Eine Inhaltsanalyse über die Darstellung des "Anschlusses" an das Deutsche Reich 1938 in österreichischen Schulbüchern - DUO
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Eine Inhaltsanalyse über die Darstellung des „Anschlusses“ an das Deutsche Reich 1938 in österreichischen Schulbüchern Kari Skiaker Klech Masterarbeit in deutscher Kulturkunde Institut für Literatur, Kulturkunde und europäische Sprachen (ILOS) UNIVERSITÄT OSLO Mai 2020 Betreuer: Professor Thomas Sirges
Eine Inhaltsanalyse über die Darstellung des „Anschlusses“ an das Deutsche Reich 1938 in österreichischen Schulbüchern III
© Kari Skiaker Klech 2020 Eine Inhaltsanalyse über die Darstellung des „Anschlusses“ an das Deutsche Reich 1938 in österreichischen Schulbüchern Kari Skiaker Klech http://www.duo.uio.no/ IV
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Vorwort Als Erstes möchte ich mich bei meinem Betreuer Professor Thomas Sirges für seine guten Ratschläge bezüglich der Themenwahl und Gestaltung der Arbeit bedanken. Auch mit sprachlichen Verbesserungen ist er sehr behilflich gewesen, und ohne seine kompetente Unterstützung hätte es diese Arbeit nicht gegeben. Hier möchte ich mich zusätzlich bei Katharina Stiller, die als DAAD-Sprachassistentin bei der Universität Oslo arbeitete, für ihre Zeit und wertvolle Hinweise bedanken. Des Weiteren bin ich Christiana Broidl, die als Teilnehmerin an Erasmus in meiner Schule tätig war, für Korrektur und nützliche Hinweise sehr dankbar. Gerade mit eigenem Diplomstudium fertig konnte sie gute Tipps und wichtige Beiträge für diese Arbeit leisten. Ich möchte auch meinen Kollegen einen Dank aussprechen für ihre Zeit und Bereitschaft methodische, historische oder deutschsprachige Ansätze oder für mich wichtige Perspektive zu diskutieren. Einen Dank geht auch an die österreichische Schulbuchforschung für den wichtigen Beitrag mit der digitalen Zusendung vieler der Schulbücher im Korpus. Einen großen Dank richte ich an meinen Mann und meine drei Kinder für unentbehrliche Unterstützung, ihr Verständnis und ihre Ermutigung, und nicht zuletzt ihre Geduld. VII
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Inhaltsverzeichnis 1. Einleitung ............................................................................................................................ 1 1.1 Die Problemstellung .................................................................................................... 2 1.2 Aufbau der Arbeit ........................................................................................................ 3 2. Historischer Hintergrund .................................................................................................... 4 Der „Anschluss“ ................................................................................................................... 10 3. Inhaltsanalyse als Methode ............................................................................................... 12 3.1 Der Fragebogen .............................................................................................................. 17 3.2 Methodik – Bilder im Schulbuch.................................................................................... 19 3.3 Methodik – Akteure und ihre Bewertungen ................................................................... 20 3.4 Methodik – Gründe und Motive ..................................................................................... 22 3.5. Methodik – Folgen des „Anschlusses“ .......................................................................... 23 4. Das Schulbuchkorpus ........................................................................................................ 28 5. Auswertung des Fragebogens ........................................................................................... 30 5.1 Auswertung der Fragen 1-10 ..................................................................................... 30 5.2 Auswertung der Fragen 11-21 – Forschungsfragen .................................................. 38 5.2.1 Die Akteure I - Personen .......................................................................................... 39 5.2.2 Die Akteure II - Staaten ........................................................................................... 40 5.2.3 Die Akteure III – politische Parteien ....................................................................... 41 5.2.4 Ein Vergleich der Akteure ....................................................................................... 45 5.3 Bewertung der Personen ................................................................................................. 46 5.3.1 Positive Bewertungen der Personen ......................................................................... 46 5.3.2 Negative Bewertungen der Personen ....................................................................... 49 5.4 Bewertung der Staaten .................................................................................................... 53 5.4.1 Positive Bewertung der Staaten ............................................................................... 53 5.4.2 Negative Bewertung der Staaten .............................................................................. 54 5.5 Bewertung der politischen Parteien ................................................................................ 56 5.5.1 Positive Bewertungen der politischen Parteien........................................................ 56 5.5.2 Negative Bewertungen der politischen Parteien ...................................................... 57 5.6 Motive und Gründe für den Anschluss ........................................................................... 58 5.7 Folgen des „Anschlusses“ .............................................................................................. 64 6. Empfehlungen für die nächste Schulbuchgeneration ........................................................... 69 7. Zusammenfassung ................................................................................................................ 72 IX
Literaturverzeichnis .................................................................................................................. 77 Anhang ..................................................................................................................................... 82 X
