalen Erfahrungen zu tun, die nicht unabhängig voneinander sind, sondern sich gegenseitig steuern und konstitutiv voneinander abhängig sind. Es sollte klar sein, dass die hier vorliegende konstitutive Interdependenz mehr ist als eine bloß kausale Interdependenz. Damit es sich um einen Fall von geteilter Emotion handelt, kann es sich nicht um einen unbewussten Vorgang handeln, sondern dieser muss ein Element reziproker Achtsamkeit beinhalten. Aber selbst wenn wir diese „Achtsamkeitsbedingung“ hervorheben, fehlt noch etwas. Schließlich kann man sich unschwer Umstände vorstellen, die konstitu- tiv voneinander abhängige Emotionen aufweisen, sich aber dennoch keines- falls als geteilte qualifizieren lassen. Betrachten wir beispielsweise den Fall eines sadistischen Vergewaltigers, dessen Vergnügen gespeist wird und konsti- tutiv abhängig ist von dem Grauen des Opfers und vice versa. Zwei Individuen können sich folglich ihrer emotionalen Interaktion bewusst sein, ohne geteilte Erfahrungen zu machen. Was hierbei zu fehlen scheint, ist eine affektive Bindung oder Beziehung, irgendeine Art der Vereinigung oder Identifikation miteinander, welche Walther als Gefühl der Zusammengehörigkeit bezeich- net hat.27 Mitfühlen muss, wie es Jessica und Peter Hobson ausdrücken, den Anderen „as participating, with me, in that experience“28 umfassen. Letztlich erfahre ich im Fall von z.B. geteilter Freude diese nicht mehr bloß als meine Freude, sondern als unsere. Daher ist es überaus sinnvoll, wenn wir die ent- sprechende Erfahrung mit dem Pronomen „wir“ ausdrücken: „Wir haben den Film genossen“, „Wir haben uns so gefürchtet“. Zugegebenermaßen gibt es viele Verwendungen des Erste-Person-Plurals. In manchen Fällen mag der Ausdruck „Wir sahen den Igel“ nicht mehr implizieren als ein gemeinsames Objekt. Wenn jeder von uns den Igel zu unterschiedlichen 27 Vgl. Walther, G., „Zur Ontologie der sozialen Gemeinschaften“, in Jahrbuch für Philosophie und phänomenologische Forschung VI, Husserl, E. (Hrsg.), (Halle: Niemeyer, 1923), 33. 28 Hobson, R.P. & Hobson, J., „On empathy: A perspective from developmental psychopathology“, in Empathy and Morality, Maibom, H. (Hrsg.), (Oxford: Oxford University Press, 2014), 188. Danish Yearbook of Philosophy 54 (2021) 18-37 Downloaded from Brill.com02/09/2022 06:34:08AM via free access
du, ich und wir 27 Zeiten gesehen hat, oder selbst wenn wir ihn zum selben Zeitpunkt gesehen haben, ohne uns der Gegenwart des Anderen bewusst zu sein, können wir den Ausdruck „Wir haben den Igel gesehen“ problemlos durch die Formulierung „Ich habe den Igel gesehen und du hast den Igel gesehen“ ersetzen. In anderen Fällen allerdings sagen wir „wir“, um unsere Identifikation mit und Zugehörigkeit zu einer Gruppe auszudrücken.29 Betrachten wir beispielsweise den Fall, in dem mein Sohn und ich von einem Ausflug heimkehren, einen gemeinsamen Freund treffen, und ich diesem zurufe: „Wir haben ihn gese- hen! Wir haben den Igel gefunden!“ In solch einem Fall ist mir die Erfahrung nicht lediglich als meine Erfahrung gegeben, sondern als unsere Erfahrung; die Handlung ist mir nicht lediglich als meine Handlung gegeben, sondern als unsere Handlung. Wenn wir den Igel gemeinsam gefunden haben und jeder von uns sich dessen bewusst war, dass auch der Andere den Igel gesehen hat, würde durch eine distributive Umformulierung etwas Wichtiges verloren gehen, weil die Verwendung des „Wir“ dazu diente, mehr zu erfassen als den bloßen Umstand, dass es hier ein gemeinsames Objekt gab. Wir haben den Igel gemeinsam gefunden, und obwohl ich das Tier nicht durch die Augen meines Sohnes gesehen habe, ist Teil der Erfahrung, die ich davon habe, dass er es gesehen hat. Obwohl Walthers Verweis auf ein Gefühl der Zusammengehörigkeit eine geeignete Bezeichnung für den fehlenden Bestandteil im Teilen von Emotionen bietet, haben wir immer noch kein wirkliches Verständnis dessen, was solch ein Gefühl ausmacht. Um hier weitere Fortschritte zu erzielen, erwägen wir einige Erkenntnisse über geteilte Aufmerksamkeit und Perspektivenübernahme. 