Eins 2018 Das Forschungsmagazin der Universität Potsdam - Digarec

Die Seite wird erstellt Aaron Schröter
 
WEITER LESEN
Eins 2018 Das Forschungsmagazin der Universität Potsdam - Digarec
Das Forschungsmagazin der Universität Potsdam

Eins 2018
Eins 2018 Das Forschungsmagazin der Universität Potsdam - Digarec
58
PORTAL WISSEN · EINS 2018
     Screenshot: Lords of the Fallen ©2017 CI Games
Eins 2018 Das Forschungsmagazin der Universität Potsdam - Digarec
GAMES        ÜBER GESCHICHTE, GEGENWART UND
                    ZUKUNFT EINES JUNGEN MEDIUMS

                                                    Screenshot des Spiels
                                                     „Lords of the Fallen“

PORTAL WISSEN · EINS 2018                                                    59
Eins 2018 Das Forschungsmagazin der Universität Potsdam - Digarec
Im Laufe seiner kurzen Geschichte hat sich das           sche Kriegsspiel in jedem Fall sehr wichtig, denn es
     Computerspiel bereits rasant gewandelt. Gerade           ist auch der Vorgänger des analog wie digital durch-
     deswegen stellt es Forscherinnen und Forscher            geführten Rollenspiels. Gleichzeitig baut es auf dem
     ganz verschiedener Disziplinen vor Herausfor-            Schach auf, das natürlich viel älter ist. Hier sind wir
     derungen. Was sind seine Potenziale? Wie steht           bei den Anfängen der Gesellschaftsspiele. Aber auch
     es als Unterhaltungsmedium zur Hochkultur?               die waren vielleicht immer schon Computerspiele.
     Wie beeinflusst es Spielerinnen und Spieler? In
     der Erforschung dieses Genres nimmt die Uni-
     versität Potsdam eine Vorreiterrolle ein. Vor zehn       Und wann spricht man von Videospielen?
     Jahren entstand hier das Zentrum für Computer-
     spielforschung (DIGAREC), das über die größte            Möring: Der Computer stellt in erster Linie Berech-
     Computerspielsammlung an einer deutschen                 nungen an. Deren Ausgabe muss nicht zwangsläufig
     Hochschule verfügt. Dieses Archiv wird derzeit mit       visuell sein. Das Videospiel dagegen zielt auf Sicht-
     anderen Beständen zusammengeführt: Entstehen             barkeit. In Deutschland sprach man früher auch von
     soll dadurch die größte Computerspielsammlung            Bildschirmspielen. Eines der ganz frühen Beispiele ist
     weltweit. Aus diesem Anlass traf sich Jana Scholz        „Tennis for two“ von 1958: Das Brookhaven National
     zum Gespräch mit drei Wissenschaftlern, die              Laboratory, das vor allem für das US-amerikanische
     sich in Forschung und Lehre mit diesem Medium            Energieministerium forschte, hatte das Spiel für sei-
     befassen: dem Computerspieleforscher Dr. Sebas-          nen Tag der Offenen Tür entwickelt.
     tian Möring, dem Kulturwissenschaftler Prof. Dr.
     Nathanael Riemer und dem Medienkulturhistori-            Christians: Sehr lange haben wir den Computer mit
     ker Prof. Dr. Heiko Christians.                          dem Bildschirm identifiziert und zu Kindern gesagt,
                                                              sie sollen nicht darauf herumgrapschen. Heute ge-
     Was genau ist ein Computerspiel?                         hen wir genauso damit um: Das Setting zwischen
                                                              Rechner­einheit und Interface hat sich mit dem Touch-
     Möring: Es gibt eine Vielzahl von Definitionen. Um       screen vollkommen gedreht. Das betrifft natürlich
     eine einfache zu nennen: Ein Computerspiel ist ein       auch die Spielwelt.
     Spiel, zu dessen Ausführung es eines Computers be-
     darf. Vielleicht war aber schon das preußische Kriegs-   Riemer: Womöglich benötigen wir diese Bildschirm-
     spiel aus dem 19. Jahrhundert ein Computerspiel,         oberfläche irgendwann gar nicht mehr. Computer
     denn es brauchte eine dritte Person, welche die Spiel-   könnten in den menschlichen Körper integriert wer-
     züge berechnete. Ein Computer ist eine Rechenma-         den, sodass auch spielerische Aspekte Teil des Kör-
     schine, und dieses Spiel erforderte einen „Rechner“.     pers sind. Schon das Smartphone stellt ja in gewisser
     Für die Geschichte dieses Mediums ist das preußi-        Weise eine solche Erweiterung dar.

