EVANGELISCHE STIMMEN ZEITFRAGEN - C 21134
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C 21134 Mai 2021 | 5 EVANGELISCHE STIMMEN ZEITFRAGEN UND KIRCHE IN NORDDEUTSCHLAND Ökumenische Hinein in die Enge – Vollversammlung des Partnerschaft unter neuer Kurs der EKD in ÖRK: Von Busan nach einem Kirchendach Sachen Ökumene Karlsruhe
EDITORIAL Liebe Leserin, lieber Leser, Der großartige Dr. Ambrosius Backhaus (1923-2005) war Arzt im Hafenkrankenhaus St. Pauli und nebenamtlich russisch-orthodoxer Priester – gefühlt war es allerdings umgekehrt: hauptamtlich Priester, nebenamtlich Internist. Von ihm habe ich die schönste Definition des Monotheismus: „Mit dem Glauben ist es wie mit der Liebe zu meiner Frau. Sie ist für mich die einzige und die beste, aber ich mag es nicht so gerne, wenn andere das auch von ihr sagen.“ Ambrosius Backhaus hatte ein Gespür dafür, dass die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Glaubenstradition einer gewissen Kontingenz unterliegt und es deswegen vollkommen absurd ist, wenn Glau- benskriege, in welcher Schärfe und Form auch immer, entfacht wer- den. Damit hatte er einen wegweisenden Blick in die Zukunft eröffnet. Denn wer kann heute noch Presbyterianer, Baptisten, Mennoniten, Katholiken, Protestanten und Orthodoxe auseinanderhalten? Auch in FRIEDRICH der Theologie ist ja inzwischen zur Selbstverständlichkeit geworden: BRANDI „Die Zukunft der Kirche kann nur ökumenisch und dialogisch sein.“ (Adrée/Wollmann, S. 40) Natürlich gibt es Binnendifferenzierungen, die nicht kleingeredet werden sollten. Aber gesamtgesellschaftlich ist wesentlich aufschlussreicher, welche sozialen Strukturen die Kirchen mit dem Evangelium aufbrechen wollen. Denn das wird immer wich- tiger in einer globalisierten Gesellschaft, die sich nur noch dem Gott des Kapitals verschrieben hat und ohne Rücksicht auf gelingendes Leben alles niederwalzt, was diesem entgegensteht. Oft sind es kleine Schritte, die da gegangen werden (Greßmann, Steen, Eberle), doch das „Jahr der Ökumene 2021/22“ weist Wege in eine Richtung, die nicht allein Konfessionsgrenzen obsolet macht, sondern im Geist der Bibel auf den globalen Frieden hinwirkt. (vgl. Ebeling, Reimers-Avenarius, Freudenberg, Abuom). Doch lesen Sie selbst, rät www.evangelische-stimmen.de EVANGELISCHE STIMMEN 5 | 2021 3
EVANGELISCHE STIMMEN 3 Editorial Friedrich Brandi 47 6 Hinein in die Enge Uta Andrée 53 Mittendrin und Leben teilen orstand des Vereins „Brücke – V 12 Mission – Ökumene – Ökumensches Forum HafenCity“ Partnerschaft Claudia Ebeling 58 Eine Kirche – zwei Gemeinden 16 Raum in der Herberge Claudia Ebeling gesucht Annette Reimers-Avenarius 61 Ökumene im Gefängnis Friedrich Kleine 21 Von Busan nach Karlsruhe Anne Freudenberg 64 Eine Evangelische Stimme Thomas Schaack 26 Zwischen Richtig und Falsch Karla Eberle 66 Neugier und Gastfreundschaft 31 Nairobi – Münsterdorf – Uwe Onnen, Melanie Dango Nairobi und Martin Haasler Ralf Greßmann 69 Eine hilfreiche 36 Die Sehnsucht sitzt dabei Gemeindelektüre Nora Steen Matthias Kleiminger 40 Sechs Ökumenische Thesen 71 Ist die Kirche noch Uta Andrée und zu retten? Christian Wollmann Redlef Neubert-Stegemann 47 Das Evangelium 77 Zu guter Letzt macht ruhelos Agnes Abuom 78 Vorschau Titelbild: Logo „Jahr der Ökumene“ EVANGELISCHE STIMMEN 5 | 2021 5
