Eugenio Barba/Nicola Savarese: Les Cinq Continents du théâtre. Faits et légendes de la culture matérielle de l'acteur.

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Eugenio Barba/Nicola Savarese: Les Cinq Continents du théâtre. Faits et légendes de la culture matérielle de l'acteur.
Laurette Burgholzer                                                                                      [rezens.tfm] 2021/2

Rezension zu

Eugenio Barba/Nicola Savarese:
Les Cinq Continents du théâtre.
Faits et légendes de la culture
matérielle de l’acteur.
Lacoste: Deuxième Époque 2020.
Übersetzung aus dem Italienischen von
Éliane Deschamps-Pria (Cinque Continenti
del Teatro. Fatti e leggende della cultura
materiale dell’attore. Bari: Edizioni di
Pagina, 2017). ISBN 978-2-37769-034-3.
408 Seiten, mit zahlr.
von Laurette Burgholzer

Wann, wo, wie, für wen und warum macht man
Theater? Fünf leitende W-Fragen stecken in der
aktuellen Buchpublikation von Eugenio Barba und
Nicola Savarese die titelgebenden fünf Kontinente des
Theaters ab. Das vorliegende Resultat – ein
umfassender, großformatiger und an Bildmaterial
                                                                  bzw. der Fachzeitschrift Teatro e Storia. Neben den
reicher Band – der jahrzehntelangen Zusammenarbeit
                                                                  Herausgebern exemplarisch zu erwähnen sind
und intellektuellen Komplizenschaft zwischen dem
                                                                  Fabrizio Cruciani († 1992), Ferruccio Marotti, Ariane
Gründer des Odin Teatret und dem Theaterwis-
                                                                  Mnouchkine, Franco Ruffini, Mirella Schino (die 2008
senschaftler erschien 2017 auf Italienisch und liegt
                                                                  das Odin Teatret Archive gegründet hat), Ferdinando
inzwischen in englischer, französischer, rumänischer
                                                                  Taviani († 2020) und Julia Varley (seit 1976 Truppen-
und spanischer Übersetzung vor.
                                                                  mitglied des Odin Teatret).
Ein Zitat von Eugenio Barba auf dem Umschlag der
                                                                  Savarese zeichnet in seinem Vorwort den über 20 Jahre
2020 erschienenen französischsprachigen Ausgabe,
                                                                  umspannenden Entstehungsprozess des vorliegenden
das mit einem impliziten Verweis auf Paul Gauguins
                                                                  Buchs nach. 1996 wurde in Gesprächen mit
gleichnamiges Gemälde beginnt, lässt Ziele und
                                                                  italienischen Theaterforschenden der Wunsch ausge-
Struktur der Publikation erahnen: "Woher komme ich?
                                                                  drückt, das strukturelle und gestalterische Prinzip der
Wer bin ich? Wohin gehe ich? Um diese Fragen zu
                                                                  seit 1983 mehrfach wiederaufgelegten, überarbeiteten
beantworten, müssen wir die unzähligen Formen,
                                                                  und in zahlreiche Sprachen übersetzten Anatomia del
Erfahrungen, Überreste und Rätsel, die uns die
                                                                  teatro von 1983 (dessen erneuerte Version den Titel
Geschichte unseres Berufs vermacht hat, aus einer
                                                                  L’arte segreta dell’attore. Un dizionario di antropologia
anderen Perspektive betrachten. Nur auf diese Weise
                                                                  teatrale trägt) aufzugreifen, um wiederum die
können wir einen persönlichen Kompass bauen, um
                                                                  Techniken von Akteur*innen zu studieren, allerdings
die fünf Kontinente unseres Berufs zu durchqueren
                                                                  unter einem veränderten Blickwinkel: Standen im
[…]". (Übers. LB) Die Beitragenden des Buchs
                                                                  Theateranthropologie-Lexikon         körperlich-mentale
stammen allesamt aus der italienischen Theaterwis-
                                                                  Techniken und prä-expressive Qualitäten im
senschaft und dem Umfeld des Odin Teatret, der ISTA