3 Die Zweite-Person-Perspektive Es besteht weitgehende Übereinstimmung darüber, dass es bei geteilter Aufmerksamkeit nicht bloß darum geht, ob zwei Personen zeitgleich dasselbe Ding betrachten, und es auch nicht ausreichend ist, dass die Aufmerksamkeit der einen Person kausal durch die Blickrichtung der anderen Person beein- flusst ist, ein Phänomen, welches wir bei Hunden, Ziegen und Raben beo- bachten können. Um von geteilter Aufmerksamkeit sprechen zu können, muss der Aufmerksamkeitsfokus von zwei (oder mehr) Personen nicht bloß parallel verlaufen, sondern es muss auch ein Bewusstsein der gemeinsamen Teilhabe damit einhergehen. D.h. der Umstand, dass beide Personen dasselbe Objekt 29 Vgl. Carr, D., „Cogitamus ergo sumus: The intentionality of the first-person plural“, The Monist 69, Nr. 4 (1986a): 525. Danish Yearbook of Philosophy 54 (2021) 18-37 Downloaded from Brill.com02/09/2022 06:34:08AM via free access
28 zahavi betrachten, muss, um die Wendung von Sperber und Wilson zu verwenden, „mutually manifest“30 sein. Genau dies macht geteilte Aufmerksamkeit so anders als jede Erfahrung, die man für sich selbst haben kann. Entwicklungsgeschichtlich gesprochen enthalten prototypische Beispiele geteilter Aufmerksamkeit nicht nur solche Fälle, in denen das Kind passiv am Aufmerksamkeitsfokus der Anderen teilhat, sondern auch solche Fälle, in denen das Kind durch proto-deklaratives Hinzeigen Andere aktiv dazu einlädt, seinen eigenen Aufmerksamkeitsfokus zu teilen. Manchmal wurde behauptet, kleine Kinder könnten die Getrenntheit von Subjekten der Erfahrung nicht verstehen und ihre Wahrnehmung psychischer Zustände beinhalte ein undifferenziertes Wir, welches sich nicht in ich und du zerteilen lasse. Wenn dies ausdrücken soll, dass das Verständnis von Kleinkindern für die psychologischen Bedingungen Anderer so beschaffen ist, dass es für jeg- liche Abweichung zwischen ihrer eigenen Sichtweise und der Sichtweise Anderer keinen Platz lässt, dann liefern frühe Interaktionen geteilter Aufmerksamkeit, wie Roessler hervorgehoben hat, klare Gegenevidenz, da der ganze Sinn von proto-deklarativen Verhaltensweisen darin liegt, Andere dazu zu bringen, ihren Aufmerksamkeitsfokus mit dem eigenen in Einklang zu bringen.31 Bei der Veranschaulichung von Formen geteilter Aufmerksamkeit tend- iert man dazu, auf Triangulationen mit Einbezug eines externen Objekts zu fokussieren. Dabei wird jedoch eine andere, dyadische Form der geteilten Aufmerksamkeit übersehen, nämlich jene, die wir im Austausch von Angesicht zu Angesicht auffinden, bei dem beide Individuen die Aufmerksamkeit des Anderen spüren.32 In verschiedenen Publikationen, welche sich mit sozial-kognitiver Entwicklung in der Kindheit beschäftigen, hat Rochat die Bedeutsamkeit dieses dyadischen Austauschs hervorgehoben und argu- mentiert, dass Mitfühlen bereits beim Säugling ab einem Alter von rund sechs Wochen auftritt. Ab diesem Zeitpunkt beginnen der Säugling und seine Bezugsperson durch die gemeinsame Gestaltung von Erfahrungen in dyadis- chen Interaktionen von Angesicht zu Angesicht zu teilen. Rochat betont die Bedeutung des rhythmischen Abwechselns und des gegenseitigen Anblickens in diesem Prozess der „protoconversation“ genannten frühen vokalen 30 Sperber, D. & Wilson, D., Relevance: Communication and Cognition (Oxford: Blackwell, 1986). 31 Vgl. Roessler, J., „Joint attention and the problem of the other minds“, in Joint Attention: Communication and Other Minds, Eilan, N., Hoerl, C., McCormack, T. & Roessler, J. (Hrsg.), (Oxford: Oxford University Press, 2005), 247. 32 Vgl. Reddy, V., How Infants Know Minds (Cambridge, MA: Harvard University Press, 2008). Danish Yearbook of Philosophy 54 (2021) 18-37 Downloaded from Brill.com02/09/2022 06:34:08AM via free access
