Eine ungarische Debatte aus dem Jahr 1926 über die Funktion der Volksabstimmung im politischen System - austriaca.at

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BRGÖ 2020
Beiträge zur Rechtsgeschichte Österreichs

László KOMÁROMI, Budapest

Eine ungarische Debatte aus dem Jahr 1926
über die Funktion der Volksabstimmung
im politischen System
Hintergrund, Standpunkte und die spätere Entwicklung

A Hungarian Debate from 1926 about the role of referendums in the political system
Background, standpoints and the later development
In 1926, the publicist Hugó Ignotus (1869–1949) and the sociologist Róbert Braun (1879–1937) debated in the
Hungarian journal “Nyugat” the possible and desirable roles of referendums in the political system. This debate was
unique because institutions of direct democracy were neither regulated nor practiced in Hungary at that time; not
even in‐depth scientific or political discussions took place about the issue. Ignotus was of the opinion that referen‐
dums could – at least partly – take over the role of the parliament and be used as a controlling power against author‐
itarian leaders. He proposed to enable citizens to directly elect and dismiss the political leader and to lay down the
guidelines for the government in referendums; the government should only elaborate and implement detailed regula‐
tions. Braun argued in his response that institutions of direct democracy cannot replace the representative power
and that citizens should not be overburdened by too frequent referendums. Direct democracy may work as a correc‐
tive to the parliament but it is not suitable for preventing authoritarian tendencies. He also emphasized the im‐
portance of political maturity as a prerequisite for a convenient use of referendums and popular initiatives. Later
developments justified Braun’s opinion. The article presents the standpoints of the discussion partners and places
their views in the context of preceding and subsequent evolution.
Keywords: direct democracy– Hungary – interwar period – plebiscite – popular initiative – referendum

1. Einführung                                                  zweiten Hälfte des 18. Jh. in den ehemaligen
                                                               britischen Kolonien in Neuengland,1 tauchten
Die Debatte, die im Jahr 1926 zwischen dem
                                                               dann in den französischen Verfassungen der
Publizisten Hugó Veigelsberg (1869–1949) und
                                                               bürgerlichen Revolution auf2 und wurden im
dem Soziologen Róbert Braun (1879–1937) in der
                                                               19. Jh. auch in der Schweiz, zuerst in den Kanto‐
ungarischen Zeitschrift „Nyugat“ („West“) ver‐
                                                               nen, dann auch auf Bundesebene, eingeführt
öffentlicht wurde, ist eine der sehr wenigen
                                                               und weiterentwickelt.3 Nach dem Ersten Welt‐
Schriften, die sich in der Zwischenkriegszeit in
Ungarn mit der Funktion der Volksabstimmung
und anderen direktdemokratischen Institutio‐                   1 LOBINGIER, The People’s Law 163–203; AUER, Le
nen beschäftigten. Moderne Instrumente der                     référendum 71–76.
                                                               2 FREI, Direkte Demokratie 4–12.
direkten Demokratie erschienen erstmals in der                 3 VATTER, Kantonale Demokratien 228–240; DERS.,

                                                               Direkte Demokratie 72–77.

