Ein integratives Modell der Aneignung mobiler Kommunika-tionsdienste

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Ein integratives Modell der Aneignung mobiler Kommunikationsdienste           1

Ein integratives Modell der Aneignung mobiler Kommunika-
tionsdienste
Werner Wirth, Thilo von Pape, Veronika Karnowski

     Weitgehend unbeachtet von Medien und Wissenschaft hat die Mobilkom-
munikation in Deutschland im Herbst 2006 einen Meilenstein ihrer Entwicklung
erreicht: Wie die Bundesnetzagentur (2006) meldete, hat der Markt im dritten
Quartal eine hundertprozentige Penetration erreicht - auf ca. 82 Millionen Deut-
sche kommen mehr als 83 Millionen Mobilfunkanschlüsse. Spätestens mit die-
sen Zahlen drängt sich die Frage auf, wie sich die Mobilkommunikation nun
weiter entwickeln wird. Rein quantitativ betrachtet ist jenseits der 100%-Marke
nur noch wenig Raum für Wachstum, denn ein Zweit- oder Drittanschluss wird
wohl auch in Zukunft eher die Ausnahme bleiben.
     Die Dynamik des Mobilfunkmarktes ist aber ohnehin schon seit längerem
nicht mehr an Nutzerzahlen allein zu messen. Zwar lässt sich deren bisherige
Entwicklung fast exemplarisch durch eine s-förmige Diffusionskurve modellie-
ren, aber damit unterschlägt man die zunehmende Bedeutung der qualitativen
Dimension dieser Entwicklung. Vergleicht man etwa die ersten GSM-fähigen
Geräte von 1992 mit einem heutigen Handy mit integrierter Kamera, Breitband-
Internetanschluss und DVB-H-Empfang, so drängt sich die Frage auf, ob es sich
überhaupt noch um dieselbe Innovation handelt.
     Zu den neuen technischen Funktionen kamen auch ungeahnte Anwendun-
gen im Alltag hinzu, die das Mobiltelefon zum begehrten Mode-Accessoire, zu
einer mobilen Spiel- und Unterhaltungsbox und zu einem multimedialen Bezie-
hungsmanager machten (vgl. Katz 2002, Katz & Sugyiama 2006, Licoppe &
Inada 2006, von Pape, Karnowski & Wirth 2006).
     Diese neuen Nutzungsweisen sind das Objekt der Hoffnungen und Sorgen
nicht nur der Mobilfunkbetreiber, die ihre Milliardeninvestitionen in UMTS-
Lizenzen wieder einspielen möchten, sondern auch sozialer Beobachter, die die
gesellschaftlichen Folgen der Innovation hinterfragen (Ling 2004).
     Bevor die Nutzungsweisen des Handys aber bewertet werden, stellt sich zu-
nächst die Frage, wie sie überhaupt erst zustande kommen. Zwei Forschungspa-
radigmen befassen sich mit dieser Frage. Im Folgenden sollen diese Paradigmen
in ihrer Gegensätzlichkeit und ihrer Komplementarität vorgestellt werden, um
dann ein integratives Modell der Aneignung neuer Kommunikationsdienste zu
entwickeln.
2                                                    Wirth, von Pape, Karnowski

   Zwei Paradigmen der weiteren Entwicklung technischer
Innovationen
    Die Frage, wie sich eine Innovation weiterentwickelt, wenn sie einmal die
Entwicklungslabors verlassen hat und in die Hände der Nutzer gelangt ist, wird
aus zwei theoretisch und methodisch so grundlegend unterschiedlichen Perspek-
tiven untersucht, dass man von zwei Paradigmen sprechen kann. Die Ausrich-
tungen beider Paradigmen lassen sich anhand der Phasen von Rogers‘ (2003)
„Innovation-Decision-Process“ unterscheiden: Während die Adoptionsentschei-
dung im Fokus des Adoptionsparadigmas liegt, ist die weitere Implementierung
einer Innovation zentrales Interesse des Aneignungsparadigmas. Beide Para-
digmen unterscheiden sich auch methodologisch; sie erweisen sich aber bei
genauer Betrachtung als inhaltlich wie methodologisch komplementär.