Tabellenverzeichnis Tabelle 1: Das Schulbuchkorpus ........................................................................................................... 29 Tabelle 2: Anteil des „Anschlusses“ im Korpus ................................................................................... 31 Tabelle 3: Bilder im Korpus .................................................................................................................. 32 Tabelle 4: Beruflicher Hintergrund der Autoren ................................................................................... 38 Tabelle 5: Nennungen der Akteure I - Personen ................................................................................... 39 Tabelle 6: Nennungen der Akteure II - Staaten ..................................................................................... 41 Tabelle 7: Nennungen der Akteure III - Politische Parteien ................................................................. 43 Tabelle 8: Häufigkeit der Akteure ......................................................................................................... 45 Tabelle 9: Positive Bewertung der Akteure I (Personen). ..................................................................... 47 Tabelle 10: Negative Bewertungen der Akteure I (Personen). .............................................................. 49 Tabelle 11: Positive Bewertung der Akteure II (Staaten)...................................................................... 53 Tabelle 12: Negative Bewertung der Akteure II (Staaten). ................................................................... 54 Tabelle 13: Positive Bewertung der Akteure III (politische Parteien). ................................................. 56 Tabelle 14: Negative Bewertungen der Akteure III (politischen Parteien). .......................................... 57 Tabelle 15: Nennungen der Anzahl Gründe für den „Anschluss“......................................................... 59 Tabelle 16: Anzahl Motive für den „Anschluss“ pro Buch im Korpus ................................................. 60 Tabelle 17: Nennungen der Gründe und Motive für den „Anschluss“ .................................................. 61 Tabelle 18: Angaben der Folgen des "Anschlusses" ............................................................................. 64 Tabelle 19: Anzahl der Folgen des "Anschlusses" pro Buch im Korpus .............................................. 69 XI
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1. Einleitung Die vorliegende Masterarbeit beschäftigt sich mit der Darstellung des „Anschlusses“ Österreichs an das Deutsche Reich im Jahr 1938 in österreichischen Schulbüchern. Der „Anschluss“ ist ein markantes Ereignis in der österreichischen Geschichte, das aus vielen Perspektiven unterschiedlich betrachtet wird, vom «jubelndem Empfang Hitlers» bis zum «Beginn der Diktatur». Die Darstellung dieses Ereignisses in den Schulbüchern prägt die Auffassung vieler junger Menschen in einer beeinflussbaren Phase des Lebens. Die Autoren treffen zahlreiche selektive Entscheidungen wie in der Wort- und Bildauswahl, die eine entscheidende Wirkung auf die Meinung des Schülers haben können. Ziel dieser Arbeit ist herauszuarbeiten, wie der „Anschluss“ den Schülern präsentiert wird und ob sich die Beschreibung der Vorkommnisse in den Schulbüchern im Laufe einer Zeitperiode von 50 Jahren verändert hat. Die Überlegungen zum Thema dieser Masterarbeit begannen schon vor langer Zeit. In der Zeitung Aftenposten gab es einen Artikel über Wien im Jahrzehnt nach dem Zweiten Weltkrieg, geschrieben von Knut Olav Amås, einem angesehenen Kolumnisten, Direktor der Stiftung Fritt Ord und einem Wienkenner. Eine wenig beachtete Zeitepoche, 1945-1955, war das Thema und die Schwierigkeit nach dem Krieg wieder nach Wien zurückzukehren. Im Artikel wird Österreich als Nazistaat und Opfer beschrieben, annektiert von Nazi- Deutschland, selbst aber zutiefst nationalsozialistisch eingestellt – ein Land, dessen Einwohner mit Begeisterung ihren Landsmann Adolf Hitler 1938 empfingen. Die Volksabstimmung zeigte eine Zustimmung des „Anschlusses“ von 99,73 %1. Nach jahrelangem Aufenthalt in Österreich war die Verbundenheit mit dem Land und dessen Kultur sehr stark und dieser Abschnitt im Text weckte ein unangenehmes Gefühl. Die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus wurde somit der thematische Rahmen für diese Abschlussarbeit, und da der „Anschluss“ einen entscheidenden und einen interessanten Teil der österreichischen Geschichte betrifft, war das Thema festgelegt. Bei der Überlegung, was die Arbeit umfassen soll, entwickelte sich die Idee, über die Darstellung des Ereignisses in österreichischen Schulbüchern zu schreiben. Als Lehrerin an einem Gymnasium in 1 Åmås, K. (2014): Å komme hjem til ingenting, S. 2-3. 1
Norwegen sind Schulbücher ein natürlicher Bestandteil der alltäglichen Arbeit und daher ein wichtiges Medium. Die Institution Schule leistet einen Beitrag, jungen Menschen kritisches Denken und Hinterfragen nahezubringen, und die Auseinandersetzung mit dem National- sozialismus ist hierfür als thematische Grundlage geeignet. 1.1 Die Problemstellung Die Problemstellung, die in der vorliegenden Arbeit bearbeitet wird, ist: Eine Inhaltsanalyse über die Darstellung des „Anschlusses“ an das Deutsche Reich 1938 in österreichischen Schulbüchern Zusätzlich ist von Interesse, ob in der Darstellung im Korpus zeitlich bedingte Änderungen festzustellen sind: - Findet in der Darstellung der Schulbücher eine positive Entwicklung mit Hilfe von Illustrationen statt? Um ein historisches Ereignis zu beleuchten, bedarf es ein Mindestmaß an Hintergrund- informationen. Dazu gehören die Motive und die zum Ereignis führenden Gründe, die zentralen Akteure und die für das Geschehnis weitreichenden Folgen. Damit waren die Forschungsfragen dieser Arbeit wie folgt festgelegt. - Welche Motive und Gründe für den „Anschluss“ nennen die Schulbücher? - Welche Akteure haben laut den Schulbuchautoren dazu beigetragen? - Welche Folgen vom „Anschluss“ prägten den weiteren Verlauf der Geschichte Österreichs? Damit zusätzlich eine Gewichtung vorgenommen werden kann, wird mit der Inhaltsanalyse als Untersuchungsmethode gearbeitet. Die Inhaltsanalyse wurde gewählt, um die Antworten auf die Forschungsfragen zu finden. Ein Fragebogen mit 21 Fragen wurde aufgrund der Problem- stellung erstellt, der die wichtigsten Aspekte der Darstellung des Ereignisses im Schulbuch erfasst. Das Selektionsinteresse der Inhaltsanalyse beruht auf der Häufigkeit der zu untersuchenden Objekte. Die Häufigkeitsanalyse geht von der Annahme aus, dass die für das Ereignis wichtigsten Kategorien öfter genannt werden. Die Akteure wurden zusätzlich einer 2