http://dx.doi.org/10.1553/BRGOE2020‐2s241
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krieg kam es zu ihrer ersten größeren Verbrei‐                sche Realität war von diesen direktdemokrati‐
tung, als in vielen neuen Demokratien, wie der                schen Forderungen weit entfernt. Weder wur‐
Weimarer Republik, der Republik Österreich,                   den tiefgehende wissenschaftliche Diskurse über
den Baltischen Staaten und im Irischen Freistaat              das Thema geführt, noch hat sich damit die po‐
verschiedene Arten von Referenden, Volksinitia‐               pulärwissenschaftliche Literatur beschäftigt. In
tiven und Plebisziten in die neuen Verfassungen               diesem Zusammenhang ist die publizistische
aufgenommen wurden.4 Zu einer ähnlichen                       Debatte aus dem Jahr 1926 ein interessanter
Entwicklung kam es in Ungarn nicht, obwohl                    Ausnahmefall. In der folgenden Untersuchung
die Idee der direkten Machtausübung des Vol‐                  werden zuerst die Teilnehmer dieser Debatte
kes seit der Französischen Revolution auch in                 vorgestellt, dann ihre Standpunkte im internati‐
Ungarn bekannt war.5 Die ungarische Elite war                 onalen Kontext präsentiert, schließlich die späte‐
aber solchen Ideen gegenüber sehr zurückhal‐                  ren Entwicklungstendenzen kurz geschildert,
tend.6 Als die bürgerliche Volksvertretung im                 damit die Stichhaltigkeit der Argumente der
Jahre 1848 eingeführt wurde, wurden das Re‐                   Diskussionspartner beurteilt werden kann.
präsentativprinzip und das freie Mandat der
Abgeordneten unbestreitbar in der ungarischen
Gesetzgebung. Weder mit dem österreich‐                       2. Die Disputanten
ungarischen Ausgleich im Jahre 1867 noch mit
                                                              Hugo Veigelsberg, geboren im Jahre 1869 in
dem Gesetzesartikel Nr. I. von 1920 wurde das
                                                              Pest, war ein ungarischer Dichter, Schriftsteller,
geändert. Verschiedene Kräfte der politischen
                                                              Literaturkritiker und Publizist. Er schrieb unter
Opposition strebten vor allem nach der Erweite‐
                                                              dem literarischen Pseudonym „Ignotus“. Er war
rung des Wahlrechts und nicht nach direkter
                                                              Mitgründer und zwanzig Jahre lang erster Chef‐
Demokratie. Nur die Ungarische Sozialdemo‐
                                                              redakteur der Zeitschrift „Nyugat“, die zwi‐
kratische Partei und die Bürgerliche Radikale
                                                              schen 1908 und 1941 als wichtigstes Organ für
Partei nahmen „die direkte Volksgesetzgebung
                                                              progressive Dichter und Schriftsteller galt. Eine
auf dem Wege der Initiative und des Referen‐
                                                              ganze Epoche der ungarischen Literaturge‐
dums“ in ihre Parteiprogramme in den Jahren
                                                              schichte wurde nach dieser Zeitschrift benannt.
19037 bzw. 19148 als Forderung auf. Die politi‐
                                                              Ignotus studierte Rechtswissenschaft in Buda‐
4 KOMÁROMI, Parliaments 58–60.                                pest. Nach seinem Studium arbeitete er als Jour‐
5 Siehe z.B. den im Jahre 1793 verfassten Verfassungs‐        nalist und schrieb Berichte aus Deutschland, aus
entwurf von Ignác Martinovics, der direktdemokrati‐           der Türkei, dem Balkan und aus den USA für
sche Elemente enthielt (veröffentlicht in: BENDA, A
                                                              die Tageszeitung „Magyar Hírlap“. 1919 emi‐
magyar jakobinus mozgalom 897–908).
6 Siehe z.B. die Aussage des ungarischen Publizisten,         grierte er nach Wien, nahm aber auch von dort
László Szalay, aus dem Jahr 1844: SZALAY, Diéta 204–          aktiv am ungarischen Literaturleben teil. 1938
205, in englischer Übersetzung zitiert von KOMÁROMI,          flüchtete er wegen den Judengesetzen nach
Popular Rights 3.                                             London und 1941 in die USA. Erst 1948 kehrte er
7 ERÉNYI, A magyar munkásmozgalom 140. Die Ver‐
                                                              schwerkrank nach Budapest zurück, wo er ein
fasser des Programms der Ungarischen Sozialdemo‐
kratischen Partei waren wahrscheinlich vom Eisena‐            Jahr später gestorben ist.9
cher Programm der Deutschen Sozialdemokratischen              Róbert Braun, geboren im Jahre 1879 in Arad,
Arbeiterpartei (1869) inspiriert, die ebenfalls die „Ein‐
                                                              war ein ungarischer Soziologe, Bibliothekar,
führung der direkten Gesetzgebung (das heißt Vor‐
schlags‐ und Verwerfungsrecht) durch das Volk“
vorsah, siehe MOMMSEN, Parteiprogramme 312.                   9KENYERES, Életrajzi lexikon, „Ignotus, Veigelsberg
8 PAJKOSSY, Magyarország története 884.                       Hugó“; HEGEDÜS, Arcképcsarnok, „Ignotus“.
Eine ungarische Debatte aus dem Jahr 1926 über die Funktion der Volksabstimmung im politischen System 243

