Einsatzbericht von Joël Graf für Peace Watch Switzerland (Agua Clara) Ort

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Einsatzbericht von Joël Graf für Peace Watch Switzerland (Agua Clara)

Ort:                 Agua Clara, Municipio Autónomo Comandante Ramona, Caracol
                     Morelia
Zeit:                13. - 27. Oktober 2010
Beobachtende:        Alice (Schweiz, PWS)
                     Joël (Schweiz, PWS)
                     Sandrine (Kanada)
                     Xabier (Spanien)

Einführende Bemerkungen

Agua Clara liegt zwischen Ocosingo und Palenque, Nahe des Río Tulíja. Die Gemeinde ist
dreigeteilt; es gibt eine rein zapatistische Gemeinschaft, eine gemischte Gemeinschaft von
Zapatisten und PRIisten sowie eine rein PRIistische Gemeinschaft. Diese Situation resul-
tierte aus den lokalen Ereignissen kurz nach dem bewaffneten Aufstand der EZLN im Jahr
1994. Zapatisten besetzten in Agua Clara im Februar dieses Jahres Land, das einem
PRIistischen Hacendado gehörte. Daraus entwickelte sich ein bis heute schwelender Kon-
flikt, der sich insbesondere um Landrechte sowie um ein Hotel, das Balneario El Salvador,
dreht. Offenbar gab es Versuche, diesen Konflikt beizulegen (Acuerdos de Agua Clara).
Wohl nicht zuletzt aufgrund der strategisch attraktiven Lage – Nahe der Hauptstrasse zwi-
schen Ocosingo und Palenque sowie touristisch interessant – bleibt die Situation in Agua
Clara jedoch weiterhin angespannt. Es stehen sich dabei Zapatisten, PRIisten sowie staatli-
che Ordnungshüter gegenüber. Paramilitärs hingegen spielen offenbar in letzter Zeit eine
untergeordnete Rolle.
Das Gebiet rund um das von den Zapatisten besetzte Hotel, das auch die touristische Kern-
zone umfasst, wird durchgehend von sich abwechselnden Wachen (guardias) bewacht, die
sich aus ca. 5-10 Männern aus Gemeinden des Caracols Morelia zusammensetzen. Sie ver-
fügen über Funkgeräte sowie Macheten. An der Strasse, die von der Hauptstrasse runter
zum Fluss und Hotel führt, gibt es zwei „Zollhäuschen”, eines von den PRIisten und eines
von den Zapatisten. Wir haben nur das PRIistische in Betrieb gesehen, dort wird eine Be-
zahlung von 20 Pesos von den Touristen verlangt.

Die Menschenrechtsbeobachtenden in Agua Clara

Die Junta de Buen Gobierno des Caracol Morelia schickt regelmässig Menschenrechtsbe-
obachterInnen nach Agua Clara. Diese wohnen im Hotel, räumlich getrennt von den eben-
falls anwesenden zapatistischen guardias. Agua Clara gilt bei den Beobachtenden als „Lu-
xusdestination”. Das Klima ist geprägt von ganzjährig warmen Temperaturen und Nieder-
schlägen in der Regenzeit. Im Hotel gibt es elektrischen Strom, fliessendes Wasser, Zim-
mer mit Betten und Matratzen sowie einen kleinen Laden, in dem Produkte zur Befriedi-
gung der Grundbedürfnisse angeboten werden. Brennholz ist vorhanden, Tortillas werden
auf Nachfrage geliefert. Zudem lädt der in unmittelbarer Nähe liegende Fluss zum Baden
ein. Das Besondere an Agua Clara ist, dass die Beobachtenden nicht im Dorf selbst leben

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und ziemlich isoliert sind. Eine Ausnahme ist die nahe liegende rein zapatistische Gemein-
schaft, die aus ungefähr 7 Familien besteht und besucht werden kann. Die Aufgabe der Be-
obachterInnen beschränkt sich im Wesentlichen auf die Präsenz sowie auf das Verfassen
von Berichten und Zeugenaussagen bei Menschenrechtsverletzungen.