du, ich und wir 29 Interaktion innerhalb des sozialen Austauschs33 und hat auch argumenti- ert, „echoing of affects, feelings and emotions that takes place in reciprocal interaction between young infants and their caretakers“ sei „a necessary ele- ment to the development of more advanced social cognition, including the- ory of mind“.34 In diesem Sinn wurde angenommen, dass Kleinkinder über die soziale Welt nicht „from ‚he’s‘ or ‚she’s‘ whom they observe dispassionately from the outside“ lernen, sondern „from ‚you’s‘ with whom they interact and engage in collaborative activities with joint goals and shared attention“.35 Aus diesen kurzen Anmerkungen sollte klar geworden sein, dass geteilte Aufmerksamkeit sowohl Koordination als auch Differenzierung benötigt. Es findet sich hier keine verschmolzene Einheit, sondern eher eine aufrechter- haltene Pluralität. Selbiges gilt für wahrhaftes Teilen von Emotionen. Es hält die Unterscheidung zwischen dem Selbst und dem Anderem eher aufrecht als dass es sie aufhebt. Was jedoch noch weiterer Klärung bedarf, ist die Art der Beziehung, die zwischen dem Selbst und dem Anderen erlangt werden muss, um echtes Teilen zu ermöglichen. Ich habe dafür argumentiert, dass (zeitlich andauernde) Co-Regulation und konstitutive Interdependenz entsc- heidende Faktoren sind. Zusätzlich ist auch die Bedeutsamkeit der dyadischen Aufmerksamkeit und der Zweite-Person-Perspektivenübernahme hervorzuhe- ben. Aber warum sollte Letzteres einen Unterschied machen? In den letzten Jahren gab es eine anhaltende Diskussion darüber, ob die zwei dominanten Mainstreampositionen in der Debatte zur Theorie des Geistes, nämlich die Theorie-Theorie (in ihren verschiedenen Versionen) und die Simulationstheorie (in ihren verschiedenen Versionen), angemessen und erschöpfend sind, wenn es darum geht, grundlegende Formen der sozialen Kognition zu erfassen. Gelegentlich wurde argumentiert, die Einschränkungen beider traditioneller Positionen bestünden darin, dass sie entweder die Erste-Person-Perspektive (in der Simulationstheorie) oder die Dritte-Person- Perspektive (in der Theorie-Theorie) bevorzugen, während wir eigentlich eine Theorie bräuchten, die explizit auf die Zweite-Person-Perspektive abzielt. Hingegen gibt es weiterhin Meinungsverschiedenheiten darüber, was genau zweitpersonale Perspektivenübernahme bedeutet. Ein einflussreicher Zugang 33 Vgl. Rochat, P., Origins of Possession: Owning and Sharing in Development (Cambridge: Cambridge University Press, 2014). 34 Rochart, P. & Striano, T., „Social-cognitive development in the first year“, in Early Social Cognition: Understanding Others in the First Months of Life, Rochat, P. (Hrsg.), (Hillsdale, NJ: Erlbaum, 1999), 8. 35 Moll, H. & Meltzoff, A.N., „Joint attention as the fundamental basis of understanding perspectives“, in Joint Attention: New Developments in Psychology, Philosophy of Mind, and Social Neuroscience, Seemann, A. (Hrsg.), (Cambridge, MA: mit Press, 2012), 398. Danish Yearbook of Philosophy 54 (2021) 18-37 Downloaded from Brill.com02/09/2022 06:34:08AM via free access
30 zahavi kann in einem Artikel von Schilbach und Kolleg*innen in Behavioral and Brain Sciences gefunden werden. Für sie betrifft die Zweite-Person-Perspektive das Phänomen der direkten Interaktion und emotionalen Beschäftigung mit Anderen (und nicht bloß der distanzierten Beobachtung). Folglich steht die Zweite-Person-Perspektive im Gegensatz zu dem, was der Betrachterstandpunkt (spectorial stance) genannt wird.36 Ein Aspekt, der in dem genannten Artikel jedoch nicht ausreichend hervorgehoben wurde, ist die Rolle von Reziprozität. Die vielleicht einzigartigste Eigenschaft der Zweite-Person-Perspektive ist nicht die Handlung selbst und auch nicht der Umstand, dass man sich auf Grund der Beschäftigung