                                                         Prof. Nathanael Riemer (li.),
                                                         Prof. Heiko Christians (Mi.)
                                                          und Dr. Sebastian Möring

                                                                                                                        Foto: Fritze, Karla

60                                                                                          PORTAL WISSEN · EINS 2018
Eins 2018 Das Forschungsmagazin der Universität Potsdam - Digarec
Das preußische Kriegsspiel war ein Strategiespiel,
                                                                      das Geländesimulationen zum Training preußischer
                                                                      Offiziere nutzte. Mit verschiedenen Geländereliefs,
                                                                      beweglichen Figuren und Waffen simulierten zwei
                                                                      Spieler Gefechtssituationen. Ein dritter Spieler berech-
                                                                      nete Truppenstärken oder nahm Positionsbestimmun-
                                                                      gen vor. Beim Ego-Shooter bekämpfen Spielerinnen
                                                                      und Spieler aus der Ich-Perspektive mit Schusswaffen
                                                                      Gegner. Im Gegensatz dazu blickt der Spieler beim
                                                                      Third-Person-Shooter auf seine Spielfigur. Das Open-
                                                                      World-Game bietet den Spielerinnen und Spielern
                                                                      besonders viele Freiheiten und Möglichkeiten im
                                                                      Spielraum. Die Spielfigur in Jump ’n’ Run-Spielen          „Tennis For Two” im Brookhaven
                                                                      bewegt sich laufend und springend fort. Indie-Games        National Laboratory, 1958
                                                                      sind von unabhängigen Designerinnen und Designern
                                                                      entwickelte Spiele, die aus finanziellen Gründen häu-
                                                                                                                                                                      Tetris, 1984
                                                                      fig nur digital veröffentlicht werden.

                                                                    Welchen wirtschaftlichen Stellenwert
                                                                    haben Computerspiele?

                                                                    Christians: Einen enormen, mit unfassbaren Wachs-
                                                                    tumsraten. Die Unterhaltungsindustrie macht ihren
                                                                    größten Absatz mit Spielen. Computer(-spiele) sind
                                                                    bald nicht mehr von der Alphabetisierung abhän-
                                                                    gig, denn Sprachassistenten nehmen Befehle heute
                                                                    mündlich entgegen. Das vergrößert den Markt um
                                                                    Milliarden Teilnehmer.

                                                                    Riemer: Die Filmindustrie ist zwar noch dominant,
                                                                    aber das wird sich in den nächsten 20 Jahren weiter
                                                                    ändern. Beide Medienbereiche profitieren bereits von-
                                                                    einander. Videospiele lehnen sich an filmdramaturgi-
                                                                    sche Techniken an, wie etwa „Hellblade: Senua’s Sac-
                                                                    rifice“. Umgekehrt wird die Filmindustrie überlegen,
                                                                    wie sie spielerische Elemente einbauen kann.

                                                                    Möring: Ebooks, soziale Netzwerke, Lernplattformen
                                                                    – das sind alles Effekte einer allgemeinen Entwick-
                                                                    lung. Wir müssen Computerspiele im Zusammen-
                                                                    hang sehen, sowohl historisch als auch in ihrer
                                                                    Gleichzeitigkeit, das heißt ihre Interaktionen mit
                                                                    verschiedenen Medien. Denn anders als noch vor
                                                                    20 Jahren ist das Spiel nicht mehr mit einem mate-
                                                                    riellen Objekt identifiziert. Heute wird mit der DVD
                                                                    höchstens noch der erste Datensatz auf den Com-
Fotos: Wikimedia (o.); Fotolia/ggebl (M.); pixabay/SkyeWeste (u.)