Ereignisse

In der Woche vom 13. bis 20. Oktober waren insgesamt 11 (!) BeobachterInnen in Agua
Clara präsent. In dieser Zeit gab es keine besonderen Ereignisse. Am 20. Oktober verliessen
7 Beobachtende die Gemeinde, zurück blieben die eingangs dieses Berichtes genannten vier
Personen. Am Freitag, 22. Oktober zwischen 09:30 und 10:00 Uhr (lokale Zeit) hörten wir
Schreie sowie ungefähr 7 Schüsse, die uns aus der Richtung der gemischten Gemeinschaft
zu kommen schienen. Um ca. 10:00 Uhr wurden wir Zeugen, wie 6 bis 7 Zapatisten einen
jungen Mann in Richtung zapatistischer Gemeinschaft abführten. Kurz darauf erschien im
Hotel ein Mann, der – wie sich später herausstellte – ein Mitglied des regionalen „Zapatisti-
schen Komitees” ist. Er nahm einen Zeugenbericht eines anderen Mannes entgegen. Dem
Bericht einer Frau, die ebenfalls in Tzeltal sprach und immer wieder die Wörter „26 de sep-
tiembre” und „7 de la tarde” (19 Uhr) wiederholte, wurde nach unserem Empfinden weni-
ger Gewicht beigemessen. Der Vertreter des zapatistischen Komitees versprach uns, dass
wir später über die Ereignisse informiert werden würden.
Die zapatistische „guardia” riet uns während der Schüsse, nicht an den Ort der Ereignisse
zu gehen, um uns nicht in Gefahr zu bringen (diesen Ort suchten wir auch danach nicht auf).
Später sprachen die Wachen davon, dass es sich beim Festgenommenen um einen Unruhe-
stifter handle, der die Gewalt in der Region anfachen wolle. Er werde sicherlich ins Caracol
Morelia gebracht.
Um ca. 11:30 Uhr traf im Hotel eine Gruppe von 4 (?) US-amerikanischen Studentinnen
und einem Professor (?) ein. Sie wurde begleitet von einem Mexikaner aus San Cristóbal.
Es handelte sich dabei um eine von einer US-amerikanischen Institution aus Indianapolis
organisierten Exkursion, der Zeitpunkt der Ankunft fiel zufälligerweise mit den oben be-
schriebenen Ereignissen zusammen. Wenig später beantworteten zapatistische Vertreter –
darunter der lokale Verantwortliche sowie der Vertreter des zapatistischen Komitees –
schriftliche Fragen der Studentinnen. Zuvor hatten uns die Studentinnen von einem Baum
erzählt, der zwischen PRIisischtem Zollhäuschen und Hotel mit Absicht auf die Strasse
gelegt worden war und für sie von den Zapatisten (?) entfernt werden musste.

Zeugenaussagen von X und Y zu den Ereignissen vom 22. Oktober (24./25. Oktober)

Um die Vorfälle zu diskutieren, wollten wir mit unserer Ansprechperson, dem Verantwort-
lichen für die Menschenrechtsbeobachtenden, sprechen. Wir hatten erst am 24. Oktober die
Gelegenheit dazu. In einem emotionalen Bericht hielt der für uns Verantwortliche X fol-
gendes fest:
Am 22. Oktober verliess X seine milpa (Maisfeld) und sah, wie ein junger, mit ihm be-
freundeter Mann festgenommen wurde. Dieser war ein Jahr zuvor aus der zapatistischen
Gemeinschaft ausgeschlossen worden, gemäss X zu Unrecht. Seine Schwägerin wollte da-
zwischengehen und wurde von den anwesenden compas zu Boden geworfen und dabei an