     Adoptionsparadigma
     Konstitutives Merkmal des Adoptionsparadigmas ist seit den ersten Diffusi-
onsstudien die Dichotomie zwischen Adoption und Ablehnung einer Innovation.
Diese Dichotomie erlaubt es, die Verbreitung einer Innovation innerhalb eines
sozialen Systems anhand einer Diffusionskurve zu verfolgen und auf quantitati-
ve Art die für die Adoptionsentscheidung ausschlaggebenden Faktoren zu iden-
tifizieren.
     Ein großer Teil der Studien in dieser Tradition bedient sich einer klassi-
schen Methodologie, die seit den ersten Diffusionsstudien nahezu unverändert
blieb: „1) quantitative data, 2) concerning a single innovation, 3) collected from
adopters, 4) at a single point in time, 5) after widespread diffusion had taken
place“ (Meyer 2004). Theoretisch lässt sich das Adoptionsparadigma durch
zwei weitere Forschungstraditionen ergänzen:
      - Modelle aus der sozialpsychologischen Handlungstheorie erklären
          Adoption aus der Perspektive der potentiellen Nutzer. Hier sind vor al-
          lem die Theory of Planned Behavior (Ajzen1985) und das Technology
          Acceptance Model (Davis 1986) zu nennen. Auf dieser Grundlage
          wurde eine große Anzahl an Studien zur Adoption und Diffusion neuer
          Kommunikationsdienste durchgeführt (vgl. u.a. Schenk, Dahm & Šonje
          1996, Hung, Ku & Chan 2003, Pedersen, Nysveen & Thorbjørnsen
          2002).
      - Während TPB und TAM aus der Perspektive einzelner Nutzer heraus
          argumentieren, betrachtet soziale Netzwerkanalyse das Phänomen aus
          einem mesosozialen Blickwinkel heraus (Valente 2005): Wie beein-
          flusst die Struktur eines sozialen Systems die Diffusionsverläufe? Die-
          ser Ansatz greift Gedanken aus den ersten Diffusionsstudien auf, in de-
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          nen die Bedeutung von Meinungsführern untersucht wurde. Soziale
          Netzwerkanalyse geht aber theoretisch und methodisch darüber hinaus,
          indem sie über ein ganzes Netzwerk hinweg etwa beobachtet, wie sich
          adoptionsentscheidende Normen verbreiten (Kincaid 2004).
     Indem diese Ansätze stets die Dichotomie zwischen Adoption und Ableh-
nung einer Innovation als zu erklärendes Verhalten betrachten, berücksichtigen
sie nicht, dass sich eine Innovation auch im Laufe der Diffusion verändern kann.
Einerseits entwickeln sich die technologischen Grundlagen mit jeder Gerätege-
neration weiter und werden durch neue Funktionalitäten ergänzt; auf der ande-
ren Seite ergeben sich auch aus der Implementierung einer Innovation in den
Alltag der Nutzer neue Nutzungsweisen, die den Charakter einer Innovation
vollkommen verändern können. Klassisches Beispiel für dieses Phänomen ist
die SMS, deren soziale Nutzung – wie sie insbesondere durch Jugendliche ge-
gen Ende der 90er Jahre entdeckt wurde – von den technischen Entwicklern
nicht vorausgesehen war1. Zwar nimmt Rogers das Phänomen einer solchen
„Reinvention“ in der dritten Ausgabe seines Standardwerkes auf (Rogers 1983),
aufgrund seiner primären Fokussierung auf die Makroebene der sozialen Diffu-
sion bleibt die binäre Adoptionsentscheidung jedoch weiterhin Kernpunkt seiner
Theorie.

    Aneignungsparadigma
    Das Aneignungsparadigma blickt über die Adoptionsentscheidung hinaus,
indem es den folgenden Fragen nachgeht: Wie integrieren Nutzer eine Innovati-
on in ihren Alltag? Welchen Sinn geben sie ihr und wie nutzen sie sie konkret?
Welche Motive begründen diese Nutzung?
Die Grundidee, die aktive, gestaltende Rolle des Nutzers stärker zu berücksich-
tigen findet sich in mehreren theoretischen Traditionen, wie etwa der Tech-
niksoziologie (Bijker & Pinch 1984, Rammert 1993, Flichy 1995), Rahmenana-
lyse (Goffman 1977), Domestication (Silverstone & Haddon 1996) oder auf
Seiten der Kommunikationswissenschaft im Uses-and-Gratifications-Approach
(Katz,	
  Blumler	
  &	
  Gurevitch	
  1974) wieder.	
  