Diese Rezension ist erschienen in [rezens.tfm] 2021/2 | Veröffentlichungsdatum: 2021-11-30
https://rezenstfm.univie.ac.at/index.php/tfm/issue/view/2021-2 | doi:10.25365/rezens-2021-2-01
Laurette Burgholzer                                                                                       [rezens.tfm] 2021/2

Zentrum, widmet sich Les cinq continents du théâtre der           souterraine que ne se laisse pas enfermer dans les
Geschichte und Gegenwart von Theater aus der                      interprétations linéaires élaborées a posteriori." (S. 10)
Perspektive der "techniques auxiliaires" (S. 7) der               Das erste Kapitel des Buchs widmet sich textuell und
materiellen Kultur von Akteur*innen. Welche sind                  bildlich dieser unterirdischen Geschichte aus der
aber diese Hilfs- bzw. Nebentechniken? Es handelt                 Perspektive der Zeitlichkeit: Wann wurde und wird
sich um die strukturellen, organisatorischen, sozialen,           Theater gemacht? Markante Momente von zeitlicher
räumlichen, ökonomischen, politischen Faktoren von                Gebundenheit in der europäischen und inter-
Theaterarbeit, die im Buch auf transhistorische und               nationalen Theatergeschichte werden skizziert,
transkulturelle Weise präsentiert werden.                         religiös-politisch motivierte Festkalender mit ihren
                                                                  kleinen oder größeren Zeitfenstern für Theaterpraxis
Les cinq continents du théâtre ist ein eigenwilliges Buch.
                                                                  beschrieben. Gemeinschaftliche Feste als Unter-
Mit seinen ca. 1400 Abbildungen, seiner Gleich-
                                                                  brechung des gewöhnlichen Zeitverlaufs – Dionysien,
wertigkeit von aufeinander Bezug nehmenden Bild-
                                                                  Karneval, Narrenfeste – mit ihrem Simulakrum
und Textelementen, seiner Bibliografie, seinem
                                                                  sozialer Unordnung finden im ersten Kapitel ihren
Namens- und Stichwortverzeichnis ist das Ergebnis
                                                                  Platz, sowie ein Panorama diverser Ursprungsmythen
weder ein Lexikon noch ein Bildband oder ein
                                                                  (Europa, Indien, China etc.) von Theater. Wann haben
theatergeschichtliches Handbuch. Raimondo Guarino
                                                                  Menschen begonnen zu tanzen, zu repräsentieren, sich
wählt in seiner auf dem Buchdeckel zitierten
                                                                  zu kostümieren und zu maskieren? Inwiefern sind
Rezension den stimmigen Begriff Almanach, um die
                                                                  Theater und Schamanismus, Halluzinationen, Trance-
Zusammenstellung aus verschiedensten Textsorten,
                                                                  zustände historisch miteinander verbunden? Der
wissenschaftlichen Analysen, Dialogen, Chrono-
