Expertise - Regelbedarfe 2021. Alternative Berechnungen zur Ermittlung der Regelbedarfe in der Grundsicherung - Der Paritätische Gesamtverband
←
→
Transkription von Seiteninhalten
Wenn Ihr Browser die Seite nicht korrekt rendert, bitte, lesen Sie den Inhalt der Seite unten
Expertise Regelbedarfe 2021. Alternative Berechnungen zur Ermittlung der Regelbedarfe in der Grundsicherung DEUTSCHER PARITÄTISCHER WOHLFAHRTSVERBAND GESAMTVERBAND e. V. | www.paritaet.org
Impressum Herausgeber: Deutscher Paritätischer Wohlfahrtsverband – Gesamtverband e. V. Paritätische Forschungsstelle Oranienburger Str. 13–14 10178 Berlin Inhaltlich verantwortlich gemäß Presserecht: Dr. Ulrich Schneider Autor*innen: Dr. Andreas Aust Telefon: 030 24636-322 E-Mail: sozpol@paritaet.org Dr. Joachim Rock Telefon: 030 24636-303 E-Mail: sozialpolitik@paritaet.org Greta Schabram Telefon: 030 24636-313 E-Mail: forschung@paritaet.org Gestaltung: Christine Maier Titelbild: © Zerbor – stock adobe Berlin, 19. September 2020
Regelbedarf auch in 2021 weit unter Bedarfsdeckung – Erhöhung auf 644 Euro geboten Nach den Bestimmungen des SGB XII (Sozialhilfe) ist Die Regelbedarfe sind in dieser Höhe in keiner Weise der Gesetzgeber verpflichtet, mit Vorliegen der alle bedarfsdeckend. Die Höhe der Leistungen inklusive fünf Jahre neu erhobenen Einkommens- und Ver- der separat gezahlten durchschnittlichen Wohnko- brauchsstichprobe (EVS) des Statistischen Bundes- sten liegt deutlich unter der Armutsschwelle. Die Re- amtes die Höhe der Regelbedarfe neu zu bestimmen. gelbedarfe reichen nicht aus für eine angemessene Letztmalig geschah dies im Jahr 2017 auf Grundlage Ernährung. Die Leistungsberechtigten leiden unter der Statistik aus dem Jahr 2013. Aktuell liegt ein Ge- „materieller Entbehrung“, d. h. in den verschiedensten setzentwurf der Bundesregierung zur Neuermittlung Aspekten sind sie mit Gütern und Dienstleistungen der Regelbedarfe zum 1. Januar 2021 auf dem Tisch. unzureichend versorgt. Der Lebensstandard weicht Danach sollen die Regelbedarfe für eine erwachsene insbesondere bei der sozialen Teilhabe dramatisch Person von aktuell (2020) 432 Euro auf 446 Euro an- von der gesellschaftlichen Normalität ab, so dass hier gepasst werden. Günstiger fällt die Neuermittlung für von sozialer Ausgrenzung zu sprechen ist. Die entspre- zwei Altersgruppen der Kinder und Jugendlichen aus. chenden Belege wurden jüngst in der Expertise „Arm, Bei den 14 bis 17-Jährigen wird der Regelbedarf um 45 abgehängt, ausgegrenzt. Eine Untersuchung zu Man- Euro auf dann 373 Euro angehoben und bei den Jüngs- gellagen eines Lebens mit Hartz IV“ der Paritätischen ten bis 5 Jahre um 33 Euro auf 283 Euro. Die Leistungen Forschungsstelle vorgelegt. für die 6 bis 13-Jährigen steigen um 1 € und bleiben damit auf dem aktuellen Niveau. Tabelle1: Regelbedarfe nach dem Regelbedarfsermittlungsgesetz (RBEG 2020) Stand 2020 Neuermitt- Differenz Differenz (in Euro) lung 1.1.2021 (in Euro) (in Prozent) (in Euro) Alleinstehende*r Erwachsene*r 432 € 446 € 14 € 3,2 % Partner*in (90 Prozent) 389 € 401 € 12 € 3,1 % Andere erwachsene Person in Bedarfsgemeinschaft 345 € 357 € 12 € 3,5 % Jugendliche 14 bis 17 Jahre 328 € 373 € 45 € 13,7 % Kinder 6 bis 13 Jahre 308 € 309 € 1€ 0,3 % Kinder 0 bis 5 Jahre 250 € 283 € 33 € 13,2 % Datenquelle: BMAS (2020a): Entwurf eines Gesetzes zur Ermittlung von Regelbedarfen und zur Änderung des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch sowie des Asylbewerberleistungsgesetzes BMAS (2020b): https://www.bmas.de/DE/Presse/Pressemitteilungen/2020/hoehere-regelbedarfe-in-der-grundsicherung-und-sozialhilfe.html, zuletzt aufgerufen am 09.09.2020 1