     - Grundgedanke des Domestication-Ansatzes ist die Zähmung der „wil-
            den“ Technologie durch die Nutzer. Diese integrieren eine Technologie

1 So berichtet der Vorsitzende Firma CMG, die maßgeblich an der Erfindung der SMS beteiligt war,
      Cor Stutterheim: „When we created SMS (Short Messaging Service) it was not really meant
      to communicate from consumer to consumer and certainly not meant to become the main
      channel which the younger generation would use to communicate with each other“ (Wray
      2002).
4                                                           Wirth, von Pape, Karnowski

          in ihre Alltagsroutinen (incorporation) und ihre räumliche Umgebung
          (objectification) und eignen sich die Technologie schließlich auch
          symbolisch an, indem sie sich damit vor anderen Menschen zeigen und
          darüber sprechen (conversion) (Silverstone & Haddon 1996, Berker,
          Hartmann, Punie & Ward 2005).
     -    Rahmenanalyse betrachtet das Aushandeln von Nutzungsweisen einer
          Technologie. So wurde die Nutzung des Mobiltelefons durch bestimm-
          te Normen gerahmt, z.B. dass man in einem Restaurant nicht laut tele-
          foniert (vgl. Goffmann 1977, Ling 2004, Taylor & Harper 2003).
     -    Auch der Uses-and-Gratifications-Approach (UGA) als klassischer
          kommunikationswissenschaftlicher Ansatz wurde in den letzten Jahren
          zunehmend auf neue Technologien angewandt. So wurden verschiede-
          ne neue Motive der Nutzung neuer Kommunikationsdienste identifi-
          ziert oder auch die Existenz von aus den Massenmedien bekannten
          Motiven bestätigt (vgl. Trepte, Ranné & Becker 2003, Dimick, Kline &
          Stafford 2000, Höflich & Rössler 2001, Leung & Wei 2000, Peters &
          ben Allouch 2005, Wei im Druck).
Insgesamt liegen die Stärken des Aneignungsparadigmas in seiner größeren
Offenheit für das weite Spektrum an möglichen Nutzungsformen und –Motiven
im Alltag im Gegensatz zur starren Dichotomie, auf die das Adoptionsparadig-
ma immer wieder zurückfällt. Diese Offenheit wird ermöglicht durch eine –
einmal abgesehen von UGA2 – sehr flexible, qualitative Methodologie, etwa in
Form von Leitfadeninterviews oder Ethnographie. Diese qualitativen Methoden
ziehen allerdings den Vorwurf an sich, schwer generalisierbar und empirisch
überprüfbar zu sein.

  Schlussfolgerungen für die Entwicklung eines integrativen
Modells der Aneignung neuer Kommunikationsdienste
   Wie bereits gezeigt, hat jeder der angeführten Ansätze seine Stärken und
Schwächen bei der Modellierung von Diffusion und Aneignung neuer Kommu-

2 Im Uses-and-Gratifications-Approach werden zwar in der Regel geschlossene, standardisierte
     Befragungen durchgeführt. Qualitative Methoden können aber auch zum Einsatz kommen,
     um in Vorstudien grundlegende Gratifikationsdimensionen zu ermitteln (vgl. McQuail, Blum-
     ler & Brown 1972).
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nikationsdienste. Eine Integration der Ansätze scheint somit sinnvoll. Die Kern-
punkte einer derartigen Integration sind die folgenden (vgl. Karnowski, von
Pape & Wirth 2006):
    1.     Der Prozess der Diffusion und Aneignung ist nicht zwingend ein li-
           nearer. Darauf weisen sowohl Re-Invention-Forschung, also auch
           verschiede Ansätze von Seiten des Aneignungsparadigmas hin. An-
           eignung ist somit ein aktiver und kreativer Prozess der in individuel-
           le Nutzungs- und Bedeutungsmuster mündet.
    2.     Diffusion und Aneignung sind nicht unabhängig von sozialen Fakto-
           ren wie Kultur oder Normen. Handlungstheoretische Ansätze können
           helfen Aneignung in ihrem sozialen Kontext zu begreifen.
    3.     Ein integratives Aneignungsmodell muss auch den Einfluss von
           Kommunikation auf den Aneignungsprozess beschreiben. Dieser Ein-
           fluss konnte bereits in vielen Studien nachgewiesen werden (vgl. u.a.
           Silverstone & Haddon 1996, Habib & Cornford 2002, Lehtonen
           2003, Höflich 2003, Oksmann & Turtiainen 2004, von Pape et al.
           2006)
    4.     Insbesondere Studien von Seiten des Aneignungsparadigmas (Habib
           & Cornford 2002, Lehtonen 2003) und UGA-Studien (Oksmann &
           Turtiainen 2004) betonen den symbolischen Wert neuer Kommunika-
           tionsdienste. Mobiltelefone und der Umgang mit ihnen können die
           soziale Position in der Gruppe unterstützen und sind Werkzeuge der
           Selbstdarstellung und Selbstergänzung.
    5.     Der Einfluss sozialer Netzwerke auf die Adoption neuer Kommuni-
           kationsdienste wurde bereits in diversen Studien belegt (Schenk et al.
           1996, Rogers 2004, Valente 2005). Die Rolle sozialer Netzwerke im
           Prozess der Aneignung bleibt jedoch noch unklar. Studien mit Tee-
           angern unterstreichen die Wichtigkeit von Meinungsführern und
           „weak ties“ (Taylor & Harper 2002, von Pape, Karnowski & Wirth
           2006, Granovetter 1973). Im Gegensatz zu den Ergebnissen von
           Schenk et al. (1996) könnte dieser Einfluss in späteren Lebensphasen
           zurückgehen. Möglicherweise wird dieser Diskurs dann nicht mehr
           direkt ausgetragen, sondern antizipiert. Hierbei stellen massenmedia-
           le Rollenmodelle und kultivierte Wertvorstellungen möglicherweise
           die Quelle für derartige Antizipationen dar (Bandura 1979, Shrum &
           O’Guinn 1993)