Dorfforscher und Lexikograph. Er studierte in                 festgelegt. Das Funktionieren der Parlamente
Budapest und Paris, ab 1907 unterrichtete er an               warf jedoch auch Probleme auf. Obstruktion,
der Handelsfachmittelschule in Siebenbürgen, in               das Vertreten von Partikularinteressen, Beein‐
Neumarkt am Mieresch [Marosvásárhely, Targu                   flussung durch Großindustrie und Finanzkapital
Mures]. 1911 kehrte er nach Budapest zurück und               – um nur einige Probleme zu nennen. Außer‐
arbeitete als Vizedirektor der Stadtbibliothek bis            dem waren die Parlamentsparteien in vielen
1918. Nach der Räterepublik von 1919 wurde er                 Ländern nur kaum disziplinierte Klubs, auf
ins Gefängnis geworfen. Später arbeitete er als               welche man eine stabile parlamentarische Regie‐
Lektor, Übersetzer und Redakteur bei verschie‐                rung nicht stützen konnte. Besonders dieser
denen Zeitschriften. Er publizierte über soziologi‐           letzte Faktor, die politische Instabilität der Re‐
sche und wirtschaftliche Themen und übersetzte                gierungen, die häufigen Regierungswechsel,
unter anderem die Werke des US‐amerikanischen                 wurden nach dem Ersten Weltkrieg sehr deut‐
Ökonomen Henry George (1839–1897) und die                     lich. Die neuen Demokratien gerieten in eine
über die US‐amerikanische Demokratie geschrie‐                schwierige Lage.12 Töne, die eine stärkere Regie‐
benen Teile der zweibändigen Monographie10 des                rung bzw. eine einflussreichere Exekutivgewalt
britischen Juristen, Historikers und Politikers               forderten, wurden immer lauter. Dementspre‐
James Bryce (1838–1922).11                                    chend begann die Erosion der neuen, nach dem
Weder Ignotus, noch Braun war ein Fachexperte                 Ersten Weltkrieg gegründeten Demokratien. Die
im Bereich Demokratiegeschichte, direkter De‐                 wirtschaftliche und die damit verbundene poli‐
mokratie, Rechts‐ oder Politikwissenschaften.                 tische Krise hat diese Entwicklung beschleunigt.
Aber beide waren Männer mit einer hohen Aus‐                  Die Macht der Regierungen bzw. Staatsober‐
bildung, die sich für gesellschaftliche und politi‐           häupter wurde erweitert, die Kompetenzen des
sche Probleme interessierten und im Allgemei‐                 Parlaments eingeschränkt. Die Forderung nach
nen auch überdurchschnittlich informiert waren,               einem starken Führer war aber immer noch gut
nicht nur bezüglich Ungarn, sondern auch über                 vernehmbar und das Schlimmste in dieser Hin‐
die ausländischen, internationalen Ereignisse                 sicht – die Umformung der demokratischen
und Entwicklungstendenzen. Auch ihre Debatte                  Ordnungen in totalitäre Regime – ließ noch auf
fokussierte vor allem nicht auf Ungarn, sondern               sich warten. Im Jahre 1926 waren nur die ersten
auf den internationalen Kontext.                              Zeichen, z.B. in Italien, zu sehen.

