Ein integratives Modell der Aneignung mobiler Kommunika-tionsdienste
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Ein integratives Modell der Aneignung mobiler Kommunikationsdienste 1 Ein integratives Modell der Aneignung mobiler Kommunika- tionsdienste Werner Wirth, Thilo von Pape, Veronika Karnowski Weitgehend unbeachtet von Medien und Wissenschaft hat die Mobilkom- munikation in Deutschland im Herbst 2006 einen Meilenstein ihrer Entwicklung erreicht: Wie die Bundesnetzagentur (2006) meldete, hat der Markt im dritten Quartal eine hundertprozentige Penetration erreicht - auf ca. 82 Millionen Deut- sche kommen mehr als 83 Millionen Mobilfunkanschlüsse. Spätestens mit die- sen Zahlen drängt sich die Frage auf, wie sich die Mobilkommunikation nun weiter entwickeln wird. Rein quantitativ betrachtet ist jenseits der 100%-Marke nur noch wenig Raum für Wachstum, denn ein Zweit- oder Drittanschluss wird wohl auch in Zukunft eher die Ausnahme bleiben. Die Dynamik des Mobilfunkmarktes ist aber ohnehin schon seit längerem nicht mehr an Nutzerzahlen allein zu messen. Zwar lässt sich deren bisherige Entwicklung fast exemplarisch durch eine s-förmige Diffusionskurve modellie- ren, aber damit unterschlägt man die zunehmende Bedeutung der qualitativen Dimension dieser Entwicklung. Vergleicht man etwa die ersten GSM-fähigen Geräte von 1992 mit einem heutigen Handy mit integrierter Kamera, Breitband- Internetanschluss und DVB-H-Empfang, so drängt sich die Frage auf, ob es sich überhaupt noch um dieselbe Innovation handelt. Zu den neuen technischen Funktionen kamen auch ungeahnte Anwendun- gen im Alltag hinzu, die das Mobiltelefon zum begehrten Mode-Accessoire, zu einer mobilen Spiel- und Unterhaltungsbox und zu einem multimedialen Bezie- hungsmanager machten (vgl. Katz 2002, Katz & Sugyiama 2006, Licoppe & Inada 2006, von Pape, Karnowski & Wirth 2006). Diese neuen Nutzungsweisen sind das Objekt der Hoffnungen und Sorgen nicht nur der Mobilfunkbetreiber, die ihre Milliardeninvestitionen in UMTS- Lizenzen wieder einspielen möchten, sondern auch sozialer Beobachter, die die gesellschaftlichen Folgen der Innovation hinterfragen (Ling 2004). Bevor die Nutzungsweisen des Handys aber bewertet werden, stellt sich zu- nächst die Frage, wie sie überhaupt erst zustande kommen. Zwei Forschungspa- radigmen befassen sich mit dieser Frage. Im Folgenden sollen diese Paradigmen in ihrer Gegensätzlichkeit und ihrer Komplementarität vorgestellt werden, um dann ein integratives Modell der Aneignung neuer Kommunikationsdienste zu entwickeln.