Entwicklung des Mobile Phone Appropriation-Modells
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     Ein integratives Aneignungsmodell sollte also sowohl individuelle wie auch
soziale Faktoren beinhalten, ein breites Spektrum an Nutzungen und Bedeutun-
gen umfassen und gleichzeitig empirisch überprüfbar bleiben (vgl. Karnowski,
von Pape & Wirth 2006). Im folgenden Abschnitt stellen wir schrittweise unser
Vorgehen dar, um zu einem derartigen Modell zu gelangen. Dabei rechtfertigen
wir jedes neue Element in seiner theoretischen Einbettung, um so eine eklekti-
sche Kombination theoretisch inkompatibler Fragmente zu vermeiden.
     Ausgangspunkt des „Mobile Phone Appropriation-Modells“ (MPA-Modell)
ist die Theory of Planned Behavior (Ajzen 1985, 1991) als ein etablierter Ansatz
zur Erklärung individuellen Verhaltens (Abb. 1). Um den Prozess der Aneig-
nung modellieren zu können, wird das Modell in fünf Schritten weiterentwi-
ckelt: 1) Ausdifferenzierung der abhängigen Variablen, 2) Ausdifferenzierung
der das Verhalten beeinflussenden Variablen, 3) Einbeziehung von Metakom-
munikation, 4) zirkuläre Struktur des Modells 5) Ausblenden der Verhaltensab-
sicht (Abb. 2).

Abb. 1: Theory of Planned Behavior (Ajzen 2005)