3. Der Kontext der Debatte                                    4. Standpunkte und Argumente
Dieser Kontext war der Folgende: Im Laufe des                 Manche Aspekte dieses Themenkomplexes wur‐
19. Jh. entstanden in den meisten europäischen                den von Ignotus in seinem Artikel mit dem Titel
Staaten die Grundlagen der demokratischen                     „Der große Schrei nach dem Diktator“ 13 erörtert.
Entwicklung und der parlamentarischen Regie‐                  In diesem Artikel stellte Ignotus fest, dass die
rungsform. Die Parlamente wurden aufgrund                     Politik, die Exekutive von Natur aus zur Füh‐
des allgemeinen Wahlrechts gewählt und die                    rung geeignete Politiker brauchte, die ihren
Verfahren, wodurch die Regierungen zur Ver‐                   Willen auch auf andere Menschen übertragen
antwortung gezogen werden konnten, waren                      können. Wenn solche begabten Politiker nicht

10   BRYCE, Modern Democracies.                               12   Siehe dazu GUSY, Demokratie in der Krise.
11   KENYERES, Életrajzi lexikon, „Braun Róbert“.             13   IGNOTUS, A nagy sikoly.
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zu finden sind oder nicht von selbst auftreten,       künftige Gesetzgebung“14 erschienen ist, unter‐
taucht der Wunsch nach einem Diktator, beson‐         suchte Ignotus verschiedene Krisensymptome
ders in schweren Zeiten auf. Das Problem der          des Parlamentarismus: die Unbrauchbarkeit der
Parlamente ist, sagte Ignotus, dass sie gerade        parlamentarischen Verfahren, mit denen man
gegen Autokraten als Garantie erfunden wur‐           die Regierung zur Rechenschaft ziehen sollte;
den, aber mit den Volksvertretungen nur solche        der Einfluss verschiedener Interessengruppen
politischen Führer erfolgreich zusammenarbei‐         auf den Entscheidungsprozess; die Gehaltlosig‐
ten können, die die Gabe der Autokraten – den         keit der parlamentarischen Debatten und der
anderen zu diktieren – haben. Sonst unterliegt        Niedergang des Stils der Parlamentsreden; die
der politische Führer im Kampf mit dem Parla‐         Obstruktion; die Schwierigkeiten der Kommu‐
ment und kann seine Ziele nicht verwirklichen.        nikation zwischen Abgeordneten der verschie‐
Wie, mit welchem Instrument könnte man die            denen Nationalitäten und die Instabilität der
Vorzüge der Autokratie zur Geltung bringen            von der Laune der Parteien abhängigen Regie‐
und zur selben Zeit auch die Demokratie auf‐          rung. Er kam zum Schluss, dass die Parlamente