Bewertungsanalyse unterzogen, die sowohl positive als auch negative Beurteilungen der Akteure erfasst und diese ebenfalls nach Häufigkeit auszählt. Zugrunde liegt ein Korpus von zwölf in Österreich herausgegebenen Schulbüchern der Schul- stufe 11/12, die letzte oder die vorletzte Oberstufe des Gymnasiums. Die Schulbücher verteilen sich auf mehrere Jahrzehnte von 1964 bis 2014, um Vergleiche zu stellen und eine mögliche Änderung der Darstellung in Bezug auf den Zeitfaktor feststellen zu können. 1.2 Aufbau der Arbeit In diesem Kapitel gehe ich darauf ein, wie die Arbeit aufgebaut ist. Die Arbeit ist folgendermaßen gegliedert: Nach der Einleitung und der Präsentation der Problemstellung folgt, nach dieser Erklärung über den Aufbau der Arbeit, ein Kapitel über den historischen Hintergrund, der zum „Anschluss“ führte. Auf den Terminus „Anschluss“ wird anschließend näher eingegangen. Die Beschreibung des Schulbuchkorpus folgt dem methodischen Werkzeug der Inhaltsanalyse. Im Methodenkapitel wird auf die Häufigkeits- und Bewertungsanalyse eingegangen und ihre Anwendung in der vorliegenden Arbeit. Unter den Unterkapiteln 3.1-3.5 werden auch wichtige Observationen und Informationen zum Verlauf der Auswertung präsentiert. Auch eventuelle Probleme, die während der Arbeit entstanden, werden hier thematisiert. Schließlich werden die Ergebnisse der Untersuchungen vorgelegt. Eine Empfehlung für die kommende Schulbuchgeneration sind Gedanken und Tipps, die im Laufe dieser Arbeit zur Stande kamen. Diese werden im Anschluss an die Ergebnisse präsentiert. Eine Zusammenfassung rundet die Arbeit ab. Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wurde in dieser Arbeit auf Gender Mainstreaming verzichtet. Sämtliche personenbezogenen Begriffe beziehen sich jeweils auf das weibliche als auch auf das männliche Geschlecht. Die Schulbücher bekommen aufgrund ihrer häufigen Nennung in dieser Arbeit eine Abkürzung, die sich aus dem Buchstaben „B“ und dem jeweiligen Veröffentlichungsjahr zusammensetzt, so wird z.B. das Geschichtsschulbuch von 1964 mit B1964 abgekürzt. 3
2. Historischer Hintergrund Um das Gesamtbild „Anschluss“ verstehen zu können, bedarf es ein Verständnis, wie es dazu kommen konnte. Viele Faktoren spielten hier mit und es scheint sinnvoll zurück bis zum Ende des Ersten Weltkrieges zu gehen. Am 12. November 1918 wurde die Erste Republik, die Republik „Deutschösterreich“, durch die sogenannte Provisorische Nationalversammlung feierlich ausgerufen. Der ehemalige Kaiser Karl dankte ab. Der Sozialdemokrat Karl Renner bildete als Staatkanzler eine aus allen Parteien bestehende Regierung. 1919 wurde der geplante Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich von der Pariser Friedenskommission untersagt.2 Im September 1919 musste die Nationalversammlung den Bestimmungen des Friedensvertrags von Saint Germain und den damit verbundenen Kriegsschulden zustimmen. Die Bezeichnung „Deutschösterreich“ wurde verboten, das Burgenland wurde Österreich zuerkannt, Südkärnten blieb aufgrund einer Volksabstimmung 1920 Österreich zugehörig, während Südtirol ohne jegliche Volksabstimmung mit 230.000 Österreichern an Italien abgetreten werden musste. Von der ehemaligen Doppelmonarchie Österreich-Ungarn verblieben nur rund 12% des Gebiets, und der junge Staat stand damit in den schwierigen Nachkriegsjahren vor großen wirtschaftlichen Problemen wie Hungersnot, Kohlenmangel, Arbeitslosigkeit und Inflation.3 Bald darauf spitzte sich die politische Situation mit innenpolitischen Spannungen zwischen den Parteien zu. Die seit 1918 bestehende Koalition mit den Sozialdemokraten wurde von den Christlichsozialen im Oktober 1920 aufgekündigt. Somit waren die Sozialisten 14 Jahre lang, bis zur Auflösung ihrer Partei 1934, in der Opposition.4 Pelinka unterstreicht die politisch unterschiedlichen Ziele der verschiedenen Parteien. Die Christlichsozialen waren stark mit der katholischen Kirche verbunden und hatten den „wahren“ christlich-katholischen Staat als Ziel. Die sozialdemokratische Arbeiterpartei hatte die klassenlose Gesellschaft als Vorbild. Die Großdeutsche Partei sah den Liberalismus als deklarierten Feind und war weitgehend antisemitisch. Die politischen Parteien hatten unterschiedliche Weltanschauungen, die von den jeweils anderen Parteien nicht respektiert wurden. Sie bildeten jeweils eine eigene Gesellschaft und damit Subkulturen, die die eigene Identität stärkten und die Gräben gegenüber den anderen Parteien vertieften. Diese politischen Kräfte betrachteten die demokratische Republik nur eingeschränkt als eine positive Errungenschaft. Zu klein und zu unsicher war der gemeinsame 2 Wurzinger, G. (2017): Erste Republik. https://austria-forum.org/af/AEIOU/Erste_Republik (11.08.2019). 3 Ebd. 4 Ebd. 4
Nenner, die neue Republik Österreich. Sie saßen in ihren jeweiligen Burgen und hatten die Brücken hochgezogen, statt sich um die Stimmen der Wähler zu bemühen.5 Das war kein guter Ausgangspunkt für eine neu gebildete Republik und prägte das Bild der politischen Kultur im kommenden Jahrzehnt. Wirtschaftlich gesehen setzte der Staat wertvolle Strategien ein, um die österreichische Wirtschaft zu sanieren. Beispielsweise wurde Österreich Ende 1920 in den Völkerbund aufgenommen und 1922 wurde eine Völkerbundanleihe abgeschlossen. 