THEMA Mission – Ökumene – Partnerschaft Die spannungsreiche Geschichte lebt von Menschen D ie eigenen Perspektiven Gemeinden vor Ort beschäftigt, erweitern, das eigene Welt- meistens auch eine globale Dimen- bild hinterfragen und das sion hat: Klimawandel, Migration, im Austausch mit anderen Kultu- Gerechtigkeit – ohne internationa- ren: Diese Idee ist heute so attrak- le Bündnisse, Verständnis und Wis- tiv wie bereits vor mehr als 100 sen von einander können keine Jahren. Auch die Kirchen bieten Beiträge für Lösungen entstehen. heute Freiwilligeneinsätze für Ju- Ökumenische Mitarbeitende gendliche in Projekten von Part- heißen heute die Menschen, die nerkirchen an, ermöglichen es von einer Kirche im Ausland für Claudia kirchlichen Mitarbeitenden und einen Einsatz entsendet werden. Ebeling Pastoren in Gemeinden oder Aus- Vor mehr als 100 Jahren hießen ist Referentin für Presse- bildungsstätten im Ausland mitzu- sie Missionare. Dieser Begriff und und Öffentlichkeitsarbeit arbeiten. Seit einigen Jahren gibt das damit verbundene Aufgaben- im Büro der Ökumene es neben diesen Nord-Süd-Einsät- feld sind heute vor allem in den beauftragten der Nord- zen auch Süd-Nord-Programme: Ländern des Nordens stark in die kirche. Vorwiegend junge Erwachsene Kritik geraten – und das zu Recht: aus verbundenen Partnerkirchen Viele Missionarinnen und Missi- arbeiten für ein Jahr in Kindergär- onare zogen mit ihrem Verständ- ten, ökumenischen Arbeitsstellen oder Pflege- nis von Kirchenordnungen und Ritualen in diensten mit. Pastoren aus Partnerkirchen der die Fremde, und manche verboten dort sogar Nordkirche sind seit vielen Jahren regelmäßig einheimische Musik, Instrumente oder Tradi- hier im Einsatz, aktuell ist es der Menschen- tionen. „Die neuzeitliche Missionsbewegung rechtsaktivist und Bischof Antonio Ablon von war von einem stark geographisch orientierten der Iglesia Filipina Independiente, einer Kirche Verständnis von Mission geprägt, wonach die auf den Philippinen der alt-katholischen Tradi- christlichen Länder der westlichen Hemisphä- tion, der in der Seemannsmission der Nordkir- re das Evangelium zu den nicht-christlichen che und im Zentrum für Mission und Ökume- Ländern tragen sollten. Doch diese Sicht hat ne mitarbeitet. sich im Laufe des 20. Jahrhunderts zunehmend Verbunden mit diesem Engagement ist die überholt“, erläutert der Direktor des Zentrums Erkenntnis, dass während der gemeinsamen für Mission und Ökumene der Nordkirche, Pas- Zeit, dem gemeinsamen Arbeiten und Leben, tor Dr. Christian Wollmann. Lernerfahrungen entstehen, die die Kirchen Die zwei Weltkriege haben das Selbstbewusst- bereichern, ihren Horizont erweitern und die sein der so genannten christlichen Länder und weltweite Verbundenheit stärken. Die von ih- die Reputation dieser Länder in der Welt tief er- ren Einsätzen zurückgekehrten Mitarbeiten- schüttert. Durch eine oft brutale, an Ausbeutung den bringen neue Impulse und Themen in ihre und Profit orientierte Kolonialherrschaft, an der Heimatkirchen. Längst ist klar, dass das, was die man viele Jahrzehnte trotz einheimischer Unab- 12 EVANGELISCHE STIMMEN 5 | 2021
THEMA hängigkeitsbewegungen festzuhalten suchte, dis- fremde Länder, importierten aber zugleich aus kreditierte sich die westliche Welt. „Man predigte diesen kulturelle Entdeckungen nach Deutsch- zwar von Freiheit, Gerechtigkeit und Wohlstand land. Zweitens blieben die Menschen in Über- für alle, doch der historische Hintergrund war see keine Glaubensempfänger, sondern entfal- geprägt durch die Zweiteilung der Welt in den teten eine staunenswerte Eigenständigkeit. Sie West- und Ostblock mit Stellvertreterkriegen in nahmen den neuen Glauben an, indem sie ihn ärmeren Regionen der Welt sowie der zuneh- verwandelten. Deshalb führte die evangelische mend prekär werdenden Situation der damals Mission nicht zu einer Europäisierung der sogenannten Dritten Welt“, so Christian Woll- missionierten