rechterhalten? Die Parlamente scheinen dazu           den Volkswillen nicht richtig repräsentieren
nicht geeignet zu sein. Ignotus fand dieses In‐       können und dass das auf Vertretung basierende
strument in der Volksabstimmung und meinte,           Gesetzgebungsmodell durch die direkte Volks‐
dass ein starker politischer Führer, der vom          gesetzgebung abgelöst werden soll. Parlamente
Volk gewählt und abgewählt werden kann, auf           können nur eine Vorbereitungs‐, Deliberations‐
der einen Seite, und das Volk, das die wichtigs‐      und Beratungsfunktion erfüllen. Lokale Fragen
ten Fragen direkt entscheidet, auf der anderen        solle man in den verschiedenen territorialen
Seite, zusammen eine gute Kombination bilden          Autonomien – so Ignotus – ebenfalls durch
könnten. Richtlinien für die Politik der Regie‐       Volksabstimmung entscheiden.
rung sollten mittels Volksabstimmung gegeben          Róbert Braun kritisierte in seiner Antwort („Oli‐
werden; die Detailfragen zu entscheiden und die       garchie in der Demokratie“15) den ersterwähnten
Durchführung der Beschlüsse gehören zur Kom‐          Artikel von Ignotus vor allem im Hinblick da‐
petenz des politischen Führers und seiner Regie‐      rauf, dass Ignotus politische Führerschaft und
rung. Ignotus meinte auch, dass die Elemente          Diktatur miteinander vermischt. Es sei gar nicht
dieser Konzeption bereits vorhanden waren: der        egal, meinte Braun, ob der Machtinhaber seine
US‐Präsident, einerseits, regiert unabhängig vom      Politik im Einklang mit dem Volkswillen oder
Kongress, fast wie ein Diktator; die in England       davon unabhängig durchführte, ob er gewalt‐
praktizierte häufige Parlamentsauflösung vor          sam oder auf gütlichem Wege regierte. Braun
unvorhersehbaren oder grundlegenden Ent‐              wies auch darauf hin, dass nicht nur Diktaturen,
scheidungen, andererseits, wirkt wie eine Volks‐      sondern auch die meisten Demokratien oligar‐
abstimmung. Diese zwei Komponenten solle man          chische (elitäre) Züge aufweisen. Es sei nicht
miteinander verknüpfen.                               schwer, sagte er, nicht organisierte Volksmassen
Die Grundidee dieses Lösungsvorschlags führte         gegen ihre eigenen Interessen zu führen. Eine
Ignotus bereits 23 Jahre früher, 1903, in einer       solche Politik hat aber auch ihre Grenzen. Die
längeren Studie in der Zeitschrift „Huszadik          Volksabstimmung ersetzt nicht einmal in jenen
Század“ („Zwanzigstes Jahrhundert“) aus. In           Ländern das Parlament, wo direkte Demokratie
diesem Artikel, der unter dem Titel „Die zu‐