1924 wurde die neue Schilling-Währung eingeführt und die allmähliche Sanierung der österreichischen Wirtschaft begann. Die ersten großen Wasserkraftwerke wurden errichtet, Teilstrecken der Bundesbahnen elektrifiziert, das Straßennetz erweitert und erneuert, der soziale Wohnbau wurde in Wien aufgenommen, die Industrialisierung vorangetrieben und die Produktion der Landwirtschaft beträchtlich erhöht, auch dank der zunehmenden Mechanisierung. Zudem nahm der Fremdenverkehr eine wichtige Rolle in der österreichischen Wirtschaft ein. Trotz all dieser Tätigkeiten, um die ökonomischen Erträge zu erhöhen, war die österreichische Wirtschaft weiterhin schweren Belastungen ausgesetzt.6 Die politischen Gegensätze zwischen der bürgerlichen und sozialistischen Seite verschärften sich von Jahr zu Jahr. Die Radikalisierung der innerpolitischen Auseinandersetzung nahm in der Ersten Republik vehement zu. 1923/1924 wurde der Republikanische Schutzbund geschaffen, eine paramilitärische, bewaffnete sozialistische Organisation. Auf der konservativen Seite wurde die Heimwehr gebildet, die ursprünglich als Selbstschutzverband in den Alpenländern organisiert war und von den Großindustriellen als Gegengewicht zu den Organisationen der Arbeiterschaft unterstützt wurde. Bei öffentlichen Aufmärschen kam es zu Zusammenstößen der Vertreter der beiden Organisationen, die mehrmals auch Todesopfer forderten.7 Die Lage verschärfte sich 1927 als zwei Menschen bei einer Versammlung getötet wurden und ihre Täter im sogenannten Schattendorfer Prozess den Freispruch erhielten. Dieses Urteil führte zu Gegendemonstrationen, die Julirevolte, die mit dem Brand des Justizpalastes endete.8 Dies schwächte die Sozialdemokraten und stärkte die Heimwehr. Diese Verbände hatten politischen Einfluss und waren Machtfaktoren im politischen Leben. Die Lage wurde 5 Pelinka, A. (2017): Die gescheiterte Republik, S. 77-83. 6 Wurzinger, G. (2017): Erste Republik. https://austria-forum.org/af/AEIOU/Erste_Republik (11.08.2019). 7 Erkinger-Kovanda, S. (2016): Heimwehr. https://austria-forum.org/af/AEIOU/Heimwehr (02.10.2019). 8 Ziegler. K. (2018a): Julirevolte. https://austria-forum.org/af/AEIOU/Julirevolte (02.10.2019). 5
durch die Entwicklung des Austromarxismus, die Verstärkung der Heimwehrbewegung der konservativen Christlichsozialen und des Austrofaschismus geprägt.9 Die Weltwirtschaftskrise 1929 verschärfte die Lage außerdem zutiefst. Fabriken mussten geschlossen werden und die Arbeitslosenrate erhöhte sich drastisch. Der Zusammenbruch der Creditanstalt 1931 verschlechterte die wirtschaftliche Lage zusätzlich. Im Vertrag von Lausanne 1932 musste Österreich eine neue Völkerbundanleihe in Höhe von 300 Millionen Schilling aufnehmen.10 Im März 1933 erfolgte die Ausschaltung des österreichischen Nationalrats durch einen Geschäftsordnungsstreit.11 Das kam der Regierung Dollfuß offenbar gelegen und bei einem neuen Versuch, den Nationalrat in demselben Monat einzuberufen, wurden die Abgeordneten am Betreten des Parlaments gehindert. Auf Empfehlung der Regierung machte Bundespräsident Miklas nicht von seinem Recht Gebrauch, Neuwahlen auszuschreiben, um wieder einen funktionsfähigen Nationalrat zu erhalten.12 Es folgte das Verbot einiger politischer Organisationen und politischer Parteien. Zusätzlich wurden wichtige Grund- und Freiheitsrechte stark eingeschränkt. Im Februar 1934 brach schließlich der Bürgerkrieg aus und am 1. Mai wurde eine neue Verfassung ins Leben gerufen, jedoch fehlte die Unterschrift des Bundespräsidenten.13 Trotzdem wurde der „Ständestaat“ proklamiert. Engelbert Dollfuß führte 1934 den autoritären Austrofaschismus ein und entschied sich damit für einen Bruch mit der österreichischen Demokratie. Er war der Gründer des an Mussolinis faschistischen Italiens angelehnten „Ständestaates“ und wurde bei einem misslungenen nationalsozialistischen Putschversuch am 25. Juli 1934 ermordet, knapp vier Jahre vor dem „Anschluss“, und war damit zeitig aus dem Spiel gesetzt. Am 17. März 1934 wurden die von Ungarn, Italien und Österreich wirtschaftlich und politisch vereinbarten Römischen Protokolle unterzeichnet. Zum Ziel wurde die Aufrechterhaltung der Unabhängigkeit Österreichs erklärt. Nach dem misslungenen nationalsozialistischen Juliputsch 1934 marschierte Mussolini mit seinen Truppen zur Brenner Grenze, um Österreich gegen Hitlerdeutschland zu schützen. Er wollte Hitler seine Macht demonstrieren und die Verpflichtungen der Römischen Protokolle erfüllen. Dafür verlangte Mussolini von Dollfuß die Zurückdrängung der Sozialdemokraten, die Unterstützung der faschistischen paramilitärischen 9 Wurzinger, G. (2017): Erste Republik. https://austria-forum.org/af/AEIOU/Erste_Republik (11.08.2019). 10 Ebd. 11 Ziegler. K. (2018b): Miklas, Wilhelm. https://austria-forum.org/af/AEIOU/Miklas, Wilhelm (22.01.2019). 12 Pokorny, H. et al. (2013): Netzwerk Geschichte 7, S. 18. 13 Lemberger, M. et al. (2002): Durch die Vergangenheit zur Gegenwart 7, S. 84. 6
Heimwehr und die Einführung eines faschistischen Regierungssystems in Österreich. Diese Forderungen hat Dollfuß erfüllt; die letzte mit dem Inkrafttreten der 1. Mai-Verfassung und der Einführung des „Ständestaates“. Als Dollfuß 1934 von den Nationalsozialisten erschossen wurde, benannte Bundespräsident Miklas Schuschnigg als seinen Nachfolger. Schuschnigg traf die Wahl, den von Dollfuß eingeführten „Ständestaat“ weiterzuführen. Das bedeutete einen weiteren Bruch mit der Demokratie und das Fortbestehen eines autoritären Staatssystems. Seine Machtpläne legte Hitler in seinem Buch Mein Kampf (1925) durch drei klare außenpolitischen Ziele offen: zum einen die Aufhebung des Versailler Vertrages, zum anderen die Schaffung eines „Großdeutschen Reiches“ und zum dritten die Vorherrschaft in Europa durch die Schaffung eines Lebensraumes für etwa 100 Millionen Deutsche. Um das zweite Ziel zu erreichen, war der „Anschluss“ Österreichs der erste Schritt auf dem Weg dazu.14 Hitler hatte zum Ziel, Österreich in das Deutsche Reich einzugliedern. Durch das Juliabkommen 1936, von Hitler öffentlichkeitswirksam vor den Olympischen Spielen im August 1936 in Berlin inszeniert, verpflichtete sich die österreichische Regierung, neben einer außenpolitischen Anlehnung an den Berliner Kurs, zur Amnestie der inhaftierten Nationalsozialisten sowie zur Aufnahme von zwei Hitler-Vertrauten in die Regierung. Dafür wurde die 1000-Mark-Sperre, die den österreichischen Tourismus stark schädigte, aufgehoben und die Anerkennung der österreichischen Souveränität bestätigt.15 Die Sperre war eine Wirtschaftssanktion der deutschen Regierung gegenüber dem österreichischen Staat. Jede Person, die die Grenze nach Österreich überquerte, musste eine Gebühr von 1000 Reichsmark an Deutschland bezahlen. Schuschnigg versuchte mit dem Juliabkommen die Souveränität Österreichs aufrechtzuerhalten.16 Nach außen hin war das Abkommen mit der Garantie der österreichischen Souveränität ein Erfolg für Schuschnigg, wäre da nicht ein geheimes Zusatzabkommen gewesen, in dem vereinbart worden war, dass die inhaftierten Nationalsozialisten freigelassen und Vertrauensleute der NSDAP in die Regierung aufgenommen wurden. 17 So konnten die 14 Aspernig, W. et al. (1988): Gestaltete Welt 3, S. 131. 15 Siehe Anhang 1, Mail Österreichisches Staatsarchiv (Lautner, D., „Juliabkommen 1936“ in Österreichisches Staatsarchiv). 16 Floiger, M. et al. (1993): Stationen 3, S. 134. 17 Staudinger, E. et al. (2014): Zeitbilder 7, S. 58. 7