Nach den Darlegungen in der vorliegenden Experti- • die methodisch unzulässige Streichung von zahl- se der Paritätischen Forschungsstelle ist die geltende reichen Ausgabenpositionen in der Referenzgrup- Regelbedarfsermittlung massiv zu kritisieren. Das Er- pe, insbesondere die Streichung oder Kürzung mittlungsverfahren entspricht nicht dem Statistikmo- zahlreicher Ausgaben im Zusammenhang mit der dell, sondern benutzt eine im Grundsatz unzulässige sozialen Teilhabe. Mischung aus Statistik- und Warenkorbmodell. Eine korrekte und vollständige Ermittlung der Regelbedarfe Bei der Ermittlung der Regelbedarfe wurden bis 2011 auf der Grundlage eines konsequent umgesetzten Sta- die Ausgaben des untersten Einkommensquintils (un- tistikmodells ergibt dagegen für das Jahr 2021 einen tere 20 Prozent) in den Blick genommen. In der Ermitt- Regelbedarf für Erwachsene von 644 Euro, was eine lung der Regelsätze für 2011 wurde diese Bezugsgrup- Erhöhung um 198 Euro bedeuten würde. pe ohne überzeugende Begründung geändert und nur noch die untersten 15 Prozent auf der Einkommens- Ein Grund für dieses Missverhältnis liegt darin, dass skala ausgewählt. Dieser Schritt führte im Ergebnis zu die Bundesregierung bereits bei der Neuberechnung einer deutlichen Reduzierung des Regelbedarfes. Bei der Regelsätze im Jahre 2011 eine Reihe willkürlicher der Regelbedarfsermittlung 2017 führt allein dieser Eingriffe in die statistischen Grundlagen und Verfah- Eingriff zu geringeren Konsumausgaben der Referenz- ren der Regelbedarfsermittlung vorgenommen hat, gruppe in Höhe von rd. 20 Euro. die die nachfolgenden Bundesregierungen nur mit geringfügigen Veränderungen fortgeschrieben haben. Auch die zahlreichen Streichungen bei den Ausgaben der Referenzgruppe stellen einen schwerwiegenden Grundlage für die Berechnung des Regelsatzes durch und methodisch unzulässigen Eingriff in die sach- die Bundesregierung ist das Ausgabeverhalten ein- gerechte Ermittlung dar. So haben etwa lediglich rund kommensarmer Haushalte. Grob zusammengefasst 20 Prozent in der Referenzgruppe Ausgaben für Tabak- betrachtet die Bundesregierung, wofür arme Men- waren angegeben. Die Nicht-Anerkennung dieser Aus- schen wie viel Geld ausgeben und entscheidet dann, gabe reduziert aber die Grundsicherungsleistungen welche der Ausgabepositionen sie als „regelsatz- für Alle um etwa 10 Euro. relevant“ anerkennt. Das sogenannte Statistikmodell geht davon aus, dass die Orientierung an den Ausga- Die Bundesregierung misst dem Umstand, dass der Re- ben einer statistisch definierten Gruppe von Haus- gelbedarf nicht nur das physische Existenzminimum halten erlaubt zu bedarfsgerechten Regelsätzen zu sicherstellen, sondern auch gesellschaftliche Teilhabe gelangen. ermöglichen soll, in der aktuellen amtlichen Berech- nungsweise kaum eine Bedeutung zu. So gut wie alle Wie der Expertise der Paritätischen Forschungsstelle Streichungen bei Ausgabenpositionen einkommens- im Einzelnen zu entnehmen ist, richtet sich die Kritik schwacher Haushalte betrafen Ausgaben, die mit ge- an den Berechnungen der Bundesregierung vor allem sellschaftlicher Teilhabe zu tun haben; sie wurden als gegen „nicht regelsatzrelevant“ gestrichen. Sich im Sommer mal im Eisladen ein Eis kaufen zu können mit anderen • den sachlich unbegründeten, willkürlichen Wech- Familien – um nur ein Beispiel von mehreren dieser Art sel der Referenzgruppe zur Berechnung der Regel- zu nennen – dient weniger dem physischen Existenz- sätze, minimum, sondern der Teilhabe. Die ohnehin geringen Ausgaben für Eis in Wasser umzurechnen und nur die- • den Verzicht auf die Ausklammerung leistungsbe- sen substituierten Betrag als „regelsatzrelevant“ anzu- rechtigter Personen aus der Referenzgruppe, die erkennen ist schlichtweg weltfremd, herzlos und zeigt, ihre Ansprüche nicht geltend machen („verdeckte wie wenig der Bundesregierung an Teilhabe einkom- Arme“) mensschwacher Menschen gelegen ist. 2