                                                      14   VEIGELSBERG, A jövendő törvényhozás.
                                                      15   BRAUN, Oligarchia.
Eine ungarische Debatte aus dem Jahr 1926 über die Funktion der Volksabstimmung im politischen System 245

häufig praktiziert wird, wie in der Schweiz, in               Unterschriftssammlung über ihren eigenen Ge‐
den westlichen Gliedstaaten der USA und in                    setzesentwurf eine Volksabstimmung herbeifüh‐
Australien. So eine Rolle wird von der Volksab‐               ren können und so die Gesetzgebung auch ohne
stimmung auch nicht erwartet. Braun warnte                    die Willensäußerung des Parlaments möglich
davor, direktdemokratische Instrumente ohne                   ist. Diese zwei Instrumente – fügt Braun hinzu –
Berücksichtigung der verschiedenen kulturellen                ersetzen jedoch nirgendwo das Parlament. Im
und politischen Verhältnisse in andere Staaten                parlamentarischen Regierungssystem, wo das
umzusetzen. Er war auch in der Frage mit Ig‐                  Parlament den Willen des Stimmvolks repräsen‐
notus nicht einig, welche Faktoren den Wunsch                 tiert, kann die Volksabstimmung als ein techni‐
nach dem Diktator hervorrufen. In den lateini‐                sches Korrektiv des Parlaments funktionieren:
schen Staaten trugen dazu die schwache demo‐                  wenn eine neue Frage auf die politische Tages‐
kratische Kultur, der Mangel an Selbstverwal‐                 ordnung gesetzt wird, worüber sich die Stimm‐
tung und das Fehlen der großen Parteien auch                  bürgerschaft bei den letzten Parlamentswahlen
bei. Also, die Krise war – so Braun – nicht gene‐             nicht äußern konnte, können die Stimmbürger
rell der Institution des Parlaments zuzuschreiben.            auch ohne Parlamentswahlen gefragt werden. In
Ignotus machte in seiner Replik („Diktatur und                so einem Fall wird die Auflösung des Parla‐
Volksabstimmung“16) klar, dass er nicht für die               ments politisch nicht nötig sein, sondern das
Diktatur plädierte, sondern nur die Antwort auf               Stimmvolk entscheidet direkt über die Frage.
die Frage suchte, wie man den Menschen, die                   Das Referendum kann auch gegen die Interes‐
heute Diktatur fordern, eine wirksame Regie‐                  sendurchsetzung einer Minderheit in der Regie‐
rung ohne die Nachteile der Diktatur (wie z.B.                rungsmehrheit eingesetzt werden, wenn diese
die Ausgeliefertheit an die Willkürherrschaft)                Minderheit die Mehrheit mit dem Austritt aus
gewähren kann. Er wiederholte seinen Stand‐                   der Regierungskoalition erpresst. Falls die
punkt, dass das Parlament, trotz wiederkehren‐                Mehrheit – unter dem Druck der Minderheit –
der Reformversuche, nur eine Kommission un‐                   ein Gesetz verabschiedet, kann man nachher
ter anderen Machtfaktoren (wie Presse, Interes‐               gegen dieses Gesetz mittels Referendum ein
senverbände und sonstige Institutionen) sei, und              Volksveto erheben. Diese und ähnliche Verbes‐
dass die Volksabstimmung die Rolle des Parla‐                 serungen bedeuten jedoch keine wesentliche
ments als letztentscheidende Instanz in der Ge‐               Umgestaltung des parlamentarischen Systems.
setzgebung übernehmen könne. Wenn das von                     Dort, wo sie eingeführt wurden, wie in der
der Volksabstimmung nicht erwartet wird, was                  Schweiz und in den US‐Gliedstaaten, werden
kann man dann von diesem Instrument erwar‐                    diese Instrumente seltener benutzt oder nehmen
ten? – fragte abschließend Ignotus.                           an den Volksabstimmungen weniger Stimmbür‐
Braun stellte in seiner Antwort („Gesetzgebung                ger teil, als am Anfang. Braun wies schließlich
ohne Parlament“17) die zwei wichtigsten Institu‐              darauf hin, dass die Volksabstimmung eine viel
tionen der modernen direkten Demokratie dar.                  größere politische Reife erfordert als der reine
Das Referendum, mit dem ein vom Parlament                     Parlamentarismus. Wo diese Reife fehlt, wird
bereits verabschiedetes Gesetz vom Volk bestä‐                das Instrument von einem Demagogen miss‐
tigt oder verworfen werden kann, und die                      braucht, wie es unter der Herrschaft von Napo‐
Volksinitiative, wodurch die Initiatoren mittels              leon III. in Frankreich passierte.
                                                              Soweit die Debatte. Auf den zweiten Artikel von
                                                              Braun kam keine Antwort mehr von Ignotus.
16   IGNOTUS, Diktatúra.                                      Die Diskussion zwischen den Autoren fand kein
17   BRAUN, Parlament.
                                                              Echo in politischen Kreisen oder Zeitungen.
246                                          László KOMÁROMI