                                                                    puter geladen, schon sind die Spieler mit dem Netz
                                                                    verbunden und das erste Update startet. Jedes Game
                                                                    hat Schnittstellen zu sozialen Netzwerken, Fotos aus
                                                                    dem Spiel werden direkt auf Facebook oder Instagram
                                                                    übertragen. Es gibt sogar Künstler, die die In-Game-
                                                                    Fotografie als ihr primäres Schaffen begreifen. Games
                                                                    sind also eigentlich nur ein Knotenpunkt in einem
                                                                                                                                                                  Minecraft, 2009
                                                                    Netzwerk vieler Medien.

                                                                    PORTAL WISSEN · EINS 2018                                                                                        61
Eins 2018 Das Forschungsmagazin der Universität Potsdam - Digarec
Das DIGAREC – Zentrum für Computerspielforschung an der Universität Potsdam führt Forscherinnen und Forscher
       der Universität Potsdam, der Fachhochschule Potsdam, der Universität der Künste Berlin und der btk – Hochschule
       für Gestaltung sowie das Computerspielmuseum Berlin zusammen. Gegründet im Jahr 2007, ist die Computerspiel-
       sammlung des DIGAREC heute die größte an einer deutschen Universität. Seit 2016 wird diese Sammlung mit den
       Beständen des Computerspielemuseums, der Unterhaltungssoftware Selbstkontrolle und der Zentral- und Landes-
       bibliothek Berlin unter Koordination der Stiftung Digitale Spielekultur zusammengelegt. Entstehen soll die weltweit
       größte Sammlung für Computerspiele, gefördert vom Deutschen Bundestag.

       $ https://www.uni-potsdam.de/de/ikm/forschung/digarec-zentrum-fuer-computerspielforschung.html

     Christians: Mein elfjähriger Sohn beschäftigt sich da-       triellen Umgebung stellen, als englische Romane zu
     mit, auf Youtube anderen beim Spielen zuzusehen. Er          europäischen Bestsellern wurden. Robinson Crusoe
     hat dort seine Helden und sieht sich die Kommentare          von Daniel Dafoe zum Beispiel wurde innerhalb von
     zu den Videos an. Anderen stundenlang beim Lesen             20 Jahren in 50 Sprachen übersetzt. Mit einer verän-
     zuzusehen, wäre für mich eine merkwürdige Vorstel-           derten Lesekultur entstand eine neue Bildungsidee.
     lung. Aber die Analyse dieses Phänomens ist sehr             Leserinnen und Leser sollten nun in die Handlung
     interessant.                                                 eintauchen, sich Szenen, Helden und Landschaften
                                                                  bildlich vorstellen. Computerspiele liefern heute sol-
     Riemer: Das ist vielleicht eine Form von Journalis-          che Simulationen und es ist vergleichsweise einfach,
     mus. Und auch eine Art von Performance.                      in diese einzutauchen. Damit beim Lesen eines Ro-
                                                                  mans Spannung entsteht, muss ich ein guter, ein
     Christians: Ja, und es ist unheimlich spannend, solche       schneller Leser sein. Das fällt beim Computerspiel
     Formate in den universitären Unterricht zu integrie-         weg: Die Einstiegsschwelle ist niedriger.
     ren. Dann bekommt man ein Wissen über Formate:
     Ist das eine Dokumentation, ein Kommentar oder eine          Möring: Ich bin nicht sicher, ob Computerspiele ein-
     Reportage? Hier gibt es viel Lernpotenzial. Nur muss         fach zugänglich sind. Heute gibt es wieder Spiele für
     das Bildungssystem Ziele formulieren, um Computer-           richtige Cracks. Letztes Jahr habe ich die beiden Ge-
     spiele in eine Lernumgebung zu verwandeln. Und wir           winnerspiele des Deutschen Computerspielepreises
     als Kulturwissenschaftler sollten uns um Vergleichbar-       analysiert. Bei „Lords of the Fallen“, ein Mittelalter-
     keit zu anderen medialen Phänomenen bemühen, um              Fantasy-Spiel, musste ich mich gegen Ritter, Drachen
     etwas über das Computerspiel zu lernen.                      und Untote durchschlagen. Über das erste Level bin
                                                                  ich nicht hinausgekommen (lacht). Das Spiel war für
                                                                  einen Menschen mit durchschnittlicher Reaktionsfä-
     Welche Rolle nehmen Computerspiele in                        higkeit herausfordernd und setzte Training voraus.
     einer Mediengeschichte ein?                                  Hier wird im internationalen Kontext sogar von „Ga-
                                                                  ming Literacy“ gesprochen, also einer „Alphabetisie-
     Christians: Schon im 18. Jahrhundert musste sich             rung“ des Spielers. Die Zugänglichkeit der Games ist
     die Hochkultur dem Druck der unterhaltungsindus-             durchaus variabel.
                                                                                                                              Foto: Fritze, Karla