    1) Ausdifferenzierung der abhängigen Variable
    Die abhängige Variable in TPB-Modellen ist zumeist binär oder aber zu-
mindest eindimensional. Um das Phänomen der Aneignung in seiner Breite
erfassen zu können, erweitern wir diesen „Endpunkt“ der Aneignung in einen
mehrdimensionalen Nutzungsbegriff. Dabei unterscheiden wir grundsätzlich in
funktionale und objektbezogene Nutzungsaspekte.
    Objektbezogene Nutzungsaspekte beziehen sich auf die konkreten techni-
schen Optionen, die dem Nutzer zur Verfügung stehen, wie SMS, Telefonie,
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Mobile-TV usw.: Welche unter ihnen verwendet er überhaupt, und in welchem
Ausmaß verwendet er sie? Wie häufig und dauerhaft verwendet er diese einzel-
nen Funktionalitäten? In wie weit verändert er das Objekt Mobiltelefon durch
Klingeltöne oder andere modische Accessoires?
     Der funktionale Aspekt der Nutzung differenziert sich weiter in pragmati-
sche wie symbolische Nutzen. Die pragmatische Nutzungsdimension orientiert
sich dabei im Kern an den aus UGA-Studien bekannten Nutzungsmotiven (vgl.
u.a. Peters & ben Allouch 2005, Leung & Wei 2000, Süss 2004, Trepte et al.,
2003), im Einzelnen sind dies: „Ablenkung/Zeitvertreib“, „Alltagsmanage-
ment“, „Kontaktpflege“ und „Kontrolle“. Der symbolische Aspekt der Nutzung
umfasst einen Bereich der in diversen UGA-Studien bereits im Rahmen von
Nutzungsmotiven wie „Status“ (Trepte et al. 2003, Leung & Wei 2000, Peters &
ben Allouch 2005) anklingt, jedoch nicht weiter verfolgt wird. Auch diverse
Studien zur Nutzung des Mobiltelefons aus anderen Forschungstraditionen als
dem UGA bestätigen die Wichtigkeit des symbolischen Aspekts der Mobiltele-
fonnutzung (vgl. Katz & Sugiyama 2006, Oksman & Rautiainen 2003, Ling
2003, von Pape, Karnowski & Wirth 2006). In Anlehnung an Mead (1973)
differenzieren wir die symbolische funktionale Nutzung in Hinblick auf die
psychologische Identität („Welchen Wert hat die Nutzung des Mobiltelefons für
mein Selbst?“) und soziale Identität („Welchen Wert hat die Nutzung des Mo-
biltelefons für mich in meinem sozialen Umfeld?“).
     2) Ausdifferenzierung der das Verhalten beeinflussenden Variablen
     Gemäß der TPB wird das Verhalten durch folgende Faktoren beeinflusst:
Einstellung gegenüber dem Verhalten, Normen und Verhaltenskontrolle. Um
der Ausdifferenzierung auf Seiten der abhängigen Variablen gerecht zu werden,
müssen auch diese unabhängigen Variablen weiter ausdifferenziert werden.
     In diesem Sinne wird die Einstellung gegenüber dem Verhalten entspre-
chend den beschriebenen Nutzungsaspekten und -dimensionen unterschieden.
Im Gegensatz zur tatsächlichen Nutzung sind diese Einstellungen nicht mit
konkreten Alltagsszenarien verbunden, sondern auf einer höheren Abstraktions-
ebene angesiedelt.
     Die normenbezogenen Einstellungen stellen das Produkt der wahrgenom-
menen Normen in Hinblick auf Handynutzung und der Bereitschaft, diesen
Normen zu entsprechen, dar. Die Normen können sich sowohl auf die objektori-
entierte, als auch auf die funktionale Nutzung beziehen.
     Schließlich beziehen sich die Einstellungen zur Verhaltenskontrolle auf
spezifische (zeitliche, kognitive, finanzielle, technische) Restriktionen in der
Handy-Nutzung. Diese Restriktionen wirken sich in erster Linie auf die objekt-
bezogene Nutzung aus und erst über diese auch auf die funktionale Nutzung.
     3) Einbeziehung von Metakommunikation
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    Eine Kritik an der TPB bezieht sich auf die Tatsache, dass ihre unabhängi-
gen Variablen (Erwartungen und Bewertungen in Hinblick auf Verhalten, Nor-
men und Restriktionen) als statisch betrachtet werden (Jonas & Doll 1996),
während man erwarten kann, dass diese sich durchaus über die Zeit ändern.
Gerade in Hinblick auf Mobilkommunikation zeigt eine große Zahl an Studien,
dass sich im Laufe der Diffusion und Nutzung die Erwartungen und Bewertun-
gen verändern. Dieser Prozess wird von den unterschiedlichen Ansätzen des
Aneignungsparadigmas als „Rahmenverhandlungen“ (Höflich 2003), „Conver-
sion“ (Silverstone & Haddon 1996), „Social Shaping“ (Bijker, & Pinch 1984)
und „Aushandeln von soziotechnischen Rahmen“ (Flichy 1995) bezeichnet.
Diese Ansätze und Metaphern haben gemeinsam, dass sie einen Prozess der
Kommunikation über die Nutzung einer Innovation beschreiben – den wir als
„Metakommunikation“ bezeichnen, weil es die Kommunikation über Kommu-
nikationsmittel ist.
    Metakommunikation stellt den „Katalysator“ der Aneignung dar, da sie den
Aneignungsprozess vorantreibt und dann im Laufe des Aneignungsprozesses
zurück geht (Wirth, von Pape, Karnowski 2005, vgl. Hepp 1998, S. 97). Me-
takommunikation findet sowohl durch interpersonale als auch durch massenme-
diale Kommunikation und Beobachtung statt.
    4) Zirkuläre Struktur des Modells
    Schließlich ist Aneignung im Gegensatz zu Adoption kein einmaliger, linea-
rer Prozess, der mit einer Übernahme oder Ablehnung abgeschlossen wäre,
sondern vielmehr ein kontinuierlicher und zirkulärer: Wenn eine Innovation auf
den Markt kommt und ein Nutzer sie auf eine bestimmte Weise zum ersten Mal
einsetzt, dann wird er nicht für immer bei dieser Nutzung bleiben. Er wird viel-
mehr mit anderen darüber sprechen, über deren Reaktion und deren eigene Nut-
zung derselben Innovation, und er wird auch die medienvermittelte Metakom-
munikation zu dem Thema wahrnehmen, welche auf andere Nutzer wie ihn
Bezug nimmt. Auf dieser Basis wird er seine funktionale und normative Einstel-
lung zur Nutzung sowie seine Kontrolleinschätzung vielleicht überdenken und
dann auch andere Nutzungsformen entwickeln oder übernehmen, welche dann
wiederum neue Metakommunikation nach sich ziehen. Um diesem zirkulären
Verlauf der Aneignung gerecht zu werden, ist das Aneignungsmodell zirkulär
angelegt (vgl. Abb. 2).
    5) Ausblenden der Verhaltensabsicht
    In der TPB gilt „Intention” als zentrale Variable zwischen den Einflussfak-
toren und dem tatsächlichen Verhalten. Obwohl wir die Bedeutung dieser Vari-
able als hinreichend belegt betrachten, haben wir sie nicht in das Aneignungs-
modell integriert, da die qualitative Ausdifferenzierung von Nutzungsverhalten
in unserem Model eine entsprechende Ausdifferenzierung von Intentionen ver-
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langen würde, die sich nicht unter einem solchen Konstrukt zusammenfassen
ließe. Eine „Intention“ für jede spezifische Form der Aneignung würde in das
MPA-Modell eingebunden werden müssen, was zu einer Überkomplexität des
Modells führen würde. Dabei scheinen die Entscheidungen für bestimmte Teil-
formen der Aneignung mit wesentlich weniger kognitivem Aufwand gefällt, als
dies bei klassischen, binären Adoptionsentscheidungen der Fall ist. So lässt sich
Aneignung als eine lange Serie geringer, oft wenig reflektierter Stufen denken.
    Ob diese Begründungen „Intention“ nicht in das Modell aufzunehmen aus-
reichen, beleibt in unseren Augen schlussendlich eine empirische Frage.