Weltgegenden, sondern zu einer mann weiter. Die alte „West-Mission“, wie man Globalisierung und Pluralisierung des Chris- jetzt intern in selbstkritischen Missionskreisen tentums. Drittens zeigte diese religiöse Emanzi- formulierte, kam an ihr Ende. pation auch politische Folgen. Wie Nelson Man- Missionarinnen und Missionare haben ler- dela einmal bemerkte, wäre der antikoloniale nen müssen, dass der christliche Glaube und Kampf ohne die Missionsschulen nicht möglich seine Ausdrucksformen – in Musik und Litur- gewesen. Auch die Anti-Apartheids-Bewegung gie, in Kirchenstrukturen und Theologie – sich verdankte den Netzwerken der Missionsgesell- in unterschiedlichen Kulturen neu und frei schaften viel“, schreibt Claussen weiter. entfalten können, formuliert und verantwortet „Für Kirchen des Südens ist Mission, anders von den Menschen selbst. „Mission – so wird sie als oft bei uns, ein Begriff, der das Ganze des heute verstanden – ist nicht einfach Weiterga- kirchlichen Handelns in der Welt, die Rolle und be von etwas bereits fest geprägtem, sondern in Verantwortung der Kirche in ihren jeweiligen einem je neuen Kontext und in einer je neuen Gesellschaften im Blick hat“, beobachtet Chris- Zeit die Entdeckung der befreienden Botschaft tian Wollmann vom Zentrum für Mission und für gerade diesen Kontext“, erläutert Christian Ökumene. Hier geht es unter dem Leitwort Mis- Wollmann. sion um das soziale und politische Engagement Die evangelische Mission, so schrieb der von Christinnen und Christen, den Einsatz für Kulturbeauftragte der Evangelischen Kirche Menschenrechte und ein politisches Eintreten in Deutschland, Johann Hinrich Claussen, für eine gerechte Weltwirtschaftsordnung. Dies 2019, verstehe man nicht, wenn man sie nur wird als integraler Bestandteil der missionari- als kirchliche Parallele zum staatlichen und schen Agenda von Kirchen gesehen. „Und da- wirtschaftlichen Kolonialismus betrachtet, son- mit haben wir ein gemeinsames, zeitgemäßes dern man müsse sie auch als Vorgängerin der Verständnis von Ökumene und Partnerschaft, heutigen »Nichtregierungsorganisationen«, auf dem wir unsere Beziehungen aufbauen und der NGOs, auffassen. Die Missionsgesellschaf- pflegen“, betont Direktor Wollmann. ten waren im 18. und 19. Jahrhundert keine Pastor Uwe Nissen, Senior Expert der Nord- kirchlichen Einrichtungen. Sie waren „NCOs“ kirche, lebt und arbeitet seit vielen Jahren an – „Non-Church-Organisations“ – oder in da- der theologischen Hochschule in Mwika der maliger Terminologie »freie Werke«, Vereine Evangelisch-Lutherischen Kirche in Tansania. christlich engagierter Bürger, die sich dem Ziel Sie gehört heute mit mehr als vier Millionen verschrieben hatten, den Glauben in alle Welt Christinnen und Christen zu einer der größten zu tragen. Heute müsse diese Geschichte seiner lutherischen Kirchen der Welt. Ansicht nach mehrschichtig und als gemeinsa- „Ökumene ist für mich der Raum, in dem Kir- me Geschichte bewertet werden: „Erstens in- che auf Erden Gestalt annimmt. Und zwar über itiierten die Missionswerke einen vielfältigen alle Grenzen von Kultur, Sprache und Hautfarbe Kulturtransfer, der nicht nur eine Richtung hinweg. Als Christen wissen wir uns verbunden mit kannte. Sie brachten europäische Zivilisation in anderen Christen auf Erden, und die ökumenische EVANGELISCHE STIMMEN 5 | 2021 13