62                                                                                                PORTAL WISSEN · EINS 2018
Eins 2018 Das Forschungsmagazin der Universität Potsdam - Digarec
Warum sollten Spiele überhaupt                          Christians: Im 18. Jahrhundert wurde lange darüber
                           ­Bildungszwecke erfüllen?                               gerätselt, ob Romane schädlich sind, zu Vereinze-
                                                                                   lung führen und die Leserinnen und Leser in Fanta-
                           Christians: Wenn Unterhaltungsindustrie und Bil-        siewelten abdriften. Und was kam dabei heraus? Am
                           dungssystem auseinanderfallen, ist das für eine         Ende ist das moderne Subjekt herausgekommen,
                           Gesellschaft ein Nachteil. In die technische Un-        von dem wir heute erwarten, dass es empfindsam,
                           terhaltung wird massiv finanziell investiert. Hier      authentisch und selbstreflexiv ist. Das alles wurde
                           werden Technologien weiterentwickelt, die auch          an den Romanen eintrainiert. Wir können also über-
                           für militärische Zwecke von Interesse sind. Un-         haupt nicht wissen, welches Subjekt eine Kultur her-
                           terhaltungsstandards verkörpern – offen oder ver-       vorbringt, in der Computerspiele erst seit 20 Jahren
                           deckt – Technologie- und Bewusstseinsstandards.         Thema sind.
                           Umgekehrt kann das Bildungssystem die Reflexion
                           dieser Unterhaltungsumgebungen einüben. Aber            Riemer: Die Hochkultur reagiert auf die jeweilige
                           hier kommt es auf den Abstand an: „Spielerisch ler-     populäre Kultur. Das ist heute ähnlich wie zu der
                           nen“ als allgemeine Wohlfühl-Gelingensformel von        Zeit, als Romane die großen Erfolge feierten. Auch
                           Bildungsprozessen reicht hier sicherlich nicht. „Das    damals hat man die Lesewut unter Gesichtspunkten
                           Spielerische“ wandelt sich historisch und technisch.    der Abhängigkeit betrachtet: Lesen führe zur körper-
                           Seine Strukturen, Geschichte, Formate, Allianzen        lichen und geistigen Degeneration. Dieser Vorwurf
                           und Effekte wollen erst einmal erkannt und gelernt      wiederholt sich in der Kulturgeschichte – ob es um
                           werden.

                           Riemer: Angela Merkel hat Computerspiele auf der
                           „Gamescom“ letztes Jahr als Kulturgut bezeichnet,                        DIE WISSENSCHAFTLER
                           womit sie selbstverständlicher Teil des Bildungska-
                           nons wären. Die Studierenden fordern die Einbin-                         Dr. Sebastian Möring studierte
                           dung der Spiele in das Bildungssystem auch ein. Sie                      Kulturwissenschaften, Europäische
                           haben uns regelrechte Desiderate angetragen. Spie-                       Medienwissenschaft und Game
                           len kann schließlich auch auf das Leben vorbereiten.                     Studies. Er ist akademischer Mitar-
                           Viele Heranwachsende sehen in Rollenspielen die                          beiter im Studiengang Europäische
                           Möglichkeit, sich ohne die harten Konsequenzen            Medienwissenschaft und koordiniert das Zentrum
                           des echten Lebens auszuprobieren. In „Life Is Stran-      für Computerspielforschung der Universität Potsdam
                           ge“ beispielsweise setzen sich die Spielerinnen und       (DIGAREC).
                           Spieler mit dem Thema Mobbing an einer Schule
                           auseinander.                                              u smoering@uni-potsdam.de