und des Interagierens mit Anderen über deren mentale Zustände bewusst ist, sondern vielmehr der Aspekt der Reziprozität.37 Demgemäß bed- ingt die Zweite-Person-Perspektive eine reziproke Beziehung zwischen dir und mir, wobei das kennzeichnende Merkmal meines Bezugs auf dich als ein Du darin besteht, dass du ebenfalls eine Zweite-Person-Perspektive mir gegenüber einnimmst, du mich also ebenfalls als dein Du erfasst. Insofern kann es kein einzelnes Du geben: Es müssen immer zumindest zwei gegeben sein. Kurz gesagt, die Zweite-Person-Perspektive einzunehmen bedeutet, sich in einer Subjekt-Subjekt-Beziehung, d.h. einer Du-Ich-Beziehung, zu engagieren, in der ich mir des Anderen bewusst bin und mir gleichzeitig implizit meiner selbst im Akkusativ bewusst bin, nämlich als jemand, der den Anderen beachtet oder vom Anderen beachtet wird.38 Natürlich bedarf diese Idee noch weiterer Ausarbeitung. Jedoch halte ich es grundsätzlich für erforderlich, das Du genauer zu betrachten, wenn wir ein besseres Verständnis des Teilens von Emotionen und der dafür beispielhaften Wir-Erfahrungen erlangen wollen, denn die Zweite-Person-Einzahl könnte wesentlich für das Verständnis des Erste-Person-Plurals sein. Das Teilen von Emotionen setzt ein Gewahrsein des Anderen voraus, aber dies muss eine ganz bestimmte Art des Gewahrseins des Anderen sein. Wenn zwei Personen eine Dritte-Person-Perspektive zueinander einnehmen, dann werden sie, selbst wenn sie konstitutiv interdependente Erfahrungen machen, keine geteilte Wir-Erfahrung haben, weil das geforderte Miteinander nicht vorhanden ist. 36 Vgl. Schilbach, L., Timmermans, B., Reddy, V., Costall, A., Bente, G., Schlicht, T. & Vogeley, K., „Toward a second-person neuroscience“, Behavioral and Brain Sciences 36, Nr. 4 (2013): 393–414. 37 Vgl. De Bruin, L., van Elk, M. & Newen, A., „Reconceptualizing second-person interaction“, Frontiers in Human Neuroscience 6 (2012): 1–14 und Fuchs, T., „The phenomenology and development of social perspectives“, Phenomenology and the Cognitive Sciences 12, Nr. 4 (2012): 655–683. 38 Vgl. Husserl, E., Zur Phänomenologie der Intersubjektivität II. Texte aus dem Nachlass. Zweiter Teil. 1921–28, in Kern, I. (Hrsg.), Husserliana 14 (Den Haag: Martinus Nijhoff, 1973a), 211. Danish Yearbook of Philosophy 54 (2021) 18-37 Downloaded from Brill.com02/09/2022 06:34:08AM via free access
du, ich und wir 31 Aber warum sollte die Übernahme einer Zweite-Person-Perspektive irgendet- was ändern? Das Teilen von Emotionen erfordert ein Aufrechterhalten der Pluralität und eine gewisse Differenzierung zwischen dem Selbst und dem Anderen, aber wenn diese Differenzierung zu salient ist, wird sie jede Erfahrung des Miteinander verhindern. Was wir brauchen, ist die richtige Balance zwischen Verschiedenheit und Ähnlichkeit. Aus diesem Grund kann man sich nicht mit der eigenen gewöhnlichen, aber exklusiven erstpersonalen Selbsterfahrung begnügen, wenn man an einer Wir-Erfahrung teilhaben möchte. Was man benötigt, ist ein gewisses Maß an Selbstentfremdung – um die eigene Distanz zu den Anderen zu vermindern und selbst mehr den Anderen zu gleichen. Man muss die Perspektive der Anderen auf einen selbst einnehmen, man muss sie wahrnehmen als jene, die einen selbst wahrnehmen, und sich selbst durch ihre Augen sehen, sodass es einem gelingt, sich selbst in der gleichen Weise zu erfahren, wie man die Anderen erfährt. In diesem Fall kann man sich seiner selbst als einer/eine von den Anderen gewahr werden, oder besser und genauer, man wird sich seiner selbst gewahr als eine/r von uns. Genau diesen Prozess beschreibt Husserl, wenn er davon spricht, dass ich dazu kommen kann, mich selbst als Teil des Menschheitsverbandes zu sehen, und die Möglichkeit zur Einheit dieses Verbandes schaffe, wenn ich die Anderen als mich in dersel- ben Weise begreifend verstehe, wie ich sie begreife. Nur dann