2 Wirth, von Pape, Karnowski Zwei Paradigmen der weiteren Entwicklung technischer Innovationen Die Frage, wie sich eine Innovation weiterentwickelt, wenn sie einmal die Entwicklungslabors verlassen hat und in die Hände der Nutzer gelangt ist, wird aus zwei theoretisch und methodisch so grundlegend unterschiedlichen Perspek- tiven untersucht, dass man von zwei Paradigmen sprechen kann. Die Ausrich- tungen beider Paradigmen lassen sich anhand der Phasen von Rogers‘ (2003) „Innovation-Decision-Process“ unterscheiden: Während die Adoptionsentschei- dung im Fokus des Adoptionsparadigmas liegt, ist die weitere Implementierung einer Innovation zentrales Interesse des Aneignungsparadigmas. Beide Para- digmen unterscheiden sich auch methodologisch; sie erweisen sich aber bei genauer Betrachtung als inhaltlich wie methodologisch komplementär. Adoptionsparadigma Konstitutives Merkmal des Adoptionsparadigmas ist seit den ersten Diffusi- onsstudien die Dichotomie zwischen Adoption und Ablehnung einer Innovation. Diese Dichotomie erlaubt es, die Verbreitung einer Innovation innerhalb eines sozialen Systems anhand einer Diffusionskurve zu verfolgen und auf quantitati- ve Art die für die Adoptionsentscheidung ausschlaggebenden Faktoren zu iden- tifizieren. Ein großer Teil der Studien in dieser Tradition bedient sich einer klassi- schen Methodologie, die seit den ersten Diffusionsstudien nahezu unverändert blieb: „1) quantitative data, 2) concerning a single innovation, 3) collected from adopters, 4) at a single point in time, 5) after widespread diffusion had taken place“ (Meyer 2004). Theoretisch lässt sich das Adoptionsparadigma durch zwei weitere Forschungstraditionen ergänzen: - Modelle aus der sozialpsychologischen Handlungstheorie erklären Adoption aus der Perspektive der potentiellen Nutzer. Hier sind vor al- lem die Theory of Planned Behavior (Ajzen1985) und das Technology Acceptance Model (Davis 1986) zu nennen. Auf dieser Grundlage wurde eine große Anzahl an Studien zur Adoption und Diffusion neuer Kommunikationsdienste durchgeführt (vgl. u.a. Schenk, Dahm & Šonje 1996, Hung, Ku & Chan 2003, Pedersen, Nysveen & Thorbjørnsen 2002). - Während TPB und TAM aus der Perspektive einzelner Nutzer heraus argumentieren, betrachtet soziale Netzwerkanalyse das Phänomen aus einem mesosozialen Blickwinkel heraus (Valente 2005): Wie beein- flusst die Struktur eines sozialen Systems die Diffusionsverläufe? Die- ser Ansatz greift Gedanken aus den ersten Diffusionsstudien auf, in de-
Ein integratives Modell der Aneignung mobiler Kommunikationsdienste 3 nen die Bedeutung von Meinungsführern untersucht wurde. Soziale Netzwerkanalyse geht aber theoretisch und methodisch darüber hinaus, indem sie über ein ganzes Netzwerk hinweg etwa beobachtet, wie sich adoptionsentscheidende Normen verbreiten (Kincaid 2004). Indem diese Ansätze stets die Dichotomie zwischen Adoption und Ableh- nung einer Innovation als zu erklärendes Verhalten betrachten, berücksichtigen sie nicht, dass sich eine Innovation auch im Laufe der Diffusion verändern kann. Einerseits entwickeln sich die technologischen Grundlagen mit jeder Gerätege- neration weiter und werden durch neue Funktionalitäten ergänzt; auf der ande- ren Seite ergeben sich auch aus der Implementierung einer Innovation in den Alltag der Nutzer neue Nutzungsweisen, die den Charakter einer Innovation vollkommen verändern können. Klassisches Beispiel für dieses Phänomen ist die SMS, deren soziale Nutzung – wie sie insbesondere durch Jugendliche ge- gen Ende der 90er Jahre entdeckt wurde – von den technischen Entwicklern nicht vorausgesehen war1. Zwar nimmt Rogers das Phänomen einer solchen „Reinvention“ in der dritten Ausgabe seines Standardwerkes auf (Rogers 1983), aufgrund seiner primären Fokussierung auf die Makroebene der sozialen Diffu- sion bleibt die binäre Adoptionsentscheidung jedoch weiterhin Kernpunkt seiner Theorie. Aneignungsparadigma Das Aneignungsparadigma blickt über die Adoptionsentscheidung hinaus, indem es den folgenden Fragen nachgeht: Wie integrieren Nutzer eine Innovati- on in ihren Alltag? Welchen Sinn geben sie ihr und wie nutzen sie sie konkret? Welche Motive begründen diese Nutzung? Die Grundidee, die aktive, gestaltende Rolle des Nutzers stärker zu berücksich- tigen findet sich in mehreren theoretischen Traditionen, wie etwa der Tech- niksoziologie (Bijker & Pinch 1984, Rammert 1993, Flichy 1995), Rahmenana- lyse (Goffman 1977), Domestication (Silverstone & Haddon 1996) oder auf Seiten der Kommunikationswissenschaft im Uses-and-Gratifications-Approach (Katz, Blumler & Gurevitch 1974) wieder. - Grundgedanke des Domestication-Ansatzes ist die Zähmung der „wil- den“ Technologie durch die Nutzer. Diese integrieren eine Technologie 1 So berichtet der Vorsitzende Firma CMG, die maßgeblich an der Erfindung der SMS beteiligt war, Cor Stutterheim: „When we created SMS (Short Messaging Service) it was not really meant to communicate from consumer to consumer and certainly not meant to become the main channel which the younger generation would use to communicate with each other“ (Wray 2002).