Abb. 2: Mobile Phone Appropriation-Modell (MPA-Modell)

    Resümee und Ausblick
10                                                Wirth, von Pape, Karnowski

    Das dargestellte integrative Mobile Phone Appropriation-Modell ist der
Kern eines Projektes zur Integration scheinbar unvereinbarer Ansätze zur Adop-
tion und Aneignung von Innovationen im Bereich mobiler Kommunikation.
Wenn auch die Grundstruktur einem quantitativen, standardisierten Vorgehen
entspricht, wurden Befunde aus der qualitativen Forschung berücksichtigt und
einbezogen.
    Das Modell wurde bereits in eine integrative Skala der Aneignung neuer
Kommunikationsdienste operationalisiert und diese Skala in einer ersten Studie
zur Differenzierung von Handy-Nutzertypen per Cluster-Analyse angewendet
(von Pape, Karnowski & Wirth 2007). Weiterführende Fragen wären:
     - Gibt es Phasen des Aneignungsprozesses? Hierzu wurden bereits erste
         Längsschnittstudien durchgeführt (vgl. auch von Pape, Karnowski,
         Wirth, Klimmt, 2007).
     - Wie gestaltet sich die Metakommunikation als „Katalysator“ der An-
         eignung? Diese Frage wird derzeit sowohl in Hinblick auf massenme-
         diale Metakommunikation, als auch auf interpersonale Metakommuni-
         kation innerhalb sozialer Netzwerke hin untersucht.
    Modell und Skala sind für die Mobilkommunikation optimiert, lassen sich
aber auch auf andere Innovationen übertragen, insbesondere, wenn diese einer
sozialen Dynamik unterworfen sind (kritische Masse), hohe symbolische Bedeu-
tung tragen und schnellen technologischen Wandel erfahren.
    Die Komplexität des empirischen Phänomens der jeweiligen Aneignung
verbieten aber, Modell und Skala unmittelbar auf andere Phänomene zu übertra-
gen. Vielmehr sollte das Modell als Grundgerüst betrachtet werden, dessen
jeweilige Konstrukte (etwa die Dimensionen der funktionalen Nutzung) bei
jeder Innovation möglichst von Grund auf und mit Rückgriff auf quantitative
und qualitative Methoden neu ermittelt werden.
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