5. Spätere Entwicklung                                   tion und geeignete politische Kultur, auch ge‐
                                                         fährlich wirken können, insbesondere in Zeiten
und Schlussfolgerungen
                                                         politischer und wirtschaftlicher Krise. Es stellte
Inwieweit bestätigte die spätere Entwicklung die         sich auch heraus, dass die Volksabstimmung an
Standpunkte der beiden Publizisten? In der di‐           sich kein wirksames Instrument gegen den Dik‐
rekten Nachfolgezeit wurden Initiativen und              tator ist, vielmehr besteht die Gefahr, dass ein
Referenden in manchen neuen Demokratien                  autoritäres Regime von oben angeordnete
benutzt, wie z.B. in der Weimarer Republik, wo           Volksabstimmungen für seine eigenen Macht‐
1926 („Fürstenenteignung“) und 1929 („Young‐             zwecke missbraucht. Róbert Brauns Warnung
Plan“) zwei landesweite Volksabstimmungen                war in dieser Hinsicht zutreffend.
abgehalten wurden, die aber wegen des hohen              Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden direkt‐
Teilnahmequorums ungültig waren.18 Extremis‐             demokratische Instrumente auch in anderen
tische Kräfte, auch die NSDAP hielten die Volks‐         Staaten, oft mit Vorsicht, eingeführt. In Italien
initiative für ein attraktives Instrument, wo‐           z.B. dauerte es bis in die 70er Jahre, dass die
durch sie ihre Popularität verstärken wollten.           direktdemokratischen Instrumente der Verfas‐
Nach Hitlers Machtübernahme haben die Nazis              sung von 1947 implementiert und ihre Benut‐
von unten kommende Volksinitiativen und Re‐              zung begonnen wurde.21 Nach dem politischen
ferendumsverfahren nicht mehr erlaubt, die               Systemwandel in Ostmitteleuropa wurden ver‐
Volksabstimmung wurde eine politische Waffe              schiedene Institutionen auch in diesen Ländern,
der Regierung, ganz wie in der napoleonischen            auch in Ungarn eingeführt.22 Die Parlamente
Ära in Frankreich.19 Ein zweites Beispiel ist Est‐       bestehen und funktionieren aber auch weiterhin.
land, wo die Regierungsmehrheit die politische           Direktdemokratische Prozesse können das Par‐
Instabilität durch Verfassungsänderungen be‐             lament – im Gegensatz zur Erwartung des Ig‐
kämpfen wollte. Diese Versuche scheiterten aber          notus – nicht ersetzen. Auch in der Schweiz
am Instrument des obligatorischen Verfassungs‐           wird über nicht mehr als 7 % aller Parlaments‐
referendums, da das Stimmvolk die Verfas‐                vorlagen ein fakultatives Referendum durchge‐
sungsänderungen nicht guthieß. Schließlich               führt, etwa 93 % der parlamentarischen Geset‐
konnte die Veteranenliga, eine rechtsextremisti‐         zesentwürfe werden ohne direkte Einflussnah‐
sche Gruppe, ihren eigenen Verfassungsentwurf            me des Volkes verabschiedet.23 Dabei spielt auch
mittels Volksinitiative durchsetzen. Diese neue          eine Rolle, was Róbert Braun kurz erwähnt hat:
Verfassung erweiterte die Machtkompetenzen               die Belastbarkeit der Stimmbürgerschaft ist be‐
des Staatsoberhauptes und beschränkte dras‐              grenzt. Alle Gesetze kann man nicht der Volks‐
tisch die Macht des Parlaments. Diese Ereignisse         abstimmung unterbreiten. Auch heute nicht,
ebneten aber letztendlich den Weg für Konstan‐           wenn die Informationen auf verschiedenen We‐
tin Päts, der die Veteranenliga auflöste und ein         gen der Kommunikation technisch einfacher
autoritäres Regime einführte.20 Auf Grund die‐           und schneller erreichbar sind als vor etwa 100
ser Entwicklungen lässt sich feststellen, dass           Jahren. Ignotus war in dieser Hinsicht zu opti‐
direktdemokratische Institutionen, ohne Tradi‐