THEMA Kristina Kühnbaum-Schmidt, Landesbischöfin der Nordkirche, mit Antonio Ablon, Bischof der Iglesia Filipina Independiente Foto: ZMÖ Bewegung hat diesen Gesichtspunkt immer wieder Aber das ist nur die eine Seite: Zum einen ist es deutlich herausgestellt. Es geht darum, die gemein- natürlich einfacher, in der Ferne Gemeinschaft zu samen Überzeugungen zu vertiefen und bei aller Un- pflegen, die in der Heimatkirche eher mühselig sich terschiedlichkeit der Konfessionen die Zusammenar- ergibt. Man ist wagemutiger und hat nicht die üb- beit zu fördern. lichen Bedenkenträger um sich herum. Andererseits Glücklicherweise habe ich in den gut 20 Jah- gibt es eine zunehmende Tendenz, sich auf den inner- ren, die ich in Tanzania und Kenya tätig war und kirchlichen Binnenbereich zurückzuziehen. „Ökume- bin, immer wieder solche grenzüberschreitenden ne ist ja gut und richtig, aber viel schöner ist es, wenn Erfahrungen machen können. Sei es in den 70er man unter sich ist.“ So der Tenor vieler Kirchen, auch Jahren im Süden Tanzanias, wo ich mit hinein- in Tanzania und Kenya. genommen wurde in das Gesamtverständnis der Mir kommt dabei der Vergleich mit der EU in dortigen Christen, dass Mitmenschlichkeit Vorrang den Sinn. Was einst als europäische Bewegung voller hat vor Konfessionalität, sei es in den 90er Jahren Elan und Begeisterung begann und mit dem Wegfall in Kenya, wo ich mit dem katholischen Pfarrer der von Grenzen und einer gemeinsamen Währung sich deutschsprachigen Seelsorgestelle kongenial zu- manifestierte, ist inzwischen eher zu einem fragilen sammenarbeitete, weil er nach dem Motto verfuhr: Bündnis von Einzelstaaten mit vermehrten Partiku- Der Papst ist weit weg!, oder sei es jetzt im Nor- larinteressen geworden. den Tanzanias, wo ich immer wieder die Zuwen- Ökumene ist nun mal mühsam. Aber wenn wir dung und Gastfreundschaft von katholischen oder uns als Christen weltweit wirklich miteinander ver- freikirchlichen Gemeinden erfahren darf. bunden wissen, dann können wir nur immer wieder 14 EVANGELISCHE STIMMEN 5 | 2021
THEMA versuchen, aufeinander zuzugehen, miteinander Got- alltäglichen Sorgen zuhört und bei Problemen hilft. tesdienste zu feiern und vereint diakonisch zu han- Ich bringe hier in meine Arbeit die Perspektive deln. Dankenswerterweise gelingt das oft recht gut, eines Philippinos ein: Meine Kollegen und Kollegin- zumindest auf Gemeindeebene, sprich an der Basis. nen aus dem Seemannsclub und dem Seemannspfar- Gemeinschaft über Grenzen der Kultur, Haut- ramt blicken anders auf die Situation der Seeleute. farbe und Sprache hinweg ist und bleibt das Ziel, Zum Beispiel höre ich, dass neun Monate auf See zu aber natürlich auch ein Problem. Denn wenn sich sein ein großes Problem ist. Doch aus der Perspek- Menschen auf Augenhöhe begegnen, lernt man von- tive der Philippinos, die aus einem Land mit hoher einander, aber merkt auch, wie fremd man sich ist. Arbeitslosigkeit und schlechter Regierungsführung Begegnungen allein, das wissen wir vom Tourismus, kommen, ist so eine Arbeit essentiell, um die Familie können auch Rassismus und Besserwisserei fördern. zu ernähren und wird nicht hinterfragt. Eine Reise Da ist es dann gut, wenn man miteinander Leben nach Hause einmal pro Jahr ist sicher sehr schön, teilt und für längere Zeit in einer anderen Kirche doch viel wichtiger ist es, danach auch immer wie- mitarbeitet. der einen neuen Job auf See zu finden. Auch jetzt Das habe ich viele Jahre tun dürfen und bin dank- in den Quarantäne-Zeiten sorgen sich viele Seeleute bar für diese Selbstverständlichkeit ökumenischer um ihre Arbeitsplätze. Das wirkliche Problem der Gemeinsamkeit vor Ort. Aber es bleibt sicherlich ein Philippinos im Ausland, ob auf See oder an Land, langer Weg, bis solch eine Selbstverständlichkeit zum ist die fehlende Demokratie bei uns, die Regierung, Selbstverständnis von Kirchen wird. Leider.