Die vorliegenden Berechnungen der Paritätischen For- Wir fordern die Bundesregierung daher auf: schungsstelle geben vor diesem Hintergrund Zeugnis von dem dringenden Korrekturbedarf bei der Ermitt- • eine Erhöhung des Regelbedarfes für Erwachsene lung der Regelbedarfe, selbst dann, wenn man der auf 644 Euro vorzunehmen, Logik des von der Bundesregierung präferierten soge- nannten Statistikmodells zur Ermittlung der Regelsät- • auch bei Kindern und Jugendlichen auf jegliche ze folgt. Streichungen zu verzichten und die Regelbedarfe entsprechend anzuheben, Was die Regelsätze für Minderjährige anbelangt, so deuten bereits die Sprünge bei den amtlich ermit- • für die Vorbereitung der nächsten anstehenden telten Bedarfen für Kinder und Jugendliche auf der Regelbedarfsermittlung umgehend eine Kommis- Grundlage der EVS 2018 auf erhebliche statistische Un- sion einzurichten, die sicherheiten hin. Angesichts der geringen Fallzahlen stößt das Statistikmodell hier an seine Grenzen. Für die – alternative Varianten zur Festlegung eines va- Bedarfsermittlung von Kindern und Jugendlichen sind lide ermittelten menschenwürdigen Existenz- grundlegend neue Wege zu gehen. Die Einsetzung ei- minimums prüft und dem Gesetzgeber ent- ner Expertenkommission zur Ermittlung von bedarfs- sprechende Vorschläge unterbreitet, deckenden Leistungen für Kinder und Jugendliche wäre hier ein erster wichtiger Schritt. – dabei insbesondere ein sachgerechtes Ermitt- lungsverfahren für das soziokulturelle Exi- In seinem Beschluss vom 23. Juli 2014 hat das Bundes- stenzminimum für Minderjährige erarbeitet, verfassungsgericht (1 BvL 10/12 - Rn. 1-149) die Her- leitung der Regelsätze, wie sie durch den Gesetzgeber – Vorschläge für eine sachgerechte und be- im Jahr 2011 vorgenommen wurde, als gerade noch an darfsdeckende Finanzierung der Stromkosten der „Grenze dessen, was zur Sicherung des Existenzmini- für Grundsicherungsbeziehende und zur An- mums verfassungsrechtlich geboten“ ist, bewertet und schaffung von langlebigen Konsumgütern wie dem Gesetzgeber den Auftrag erteilt, die finanziellen Kühlschränken oder Waschmaschinen jenseits Spielräume zu sichern, damit ein interner Ausgleich der Regelleistung vorlegt und noch möglich ist – entweder durch höhere pauscha- le Leistungen, durch erweiterte Sonderbedarfe oder – ein Konzept vorlegt, wie dem zum Teil sehr un- durch kostenfreie Dienstleistungen (vgl. a.a.O. Rn. 121). terschiedlichen Mobilitätsbedarf in Stadt und Land Rechnung getragen werden kann. Das Bundesverfassungsgericht hat die Ermittlung der Regelbedarfe damit aus verfassungsrechtlicher Perspektive im Ergebnis „gerade noch“ akzeptiert. Offenkundig ist aber, dass auch das Bundesverfas- Ulrich Schneider sungsgericht die Ermittlung und das Ergebnis aus so- Hauptgeschäftsführer zialpolitischen Erwägungen kritisiert. Dies formuliert Der Paritätische Gesamtverband das Gericht an verschiedenen Stellen und forderte zumindest Korrekturen in den Bereichen Mobilität, langlebige Konsumgüter wie Kühlschrank oder Wasch- maschine und Energiekosten ein. Es ist nicht nachvoll- ziehbar, weshalb seitens der Bundesregierung auf die Hinweise bisher nicht sachgemäß reagiert wurde. 3