bin ich, wie er weiter argumentiert, erstmals und im eigentlichen Sinn, ein Ich gegenüber den Anderen und dadurch in der Position, „wir“ zu sagen.39 Obwohl Husserls Beschreibung diesen Prozess vielleicht übermäßig kompliziert erscheinen lässt, folgt daraus nicht, dass wir es hier mit einem Prozess zu tun haben, der nur in späten Stadien der Entwicklung stattfinden kann. Oder, um es anders auszudrücken, wir sollten nicht vergessen, dass die am weitesten fortgeschrit- tene Form der zweitpersonalen Perspektivenübernahme auf Vorläufer in der frühen Entwicklung zurückgeht. Über viele Jahre hinweg hat Peter Hobson argumentiert, dass der Prozess des „identifying-with“ eine sehr frühe und zentrale Rolle in der menschlichen Entwicklung spielt, wodurch „social experience with polarities of self-other differentiation as well as connectedness“40 strukturiert werden. In einem von ihm als Co-Autor verfassten Artikel wird dieser Prozess wie folgt beschrieben: 39 Vgl. Husserl, E., Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie. Zweites Buch. Phänomenologische Untersuchungen zur Konstitution, in Biemel, E.M. (Hrsg.), Husserliana 4 (Den Haag: Martinus Nijhoff, 1952), 250. 40 Hobson, R.P., „Interpersonally situated cognition“, International Journal of Philosophical Studies 16, Nr. 3 (2008): 386. Danish Yearbook of Philosophy 54 (2021) 18-37 Downloaded from Brill.com02/09/2022 06:34:08AM via free access
32 zahavi „[T]o identify with someone else is to relate to the actions and attitudes of someone else from the other’s perspective or stance, in such a way that a per- son assimilates the other’s orientation toward the world, including toward the self, so that this orientation becomes a feature of the person’s own psycholog- ical repertoire“.41 Von großer Bedeutung ist Hobsons Überlegung, dass „identi- fying-with“ wesentlich mit affektivem Teilen einhergeht, und er argumentiert, dass die affektive Auseinandersetzung mit Anderen bereits Kleinkindern zwischenmenschliche Erfahrungen ermöglicht, welche ein Wechselspiel von Ähnlichkeit und Unterschiedlichkeit, Verbundenheit und Differenzierung umfasst.42 Um die Relevanz dieser Überlegungen zu veranschaulichen, betrachten wir den Unterschied zwischen formaler Gruppenmitgliedschaft und dem Umstand, Teil eines Wir zu sein. Jemand kann durch Geburt(srecht) Mitglied einer bestimmten Gruppe (Familie, Klasse, Nation, Ethnie etc.) sein, unab- hängig davon, ob er oder sie davon weiß oder dem Bedeutung beimisst, genauso wie Außenstehende einen als Mitglied einer gewissen Gruppe klas- sifizieren können, unabhängig von der eigenen Sichtweise dazu. Aber diese Art der Gruppenmitgliedschaft läuft nicht auf ein Wir hinaus. Das Wir ist eine Bezeichnung für eine bestimmte Art, mit Anderen zusammen zu sein und in Beziehung zu stehen. Es ist kein von außen beobachtbares Gebilde, sondern etwas, das man von innen erlebt. Wenn wir die Wir-Perspektive einnehmen, lassen wir den Standpunkt der Ersten Person nicht hinter uns; vielmehr taus- chen wir deren Singular gegen den Plural aus.43 Um Teil eines Wir zu werden, müssen die angehenden Mitglieder sich mit der Gruppe identifizieren. Deren Einstellungen einander gegenüber (und sich selbst gegenüber) sind es, was von Bedeutung ist.44 Dies ist allerdings nicht gleichbedeutend damit, dass die Identifikation mit und Teilhabe an dem Wir etwa immer freiwillig geschieht. Der Punkt ist bloß, dass in besonderer Weise das Selbstverständnis und die Erste-Person-Perspektive der involvierten Parteien einbezogen und nicht übergangen werden. Wie bereits angedeutet, finden wir manche dieser Ideen bereits in der klas- sischen Phänomenologie. In verschiedenen Forschungsmanuskripten argu- mentiert Husserl, dass in dem Moment, in dem ich mich dem Anderen zuwende 41 Hobson, J.A. & Hobson, R.P., „Identification: The missing link between joint attention and imitation?“, Development and Psychopathology 19 (2007): 415. 42 Vgl. Hobson, R.P., „Communicative depth: Soundings from developmental psychopathology“, Infant Behavior & Development 30 (2007): 270 und Reddy, How Infants Know Minds. 43 Vgl. Carr, „Cogitamus ergo sumus“, 530. 44 Vgl. Carr, D., Time, Narrative, and History (Bloomington, IN: Indiana University Press, 1986), 161. Danish Yearbook of Philosophy 54 (2021) 18-37 Downloaded from Brill.com02/09/2022 06:34:08AM via free access