                                                         21 Siehe dazu CAPRETTI, Direkte Demokratie in Italien
18 Siehe dazu SCHIFFERS, Elemente 212–215, 231–233;      158–163.
DERS., Weimarer Erfahrungen 55–56, 59–60.                22 Über ihre Regelung und Praxis siehe AUER, BÜTZER,

19 Siehe dazu JUNG, Plebiszit und Diktatur; DERS.,       Direct Democracy; MARCZEWSKA‐RYTKO, Handbook;
Volksabstimmungen.                                       DIES., Civic Participation.
20 KOMÁROMI, Parliaments 71–74.                          23 LINDER, Direkte Demokratie 119.
Eine ungarische Debatte aus dem Jahr 1926 über die Funktion der Volksabstimmung im politischen System 247

mistisch. Dann bleiben aber die Institutionen             Literatur:
direkter Demokratie, und das sieht man auch in
                                                          Andreas AUER, Le référendum et l’initiative popu‐
der heutigen Praxis, höchstens Korrektive des               laires aux Etats‐Unis (Bâle–Francfort‐sur‐le‐Main
Parlaments – wie das Braun bereits 1926 fest‐               1989).
stellte. In den meisten Fragen hat die spätere            DERS., Michael BÜTZER (Hgg.), Direct Democracy. The
Entwicklung seinen Standpunkt bestätigt.                     Eastern and Central European Experience (Alder‐
                                                             shot 2001).
                                                          Kálmán BENDA (Hg.), A magyar jakobinus mozgalom
                                                             iratai (= A magyar jakobinusok iratai Bd. 1, Buda‐
Korrespondenz:                                               pest 1957).
                                                          Róbert BRAUN, Oligarchia a demokráciában, in: Nyu‐
Dr. László KOMÁROMI,
                                                             gat 19 (1926/16) 322–324.
Budapest
Katholische Péter Pázmány Universität                     DERS., Parlament nélküli törvényhozás, in: Nyugat 19
Szentkirályi u. 28–30.                                       (1926/22) 794.
H – 1088 Budapest                                         James BRYCE, Modern Democracies, 2 Bde. (New York
komaromi.laszlo@jak.ppke.hu                                  1921).
ORCID‐Nr. 0000‐0002‐2381‐3755                             Anna CAPRETTI, Direkte Demokratie in Italien, in:
                                                            Hermann K. HEUßNER, Otmar JUNG (Hgg.), Mehr
                                                            direkte Demokratie wagen. Volksentscheid und
                                                            Bürgerentscheid: Geschichte / Praxis / Vorschläge
Abkürzungen:                                                (München 22009) 157–177.
                                                          Tibor ERÉNYI u.a. (Hgg.), A magyar munkásmozga‐
Siehe das allgemeine Abkürzungsverzeichnis:
                                                             lom a 20. század első éveiben és az 1905–1907‐es
[http://www.rechtsgeschichte.at/media/abk.pdf]
                                                             forradalmi válság idején (Budapest 1955).
                                                          Christoph FREI, Direkte Demokratie in Frankreich:
                                                             Wegmarken einer schwierigen Tradition (= Vor‐
                                                             träge am Liechtenstein‐Institut, Kleine Schriften
                                                             22, Vaduz 1995).
                                                          Christoph GUSY (Hg.), Demokratie in der Krise. Euro‐
                                                             pa in der Zwischenkriegszeit (Baden–Baden 2009).
                                                          Géza HEGEDÜS (Hg.), A magyar irodalom arcképcsar‐
                                                             noka (Budapest 1976)
                                                          Hugó IGNOTUS, A nagy sikoly a diktátor után, in:
                                                            Nyugat 19 (1926/15) 229–232
                                                          DERS., Diktatúra és népszavazás, in: Nyugat 19
                                                             (1926/17) 405–406.
                                                          Otmar JUNG, Die Volksabstimmungen der National‐
                                                             sozialisten, in: Hermann K. HEUßNER, Otmar JUNG
                                                             (Hgg.), Mehr direkte Demokratie wagen. Volks‐
                                                             entscheid und Bürgerentscheid: Geschichte / Pra‐
                                                             xis / Vorschläge (München 22009) 91–102.
                                                          DERS., Plebiszit und Diktatur: die Volksabstimmun‐
                                                             gen der Nationalsozialisten. Die Fälle »Austritt
                                                             aus dem Völkerbund« (1933), »Staatsoberhaupt«
                                                             (1934) und »Anschluß Österreichs« (1938)
                                                             (= Beiträge zur Rechtsgeschichte des 20. Jahrhun‐
                                                             derts 13, Tübingen 1995).
                                                          Ágnes KENYERES (Hg.), Magyar életrajzi lexikon (Bu‐
                                                            dapest 1967) [https://www.arcanum.hu/hu/online‐
                                                            kiadvanyok/Lexikonok‐magyar‐eletrajzi‐lexikon‐
                                                            7428D] (24. 1. 2020).
248                                          László KOMÁROMI

László KOMÁROMI, Parliaments and Popular Law‐            Reinhard SCHIFFERS, Elemente direkter Demokratie im
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DERS,, Popular Rights in Hungary. A Brief Overview          Beiträge auf dem 3. Speyerer Demokratieforum
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Maria MARCZEWSKA‐RYTKO u.a. (Hgg.), Civic Partici‐         rekte Demokratie. Bestandaufnahmen und Wir‐
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   században. Szöveggyűjtemény (Budapest 2003).            Század 4 (1903/7) 1–17.
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