Nationalsozialisten gezielter und wirkungsvoller von innen und außen mit dem Ziel des „Anschlusses“ agieren. Mussolini wollte seine Macht erweitern und begann 1935 einen Krieg gegen Abessinien, dem heutigen Äthiopien. Es war Teil eines Plans von Mussolini von einem erneuerten römischen Reich in Afrika. Dieser Eroberungskrieg Italiens wurde internationalen Wirtschaftssanktionen des Völkerbundes ausgesetzt und führte zu einer politischen Isolierung Italiens. Österreich beteiligte sich nicht an den Sanktionen des Völkerbundes, eine Tatsache, die nicht gerade Begeisterung bei den Westmächten hervorrief und Österreich noch mehr in die Isolation drängte. Um seine Expansionspläne im Mittelmeerraum verwirklichen zu können, sah Mussolini sich nach einem Bündnispartner um und fand diesen in Hitler. 18 Die Unterstützung Hitlers führte zu einer Annäherung der beiden Diktatoren, womit 1936 die Achse Berlin-Rom entstand. Italien, die einzige internationale Stütze Österreichs, kehrte dem Land den Rücken zu. Ohne internationale Verbündete musste Schuschnigg Zeit gewinnen, um eine Okkupation durch Deutschland zu verhindern. Das Netz zog sich allmählich immer enger um Schuschnigg. Er versuchte eine Unterstützung durch Frankreich und England zu gewinnen, jedoch ohne Erfolg.19 Im Februar 1938 fand erneut ein Treffen zwischen Hitler und Schuschnigg statt, das zu dem Berchtesgadener Abkommen führte. Hitler wollte die Aufhebung des Verbots gegen die Nationalsozialistische Partei in Österreich und den Eintritt zentraler Nationalsozialisten in die österreichische Regierung samt der Kontrolle über die Polizeigewalt erzwingen. Damit wurde Schuschnigg in die Ecke gedrängt. Er sollte sein Amt dem Anführer der österreichischen Nationalsozialisten Seyß-Inquart übergeben, sonst würde der Einmarsch deutscher Truppen erfolgen20. Als Antwort auf das von Hitler diktierte Berchtesgadener Abkommen versuchte Schuschnigg einen letzten Ausweg; er wollte dem nationalsozialistischen Druck von innen und Hitlers Druck von außen entkommen und proklamierte daher eine Volksabstimmung über ein freies und unabhängiges Österreichs. Eine späte überparteiliche österreichische Zusammenarbeit hätte in einem „Ja“ für die Unabhängigkeit Österreichs resultieren können, weswegen Hitler ein 18 Plenefisch, J. (2015): Die deutsch-italienischen Beziehungen. https://www.dhm.de/lemo/kapitel/ns- regime/aussenpolitik/die-deutsch-italienischen-beziehungen.html (31.01.2019). 19 Staudinger, E. et al. (2014): Zeitbilder 7, S. 59. 20 Bundeszentrale für politische Bildung (2018): Vor 80 Jahren: Einmarsch der Wehrmacht in Österreich – Wie heute dort an den „Anschluss“ erinnert wird. http://www.bpb.de/politik/hintergrund- aktuell/265958/anschluss-oesterreich (08.01.2019). 8
Ultimatum stellte, die Volksabstimmung auszusetzen. Die Demission Schuschniggs wurde verlangt. Obwohl Schuschnigg den Forderungen Hitlers Folge leistete, verringerte Hitler den Druck einer deutschen Machtübernahme auf Österreich nicht. Dazu war Österreich ein zu wichtiger Teil in seinen Machtplänen. Am 12. März 1938 zogen deutsche Truppen in Österreich ein. Hitler ging aufs Ganze, bestärkt von den jubelnden Massen der Österreicher beim Einmarsch.21 Schuschnigg hatte kein leichtes Spiel mit den zuvor erwähnten innen- und außenpolitischen Problemen. Ohne Unterstützung der Westmächte legte Schuschnigg schließlich sein Amt nieder. Obwohl Großbritannien und Frankreich die Unabhängigkeit Österreichs garantierten, waren sie infolge ihrer Besänftigungspolitik einem österreichischen „Anschluss“ an Deutschland prinzipiell nicht abgeneigt. Deutschen Ansichten nach waren im Versailler Friedensvertrag sehr harte Friedensbedingungen mit Gebietsabtretungen, Reparationsbezahlungen und Abrüstungsforderungen festgeschrieben.22 Mit dieser Politik wollte man durch kleine Zugeständnisse Deutschland freundlich stimmen. Eine Politik, die fatale Folgen hatte. Keines der beiden Länder war willens oder in der Lage, Hitler mit militärischen Maßnahmen zu drohen, falls er Österreichs Unabhängigkeit antasten sollte. Da es keine Zeichen für eine Intervention der Großmächte gab und Hitlers Vormarsch in London und Paris für Deutschland keine bedrohlichen Folgen zeigte, entschloss sich Hitler zur Annexion. Wie im vorangehenden Kapitel beschrieben war Bundespräsident Miklas in seinem Amt sowohl unter Dollfuß als auch unter Schuschnigg tätig und spielte in den Tagen um den „Anschluss“ eine wichtige Rolle. Er weigerte sich lange, einer neuen Regierung unter dem Nationalsozialisten Seyß-Inquart zuzustimmen. Er trat schließlich zurück, um das Anschlussgesetz nicht unterschreiben zu müssen.23 21 Prinz, C. (2015): Der „Anschluss“ Österreichs. https://www.dhm.de/lemo/kapitel/ns- regime/aussenpolitik/anschluss-oesterreich-1938.html (09.01.2019). 22 Scriba, A. (2014): Der Versailler Vertag. https://www.dhm.de/lemo/kapitel/weimarer- republik/aussenpolitik/versailler-vertrag.html (19.03.2019). 23 Ziegler, K. (2018b): Miklas, Wilhelm. https://austria-forum.org/af/AEIOU/Miklas, Wilhelm (22.01.2019). 9
Der „Anschluss“ Nach der Vermittlung des historischen Hintergrunds ist eine Klärung des nicht unumstrittenen und in dieser Studie im Fokus stehenden Begriffes „Anschluss“ notwendig. Im kommenden Abschnitt wird angesprochen, was sich unter dem Begriff verstehen lässt und spezifische Gründe für das Ereignis aus der Forschung genauer beleuchtet. Der „Anschluss“ ist im engeren Sinne, so Haas, als der „Einmarsch“ deutscher Truppen am 12. März 1938 zu verstehen. An diesem Nachmittag des 12. März kam Hitler selbst nach Österreich und entschloss sich zum sofortigen „Anschluss“ an das Deutsche Reich. Eng damit verbunden ist das vom 13. März entsprechende Gesetz, das sowohl als österreichisches Bundesgesetz („Bundesverfassungsgesetz über die Wiedervereinigung Österreichs mit dem Deutschen Reich“) als auch als deutsches Reichsgesetz beschlossen wurde. Die Machtergreifung durch die Nationalsozialisten am 11. und 12. März 1938 bezeichnet ebenfalls das Ereignis. Sowohl die Vorbereitung zur Volksabstimmung am 10. April 1938 über den „Anschluss“ als auch die verwaltungsmäßige „Eingliederung Österreichs in das Deutsche Reich“ sind hier eingeschlossen.24 Das Interesse Österreichs an einem Anschluss mit dem Deutschen Reich war in verschiedenem Ausmaß während der Ersten Republik vorhanden. Nach dem Fall der multiethnischen Habsburgermonarchie 1918 wurde der von