du, ich und wir 33 und mich ihm widme, etwas Folgenschweres geschieht, das über Einfühlung hinausgeht. Husserl meint, wenn ich danach trachte, auf den Anderen einzu- wirken, und der Andere sich bewusst ist, dass er gemeint ist, und dies reziprok erwidert, und wir uns dadurch beide gewahr werden, dass wir gegenseitig erfahren und verstanden werden, dann haben wir es mit kommunikativen Handlungen zu tun, durch die eine höhere zwischenmenschliche Einheit, ein Wir, begründet wird, wodurch die Welt den Charakter einer wahrhaft sozialen Welt erlangt.45 Folglich betont Husserl die zentrale Bedeutung von Kommunikation und Dialog sowie die Wichtigkeit von Reziprozität, wenn es um das Entstehen des Wir geht. Ähnliche Ideen finden wir auch bei späteren Phänomenolog*innen wie z.B. bei Schütz: I take up an Other-orientation toward my partner, who is in turn oriented toward me. Immediately, and at the same time, I grasp the fact that he, on his part, is aware of my attention to him. In such cases I, you, we, live in the social relationship itself, and that is true in virtue of the intention- ality of the living Acts directed toward the partner. I, you, we, are by this means carried from one moment to the next in a particular attentional modification of the state of being mutually oriented to each other. The social relationship in which we live is constituted, therefore, by means of the attentional modification undergone by my Other-orientation, as I immediately and directly grasp within the latter the very living reality of the partner as one who is in turn oriented toward me.46 Wenn wir in einer Wir-Beziehung leben, gibt es eine gegenseitige Verbindung, in der wir einander unmittelbar beeinflussen. An einer Stelle schreibt Schütz sogar, dass wir „in our common stream of consciousness“47 leben. Worauf Schütz damit abzielt, ist keine metaphysische Vereinigung, sondern der Umstand, dass unsere jeweiligen Bewusstseinsströme miteinander in einem solchen Ausmaß verschränkt sind, dass alle unsere jeweiligen Erfahrungen von unserer gegenseitigen Involviertheit gefärbt sind.48 Zudem insistiert Schütz, dass in den persönlichen Begegnungen die Wir-Beziehung selbst nicht 45 Vgl. Husserl, E., Zur Phänomenologie der Intersubjektivität III. Texte aus dem Nachlass. Dritter Teil. 1929–35, in Kern, I. (Hrsg.), Husserliana 15 (Den Haag: Martinus Nijhoff, 1973b), 472. 46 Schütz, A., Phenomenology of the Social World (Evanston, IL: Northwestern University Press, 1967), 156–157. 47 Ebda., S. 167. 48 Vgl. ebda., S. 180. Danish Yearbook of Philosophy 54 (2021) 18-37 Downloaded from Brill.com02/09/2022 06:34:08AM via free access
34 zahavi reflektierend erfasst wird. Anstatt gegenständlich bemerkt zu werden, wird sie vorreflexiv durchlebt. Wenn wir über unsere Beziehung und die gemeinsamen Erfahrungen nachdenken und sie konkretisieren wollen, dann müssen wir uns voneinander zurückziehen und dabei aus der persönlichen Begegnung heraus- treten.49 Es kann hierbei hilfreich sein, sich der Differenz zwischen dem, was gelegentlich als Füreinandersein und Miteinandersein benannt wird, zu entsin- nen. Während die Du-Ich-Beziehung dyadisch sein kann, weist das Wir meist eine triadische Struktur auf, bei der der Fokus auf einem geteilten Objekt oder Vorhaben liegt. Nicht nur, dass es Fälle von intensiven Du-Ich-Interaktionen geben kann, wie etwa heftige verbale Meinungsverschiedenheiten oder