                           Möring: Die Frage ist vielleicht nicht nur, wie man
                           Computerspiele bildungskompatibel macht, sondern                         Prof. Dr. Heiko Christians studierte
                           auch, was im Umkehrschluss Computerspiele mit                            Deutsche Philologie, Philosophie,
                           den Subjekten machen. Welchen Einfluss haben sie                         Pädagogik und Niederlandistik. Seit
                           auf das, was wir Bildung nennen?                                         2008 ist er Professor für Medien-
                                                                                                    kulturgeschichte an der Universität
                                                                                                    Potsdam.
                           Welche Erkenntnisse gibt es bereits über
                           die Wirkung von Computerspielen?
                                                                                     u heiko.christians@t-online.de
                           Möring: Als Computerspieleforscher können wir so-
                           ziale oder kulturelle Wirkungen untersuchen. So
                           trainiert man in Spielen zum Beispiel ökonomisches                       Prof. Dr. Nathanael Riemer studierte
                           Verhalten. Meist wird in diesem Zusammenhang                             Judaistik/Jüdische Studien, Germa-
                           aber aus psychologischer Perspektive gedacht und die                     nistik, Geschichte und Philosophie.
                           Gefahr einer Abhängigkeit fokussiert. Ein Kollege hat                    Seit 2013 ist er Juniorprofessor für
                           Studien zum Suchtpotenzial von Computerspielen                           Jüdische Studien mit dem Schwer-
                           analysiert und Paradoxa und Unsauberkeiten in den                        punkt Interreligiöse Begegnungen an
                           Prämissen dieser Studien entdeckt. Dadurch konnte                        der Universität Potsdam.
                           er zeigen, dass wir noch immer kein sicheres Wissen
                           darüber haben, ob Computerspiele süchtig machen           u nathanael.riemer@uni-potsdam.de
Fotos: Fritze, Karla (3)

                           oder nicht.

                           PORTAL WISSEN · EINS 2018                                                                                       63
Eins 2018 Das Forschungsmagazin der Universität Potsdam - Digarec
Computerspiele, Filme, Fernsehen oder auch Mu-             voller geworden, sondern auch auf der narrativen
     sikrichtungen geht. Die Debatte muss also versach-         Ebene. Computerspiele sind oft eine Art gesellschaft-
     licht werden.                                              licher Metakommentar. Der Third-Person-Shooter
                                                                „Spec Ops: The Line“ beispielsweise ist regelrecht pa-
     Christians: Ja, es gibt immer eine Pathologisierung        zifistisch, ein Anti-Kriegsspiel. Auch der Ego-Shooter
     des Mediengebrauchs, obwohl oder gerade weil wir           „BioShock Infinite“ hat mir die Augen geöffnet: Ich
     nicht wissen, was dabei herauskommt. Offene Enden          habe weniger die Shooter-Elemente als die dominante
     verträgt eine Gesellschaft nicht besonders gut.            Palette an religiösen Motiven gesehen.