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Bein und Schulter verletzt. X näherte sich dem Festgenommen, wurde aber aufgefordert,
sich nicht in die Angelegenheit einzumischen. Die Schwägerin von X begab sich nach dem
Vorfall gemeinsam mit ihrem Mann in das Caracol, um Zeugnis abzulegen, dieses wurde
aber bis zum offiziellen Bericht der Junta de Buen Gobierno nicht zur Kenntnis genommen.
Der Mann wurde im Caracol festgenommen. Die Schwägerin von X nahm daraufhin mir
ihren Kindern Zuflucht bei ihren Eltern. X gab im Weiteren Auskunft über die mutmassli-
chen Besitzer von drei Feuerwaffen.
Wir wollten weiter mit dem Verantwortlichen der zapatistischen Gemeinschaft in Agua
Clara sprechen (den wir zunächst mit dem Vertreter des zapatistischen Komitees verwech-
selten). Dieser (Y) teilte uns am 25. Oktober Folgendes mit:
Beim Festgenommenen handelt es sich um einen Strassenräuber, der gemeinsam mit einem
Freund Erstklasswagen („coches de primera clase“) auf der Hauptstrasse Richtung Palen-
que überfiel. Diese zwei Personen wurden aus der zapatistischen Gemeinschaft ausge-
schlossen. Der Freund des Festgenommenen ist Besitzer dreier Waffen.1 Er bedrohte vor
einiger Zeit den Sohn von Y und gemeinsam mit dem Festgenommenen Y persönlich. Am
22. Oktober zerstörten die beiden ein Maisfeld sowie Bananenstauden. Y geht davon aus,
dass die Schüsse vom Freund des Festgenommenen stammten, der daraufhin floh. Er hält es
im Weiteren für wahrscheinlich, dass der Baum auf der Strasse (s.o.) von ebendiesem ge-
fällt wurde.
Weiter führte Y aus, dass die Gemeinschaft bereits einmal versucht hatte, die beiden Be-
schuldigten festzunehmen, diese aber zu fliehen vermochten. Y selbst wurde vor einiger
Zeit von der Polizei seines Motorrades beraubt und in diesem Zusammenhang gefoltert.
Zudem wurde er am 20. September von einem PRIisten mit einer Machete bedroht und
verfolgt. Zumindest das letzte Ereignis ist gemäss Y einem Menschenrechtsbeobachter mit-
geteilt worden.

Von X denunzierte Menschenrechtsverletzungen im Vorfeld des 22. Oktobers (24.
Oktober)

Im Rahmen der Zeugenaussage vom 24. Oktober teilte uns X im Weiteren folgendes mit:
Am 26. September 2010, rund 19 Uhr, wurde das Haus von X von mehreren Männern, dar-
unter ein Delegierter der Junta de Buen Gobierno, umstellt. Sie waren auf der Suche nach
X, der zu diesem Zeitpunkt abwesend war. Im Haus befanden sich die Frau von X sowie
seine Kinder. Die Männer drohten, den Sohn von X mit Macheten zu ermorden (mache-
tear). Gemäss X handelt es sich bei den Angreifern um Neuankömmlinge innerhalb der
zapatistischen Organisation, die ursprünglich der Otra Campaña angehörten. Der Grund für
den Angriff vom 26. September liegt darin, dass X dem Festgenommenen half, indem er
ihn beherbergte.
Neben diesem Vorfall gab es drei weitere Situationen, in denen X bzw. seine Angehörigen
bedroht wurden, in zwei Fällen handelte es sich dabei um verbale Bedrohungen. In einem
Fall wurde ein Bruder von X in den Wald deportiert und dort von kapuzierten und bewaff-
neten Personen bedroht.

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    Der Waffenbesitz ist in den zapatistischen Gemeinden verboten.

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All diese Vorkommnisse wurden erstmals durch die Frau von X am 22. Oktober vor dem
anwesenden Vertreter des zapatistischen Komitees denunziert (s.o.). Es erscheint uns un-
wahrscheinlich, dass diese Denunziation angemessen zur Kenntnis genommen wurde.
X war während der Zeugenaussage, bei der auch einige seiner Kinder sowie seine Frau an-
wesend waren, sehr unruhig, emotional angegriffen und begann zu weinen. Seinen Sohn
hatte er zu diesem Zeitpunkt bereits zu seinem Grossvater in die Obhut geschickt. X ver-
lautbarte, dass er in der Nacht Wache schiebe, um sein Haus zu beschützen. Seine Frau
konnte wahrend mehreren Nächten nicht schlafen, auch die Töchter waren beunruhigt.