4 Wirth, von Pape, Karnowski in ihre Alltagsroutinen (incorporation) und ihre räumliche Umgebung (objectification) und eignen sich die Technologie schließlich auch symbolisch an, indem sie sich damit vor anderen Menschen zeigen und darüber sprechen (conversion) (Silverstone & Haddon 1996, Berker, Hartmann, Punie & Ward 2005). - Rahmenanalyse betrachtet das Aushandeln von Nutzungsweisen einer Technologie. So wurde die Nutzung des Mobiltelefons durch bestimm- te Normen gerahmt, z.B. dass man in einem Restaurant nicht laut tele- foniert (vgl. Goffmann 1977, Ling 2004, Taylor & Harper 2003). - Auch der Uses-and-Gratifications-Approach (UGA) als klassischer kommunikationswissenschaftlicher Ansatz wurde in den letzten Jahren zunehmend auf neue Technologien angewandt. So wurden verschiede- ne neue Motive der Nutzung neuer Kommunikationsdienste identifi- ziert oder auch die Existenz von aus den Massenmedien bekannten Motiven bestätigt (vgl. Trepte, Ranné & Becker 2003, Dimick, Kline & Stafford 2000, Höflich & Rössler 2001, Leung & Wei 2000, Peters & ben Allouch 2005, Wei im Druck). Insgesamt liegen die Stärken des Aneignungsparadigmas in seiner größeren Offenheit für das weite Spektrum an möglichen Nutzungsformen und –Motiven im Alltag im Gegensatz zur starren Dichotomie, auf die das Adoptionsparadig- ma immer wieder zurückfällt. Diese Offenheit wird ermöglicht durch eine – einmal abgesehen von UGA2 – sehr flexible, qualitative Methodologie, etwa in Form von Leitfadeninterviews oder Ethnographie. Diese qualitativen Methoden ziehen allerdings den Vorwurf an sich, schwer generalisierbar und empirisch überprüfbar zu sein. Schlussfolgerungen für die Entwicklung eines integrativen Modells der Aneignung neuer Kommunikationsdienste Wie bereits gezeigt, hat jeder der angeführten Ansätze seine Stärken und Schwächen bei der Modellierung von Diffusion und Aneignung neuer Kommu- 2 Im Uses-and-Gratifications-Approach werden zwar in der Regel geschlossene, standardisierte Befragungen durchgeführt. Qualitative Methoden können aber auch zum Einsatz kommen, um in Vorstudien grundlegende Gratifikationsdimensionen zu ermitteln (vgl. McQuail, Blum- ler & Brown 1972).
Ein integratives Modell der Aneignung mobiler Kommunikationsdienste 5 nikationsdienste. Eine Integration der Ansätze scheint somit sinnvoll. Die Kern- punkte einer derartigen Integration sind die folgenden (vgl. Karnowski, von Pape & Wirth 2006): 1. Der Prozess der Diffusion und Aneignung ist nicht zwingend ein li- nearer. Darauf weisen sowohl Re-Invention-Forschung, also auch verschiede Ansätze von Seiten des Aneignungsparadigmas hin. An- eignung ist somit ein aktiver und kreativer Prozess der in individuel- le Nutzungs- und Bedeutungsmuster mündet. 2. Diffusion und Aneignung sind nicht unabhängig von sozialen Fakto- ren wie Kultur oder Normen. Handlungstheoretische Ansätze können helfen Aneignung in ihrem sozialen Kontext zu begreifen. 3. Ein integratives Aneignungsmodell muss auch den Einfluss von Kommunikation auf den Aneignungsprozess beschreiben. Dieser Ein- fluss konnte bereits in vielen Studien nachgewiesen werden (vgl. u.a. Silverstone & Haddon 1996, Habib & Cornford 2002, Lehtonen 2003, Höflich 2003, Oksmann & Turtiainen 2004, von Pape et al. 2006) 4. Insbesondere Studien von Seiten des Aneignungsparadigmas (Habib & Cornford 2002, Lehtonen 2003) und UGA-Studien (Oksmann & Turtiainen 2004) betonen den symbolischen Wert neuer Kommunika- tionsdienste. Mobiltelefone und der Umgang mit ihnen können die soziale Position in der Gruppe unterstützen und sind Werkzeuge der Selbstdarstellung und Selbstergänzung. 