                                                                  vermutliche "Bocksgesang" der antiken griechischen
logien, Anekdoten, Bildern und vielsagenden Bild-
                                                                  Tragödie wird im Sinne einer theateranthropologisch
legenden zu kategorisieren.
                                                                  interessierten, alternativen Etymologie nach Vittore
Sechs Kapitel ("Quand", "Ou", "Comment", "Pour qui",              Pisani auf die illyrischen Wurzeln trg (Markt) und oide
"Pourquoi", "Théâtre et histoire") und ihre insgesamt             (Gesang) zurückgeführt. Diese Herleitung verknüpft
über     130     durchnummerierten        Unterkapitel            die Ursprünge des westlichen Theaters mit einem
präsentieren auf mäandernde Weise Aspekte des                     konkreten Beruf – der Straßendichter, Rhapsoden,
Theaterschaffens weltweit. Das konsequent hetero-                 fahrenden Sänger – und bietet eine Verbindung zu den
gene Bildmaterial im Buch umfasst u. a. Satelliten-               buddhistischen Erzählkünstlern zur Entstehungszeit
aufnahmen von Sonneneruptionen, Buster-Keaton-                    dramatischer Kunst im asiatischen Raum. Es folgen
Filmstandbilder, Hoffest-Kupferstiche, Saalpläne,                 historische Abrisse zur Entwicklung des Mäzenaten-
japanische Holzschnitte, historische und zeitgenös-               tums, hin zum Bezahltheater (mit Verweis auf
sische Fotografien von (Toten-)Masken, prähis-                    Raufereien um Gratis-Theaterkarten) und der
torischen Skulpturen, Lipizzaner-Dressur, baline-                 Funktion von Impresarios (u. a. Domenico Barbaja,
sischen Neujahrsfesten, Eintrittskarten, Butoh-                   Lewis Morrison, Sergei P. Djagilew, Loïe Fuller, Max
Tänzer*innen, Theaterbränden, Fronttheater, sowie                 Reinhardt). Vier farbig unterlegte Seiten bieten eine
Gemälde und Grafiken zu Publikums-Krawall,                        "petite anthologie de la censure" (S. 44) mit
Schausteller*innen, Hinrichtungen, römischen Zirkus-              Schlaglichtern auf ausgewählte Fälle, darunter
elefanten, sowie acht Seiten mit Sonderbriefmarken zu             Auftrittsverbote für Frauen, der Theatrical Licensing
Ehren von Schauspieler*innen und Dramatiker*innen.                Act (1737), die Theaterzensur in Frankreich von der
                                                                  Revolution bis zu Napoleon, die kirchliche Zensur in
Die Lektüre eines konventionellen theaterge-
                                                                  Lateinamerika ab der frühen Neuzeit, das Kabuki-
schichtlichen Buchs suggeriere, so die Herausgeber,
                                                                  Verbot in Japan unter US-amerikanischer Besatzung
dass alles klar, quantifizierbar und in Form von
                                                                  nach Ende des Zweiten Weltkriegs im Sinne der
Ursachen und Wirkungen beschreibbar sei, "[m]ais
                                                                  antimilitaristischen Umerziehungsideologie und die
sous cette évidence rassurante coule une histoire