“ die die Freiheit unterdrückt. Antonio Ablon ist Bischof der Iglesia Filipi- Ich lebe jetzt hier als ökumenischer Mitarbeiter, na Independiente (Unabhängige Philippinische zu Hause habe ich eine Kirche mit 8000 Mitgliedern Kirche) – einer Kirche, die sich traditionell für geleitet. Ich war der Pilot dieser Kirche, ihr Impuls- Unterprivilegierte und Minderheiten einsetzt. geber. Als Bischof bin ich Diener aller Dienenden, Bischof Ablon kam bereits 2019 auf Einladung daher lag alle Verantwortung auf meinen Schultern. des Zentrums für Mission und Ökumene als Nun habe ich alles das nicht mehr, ich habe neue Gast in die Nordkirche. Während seiner Zeit in Kolleginnen und Kollegen im Zentrum für Mission Deutschland häuften sich Drohungen und die und Ökumene und im Seemannspfarramt gefunden, politische Verfolgung seiner Person. Er verlän- aber ich kann meine Arbeit ohne Erwartungsdruck gerte seinen Aufenthalt und wurde schließlich frei entwickeln. Das ist auch eine bereichernde Er- für ein Jahr in das Stipendienprogramm der fahrung, langsam werde ich so zu einer ganz neuen Hamburger Stiftung für politisch Verfolgte Person mit einer neuen Mission. Dies waren ur- aufgenommen. Seit Oktober 2020 ist er im See- sprünglich nicht mein Plan und mein Traum. Doch mannspfarramt der Nordkirche und als ökume- ich war und bin bereit, diesen neuen Dienst in Got- nischer Mitarbeiter im Zentrum für Mission tes Mission anzunehmen.“ und Ökumene tätig. „Ich bin ein Mitglied einer unabhängigen Alt-Ka- tholischen Kirche auf den Philippinen und ich Claudia.Ebeling@oekumene-gesellschaft.nordkir- werde hier in der Nordkirche gut aufgenommen, che.de respektvoll mit meiner Art zu leben und zu glauben behandelt. Deswegen erlebe ich die Nordkirche als eine offene, ökumenische Kirche. Allerdings trete ich in meiner Arbeit für das Seemannspfarramt nicht als Vertreter einer Kirche auf, ich denke, die Seeleu- te nehmen mich auch nicht als das wahr. Ich sehe meine Aufgabe als eine pastorale Mission, für die Seeleute bin ich aber einfach einer, der ihnen bei EVANGELISCHE STIMMEN 5 | 2021 15
THEMA Die Sehnsucht sitzt dabei Tischgemeinschaft als Grundform christlicher Gemeinschaft G emeinsam essen. Reden. sens aus. Die christliche Botschaft Nicht erst nach dem ersten entfaltet sich eben nicht im kon- Glas Wein ins Philosophie- textfreien Raum, sondern ist von ren kommen. Im Gespräch Gott Anfang an ein Beziehungsgesche- und die Welt mit an den Tisch ho- hen, das sich im Alltag ereignet len. Gemeinschaft ist wichtig. Wir und konkretisiert. Und da wir nicht Menschen sind grundsätzlich auf von Luft und Liebe leben können, Beziehung ausgelegt. gehören gemeinsame Mahlzeiten Viel ist uns abhandengekom- konstitutiv dazu. men in den langen Monaten der Luthers Tischreden zeugen da- Nora Pandemie. Ja, auch unsere Kir- von in besonders eindrücklicher Steen chen wurden im Kern getroffen. Weise. Deftige Speisen, Bier und Theologische Leiterin Denn die Ermöglichung von spitze theologische Thesen schlie- des Christian Jensen analoger Begegnung war immer ßen sich nicht aus. Dass am Tisch Kollegs in Breklum, eine Grundkonstante kirchlicher Luthers allerdings nur Männer re- KK Nordfriesland. Arbeit. Eine Kirche, ohne dass den durften, ist heute zum Glück Menschen mit Leib und Seele zu- nicht mehr denkbar, die Frauen sammenkommen? Ohne Gottes- haben sich einen angemessenen dienste mit Gesang, Segnungen und: Abend- Redeanteil zu Tisch erobert. mahl? Nach nun über einem Jahr Pandemie Aber nicht nur zu Luthers Zeiten, auch mutet die Vorstellung nahezu grotesk an, dass heute werden in vielen Familien zentrale An- wir einmal alle aus einem Kelch