politischen Lagern erwünschte Anschluss Österreichs an die Weimarer Republik von den Siegermächten durch die Verträge von Saint Germain verboten. Das neue Österreich wurde mit viel Skepsis und ökonomisch als nicht lebensfähig betrachtet. Die Habsburgermonarchie wurde unter sechs Nachfolgestaaten aufgeteilt und das neue Österreich umfasste nur ein Achtel der Fläche und der Bevölkerung der ehemaligen Monarchie. Deutschland war, obwohl besiegt, ein Großstaat geblieben, und Österreich war in der Tat nur ein kleiner Rest. Zwar versuchte Österreich wirtschaftliche Fusionen mit anderen Staaten zu suchen wie in Form einer Donaukonföderation oder eines Zollbündnisses, aber die Angst vor Wien in den Nachfolgestaaten war stark. Die Monarchie war der gemeinsame Nenner der vielen Völkergruppen gewesen und als sie sich auflöste richtete sich der Fokus auf Deutschland. Nicht nur aus wirtschaftlichen, sondern auch aus politischen Gründen wäre, zumindest aus Sicht der Sozialdemokraten, ein Anschluss mit Deutschland willkommen. Die Vereinigung mit einem sozialistisch dominierten und industriell entwickelten Deutschland versprach mehr Möglichkeiten als die einer konservativ agrarisch 24 Haas, H. (2002): Der „Anschluss“, S. 26. 10
geführten Republik Österreich. Bei den Christlichsozialen dämpfte ein protestantisch (und teils sozialistisch) dominiertes Deutschland die Euphorie, während die Großdeutschen und die Deutschnationalen gemäß ihrer Ideologie für eine Vereinigung mit Deutschland sprachen. 25 Der Gedanke an einen Anschluss mit Deutschland war im Laufe der Ersten Republik immer wieder ein Thema und die politisch turbulente Zeit kulminierte 1933/34 mit einer immer stärker gewordenen NSDAP und einem Mussolini, der das Einführen eines faschistischen Systems in Österreich forderte. Ein austrofaschistischer „Ständestaat“ war das Resultat. Zu bedenken ist, dass der im Mai 1934 eingeführte „Ständestaat“ den Übergang zum Deutschen nationalsozialistischen Reich im März 1938 erleichterte. Die Demokratie, wie sie bis 1934 geführt wurde, war passé. Die Einwohner Österreichs lebten zwar nicht in einem totalitären Regime wie jene in Hitlerdeutschland oder Mussolinis Italien, aber sie verhielten sich zu einem autoritären Staat mit einem Einparteiensystem mit diktatorischen Zügen. Es existieren viele verschiedene Bezeichnungen für das Ereignis „Anschluss“ wie Annexion, Okkupation, Einmarsch, Invasion, Besetzung, Einverleibung bis hin zu nationalsozialistischer Bezeichnung wie Wiedervereinigung mit dem Deutschen Reich. Die Wahl der Sprechart richtet sich nach Sprecher und Standpunkt, institutionellen, politischen oder persönlichen Interesse. Für die vorliegende Arbeit wird der von Haas angewandten Begriffsdefinition von dem „Anschluss“ gefolgt, der wie oben beschrieben mit den politischen Geschehnissen und Umwälzungen zwischen dem 11. März und 10. April 1938 einschließlich die verwaltungstechnische Eingliederung Österreichs in das Deutsche Reich beschreibt. Vergessen dürfen auch nicht der Jubel und die Euphorie werden, die in den Märztagen in Österreich herrschten. Das gilt auch für den sofort einsetzenden nationalsozialistischen Terror, der gegen Juden, Regimegegner, Roma, Sinti, Homosexuelle und Andersdenkende ausgeübt wurde. 25 Sandgruber, R. (2017): Österreichs Wirtschaft 1918-1938 – Überblick und Weichenstellungen, S. 235-236. 11
3. Inhaltsanalyse als Methode Eine sozialwissenschaftliche Studie beruht normalerweise sowohl auf Forschungsfragen als auch auf Interpretationen. Eine Vorgangsweise bei einer Studie beginnt mit der Problemformulierung oder der Nennung einer Hypothese auf Basis der vorliegenden Theorie, ehe die Durchführung einer empirischen Untersuchung der genannten Problemstellungen stattfindet. Die Ergebnisse der Untersuchungen werden interpretiert und enden mit einer theoretischen Analyse. Studien mit Fokus auf Problemformulierung und Austesten der Theorie verwenden eine deduktive Forschungsmethode, weil sie bestimmte Problemstellungen von der zu testenden Theorie deduzieren oder ableiten sollen.26 In der empirischen Forschung zeigen sich unterschiedliche Erhebungsmethoden, mit denen Ergebnisse erlangt werden können. Damit die Ergebnisse auch von möglichst brauchbarer Qualität sind, bedarf es gründlicher Überlegungen. Grundsätzlich lässt sich zwischen qualitativen und quantitativen Forschungsmethoden unterscheiden.27 Qualitative Forschungsmethoden werden bei der Erhebung und Analyse von qualitativen Daten eingesetzt und sind Daten in verschiedenen Formen von Texten. Diese zeichnen sich beispielsweise dadurch aus, dass sie eher offen und flexibel gestaltet sind. Sie zielen auf eine hohe Validität des Inhalts und in bestimmten Fällen durch besondere Expertise auf Informationsgehalte ab, auf die man sonst keinen Zugriff hätte. Eine qualitative Forschungsmethode wäre zum Beispiel ein Leitfaden-Interview oder eine Case-Studie. Eine qualitative Studie umfasst oft wenige Einheiten und kann als Ziel haben, ein einheitliches Verständnis von spezifischen Kontexten zu erhalten. Doch dadurch, dass die Aussagen und Ergebnisse eher in keine zahlenmäßigen Korrelationen zueinander gesetzt werden können, ist eine Repräsentativität der Ergebnisse selten gegeben. Quantitative Forschungsmethoden werden bei der Erhebung und Analyse von quantitativen Daten eingesetzt und sind Daten in Zahlenform oder anderen Mengentermen. Quantitative Studien umfassen gern viele Einheiten, die z.B. Individuen/Personen, Staaten oder Organisationen sein können und werden verwendet, um eine repräsentative Übersicht über generelle Verhältnisse zu erlangen. Weiterhin können die Daten dieser Methode dazu dienen, um Hypothesen für die Beantwortung der Forschungsfragen zu überprüfen. Die Qualität der quantitativen Daten wird in Form von Reliabilität und Validität ausgedruckt. Die Reliabilität ist ein Ausdruck der Zuverlässigkeit der Daten und wie genau die Erhebung vorgenommen 26 Grønmo, S. (2011): Samfunnsvitenskapelige metoder, S. 37. 27 Mayring, P. (1997): Qualitative Inhaltsanalyse, Grundlagen und Techniken, S.16. 12