Diese Rezension ist erschienen in [rezens.tfm] 2021/2 | Veröffentlichungsdatum: 2021-11-30
https://rezenstfm.univie.ac.at/index.php/tfm/issue/view/2021-2 | doi:10.25365/rezens-2021-2-01
Laurette Burgholzer                                                                                        [rezens.tfm] 2021/2

Anekdote der Rettung des Kabuki durch den US-                     Architektur – mit der Nostalgie eines Ursprungs im
Amerikaner Faubion Bowers.                                        griechischen und römischen Theater – und nicht in
                                                                  Verbindung mit der Aufführung und der materiellen
Das zweite Kapitel streift erneut die bereits erwähnten
                                                                  Kultur der Schauspieler" (S. 132, Übers. LB). "[l]e
Genese-Mythen, die Entwicklungen von Berufs-
                                                                  théâtre à l’italienne, en tant que monument autonome,
schauspiel und von Theater in Innenräumen,
                                                                  doit sa naissance à un désir abstrait de créer des lieux
allerdings aus der Perspektive der Orte und Räume
                                                                  signifiants pour la ville idéale. Il naît comme une
für Theaterpraxis. Wo finden Akteur*innen ihren
                                                                  réflexion liée à l’architecture et non au spectacle et à la
Platz? In Baracken, Kellern, sogenannten Laboratorien
                                                                  culture matérielle des acteurs, avec la nostalgie d’une
und Ateliers, unter freiem Himmel, in Theater-
                                                                  origine dans le théâtre grec et romain." (S. 132)
architekturen, auf Straßen etc. Die erste Doppelseite
des Kapitels zeigt eine suggestive Bilder-Montage,                Das dritte Kapitel fragt nach dem Wie. Wie wird man
bestehend aus einer Saalansicht des Teatro San Carlo              Akteur*in? Wie wird theatral agiert? Bücher für
in Neapel, dem (bescheiden-funktionalen) Saal des                 Akteur*innen, über Trainings- und Arbeitsmethoden
Teatro Experimental de Alta Floresta sowie dem                    seien "compagnons de voyage" (S. 158) und böten
(repräsentativen) Teatro Amazonas in Brasilien, das               manchmal, wie z. B. Antonin Artauds Das Theater und
laut Bildlegende 1896 eröffnet wurde, mit                         sein Double, "des mots-talismans" (S. 158) die auf
importierten Dachschindeln aus dem Elsass,                        intuitive Weise bei der Orientierung helfen. Acht
französischen Textilien, Stahl aus England, Marmor-               farbig unterlegte Seiten bieten eine Gegenüberstellung
säulen und -statuen aus Italien. Die Autor*innen der              von "acculturation" und "inculturation" (S. 160) als
folgenden Unterkapitel nehmen die Kreisform zum                   mögliche Wege zum Theaterberuf, sowie einen
Anlass für Überlegungen und Bebilderungen zu                      Überblick zu Ausbildungsarten (Meister, Gurus,
Genese-Mythen,         Stadtentwicklung,         frühen           gegenwärtige Schauspielschulen und Theater-
Publikums-Konstellationen, Rundtänzen, antiken                    laboratorien),    Techniken       und    theateranthro-
Theaterbauten. Mittels Freilufttheater, Bänkelsängern             pologischen Ansätzen. Der Wandel der Techniken der
und Scharlatanerie wird die Entwicklung vom                       Akteur*innen seit dem 19. Jahrhundert wird unter
Verkauf von Produkten zum Verkauf von                             dem – in der deutschsprachigen Theaterwissenschaft
Aufführungen illustriert, gefolgt von Rückgriffen auf             wenig geläufigen – Begriff der "Grande Réforme"
die Spielorte der frühen Neuzeit durch Vertreter*in-              (erste Phase 1876–1939, zweite Phase 1945–1975)
nen der historischen Avantgarden (u. a. Wsewolod                  bearbeitet und illustriert. Eine umfassende
Meyerhold, Jacques Copeau). In einer theater-                     Chronologie historischer Ereignisse und theater-
historisch internationalen Rundumschau werden in                  geschichtlicher Wegmarken zeichnet Entwicklungen
Kürze die Spielorte mittelalterlicher Aufführungs-                ab Richard Wagners Gesamtkunstwerk-Konzept nach,
praktiken sowie erste Theaterbauten in England,                   über die "fondateurs de traditions" (S. 169) zu Beginn
Frankreich, Spanien, Indien, Japan, China, den USA,               des 20. Jahrhunderts bis hin zu experimentellen
Lateinamerika, Italien thematisiert, bis hin zur                  Truppengründungen und Praktiken der 1970er-Jahre,
Entwicklung der Konvention der Guckkastenbühne                    im Zeichen eines Neuauslotens von retheatralisiertem,
bzw. des Rang-Logen-Theaters, basierend auf Renais-               von der Literatur emanzipiertem, gattungsüber-
sance-Interpretationen antiker Theaterbauten, und                 greifendem Theater. Das Kapitel befasst sich aber
nicht auf den Spielpraktiken von Akteur*innen.                    ebenso mit dem Naheverhältnis von technischem und
Mirella Schino argumentiert, dass "das Theater im                 ästhetischem Wandel, etwa im Fall des Bühnenlichts,
italienischen Stil [das Rang-Logen-Theater mit                    sowie mit diversen Spielmodi (Clowns, Puppen-
Guckkastenbühne, Anm. LB] als autonomes Denkmal                   theater, Maskentheater) und dem Spiel mit Requisiten
seine Entstehung dem abstrakten Wunsch verdankt,                  (wobei das Taschentuch und der Stuhl jeweils eine
bedeutungsvolle Orte für die ideale Stadt zu schaffen.            eigene Bilder-Doppelseite in Anspruch nehmen), denn
Es entstand als eine Reflexion in Verbindung mit der              "[l]es objets possèdent l’acteur", sie sind "seine

