Entwicklungen, Tendenzen und Narration von True Crime - Medienradar

Die Seite wird erstellt Thorsten Bender
 
WEITER LESEN
Entwicklungen, Tendenzen und Narration von True Crime - Medienradar
Entwicklungen, Tendenzen und Narration von
True Crime
Perspektiven auf Verbrechen 1

Jan Harms
Medienradar, 10/2021

Das Genre True Crime ist heute sehr beliebt und wird unterschiedlich rezipiert. Um
ein neues Phänomen handelt es sich dabei aber nicht. Denn Erzählungen von
Verbrechen können auf eine lange Historie zurückblicken. Der erste Teil des
Beitrags gibt einen Überblick über die Entwicklung von True Crime und die
verschiedenen Erzählperspektiven dieses Formats.

Verbrechen, so eine kulturwissenschaftliche These, stellen eine Verletzung sozialer
Ordnung dar und Gesellschaften müssen einen Weg finden, Taten und Täter:innen
zurück in diese Ordnung zu überführen – symbolisch kann dies auch durch
Erzählungen geschehen.

Deshalb finden sich Erzählungen von Verbrechen wohl schon ab dem Moment,
seitdem überhaupt erzählt wird. In der frühen Neuzeit werden sie erstmals
„massenmedial“ verbreitet: in Flugblättern wird neben Naturkatastrophen und
vermeintlichen Wundern regelmäßig über Verbrechen berichtet – oftmals über
besonders grausame und aufsehenerregende Taten. Ein Bezug auf übernatürliche
Aspekte ist für Schilderungen in dieser Zeit geläufig, bis in das 17. und 18.
Jahrhundert dominiert eine religiöse Perspektive (Jean Murley 2008, S. 6–13).

                                                                                 1
Entwicklungen, Tendenzen und Narration von True Crime - Medienradar
[Bild: Flugblatt über die Hinrichtung des Bauern Peter Stump, Universität Düsseldorf]
Berichte über Prozess und Hinrichtung des Bauern Peter Stump im Jahr 1589 zeigen, wie dessen
bis zu 18 Morde durch einen teuflischen Pakt und die daraus resultierende Verwandlung in einen
Werwolf erklärt werden.

Wesentlicher Motor für die Verbreitung von Erzählungen über Verbrechen bleiben
bis in das 19. Jahrhundert neue Drucktechnologien. Zeitungen berichten von
aufsehenerregenden Ereignissen, wobei oft spektakuläre Straftaten im Zentrum
stehen. Die religiös orientierten Moralisierungen mischen sich in dieser Zeit
zunehmend mit reißerischem Sensationalismus (David Schmid 2010, S. 199 f.),
Verbrechen werden oft als irrationale Monstrosität beschrieben – eine Tendenz,
die für True Crime bis heute zu beobachten ist.

Gegenläufig dazu bildet sich in den Reportagen des ausgehenden 19. und frühen
20. Jahrhunderts eine andere Perspektive heraus: biografische Details aus dem
Leben von Täter:innen werden als psychologische Ursache für ihre Taten
herangezogen. Rational-orientierte, kriminologische, medizinische und
psychiatrische Erklärungen erlangen zunehmend die Oberhand. Die Idee der
wissenschaftlichen Rekonstruktion schlägt sich auch in der Erzählweise nieder:

                                                                                                 2
Entwicklungen, Tendenzen und Narration von True Crime - Medienradar
immer detailliertere Schilderungen des Verbrechens werden vorgebracht, die sich
dem Geschehenen vermeintlich objektiv nähern (Jean Murley 2008, S. 6–13).

In den 1920er-Jahren etabliert sich schließlich das Label „True Crime“ fest in der
amerikanischen Populärkultur. Es erscheinen vermehrt Pulp-Magazine, wie etwa
seit 1924 das True Detective Magazine. Die Schilderungen und die Ästhetik in den
Magazinen sind maßgeblich von den Konventionen zeitgenössischer Noir-Narrative
beeinflusst (Jean Murley 2008, S. 6–13).