getrunken gelegenheiten während der Mahlzeiten bespro- und uns zum Abschlussgebet an den Händen chen. Weil das häufig, wenn überhaupt noch, gehalten haben. Wie aus lang vergangenen die einzige gemeinsame Zeit am Tag ist. Tischri- Zeiten leuchten Bilder von Sommerfesten im tuale geraten trotzdem in Vergessenheit. Wenn Pastoratsgarten mit Buffet, zu dem alle etwas wir bei uns zu Hause mit den Kindern ein mitgebracht haben, oder dem gemeinsamen Tischgebet sprechen und uns danach die Hän- Frühstück am Ostermorgen, in die desinfizierte de reichen, schauen die meisten Besuchskinder und isolierte Gegenwart hinein. reichlich irritiert. Gerade wegen dieser gegenwärtigen Wid- Die Tischgemeinschaft als besondere christ- rigkeiten ist es umso wichtiger, die Bedeutung liche Grundform des miteinander Lebens wert- von Gemeinschaft, genauer: Die Bedeutung des zuschätzen und neu in den Fokus zu rücken, ist gemeinsamen Essens, nicht zu vergessen. Die deshalb eine der Motivationen für das Projekt Erinnerung wachhalten, damit ein wertvolles „Tischgemeinschaft“, das von der Arbeitsge- Kulturerbe nicht verloren geht. meinschaft Christlicher Kirchen und ihren re- Schon die neutestamentlichen Geschichten gionalen Gemeinschaften in Norddeutschland über das Wirken Jesu kämen nicht ohne diese für das Jahr der Ökumene geplant worden ist. elementaren Erfahrungen des miteinander Es- Menschen ganz unterschiedlicher Herkunft 36 EVANGELISCHE STIMMEN 5 | 2021
THEMA und unterschiedlicher Konfessionen sollen dazu eingeladen werden, sich an einen Tisch zu setzen. Zu essen, zu trinken, Geschichten auszu- tauschen und drängende gesellschaftliche oder politische Fragen gemeinsam besprechen. Die Welt an einem Tisch Bei internationalen kirchlichen Begegnungen, bei Partnerschaftsbesuchen oder ökumeni- schen Konferenzen spielen die gemeinsamen Essenszeiten immer eine besondere Rolle. Schnell kommt man auch über sprachliche Das vierfarbige Logo der Aktion Foto: CJK Barrieren hinweg ins Gespräch. Das, was auf dem Teller liegt, erzählt etwas über Kultur, Ge- schichte, Ästhetik des jeweiligen Gastlandes. ein oder zwei Semester zusammen Ökumeni- Beim Essen treffen wir uns auf Augenhöhe. Als sche Theologie. Zu den herausragenden Ereig- Menschen, die Nahrung brauchen, um leben zu nissen eines solchen Studiensemesters gehörten können. Das Gastland kommt uns nah – in der für mich, als ich dort gearbeitet habe, die so ge- Würze, der Süße, der Schärfe der uns angebo- nannten kulturellen Abende, an denen sich je- tenen Gerichte. Manches geht an die eigenen weils ein Kontinent vorstellt. Und dies nicht nur Geschmacksgrenzen heran oder auch darüber mit Darbietungen, Texten, Bildern oder Filmen, hinaus. Nicht alles ist für mich genießbar, ei- sondern natürlich auch mit dem Essen. Die Stu- niges bereitet mir Magenschmerzen. Andere dierenden des jeweiligen Kontinents stehen den Geschmacksexplosionen öffnen mir die Tür in ganzen Tag in der Küche und kochen für den eine neue und bislang unbekannte Welt. Nie gesamten Jahrgang. Abends wird gefeiert, ge- werde ich den Geschmack der ersten Bana- tanzt und natürlich: Gegessen. Die Geschichte ne vergessen, die ich als Neunzehnjährige in und die Rezepte der gekochten Speisen werden Südindien gegessen habe. Ich konnte es nicht erläutert. So lernen alle Beteiligten eine neue fassen, wie köstlich eine Frucht sein kann, von Dimension eines Kontinents kennen, die mög- der ich meinte, sie schon längst zu kennen. Sie licherweise den bekannten Stereotypen so gar wurde damals, neben grünen Kokosnüssen und nicht entspricht. Mangos, zu meinem täglichen Lebens-Mittel. Tischgemeinschaften, die