5. Der Einfluss sozialer Netzwerke auf die Adoption neuer Kommuni- kationsdienste wurde bereits in diversen Studien belegt (Schenk et al. 1996, Rogers 2004, Valente 2005). Die Rolle sozialer Netzwerke im Prozess der Aneignung bleibt jedoch noch unklar. Studien mit Tee- angern unterstreichen die Wichtigkeit von Meinungsführern und „weak ties“ (Taylor & Harper 2002, von Pape, Karnowski & Wirth 2006, Granovetter 1973). Im Gegensatz zu den Ergebnissen von Schenk et al. (1996) könnte dieser Einfluss in späteren Lebensphasen zurückgehen. Möglicherweise wird dieser Diskurs dann nicht mehr direkt ausgetragen, sondern antizipiert. Hierbei stellen massenmedia- le Rollenmodelle und kultivierte Wertvorstellungen möglicherweise die Quelle für derartige Antizipationen dar (Bandura 1979, Shrum & O’Guinn 1993) Entwicklung des Mobile Phone Appropriation-Modells
6 Wirth, von Pape, Karnowski Ein integratives Aneignungsmodell sollte also sowohl individuelle wie auch soziale Faktoren beinhalten, ein breites Spektrum an Nutzungen und Bedeutun- gen umfassen und gleichzeitig empirisch überprüfbar bleiben (vgl. Karnowski, von Pape & Wirth 2006). Im folgenden Abschnitt stellen wir schrittweise unser Vorgehen dar, um zu einem derartigen Modell zu gelangen. Dabei rechtfertigen wir jedes neue Element in seiner theoretischen Einbettung, um so eine eklekti- sche Kombination theoretisch inkompatibler Fragmente zu vermeiden. Ausgangspunkt des „Mobile Phone Appropriation-Modells“ (MPA-Modell) ist die Theory of Planned Behavior (Ajzen 1985, 1991) als ein etablierter Ansatz zur Erklärung individuellen Verhaltens (Abb. 1). Um den Prozess der Aneig- nung modellieren zu können, wird das Modell in fünf Schritten weiterentwi- ckelt: 1) Ausdifferenzierung der abhängigen Variablen, 2) Ausdifferenzierung der das Verhalten beeinflussenden Variablen, 3) Einbeziehung von Metakom- munikation, 4) zirkuläre Struktur des Modells 5) Ausblenden der Verhaltensab- sicht (Abb. 2). Abb. 1: Theory of Planned Behavior (Ajzen 2005) 1) Ausdifferenzierung der abhängigen Variable Die abhängige Variable in TPB-Modellen ist zumeist binär oder aber zu- mindest eindimensional. Um das Phänomen der Aneignung in seiner Breite erfassen zu können, erweitern wir diesen „Endpunkt“ der Aneignung in einen mehrdimensionalen Nutzungsbegriff. Dabei unterscheiden wir grundsätzlich in funktionale und objektbezogene Nutzungsaspekte. Objektbezogene Nutzungsaspekte beziehen sich auf die konkreten techni- schen Optionen, die dem Nutzer zur Verfügung stehen, wie SMS, Telefonie,
Ein integratives Modell der Aneignung mobiler Kommunikationsdienste 7 Mobile-TV usw.: Welche unter ihnen verwendet er überhaupt, und in welchem Ausmaß verwendet er sie? Wie häufig und dauerhaft verwendet er diese einzel- nen Funktionalitäten? In wie weit verändert er das Objekt Mobiltelefon durch Klingeltöne oder andere modische Accessoires? Der funktionale Aspekt der Nutzung differenziert sich weiter in pragmati- sche wie symbolische Nutzen. Die pragmatische Nutzungsdimension orientiert sich dabei im Kern an den aus UGA-Studien bekannten Nutzungsmotiven (vgl. u.a. Peters & ben Allouch 2005, Leung & Wei 2000, Süss 2004, Trepte et al., 2003), im Einzelnen sind dies: „Ablenkung/Zeitvertreib“, „Alltagsmanage- ment“, „Kontaktpflege“ und „Kontrolle“. Der symbolische Aspekt der Nutzung umfasst einen Bereich der in diversen UGA-Studien bereits im Rahmen von Nutzungsmotiven wie „Status“ (Trepte et al. 2003, Leung & Wei 2000, Peters & ben Allouch 2005) anklingt, jedoch nicht weiter verfolgt wird. Auch diverse Studien zur Nutzung des Mobiltelefons aus anderen Forschungstraditionen als dem UGA bestätigen die Wichtigkeit des symbolischen Aspekts der Mobiltele- fonnutzung (vgl. Katz & Sugiyama 2006, Oksman & Rautiainen 2003, Ling 2003, von Pape, Karnowski & Wirth 2006). In Anlehnung an Mead (1973) differenzieren wir die symbolische funktionale Nutzung in Hinblick auf die psychologische Identität („Welchen Wert hat die Nutzung des Mobiltelefons für mein Selbst?