Kaum ein Text über die Entwicklung von True Crime kommt ohne den Verweis auf
Truman Capotes Tatsachenroman In Cold Blood aus, der tatsächlich viele neue
Konventionen prägt. Anders als vorherige, kurze Berichte widmet sich Capote
einem einzelnen Fall – dem brutalen Raubmord an einer Familie – nun auf über 300
Seiten und damit ausgesprochen detailliert. Trotz seiner intensiven Recherche und
dem Anspruch auf einen objektiven Blick brachte das Buch ihm Vorwürfe ein, keine
„reinen Fakten“ zu präsentieren, insbesondere weil er immer wieder Gespräche
schilderte, die er nicht kennen konnte. Der Literaturwissenschaftler David Schmid
sieht eine Verschiebung der Bedeutung des Wortes true, das sich bei Capote nicht
so sehr auf „harte Fakten“ bezieht, sondern eher für eine „emotionale
Wahrheit“ (David Schmid 2010, S. 199 f.) steht. Fiktionalisierte Elemente werden
eingebaut, um die Fakten „zu verstärken“.

In Cold Blood legt den Grundstein für eine Welle von True-Crime-Büchern, die die
1970er-, 80er- und 90er-Jahre dominieren. So erscheint 1974 das äußerst populäre
Helter Skelter des Staatsanwalts Vincent Bugliosis über die Manson-Morde. 1980
veröffentlicht die Journalistin Ann Rule mit The Stranger Beside Me einen
biografischen wie autobiografischen Bericht über den Serienmörder Ted Bundy, mit
dem sie – ohne von dessen Taten zu wissen – auch persönlich bekannt war. Robert
Graysmiths Zodiac von 1986 behandelt detailliert den bis heute ungelösten Fall des
gleichnamigen Serienmörders.

In den 1980er-Jahren kommt es zu einer Konjunktur von True Crime. Die
Kulturwissenschaftlerin Jean Murley sieht darin eine Reaktion auf die rapide
steigenden Kriminalstatistiken (Jean Murley 2017, S. 290). Es etabliert sich ein
populäres Wissen über Serientäter:innen, die oftmals als monströse Figuren
außerhalb der Gesellschaft gezeichnet werden und sich narrativ in eine Rhetorik
von Gut und Böse einfügen.

Der Rückgang von Gewaltverbrechen in den USA der 1990er- und 2000er-Jahren
korrespondiert mit einer Wende weg von sensationellen Fällen hin zu eher
alltäglichen Verbrechen (Jean Murley 2017, S. 290). Ende der 1980er- und im
Verlauf der 90er-Jahre etablieren sich einige True-Crime-Fernsehformate, die sich
zum Teil bis heute halten. Maßgeblichen Einfluss hatte die wöchentlich
erscheinende Serie Unsolved Mysteries (1988–2002), die in jeder Episode in kurzen
Segmenten mehrere Fälle vorstellt, wobei sich ungeklärte Verbrechen, spurlos

                                                                                3
verschwundene Personen und vermeintlich übernatürliche Phänomene nahtlos
aneinanderreihen (Jean Murley 2008, S. 117 f.).

Die Serie Unsolved Mysteries erweist sich stilprägend – vor allem im Hinblick auf
ihre audio-visuellen Narrationsverfahren. Die konventionellen Nacherzählungen
speisen sich aus einem Mix aus Reenactments und Interviews mit Polizist:innen,
Zeug:innen oder Familienmitgliedern. Zudem werden Foto- oder Videoaufnahmen
aus dem Archiv eingebunden, die vom Tatort stammen oder die Ermittlungsarbeit
zeigen. Zusammengefügt werden diese unterschiedlichen Teile durch ein
autoritatives Voiceover des Schauspielers Robert Stack.

[Video: Freiwillige Selbstkontrolle Fernsehen]
Vortrag von Jan Harms: Eine Frage der Perspektive – Narration, Rezeption und Kritik von True
Crime, gehalten am 01.10.2021 in Berlin.
Mit den durch Unsolved Mysteries etablierten Erzählmustern legt die Serie die Blaupause für
zahlreiche weitere, serielle Fernsehprogramme der 1990er-Jahre bis heute, die sich mit realen
Verbrechen befassen ...

In den Jahren 2014 und 2015 treten schließlich neue Formate auf den Plan, die den
aktuellen Boom auslösen. Wichtig ist hierfür ein bislang unerwähnt gebliebenes
Medium, das sich bald fest mit True Crime verbinden wird: der Podcast. Mit der 12-
teiligen Reihe Serial verankern sich sowohl der Podcast als auch True Crime fest in
der Digitalkultur. Die Journalistin Sarah Koenig rekonstruiert hier den Fall der 1999
ermordeten Highschool-Schülerin Hae Min Lee und ihres Ex-Freundes Adnan Syed,
der des Mordes schuldig gesprochen wird. Der Podcast zieht die Schuld Syeds in
Zweifel.