sich interkulturell Ebenfalls werde ich nie den übervoll ge- öffnen, bieten die riesige Chance einer Begeg- deckten Tisch einer Familie vergessen, bei der nung, die nicht beim Kognitiven stehen bleibt. wir als Jugendliche auf einer Austauschreise Zugleich nehmen sie unser Menschsein mit un- in Moskau zu Gast waren. Den sehr reichlich seren körperlichen Bedürfnissen ernst. gefüllten Teller nicht leer zu essen, wäre ein Affront gewesen. Tischgemeinschaft – eins in Christus Andere an unseren Tisch einzuladen, mit un- Gemeinschaft leben, dazu sind wir Christ*in- seren Bräuchen vertraut zu machen, mit dem, nen aufgefordert. Wir sind hineingestellt in was uns schmeckt, gehört zu den Kostbarkeiten die Gemeinschaft der Glaubenden, in deren ökumenischer Begegnungen. Wir zeigen uns Zentrum Jesus Christus steht. In aller Verschie- mit dem, was unser Leben und unseren Alltag denheit geeint in dem Glauben daran, dass die ausmachen. Botschaft von Kreuz und Auferstehung uns mit- Im Ökumenischen Institut Bossey bei Genf einander über alle kulturellen, regionalen und studieren Pastor*innen aus der ganzen Welt für ethnischen Grenzen hinweg verbindet. EVANGELISCHE STIMMEN 5 | 2021 37
THEMA Von der Ur-Erfahrung von Gemeinschaft, Dass wir hineingenommen sind in ein Versöh- dem Abendmahl, gehen alle weiteren Formen nungsgeschehen, das all unsere menschlichen von Begegnung oder Tischgemeinschaften aus. Bemühungen übersteigt. Ohne an dieser Stelle die gesamte Abendmahls- diskussion theologisch zu entfalten, ist mir an Tischgemeinschaft – auch digital? dieser Stelle wichtig: Das Abendmahl transzen- Als wir anfingen, für das Jahr der Ökumene diert die Tischgemeinschaft. Das Brot ist mehr Tischgemeinschaften zu planen, war die Welt als Brot. Der Wein ist mehr als Wein. Durch das noch eine andere. Jetzt fühlen wir uns ausge- gemeinsame Essen und Trinken verleiben wir bremst. Zur Tischgemeinschaft gehört ein Tisch uns sozusagen die Zusage ein, dass alle Grenzen aus Holz, das schöne Geschirr, leckeres Brot und zwischen Gott und uns zunichte gemacht, dass guter Wein. So war es bis zum März 2020. So uns unsere Sünden vergeben sind. Im Abend- wünschen wir es uns. mahl ereignet sich somit eine Versöhnung, die Doch dürfen wir dabei stehen bleiben und wir nicht selbst herstellen können. abwarten, bis die Pandemie irgendwann vorü- Umso wichtiger ist es, dass wir dieses Ge- ber ist und wir tatsächlich die Tische wieder vor schehen normalerweise gemeinschaftlich voll- die Kirche stellen und gemeinsam essen? ziehen. Dadurch wird die Wirkkraft der Einset- Die Erfahrungen mit virtuellen Gemein- zungsworte und der Sündenvergebung umso schaftsformen sind nach mehr als einem Jahr stärker, weil dann nicht nur meine individuelle Pandemie divergent. Vieles fehlt im digitalen Gottesbeziehung, sondern auch die Beziehung Raum. Körperliche Nähe, Raumeindrücke, Ge- zu meinen Mitmenschen in dieses Versöh- rüche, Atmosphäre, um nur einiges zu nennen. nungsgeschehen mit hineingenommen wird. Dennoch hat spätestens Corona deutlich ge- Wenn sich, wie in vielen Gemeinden üblich, die macht, dass wir uns auf Dauer nicht aus dem Menschen zum Abschlusssegen an den Händen digitalen Raum zurückziehen können, wollen fassen, dann wird dies mehr als greifbar. wir Menschen dort erreichen, wo sie nach kirch- Noch mehr ist dies in einem ökumenischen lichen Sinnangeboten suchen. Denn nicht erst Kontext spürbar, in dem automatisch auch die seit Corona ist der digitale Raum für viele Men- konfessionellen Grenzen als Thema mit in die- schen der entscheidende Ort, an dem sie nach ses umfassende Beziehungsgeschehen