Diese Rezension ist erschienen in [rezens.tfm] 2021/2 | Veröffentlichungsdatum: 2021-11-30
https://rezenstfm.univie.ac.at/index.php/tfm/issue/view/2021-2 | doi:10.25365/rezens-2021-2-01
Laurette Burgholzer                                                                                      [rezens.tfm] 2021/2

Prothesen, seine Auswüchse, seine Fesseln, die den                der "Grande Réforme" und die Utopie des "éternel
Akteur dazu zwingen zu reagieren, das Gleichgewicht               premier pas" (S. 299) bilden die Basis für das
zu verlieren, zu übertreiben, zu vereinfachen" (S. 216,           umfangreichere Unterkapitel "Petite encyclopédie sur
Übers. LB).                                                       l’honneur de l’acteur" (S. 300), in welchem Individuen
                                                                  präsentiert werden, die inmitten von und trotz
Das Publikum steht im Zentrum des vierten Kapitels.
                                                                  Diskriminierung, Sklaverei, politischer Unter-
Zuschauer*innen in allen Aggregatszuständen
                                                                  drückung und Verfolgung, sozialer Missstände als
werden bildlich dekliniert: wartend vor der Auf-
                                                                  Theaterakteur*innen aktiv waren bzw. sind, u. a. Ira
führung, Schlange stehend, raufend, gähnend,
                                                                  Aldridge, Patricia Ariza, Josephine Baker, Wsewolod
weinend, enthusiastisch, als Attentäter. Verschiedene
                                                                  Meyerhold, Norodom Bopha Devi, Hedy Crilla, die
soziale Schichten als Zuschauer*innen und ihre
                                                                  Moustache Brothers. Die Autor*innen gehen ebenfalls
jeweilige Sitzordnung (z. B. im Kolosseum, in einem
                                                                  in Kürze auf Verbindungen von Sexarbeit und Tanz
Teehaus in Peking) werden beschrieben, sowie
                                                                  bzw. Schauspiel in verschiedenen Ländern ein, sowie
Verhaltensweisen von teilnehmendem Publikum im
                                                                  auf Theater "in der Hölle" (Gulag, NS-
Karneval und als "spect-acteurs" (S. 288) bei Augusto
                                                                  Konzentrationslager), auf kolonialistische "Menschen-
Boal, aber auch die Sonderform des unfreiwilligen
                                                                  zoos". Zwölf farbig unterlegte Seiten, betitelt als
Publikums, etwa von Performances im öffentlichen
                                                                  "Florilège sur la valeur du théâtre" (S. 324), überlassen
Raum. Ein Exkurs zu Epidemien und Theater-
                                                                  schließlich Theaterleuten das Wort und geben
publikum – mit Verweis auf Pestepidemien zur Zeit
                                                                  Textauszüge von Adolphe Appia, Antonin Artaud,
der Entstehung von Berufsschauspiel in Europa –
                                                                  Julian Beck, Walter Benjamin, Augusto Boal, Bertolt
präsentiert das Foto eines Mundschutz-tragenden
                                                                  Brecht, Peter Brook, Enrique Buenaventura, Jacques
Publikums einer Aufführung in Taipei im Kontext der