“) und soziale Identität („Welchen Wert hat die Nutzung des Mo- biltelefons für mich in meinem sozialen Umfeld?“). 2) Ausdifferenzierung der das Verhalten beeinflussenden Variablen Gemäß der TPB wird das Verhalten durch folgende Faktoren beeinflusst: Einstellung gegenüber dem Verhalten, Normen und Verhaltenskontrolle. Um der Ausdifferenzierung auf Seiten der abhängigen Variablen gerecht zu werden, müssen auch diese unabhängigen Variablen weiter ausdifferenziert werden. In diesem Sinne wird die Einstellung gegenüber dem Verhalten entspre- chend den beschriebenen Nutzungsaspekten und -dimensionen unterschieden. Im Gegensatz zur tatsächlichen Nutzung sind diese Einstellungen nicht mit konkreten Alltagsszenarien verbunden, sondern auf einer höheren Abstraktions- ebene angesiedelt. Die normenbezogenen Einstellungen stellen das Produkt der wahrgenom- menen Normen in Hinblick auf Handynutzung und der Bereitschaft, diesen Normen zu entsprechen, dar. Die Normen können sich sowohl auf die objektori- entierte, als auch auf die funktionale Nutzung beziehen. Schließlich beziehen sich die Einstellungen zur Verhaltenskontrolle auf spezifische (zeitliche, kognitive, finanzielle, technische) Restriktionen in der Handy-Nutzung. Diese Restriktionen wirken sich in erster Linie auf die objekt- bezogene Nutzung aus und erst über diese auch auf die funktionale Nutzung. 3) Einbeziehung von Metakommunikation
8 Wirth, von Pape, Karnowski Eine Kritik an der TPB bezieht sich auf die Tatsache, dass ihre unabhängi- gen Variablen (Erwartungen und Bewertungen in Hinblick auf Verhalten, Nor- men und Restriktionen) als statisch betrachtet werden (Jonas & Doll 1996), während man erwarten kann, dass diese sich durchaus über die Zeit ändern. Gerade in Hinblick auf Mobilkommunikation zeigt eine große Zahl an Studien, dass sich im Laufe der Diffusion und Nutzung die Erwartungen und Bewertun- gen verändern. Dieser Prozess wird von den unterschiedlichen Ansätzen des Aneignungsparadigmas als „Rahmenverhandlungen“ (Höflich 2003), „Conver- sion“ (Silverstone & Haddon 1996), „Social Shaping“ (Bijker, & Pinch 1984) und „Aushandeln von soziotechnischen Rahmen“ (Flichy 1995) bezeichnet. Diese Ansätze und Metaphern haben gemeinsam, dass sie einen Prozess der Kommunikation über die Nutzung einer Innovation beschreiben – den wir als „Metakommunikation“ bezeichnen, weil es die Kommunikation über Kommu- nikationsmittel ist. Metakommunikation stellt den „Katalysator“ der Aneignung dar, da sie den Aneignungsprozess vorantreibt und dann im Laufe des Aneignungsprozesses zurück geht (Wirth, von Pape, Karnowski 2005, vgl. Hepp 1998, S. 97). Me- takommunikation findet sowohl durch interpersonale als auch durch massenme- diale Kommunikation und Beobachtung statt. 