zwischen Seelsorge, Trost oder Ansprache suchen. Und es Christus, mir und meinen Mitmenschen hinein- gibt ja auch die positiven Erfahrungen mit digi- genommen wird. Aus meiner Erfahrung als Seel- talen Gemeinschaftsformen. sorgerin weiß ich, wie heilsam die Partizipation Bei uns im Christian Jensen Kolleg, das be- an der Abendmahlsfeier einer anderen Konfessi- sonders für seine regionale und nachhaltige Kü- on für Menschen sein kann, die sehr unter einer che bekannt ist, hat sich seit einigen Monaten das konfessionellen Trennung leiden. Format digitaler Kochabende etabliert. Die Teil- Deshalb ist es dringend angeraten, an dieser nehmenden bekommen eine Einkaufsliste, stel- Stelle weniger theologische Richtigkeiten walten len sich zu Hause in ihre Küche und dann wird zu lassen als seelsorgerliche Kompetenz: ALLE gemeinsam via Videokonferenz gekocht. Die sind eingeladen an den Tisch des Herrn. Wer sind Fangemeinde dieser monatlichen Abende wird wir zu entscheiden, wer teilhaben darf an Gottes immer größer, mittlerweile kennen sich viele Versöhnungshandeln mit uns Menschen? und begrüßen sich freudig von Kachel zu Kachel. Das Abendmahl ist der Urgrund jeder Tisch- Zum Schluss wünschen sich alle einen guten Ap- gemeinschaft. Es lässt uns bei jedem weiterge- petit und essen dann im Kreis ihrer Familie die reichten und geteilten Fladenbrot daran den- gemeinsam gekochte Mahlzeit. Natürlich wird ken, dass es mehr gibt, was uns miteinander dadurch die Begegnung, die beim gemeinsamen verbindet. Dass da jemand mit am Tisch sitzt. Essen entsteht, nicht kompensiert. Dennoch, so 38 EVANGELISCHE STIMMEN 5 | 2021
THEMA Tischgemeinschaft in der St. Catha- rinenkirche zu Leplow, Gemeinde Eixen. Foto: Jens Haverland stelle ich immer wieder fest, sind solche oder schen von Mitte Dreißig bis Mitte Achtzig teil. ähnliche ursprünglich nur aus der Not gebore- Sie wagen sich alle mit Laptop oder Smartpho- nen digitalen Gemeinschaftsangebote viel mehr ne in die digitale Welt und sind dann sowohl als nur ein Ersatz für eine momentan verlorene stolz es geschafft zu haben als auch erstaunt, wie „Normalität“. Nicht wenige Menschen bitten viel Gemeinschaft digital möglich ist. Häufig uns, auch „nach Corona“ an den digitalen Ange- viel mehr, als sie je zu träumen gewagt hätten. boten festzuhalten, weil sie viel kompatibler sind Gerade das ist in dieser für alle so kräftezeh- mit ihrer Alltagswirklichkeit. So haben wir bei- renden Zeit der Pandemie so elementar: Dass spielsweise bei Exerzitienwochen oder eben den wir nicht vergessen, dass auf allen Tischen die- Kochabenden Gäste aus ganz Deutschland und ser Welt Teller stehen, die Tag für Tag neu ge- sogar darüber hinaus bei uns im kleinen nord- füllt werden müssen. Weil wir Menschen sind. friesischen Breklum zu Gast. Und dass mein eigener Tisch und mein eigener Durch die digital eröffneten Räume entste- Teller nicht das Maß aller Dinge sind. hen auf einmal ganz neue Formen von Gemein- Ja, Tischgemeinschaften funktionieren also schaft. Sie ermöglichen zwar keine physische auch digital. Nur anders. Auf jeden Fall gäbe es Nähe, aber Kommunikation. Sie übermitteln überhaupt nichts dabei zu verlieren, das einfach nicht den Duft und die Würze des gekochten mal auszuprobieren. Essens, aber sie lassen uns über unsere Kameras einander in die Kochtöpfe schauen. Und das ist schon viel mehr, als über Monate nur den eige- n.steen@christianjensenkolleg.de nen Topf vor der Nase zu haben. An meinen eigenen Angeboten für digitale Gemeinschaftsformen nehmen übrigens Men- EVANGELISCHE STIMMEN 5 | 2021 39
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