                                                                  Copeau, Isadora Duncan, Hideo Kanze, Sarah Kane,
SARS-Epidemie 2003. Auch die Frage nach dem
                                                                  Jewgeni B. Wachtangow, Ariane Mnouchkine und
Theaterpublikum in politischen und sozialen
                                                                  anderen wieder. Das Reise-Motiv bestimmt die
Ausnahmezuständen wird beleuchtet, vom Front-
                                                                  anschließenden Unterkapitel, von den Fahrzeugen
theater, Aufführungen in Gefangenenlagern, Gefäng-
                                                                  und Gepäckstücken reisender Truppen über die
nissen, NS-Konzentrationslagern, bis zu aktuellen
                                                                  geografischen      und     kulturellen     Reisen    von
Fällen, u. a. 2015 im türkischen Flüchtlingslager
                                                                  Theatermasken, bis hin zu Reisen von Körper-
Midyat und anlässlich einer Hamlet-Aufführung im
                                                                  techniken mittels Tourneen, Exkursionen, internati-
Flüchtlingslager "La Jungle" in Calais 2016.
                                                                  onaler Streuung durch ehemalige Schüler*innen bzw.
Warum überhaupt Theater machen? Was ist der Motor                 Flucht und Exil (illustriert durch eine Karte der
dieses anstrengenden Tuns? Das fünfte Kapitel, eines              zahlreichen Exil-Stationen Brechts 1933–1947).
der lesenswertesten des vorliegenden Buchs, beginnt               Beerdigungsprozessionen als letzte Reise sowie die
mit dem Gemälde Die Gärtner von Gustave Caillebotte               Weitergabe und Übersetzung von Theatertechniken in
nebst Fotografien der mutwilligen Zerstörung von                  Form von Büchern, Zeitschriften, Spiel- und
Theaterbauten und der Rekonstruktion von                          Dokumentarfilmen beenden das Warum-Kapitel.
historischen Theatergebäuden, begleitet von einer
                                                                  Das sechste Kapitel, "Théâtre et histoire. Pages
Überlegung zur Gärtner-Metapher in Shakespeares
                                                                  tombées du carnet de Bouvard et Pécuchet" (S. 370),
Othello (der Körper als Garten, der Wille als Gärtner)
                                                                  dient primär der Wiedergabe von Bildmaterial, das
und bei Rudyard Kipling (Gärtnerarbeit müsse oft
                                                                  durch seine Anordnung und Kontrastierung zum
kniend gemacht werden). Die ökonomische
                                                                  Sprechen gebracht wird: Internationale Briefmarken
Begründung wird nahegelegt – denn europäisches
                                                                  und (Presse-)Fotografien bilden die Basis für
Theater sei nicht aus dem griechischen Ritual
                                                                  Doppelseiten zu Theater und Aufständen, Protest-
entstanden, sondern auf italienischen Märkten des 16.
                                                                  bewegungen, Kriegen, Theatermasken und Schutz-
Jahrhunderts. Hinweise auf ästhetische und vor allem
                                                                  masken (Gasmasken, Sturmmasken, Maskierung als
ethische Beweggründe für Theaterschaffen im Zuge