4) Zirkuläre Struktur des Modells Schließlich ist Aneignung im Gegensatz zu Adoption kein einmaliger, linea- rer Prozess, der mit einer Übernahme oder Ablehnung abgeschlossen wäre, sondern vielmehr ein kontinuierlicher und zirkulärer: Wenn eine Innovation auf den Markt kommt und ein Nutzer sie auf eine bestimmte Weise zum ersten Mal einsetzt, dann wird er nicht für immer bei dieser Nutzung bleiben. Er wird viel- mehr mit anderen darüber sprechen, über deren Reaktion und deren eigene Nut- zung derselben Innovation, und er wird auch die medienvermittelte Metakom- munikation zu dem Thema wahrnehmen, welche auf andere Nutzer wie ihn Bezug nimmt. Auf dieser Basis wird er seine funktionale und normative Einstel- lung zur Nutzung sowie seine Kontrolleinschätzung vielleicht überdenken und dann auch andere Nutzungsformen entwickeln oder übernehmen, welche dann wiederum neue Metakommunikation nach sich ziehen. Um diesem zirkulären Verlauf der Aneignung gerecht zu werden, ist das Aneignungsmodell zirkulär angelegt (vgl. Abb. 2). 5) Ausblenden der Verhaltensabsicht In der TPB gilt „Intention” als zentrale Variable zwischen den Einflussfak- toren und dem tatsächlichen Verhalten. Obwohl wir die Bedeutung dieser Vari- able als hinreichend belegt betrachten, haben wir sie nicht in das Aneignungs- modell integriert, da die qualitative Ausdifferenzierung von Nutzungsverhalten in unserem Model eine entsprechende Ausdifferenzierung von Intentionen ver-
Ein integratives Modell der Aneignung mobiler Kommunikationsdienste 9 langen würde, die sich nicht unter einem solchen Konstrukt zusammenfassen ließe. Eine „Intention“ für jede spezifische Form der Aneignung würde in das MPA-Modell eingebunden werden müssen, was zu einer Überkomplexität des Modells führen würde. Dabei scheinen die Entscheidungen für bestimmte Teil- formen der Aneignung mit wesentlich weniger kognitivem Aufwand gefällt, als dies bei klassischen, binären Adoptionsentscheidungen der Fall ist. So lässt sich Aneignung als eine lange Serie geringer, oft wenig reflektierter Stufen denken. Ob diese Begründungen „Intention“ nicht in das Modell aufzunehmen aus- reichen, beleibt in unseren Augen schlussendlich eine empirische Frage. Abb. 2: Mobile Phone Appropriation-Modell (MPA-Modell) Resümee und Ausblick
10 Wirth, von Pape, Karnowski Das dargestellte integrative Mobile Phone Appropriation-Modell ist der Kern eines Projektes zur Integration scheinbar unvereinbarer Ansätze zur Adop- tion und Aneignung von Innovationen im Bereich mobiler Kommunikation. Wenn auch die Grundstruktur einem quantitativen, standardisierten Vorgehen entspricht, wurden Befunde aus der qualitativen Forschung berücksichtigt und einbezogen. Das Modell wurde bereits in eine integrative Skala der Aneignung neuer Kommunikationsdienste operationalisiert und diese Skala in einer ersten Studie zur Differenzierung von Handy-Nutzertypen per Cluster-Analyse angewendet (von Pape, Karnowski & Wirth 2007). Weiterführende Fragen wären: - Gibt es Phasen des Aneignungsprozesses? Hierzu wurden bereits erste Längsschnittstudien durchgeführt (vgl. auch von Pape, Karnowski, Wirth, Klimmt, 2007). - Wie gestaltet sich die Metakommunikation als „Katalysator“ der An- eignung? Diese Frage wird derzeit sowohl in Hinblick auf massenme- diale Metakommunikation, als auch auf interpersonale Metakommuni- kation innerhalb sozialer Netzwerke hin untersucht. Modell und Skala sind für die Mobilkommunikation optimiert, lassen sich aber auch auf andere Innovationen übertragen, insbesondere, wenn diese einer sozialen Dynamik unterworfen sind (kritische Masse), hohe symbolische Bedeu- tung tragen und schnellen technologischen Wandel erfahren. Die Komplexität des empirischen Phänomens der jeweiligen Aneignung verbieten aber, Modell und Skala unmittelbar auf andere Phänomene zu übertra- gen. Vielmehr sollte das Modell als Grundgerüst betrachtet werden, dessen jeweilige Konstrukte (etwa die Dimensionen der funktionalen Nutzung) bei jeder Innovation möglichst von Grund auf und mit Rückgriff auf quantitative und qualitative Methoden neu ermittelt werden.
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