Auseinandersetzungen, in denen ein Wir noch nicht (oder nicht mehr) präsent ist, sondern auch in versöhnlicheren Situationen kann eine zu starke Aufmerksamkeit auf den Anderen die geteilte Perspektive unterbrechen. Das Paar, das den Film gemeinsam genießt, kann als gute Illustration dafür herange- zogen werden. Seine Aufmerksamkeit ist auf den Film fokussiert und nicht aufeinander. Dies bedeutet allerdings nicht, dass das Teilen von Emotionen unabhängig von jeglichem Zweite-Person-Bewusstsein des Anderen ist bzw. diesem vorausgeht. Wir sollten nicht den Fehler begehen und Bewusstsein mit thematischem Bewusstsein oder Fokusbewusstsein gleichsetzen. Letzten Endes kann ich mir meiner Partnerin bewusst sein, selbst wenn ich den Fokus meiner Aufmerksamkeit in diesem Moment nicht auf sie richte, und ich kann keinen Sinn in der Vorstellung einer geteilten Erfahrung erblicken, wenn kein- erlei Gewahrsein des Anderen vorhanden ist. 4 Abschließende Bemerkungen Hans Bernhard Schmid hat kürzlich argumentiert, dass Mitfühlen in keiner Weise die Gegebenheit eines anderen Erfahrenden voraussetzt, sondern eher einer solchen Gegebenheit vorausgeht.50 Allgemeiner ausgedrückt hat er bestritten, dass das Wir auf Fremderfahrung aufbaut oder in irgendeiner anderen Art und Weise eine reziproke Beziehung zwischen ich und du, Ego und Anderer, voraussetzt oder erfordert. Gemäß seiner Darstellung geht das, was geteilt wird, was eigentümlich für uns ist, der Unterscheidung zwis- chen Dein und Mein und jeder Art der Intersubjektivität oder gegenseitigen 49 Vgl. ebda., S. 167. 50 Vgl. Schmid, H.B., Wir-Intentionalität: Kritik des ontologischen Individualismus und Rekonstruktion der Gemeinschaft (Freiburg: Karl Alber, 2005), 138. Danish Yearbook of Philosophy 54 (2021) 18-37 Downloaded from Brill.com02/09/2022 06:34:08AM via free access
du, ich und wir 35 Anerkennung voraus.51 Der Gegensatz zum vorliegenden Vorschlag sollte offensichtlich sein. Gemäß dem Zugang, den ich vorschlage, liegt die Wir- Erfahrung nicht vor der Selbst- und Fremderfahrung und ist auch nicht glei- chursprünglich wie diese. Paradigmatische Fälle der Wir-Intentionalität setzen vielmehr Empathie (im Sinne von auf Andere gerichteter Intentionalität) voraus und beinhalten konstitutiv interdependente Erfahrungen und die Übernahme einer Zweite-Person-Perspektive. Die Unterscheidung zwischen dem Selbst und dem Anderen geht der Entstehung des Wir also voraus und wird in diesem beibehalten. Ich möchte betonen, dass es sich hierbei nicht um die Behauptung einer Reduktion handelt. Ich behaupte nicht, dass das Wir auf eine Du-Ich-Beziehung reduziert werden oder erschöpfend durch eine Analyse der Du-Ich-Beziehung erfasst werden kann. Ich behaupte lediglich, dass die Du-Ich-Beziehung eine notwendige Komponente ist. Dass sie nicht hinre- ichend sein kann, lässt sich am Beispiel von zwei Personen zeigen, die eine heftige Auseinandersetzung haben und sich gegenseitig beleidigen. Sie mögen eine Zweite-Person-Perspektive zueinander eingenommen haben und auch konstitutiv interdependente Emotionen haben, es gelingt ihnen aber nicht, ein Wir zu konstituieren. Salmela hat jüngst die Bedeutsamkeit von geteilten Anliegen und Werten hervorgehoben.52 Eine Möglichkeit wäre, zu argumen- tieren, dass es sich dabei um ein weiteres notwendiges Merkmal handelt. Wie dem auch sei: Obwohl der vorgeschlagene Zugang gewissermaßen unvollstän- dig bleibt, indem er nur einige der notwendigen Komponenten spezifiziert, wurde genügend angeführt, um die Frage, die ich zu Beginn aufgeworfen habe, zu beantworten. Nämlich, ob die Wir-Erfahrung die Unterschiedlichkeit von Selbst- und Fremderfahrung voraussetzt, ihr vorausgeht, sie erhält oder aufhebt. Bisher habe ich mich allerdings ausnahmslos auf die Art des Wir fokussiert, welches in Interaktionen in persönlichen Begegnungen entsteht und welches ein Bewusstsein