Diese Rezension ist erschienen in [rezens.tfm] 2021/2 | Veröffentlichungsdatum: 2021-11-30
https://rezenstfm.univie.ac.at/index.php/tfm/issue/view/2021-2 | doi:10.25365/rezens-2021-2-01
Laurette Burgholzer                                                                                    [rezens.tfm] 2021/2

Anonymisierung bei Demonstrationen), Theater-                     zufällig auf einer Parkbank kennenlernen und voller
gebäuden und massiver Zerstörung durch Tsunamis                   Enthusiasmus und Naivität ein gemeinsames Projekt
oder Bomben. Theaterbrände, ikonografische und                    in Angriff nehmen: aufs Land ziehen und Land-
mediale Inszenierungen von Hinrichtungen, die                     wirtschaft betreiben. Als frenetische Leser wollen sie
Thematisierung des Holocaust auf der Bühne folgen.                immer mehr erkunden und kultivieren ihr zerebrales
Anstelle von Theatergeschichte werden im Abschluss-               und oberflächliches Wissen in den Bereichen
kapitel Theater und Geschichte (im Sinne von Teatro e             Gärtnerei, Schnapsbrennerei, Chemie, Zoologie,
storia) als Montage präsentiert. Die letzte Doppelseite           Medizin, Archäologie, Politik, Gymnastik, Religion,
ist schwarz unterlegt: Links ist ein Foto von Frauen mit          Theater etc. Die Wahl dieser Stellvertreter durch die
Schminkmasken in El Salvador zu sehen, die gegen                  Herausgeber bringt eine durchaus sympathische
das herrschende Abtreibungsverbot protestieren,                   Ironisierung ihrer Positionen und künstlerisch-
rechts ein Porträtfoto von Pjotr A. Pawlenski mit                 wissenschaftlichen Biografien mit sich, aber auch eine
zugenähtem Mund, begleitet von einem Abschluss-                   verbesserte Zugänglichkeit für Leser*innen mittels der
zitat von Barba. Es werde immer einige Personen                   lockeren und teils amüsanten Dialoge. Die nieder-
geben, die Theater als Mittel praktizieren, um ihre               schwellige und im Konkreten fußende Methode der
eigene Revolte auf nicht zerstörerische Weise zu                  fünf W-Fragen als roter Faden für die Arbeitsweise am
kanalisieren; Personen "die den scheinbaren Wider-                Inhalt und an der Struktur des Buchs, sowie die
spruch einer Rebellion erleben werden, die sich in ein            Wertschätzung von heterogenem Bildmaterial für die
Gefühl der Brüderlichkeit verwandelt, und eines                   Erkundung von Theaterpraktiken machen Les cinq
einsamen Berufes, der Verbindungen schafft" (S. 395,              continents du théâtre für Forschende (insbesondere für
Übers. LB).                                                       jene, die mit Ansätzen von Barba/Savarese noch nicht
                                                                  eng vertraut sind), für Theaterpraktiker*innen und für
Jedes Kapitel des Buchs wird eingeleitet von einem
                                                                  Studierende zu einem ausgezeichneten Entdeckungs-
Dialog zwischen zwei Stellvertreter-Figuren von
                                                                  und Orientierungsband.
Barba und Savarese: Bouvard und Pécuchet. Es
handelt sich um die Protagonisten eines posthum ver-
öffentlichten satirischen Romanfragments von
Gustave Flaubert – zwei Pariser Kopisten, die sich

Autor/innen-Biografie
Laurette Burgholzer
Lehrbeauftragte im BA Figurentheater an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Stuttgart sowie
an der École supérieure d'art dramatique in Paris. 2020–2021 Gastprofessorin am Institut für
Theaterwissenschaft der Freien Universität Berlin. 2017–2020 Postdoc-Angestellte des Instituts für
Theaterwissenschaft der Universität Bern, mit Forschungsarbeiten zu gegenwärtigen Figurentheater-
Ausbildungen. 2015–2016 OeAD-Stipendiatin (Marietta Blau) an der Französischen Nationalbibliothek. 2011–
2015 Universitätsassistentin Praedoc am Institut für Theater-, Film- und Medienwissenschaft der Universität
Wien. Im Rahmen ihrer Dissertation Masken der A/Moderne (2017) hat sie historiographische
Grundlagenforschung zur Wiederentdeckung der Theatermaske in Frankreich um 1900 geleistet, mit Fokus
auf den Pantomimen Farina, Jacques Copeau und Charles Dullin.

Diese Rezension ist erschienen in [rezens.tfm] 2021/2 | Veröffentlichungsdatum: 2021-11-30
https://rezenstfm.univie.ac.at/index.php/tfm/issue/view/2021-2 | doi:10.25365/rezens-2021-2-01
Laurette Burgholzer                                                                                  [rezens.tfm] 2021/2

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[rezens.tfm] erscheint halbjährlich als e-Journal für wissenschaftliche Rezensionen und veröffentlicht Besprechungen
fachrelevanter Neuerscheinungen aus den Bereichen Theater-, Film-, Medien- und Kulturwissenschaft; ISSN 2072-2869.

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