     Kommen Vorurteile vielleicht gerade                        Welche Haltung zu Religion entwickeln
     von Menschen, die nicht am Computer                        solche Spiele?
     spielen?
                                                                Riemer: Die unterschwellige Botschaft in „Nier: Au-
     Möring: Es gibt einen gewissen Hang zum Vorurteil,         tomata“ lautet: „Religion is weird“. (lacht) Als Spieler
     wenn man nicht selbst spielt. Denkbar ist, dass ältere     kann man den Eindruck gewinnen, dass Religion
     Forscherinnen und Forscher selbst nicht spielen, weil      ein problematischer Bereich ist. Mit meinen Studie-
     sie mit dem Medium nicht aufgewachsen sind. Dort           renden analysiere ich solche Haltungen, ohne sie zu
     besteht eine Grundskepsis gegenüber dem Medium,            bewerten. Diese Seminare sind sehr lebendig, mit
     die sich in der Forschung widerspiegelt. Genauso ist       vielschichtigen Wahrnehmungen und großem Enga-
     denkbar, dass junge Forscherinnen und Forscher, die        gement aufseiten der Studierenden.
     mit dem Medium groß geworden sind, Computer-
     spiele besser darstellen, als diese vielleicht sind. Am
     Ende ist es freilich keine Frage des Alters, sondern der   Herr Möring, Sie haben sich mit Meta-
     wissenschaftlichen Redlichkeit, zu welchen Ergebnis-       phern in Computerspielen beschäftigt …
     sen die Forschung kommt.
                                                                Möring: Ich habe Independent Games analysiert, die
     Riemer: Die Kritik am Computerspiel hat angefangen,        von ihren Entwicklern als Metaphern bezeichnet wur-
     mich zu langweilen, und ich habe mich gefragt, wel-        den: für das Leben, den Tod oder die Liebe. Selbst ganz
     che Spiele mich persönlich ansprechen. In den letzten      einfache, abstrakte Spiele wie „Tetris“ können eine exis-
     zehn Jahren sind sie nicht nur technisch anspruchs-        tenzielle Grundstruktur vermitteln. Denn der Spieler

                                        Tempel im Computerspiel
                                          „Lords of the Fallen“
                                                                                                                            Screenshot: Lords of the Fallen ©2017 CI Games

64                                                                                           PORTAL WISSEN · EINS 2018
muss dafür sorgen, dass er das Spiel überhaupt weiter-         Credibility“, wenn sie selbst nicht spielen. Mein per-
                            spielen kann. Das einzige Ziel von „Tetris“ ist, „Tetris“      sönlicher Eindruck ist, dass Computerspieleforscher
                            weiterspielen zu können. Um mehr geht es nicht.                mit Kindern selten zum Spielen kommen. Deshalb
                                                                                           ist ihre Forschung oft von Beobachtungen an ihren
                                                                                           Kindern inspiriert.
                            Spielen Sie selbst?

                            Riemer: Ich kann es nicht, ich bin dort nicht literarisiert.   Eine letzte Frage: Wie sieht das Compu-
                            Bei ganz einfachen Jump ’n’ Run-Games wie „Super               terspiel der Zukunft aus?
                            Mario“ habe ich motorische Schwierigkeiten. Dafür
                            kann ich mir auf Youtube ein und dasselbe Spiel – von          Riemer: Eine virtuelle Realität ohne Bildschirm.
                            verschiedenen Game-Journalisten gespielt – ansehen.
                            Und gerade gute Spiele der letzten Jahre stellen auch          Christians: Also ist die Zukunft die Datenbrille?
                            zeitlich eine Herausforderung dar. Die 25 verschie-
                            denen Enden von „Nier: Automata“ durchzuspielen,               Riemer: Oder wir brauchen diese Brille irgendwann
                            braucht Zeit.                                                  gar nicht mehr?

                            Christians: Ich denke auch, dass es Wege jenseits              Möring: Schon jetzt greifen die verschiedenen Ebenen
                            des Spielens gibt, Spiele zu analysieren. So wie es            aus Computerspiel und sozialem Leben ineinander.
                            im Weltfußball sehr gute Trainer gibt, die nicht zehn          Facebook ist ja bereits wie ein Computerspiel mit den
                            Sekunden den Ball hochhalten können. Als Wis-                  eigenen sozialen Beziehungen. In Zukunft könnten
                            senschaftler finde ich diesen Abstand ganz günstig.            diese Strukturen so in unseren Alltag integriert sein,
                            Manchmal sind gerade „erfahrene Praktiker“ die fal-            dass wir sie überhaupt nicht mehr unterscheiden kön-
                            schen Leute.                                                   nen. Die Trennung zwischen Spiel und Realität löst
                                                                                           sich auf. Ob das eine wünschenswerte Zukunft ist,
Foto: Fotolia/Gorodenkoff

                            Möring: In der Community begegnen Forscherinnen                weiß ich nicht.
                            und Forscher dem Vorwurf der fehlenden „Gaming                                  DAS GESPRÄCH FÜHRTE JANA SCHOLZ

                            PORTAL WISSEN · EINS 2018                                                                                               65
Sie können auch lesen