wurde. Die Validität zeigt den Grad der Gültigkeit oder der Relevanz der Daten für die zu beleuchtende Problemstellung. Mit Hilfe von verschiedenen Methoden können die Reliabilität 28 und die Validität getestet, beurteilt und zum Teil berechnet werden. Qualitative und quantitative Methoden können zwar einzeln eingesetzt werden, doch wenn es für die Forschung sinnvoll ist, sollten sie kombiniert werden. Auch die Inhaltsanalyse kann sowohl quantitativ als auch qualitativ (oder in einer Kombination von beiden) durchgeführt werden. Klaus Krippendorf versteht die Inhaltsanalyse als „eine Technik, um replizierbare und valide Schlüsse von den Daten zum Kontext zu ziehen“.29 Diese Definition sagt nichts über die Vorgehensweise einer Inhaltsanalyse aus und muss daher näher präzisiert werden. Im weiteren Sinne zeigt die Inhaltsanalyse auf jede Analyse, die systematisch Textinhalte zusammenfasst, um spezifische Problemstellungen zu beleuchten. Eine qualitative Inhaltsanalyse wird oft als Methode von Historikern angewendet. Sie beinhaltet ausgewählte Textzitate, Bildausschnitte oder andere Inhaltselemente, die zu systematisieren sind, um spezifische Problemstellungen zu beleuchten. Beispiele hierfür wären Einblicke in welche Argumente, Standpunkte, Meinungen/Haltungen oder Werte, die in verschiedenen Texten zentral sind, zu bekommen. Diese Methode wird bei der Diskursanalyse angewendet. 30 Eine quantitative Inhaltsanalyse hat auch als Ziel, die für die Problemstellung relevanten Teile zu systematisieren, aber nicht in Form von Beurteilungen und Vergleichen unterschiedlicher Zitate oder anderer Inhaltselemente. Der Inhalt des Dokuments wird hingegen in Bezug auf ein strukturiertes Kategorienschema, in diesem Fall den Fragebogen, beurteilt. Wenn das Dokument Text beinhaltet, können die Kategorien zum Beispiel Thema, Argumente, Werte, Meinungen oder Standpunkte umfassen. Der Inhalt der Analyse handelt dann davon, wie viele der ausgewählten Texteinheiten, die in jede Kategorie eingestuft werden können, zu registrieren sind. Texteinheiten können Artikel, Ausschnitte, wie es in dieser Arbeit der Fall ist, oder Aussagen sein.31 Die hier angewendete Inhaltsanalyse handelt von Techniken, um den Inhalt eines Textes mit Hilfe von quantitativen Zielen zusammenzufassen und zu beschreiben. Die Inhaltsanalyse beziffert die Vorkommnisse von bestimmten Elementen in einem Text und diese Resultate 28 Grønmo, S. (2020): kvantitativ metode. https://snl.no/kvantitativ_metode (13.04.2020). 29 Bratberg, Ø. (2017): Tekstanalyse for samfunnsvitere, S. 101. 30 Grønmo, S. (2011): Samfunnsvitenskapelige metoder, S. 128 31 Ebd. 13
können statistischen Analysen unterzogen werden. Die Absicht einer Inhaltsanalyse ist eine konzentrierte Wiedergabe des Inhalts in einem Text zu geben. Das kann durch deskriptive Statistiken durchgeführt werden, die auf Muster im Textmaterial hinweisen.32 Ein Beispiel hierfür wäre, wie häufig die Akteure im Korpus der österreichischen Schulbücher vorkommen. Diese werden innerhalb der Gruppe Akteure verglichen, z.B. Akteure I-Personen, und dann unter den Gruppen Akteure I-III, (Akteure II-Staaten, Akteure III-politische Parteien), um weitere Vergleiche zu erstellen. Es gibt einige Formen der Inhaltsanalyse. Zu der quantitativen Inhaltsanalyse zählt die Häufigkeits- oder Frequenzanalyse. Es wird erfasst, ob oder wie häufig Kategorien im Material vorkommen, wie z. B. die Akteure II-Staaten. Es wird angenommen, dass je häufiger ein Staat, zum Beispiel Österreich, genannt wird, umso mehr Relevanz wird der Rolle des Staates für das historische Ereignis zugeschrieben. Eine andere Form der quantitativen Inhaltsanalyse ist die Bewertungsanalyse. Bei dieser Analyse wird erfasst, welche Bewertungen mit den Kategorien verbunden sind. In dieser Arbeit wird überprüft, ob die Akteure in den Schulbüchern positiv oder negativ bewertet werden. Das wird anhand von positiv oder negativ geladenen Adjektiven (Beispiel für ein negativ geladenes Adjektiv: diktatorisch) oder Verben (Beispiel für ein positiv geladenes Verb: sich bemühen) festgestellt, aber auch mit Hilfe von positiven oder negativen Handlungen (Beispiel für eine negative Handlung: Putschversuch). Die Bewertungen werden ebenfalls nach Häufigkeit ausgezählt. Im allgemeinsten Sinn bedeutet qualitative Inhaltsanalyse, ohne Vorannahmen oder fertige Kategorien an das Material heranzugehen. Kategorien werden aus dem Material entwickelt, und in diesem Sinn kann man die qualitative Inhaltsanalyse als notwendige Vorstufe jeder Inhaltsanalyse auffassen, wie auch bei dieser Arbeit. Ehe die Kategorien im Fragebogen festgelegt wurden, musste ein guter Einblick in das historische Ereignis erarbeitet werden. Erst dann konnten die Kategorien gebildet werden. Zu den Kategorien der quantitativen Inhaltsanalyse werden häufig Unterkategorien gebildet, wie zum Beispiel bei der Folge Rassismus, die in verschiedenen Formen wie Arisierung, Verfolgung und systematische Einschüchterung auftritt. Das ergibt eine mehr detaillierte Einsicht in den verschiedenen Ausdrucksformen der aktuellen Folge. 32 Bratberg, Ø. (2017): Tekstanalyse for samfunnsvitere, S. 101. 14
Einige Fakten sprechen für eine Methodentriangulierung bei dieser Studie, bei der Elemente von sowohl der qualitativen als auch von der quantitativen Inhaltsanalyse benutzt werden. Eine qualitative Voruntersuchung kann aus dem Durchlesen und der Systematisierung verschiedener Teile des Textmaterials bestehen. Diese erste, qualitative Annäherung bildet die Grundlage, um die für die Studie am meisten relevanten Texteinheiten auszusuchen und die fruchtbarsten Kategorien zu entwickeln. Diese Phase kann in einer Studie von großer Bedeutung sein, wenn es um die Entwicklung des Fragebogens geht, der nicht nur mit der Problemstellung korreliert, sondern auch zufriedenstellend im Verhältnis zu den zu analysierenden Texten funktioniert. Die von qualitativen Textstudien gewonnenen Erfahrungen als Vorbereitung für qualitative Untersuchungen bildet in der Regel einen wichtigen Hintergrund, um die quantitativen Daten zu verstehen. Man kann behaupten, dass solche qualitativen Daten unter der Interpretation der quantitativen Analyseresultate zu wenig bedacht werden. Die größte Herausforderung besteht darin, ein besseres Ausnutzen der qualitativen Daten zu erreichen, die unter der Vorbereitung der quantitativen Untersuchungen eingesammelt werden. Es handelt von der Integration der qualitativen und der quantitativen Daten während der Analyse und der Interpretation, und von der Vermittlung der Erfahrungen von der qualitativen Voruntersuchung zusätzlich zu den Resultaten der quantitativen Analysen.33 Dem Unterschied zwischen qualitativer und quantitativer Forschung wird in der Literatur viel Platz gewidmet und es wird oft versucht, diese Unterschiede groß herauszustreichen. In manchen Büchern gibt es