des Anderen als unterschiedliches Individuum erfordert. Wir sollten aber beachten, dass diese flüchtige Art des Wir, die an das Hier und Jetzt gebunden ist, nur eine Art des Wir ist. Beispielsweise finden sich auch deutlich unpersönlichere, anonymere und sprachlich vermittelte Formen der Wir-Intentionalität und Wir-Identität. Solche liegen etwa dann vor, wenn z.B. eine Physikerin erklärt, „Wir haben endlich einen Higgs-Boson-artigen Partikel gefunden“, obwohl sie selbst in keiner Weise direkt an den cern-Experimenten beteiligt war. Anführen könnte man auch den Widerstandskämpfer, der 51 Vgl. ebda., S. 145, 149 und 296. 52 Vgl. Samela, M., „Shared emotions“, Philosophical Explorations 15, Nr. 1 (2012): 33–46. Danish Yearbook of Philosophy 54 (2021) 18-37 Downloaded from Brill.com02/09/2022 06:34:08AM via free access
36 zahavi angesichts des Exekutionskommandos ruft, „Wir werden euch besiegen“, und sich dadurch mit einer Gruppe identifiziert, die er gar nicht mehr erleben kann. Menschen können sich selbst als Mitglieder einer Gruppe erfahren, sie können sich mit Mitgliedern dieser Gruppe identifizieren und dadurch Erfahrungen machen, die sie sonst nicht gemacht hätten, auch wenn sie mit den Anderen de facto nicht zusammen sind. Es wäre wichtig herauszufinden, welche Rolle die ver- schiedensten Identifikationsprozesse in diesen Formen der Wir-Intentionalität spielen, sowie, ob diese unpersönlicheren Formen der Wir-Intentionalität sich schlicht parasitär zu den vermutlich fundamentaleren Arten der Wir-Erfahrung in der persönlichen Begegnung verhalten oder ob sie einen eigenen Ursprung und ihre eigene Nichtreduzierbarkeit besitzen. An dieser Stelle könnte man jedoch auch argumentieren, dass es Arten der Wir-Intentionalität gibt, die noch einfacher sind als jene Art, auf die ich fokus- siert habe. Bedenken wir beispielsweise Formen der Handlungskoordination, die unabhängig von jeglicher auf Andere gerichteten Intentionalität oder gemeinsamen Plänen stattfinden, wenn selbständige Individuen beginnen, als einheitliche, koordinierte Einheit zu agieren, weil sie durch dieselben Wahrnehmungsreize und sensomotorischen Handlungsroutinen gesteuert sind. Beispiele, die einem hierbei in den Sinn kommen, sind ein im Einklang klatschendes Publikum, in Gleichschritt verfallende Fußgänger oder zwei Personen in Schaukelstühlen, die unwillkürlich ihre Schaukelfrequenz syn- chronisieren.53 Wenn eine derart sich ergebende Handlungskoordination als eine Art der Wir-Intentionalität gilt, ist es fraglich, ob sie im oben vorg- eschlagenen Sinn analysiert werden kann. Eine mögliche Reaktion auf diese Herausforderung wäre, verschiedene Formen der Wir-Intentionalität zu unter- scheiden und schlicht darauf zu bestehen, dass jene Form, die ich oben her- ausgearbeitet habe, nicht reduzierbar auf und komplexer ist als jene, die wir in einer sich ergebenden Handlungskoordination vorfinden. Eine weitere Option, der ich mehr abgewinnen kann, ist es, zuzugestehen, dass eine sich ergebende Handlungskoordination tatsächlich elementar und fundamental ist, jedoch zugleich darauf zu insistieren, dass sie mehr mit motorischer Mimikry und Ansteckung zu tun hat als mit genuinem Teilen, was letztlich erklärt, warum sie keine genuine Wir-Erfahrung konstituiert. Natürlich gibt es über Teilen und das Wir viel mehr zu sagen. Im Vorangegangenen habe ich mich auf ein paar Emotionen konzentriert, um das Teilen von Emotionen zu erörtern. Können alle Emotionen in der gleichen 53 Vgl. Knoblich, G., Butterfill, S. & Sebanz, N., „Psychological research on joint action: Theory and data“, in The Psychology of Learning and Motivation, Ross, B.H. (Hrsg.), (Burlington, MA: Academic Press, 2011), 694–722. Danish Yearbook of Philosophy 54 (2021) 18-37 Downloaded from Brill.com02/09/2022 06:34:08AM via free access
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