Von X denunzierte Vorfälle vom 25. und 26. Oktober 2010 (27. Oktober)

Am 27. Oktober schilderte X folgende Vorfälle:
Am 25. Oktober um ca. 19 Uhr wurden während seiner Abwesenheit Steine auf sein Haus
geworfen, sowie auf jenes seines Bruders. Gemäss X hörte seine Schwester am 26. Oktober
Gespräche von anderen Mitgliedern der zapatistischen Gemeinschaft, in denen X sowie
dem flüchtigen (?) Freund des Festgenommenen gedroht wurde, dass „algún día, les iban a
encontrar en el camino“ (eines Tages würden sie die Zwei auf dem Weg finden).

Nachtrag

Die Situation, mit der wir uns ab dem 22. Oktober in Agua Clara konfrontiert sahen, war
für uns aus mehreren Gründen herausfordernd. Erstens erhielten wir bis zum 24. Oktober
nur sehr spärliche Informationen. Von uns angefragte Mitglieder der zapatistischen Ge-
meinschaft wollten keine Auskunft geben. Zweitens war ausgerechnet der für uns Verant-
wortliche selbst ein Akteur und mutmassliches Opfer von Ereignissen, die am 22. Oktober
in einer Schiesserei und Festnahme kulminierten. Drittens handelte es sich weniger um ei-
nen Angriff von aussen, als um einen internen Konflikt der Zapatisten. Allerdings spielt
wohl der Überfall auf Fahrzeuge auf der Hauptstrasse nach Palenque, Nahe Agua Claras,
eine zentrale Rolle, da es sich dabei um ein Vergehen gegen das nationale Strafgesetz han-
delt („delito federal“). Die Angst vor den staatlichen Behörden war sowohl bei X als auch
bei Y deutlich spürbar.
Wichtig für unsere Arbeit war insbesondere das vom FRAYBA stammende „Manual para
brigadistas“, an dem wir uns orientierten. Wir waren uns nicht sicher, ob wir die Zeugen-
aussagen von X und Y der Junta, die wir bei unserem Rückweg aufsuchen mussten, über-
geben sollten. Wir entschlossen uns, im Caracol nur einen allgemeinen Bericht abzuliefern
(in etwa die Informationen, die wir in „Ereignisse während des Einsatzes“ auflisteten, s.o.).
Die Zeugenaussagen von X und Y übergaben wir am Tag nach unserer Rückreise, dem 28.
November, dem FRAYBA. Dieses Vorgehen wurde vom FRAYBA als richtig eingestuft.
Zu unserer Überraschung gab es zum Zeitpunkt unserer Rückkehr bereits einen offiziellen
Bericht von Seiten der Junta im Caracol Morelia sowie zwei Zeitungsberichte vom 26. Ok-
tober, die sich massgeblich auf diese Quelle stützten, darunter eine in der einflussreichen
„La Jornada“ (s.u.). Zumindest die Aussage, es habe über 50 Schüsse gegeben, ziehen wir
in Zweifel. Von unserer Seite können wir nur auf die zwei Zeugenaussagen von X und Y
verweisen, wobei jene von X gegengelesen wurde (Y konnten wir nicht mehr erreichen).
Erwähnenswert ist schliesslich, dass X auf Nachfrage eine Kopie seiner Zeugenaussage

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erhielt. Wir machten ihm deutlich, dass es sich dabei nicht um ein offizielles Dokument des
FRAYBA handelt. Als Gruppe waren wir insbesondere um das Schicksal von X und seinen
Angehörigen besorgt und teilten dies dem FRAYBA nachdrücklich mit.

Internetressourcen

Bericht der Junta:
http://www.cgtchiapas.org/denuncias/denuncias-juntas-buen-gobierno/denuncia-jbg-
morelia-24-octubre-2010 (Zugriff am 28.11.2010)

Zeitungsbericht "El Cuarto Poder":
http://www.cuarto-poder.com.mx
/%5CPagPrincipal_Noticia.aspx?idNoticia=212221&idNoticiaSeccion=4&idNoti
ciaSubseccion=16 (Zugriff am 28.11.2010)

Zeitungsbericht "La Jornada":
http://www.jornada.unam.mx/2010/10/26/index.php?section=politica&article=016n4pol
(Zugriff am 28.11.2010)

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