ganze Tabellen mit Unterscheidungen zwischen qualitativ und quantitativ. Bei dieser Untersuchung wird sich auf die Ansicht von Werner Früh gestützt. Er meint, dass der Forschungsprozess eine Kombination beider Varianten darstellt und dass eine strikte Unterscheidung zwischen qualitativ und quantitativ theoretisch wie praktisch wertlos ist. Er versucht zu zeigen, dass auch rein qualitative Inhaltsanalysen sehr viele quantitative Aspekte beinhalten und umgekehrt. Er plädiert dafür, die Inhaltsanalyse als qualitativquantitative Methode zu sehen.34 Aus diesem Grund wird sich die Untersuchung in der vorliegenden Arbeit nicht primär auf die Unterscheidung zwischen qualitativ und quantitativ stützen, sondern beide Elemente einfließen lassen. Bei der Anwendung von verschiedenen Methoden können unterschiedliche Probleme entstehen. Die Perspektive des Forschers, der bei dieser Studie alle Informationen durch den Fragebogen für alle Analyseeinheiten selbst erhebt, kann die Auswahl und die Interpretation 33 Grønmo, S. (2011): Samfunnsvitenskapelige metoder, S. 210-211. 34 Früh, W. (2015): Inhaltsanalyse, S. 67 & 74. 15
der Texte beeinflussen. Sein Hintergrund und seine Auffassung können die Beurteilung und die Registrierung der Textinhalte beeinflussen. Bei einer quantitativen Inhaltsanalyse wird vorausgesetzt, dass die Frage der Relevanz und der Vollständigkeit vor der Datenerhebung bereits weitgehend abgeklärt ist. Während der Erhebung der Daten erscheint die Genauigkeit als ein Hauptprinzip. Nicht zuletzt aufgrund der Vergleichbarkeit ist es wichtig sicherzustellen, dass die zu erhebende Information so präzise wie möglich und in der richtigen Kategorie des Fragebogens registriert wird. Bei dieser quantitativen Inhaltsanalyse ist die Reliabilität durch die erwähnte Genauigkeit gegeben. Andererseits kann der Fokus auf Präzision auf Kosten der Fruchtbarkeit gehen.35 Reliabilität ist ein wichtiges Kriterium für die Beurteilung der Datenqualität und sollte gründlich und kritisch beurteilt werden. Die Stabilität der Untersuchung wird mit einer Test- Retest-Methode überprüft, die die Korrelation zwischen unabhängigen Datenerhebungen vom gleichen Phänomen zum unterschiedlichen Zeitpunkt feststellt. Diese Arbeit wurde über einen längeren Zeitraum erstellt und dabei schien es notwendig, einige der Texte wiederholt durchzugehen. Diese wiederholte Datenerhebung fand bei einer Auswahl der Texte statt und die Resultate der Reliabilitätstest gelten als repräsentativ für die ganze Studie. Die Methode zeigte geringe Änderungen in der Datenerhebung und eine relativ hohe Reliabilität ist dadurch gegeben. Da die Texte stabil sind, würden Abweichungen zwischen Daten nicht aufgrund Änderungen des zu untersuchenden Phänomens entstehen, sondern durch fehlende Stabilität der Erhebung. Der Begriff der Validität (Gültigkeit, Relevanz) kann unterschiedlich ausgedrückt werden und ist weniger präzise und umfangsreicher als der Reliabilitätsbegriff. Eine einfache Form der Validität ist die sogenannte face-validity, bei der die Inhaltsanalyse als valide gilt, wenn sie das erfasst, was der Forscher messen sollte, weil es den zu umfassenden Sachverhalt begründbar umfasst. Allerdings bleibt ungeklärt, ob die Vorstellungen des Forschers vom Gegenstand zutreffend waren. Diese Inhaltsvalidität kann geprüft werden, wenn alle Aspekte im Kategoriensystem berücksichtigt werden, die in der Forschungsfrage enthalten sind.36 Hier konnte festgestellt werden, dass der Staat UdSSR unter den Akteuren II (Staaten) selten in den Analyseeinheiten vorkam und sich nicht mit der Forschungsfrage deckte. 35 Grønmo, S (2011): Samfunnsvitenskapelige metoder, S. 208 36 Früh, W. (2015): Inhaltsanalyse, S. 189. 16
3.1 Der Fragebogen Die Grundlage für die hier vorliegende Analyse bildet ein Fragebogen37 mit 21 Fragen, der mit dem Programm GrafStat438 erstellt wurde. Das Hauptaugenmerk lag auf den Gründen und Motiven für den „Anschluss“, auf den Akteuren (Personen, Staaten, politische Parteien) und auf den Folgen des Ereignisses. Die Darstellung eines historischen Ereignisses in einem Schulbuch besteht nicht nur aus einem Text, sondern kann von Illustrationen zum Beispiel in Form von Fotos, Plakaten, Postkarten, Kunst, Tabellen und Diagrammen begleitet werden, die oft die Eindrücke für den Leser verstärken. Darum wurden die verschiedenen Aspekte der Bilder in den Schulbüchern betrachtet und näher auf das Bild-Text-Verhältnis eingegangen. Der für den „Anschluss“ eingeräumte Textumfang wurde auch per Schulbuch untersucht, um die Wichtigkeit des „Anschlusses“ in der Geschichte für die Schulbuchautoren darzustellen. Zusätzlich zum beruflichen Hintergrund der Autoren wurden auch die Größe und Art des Verlages untersucht. Vor dem Beginn der Analyse der Schulbücher ist es empfehlenswert sich einen ersten Eindruck vom Werk zu verschaffen, auch um mögliche eigene Vorurteile bewusst zu werden. Eine geschichtliche Übersicht über das Ereignis war unumgänglich, um diese Arbeit zu schreiben. Das Korpus wurde gründlich durchgelesen. Als nächster Schritt mussten die zu untersuchenden Textteile ausgewählt werden. Der größte Teil der Texte wurden freundlicherweise von der Schulbuchforschung in Österreich zugesandt. Den Rest des Korpus wurde von Verwandten in Form von Schulbüchern vermittelt. Diese Texte beeinflussten die Überlegungen zum Beginn der Textauswahl - Wann beginnt der „Anschluss“ im Schulbuch? Darauf gibt es keine eindeutige Antwort, und es musste für diese Aufgabe festgelegt werden. Die zugesandten Kopien begannen oft mit der Überschrift der „Ständestaat“. Das natürliche Ende der Textteile ergab sich mit den Folgen des Ereignisses. Aus diesem Wissen wurden dann die Kategorien der Akteure, der Motive, der Gründe und der Folgen im Fragebogen gebildet; dies deckte die Analyse der Forschungsfragen. Der erste Teil des Fragebogens befasst sich mit textlichen und bildlichen Perspektiven der Schulbücher und präsentiert Informationen zu den Autoren und den Verlagen. Bilder im Schulbuch präsentieren einen immer wichtiger werdenden Teil des Schulbuches, und ein Viertel des Fragebogens betrifft dieses Thema. Besonders das Verhältnis zwischen Text und Bild weckte das Interesse, und die Kategorienbildung erwies sich als 37 Siehe Anhang 2, Fragebogen „Anschluss“. 38 Ein Fragebogenprogramm von Diener, Uwe, das alle Phasen einer Befragung unterstützt. https://www.grafstat.de/ (21.02.2020). 17
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