Parallel findet eine Popularisierung von Streaminganbietern statt, insbesondere
durch Netflix, das 2014 in Deutschland startet und mit Making a Murderer einen
ersten großen Erfolg feiert. Die Dokuserie hat inhaltlich wesentliche
Überschneidungen mit Serial: Sie behandelt die (Lebens-)Geschichte von Steven

                                                                                                4
Avery, der – so legt die Serie nahe – nach einer ersten, zu Unrecht verbüßten
Haftstrafe gleich ein zweites Mal fälschlich verurteilt wird.

[Video: Freiwillige Selbstkontrolle Fernsehen]
Vortrag von Jan Harms: Eine Frage der Perspektive – Narration, Rezeption und Kritik von True
Crime, gehalten am 01.10.2021 in Berlin.
Im Vergleich zu den Vorläufern der 1990er-Jahre nutzen die neueren Podcast- und
Streamingserien ihre Form anders ...

In der Gegenwart lässt sich eine mediale Trias aus Fernseh- und Streamingserien,
Podcasts und Print konstatieren, in der die erwähnten Tendenzen des True Crime
in ihrer Vielfalt parallel stattfinden.

So finden sich insbesondere auf Streamingplattformen immer wieder komplexe
Erzählformate, die ähnlich wie Making a Murderer funktionieren, auch wenn neben
diesen neueren Formen nach wie vor die Tendenzen der 1990er-Jahre zu finden
sind – und diese quantitativ klar überwiegen. So wird beispielsweise die Serie
Forensic Files 2020 wieder aufgelegt. Auch Cold Case Files und Unsolved Mysteries
erhielten Wiederauflagen auf Netflix. Diese konventionellere Form dominiert auch
das Angebot von Spartensendern wie RTL Crime, dessen Programm im Bereich
„True Crime Highlights“ sich aus US- und UK-Importen sowie deutschen
Produktionen zusammensetzt, etwa: Die Anwälte der Toten – Die schlimmsten
Serienkiller der Welt, in der pro Folge ein:e Täter:in vorgestellt wird.

                                                                                               5
[Video: Freiwillige Selbstkontrolle Fernsehen]
Vortrag von Jan Harms: Eine Frage der Perspektive – Narration, Rezeption und Kritik von True
Crime, gehalten am 01.10.2021 in Berlin.
Bei Podcasts findet sich eine ähnliche Bandbreite wie bei Fernseh- und Streamingformaten, und im
Printbereich erleben True-Crime-Magazine eine Renaissance.

Zum zweiten Teil des Beitrags: Rezeption und Kritik von True Crime – Perspektiven
auf Verbrechen 2

Quellennachweise
Literatur
Boling, Kelli S. / Kevin Hull: Undisclosed Information – Serial Is My Favorite Murder. Examining
Motivations in the True Crime Podcast Audience. In: Journal of Radio & Audio Media 25 (2018),
H. 1, S. 92–108.
Horeck, Tanya: Justice on Demand. True Crime in the Digital Streaming Era. Detroit 2019.
Murley, Jean: The Rise of True Crime. Twentieth Century Murder and American Popular Culture.
Santa Barbara 2008.
Murley, Jean: Making Murderers. The Evolution of True Crime. In: Chris Raczkowski (Hrsg.): A
History of American Crime Fiction. Cambridge 2017, S. 288–299.
Schmid, David: True Crime. In: Charles J. Rzepka / Lee Horsley (Hrsg.): A Companion to Crime
Fiction. Oxford 2010, S. 198–209.
Vicary, Amanda M. / R. Chris Fraley: Captured by True Crime. Why Are Women Drawn to Tales of
Rape, Murder, and Serial Killers? In: Social Psychological and Personality Science 1 (2010), H. 1,
S. 81–86.
Blogeinträge
Stokowski, Margarete: Boomendes Genre „True Crime“. Boulevard für Besserverdienende, in:
Spiegel Online, 18.05.2021, https://www.spiegel.de/kultur/genre-true-crime-boulevard-fuer-
besserverdienende-kolumne-a-e94399b0-72cc-4a58-bcd2-7fe0feeb5609 (abgerufen am
16.10.2021).

                                                                                                     6
Link zum Artikel
https://www.medienradar.de/hintergrundwissen/artikel/entwicklungen-tendenzen-und-narration-
von-true-crime

                                                                                         7
Sie können auch lesen