Inhalt Regelbedarf auch in 2021 weit unter Bedarfsdeckung –Erhöhung auf 644 Euro geboten ........................................ 1 1. Bedeutung des Regelbedarfes .................................................................................................................................................... 5 2. Anforderungen an eine sachgerechte Regelbedarfsermittlung mit dem Statistikmodell ..................................... 6 3. Auswahl der Referenzgruppe für Erwachsene – Regelbedarfsermittlungsgesetz vs. Der Paritätische ............. 9 4. Bewertung der privaten Konsumausgaben bei der Regelbedarfsermittlung – Regelbedarfsermittlungsgesetz vs. Der Paritätische ........................................................................................................... 12 5. Vergleich Regelbedarfsermittlung: Regelbedarfsermittlungsgesetz vs. Der Paritätische ...................................... 16 6. Kinderregelbedarfe .......................................................................................................................................................................... 22 7. Fazit: Gesamtergebnis und Effekte ............................................................................................................................................. 24 Literatur ..................................................................................................................................................................................................... 27 Anhang ...................................................................................................................................................................................................... 28 Tabellen- und Abbildungsverzeichnis: Tabelle 1: Regelbedarfe nach dem Regelbedarfsermittlungsgesetz (RBEG 2020) ......................................................... 1 Tabelle 2: Bedeutung der Regelsätze, direkte Bezüge und Leistungsempfangende .................................................... 5 Tabelle 3: Alternative Berechnung des Paritätischen: Ausgaben der Ein-Personen-Haushalte nach Abteilungen (2018), in Euro ................................................... 15 Tabelle 4: Regelbedarfe für Kinder auf Grundlage des Regelbedarfsermittlungsgesetz: Der Paritätische vs. Bundesregierung .......................................................................................................................... 23 Tabelle A1: Ausgaben Ein-Personen-Haushalte nach dem Regelbedarfs-Ermittlungsgesetz – Regelbedarfsermittlungsgesetz 2020, Abteilungen in Euro (2018) ................................................................. 28 Abbildung 1: Regelbedarfsermittlung: Bundesregierung mit und ohne Abschläge (2018) ........................................ 13 Abbildung 2: Regelbedarfsermittlung: Der Paritätische vs. Bundesregierung (2018) .................................................... 17 Abbildung 3: Regelbedarfe 2021: Der Paritätische vs. Bundesregierung ........................................................................... 17 Abbildung 4: SGB II-Leistungen und Armutsschwelle: Der Paritätische vs. Bundesregierung ................................... 25 4
1. Bedeutung des Regelbedarfes Regelsätze haben eine große sozial- wie wirtschafts- Obwohl die verschiedenen Systeme der Grund- politische Bedeutung. Im Jahr 2018 bezogen 7,2 Millio- sicherung die existentielle Lebensgrundlage für fast ein nen Personen Leistungen der verschiedenen Systeme Zehntel der Bevölkerung darstellt, sind die Ausgaben der Grundsicherung. Dies entspricht einem Anteil von der verschiedenen politischen Ebenen vergleichswei- 8,7 Prozent der Bevölkerung. Bei diesen Personen be- se bescheiden. Unter den Grundsicherungssystemen stimmt wesentlich der Regelbedarf zusammen mit den ist das SGB II – die Grundsicherung für Arbeitsuchende Wohn- und Heizkosten die Höhe des grundlegenden – das größte und umfassendste System. Für die etwa Lebensunterhalts. 5,5 Millionen Leistungsberechtigten im SGB II hat der Sozialstaat 2018 in der Summe etwa 44 Mrd. Euro aus- Die Bedeutung der Regelsätze reicht weit über das Sys- gegeben. Diese Summe beinhaltet sowohl die Ausga- tem der Existenzminimumleistungen hinaus. Direkte ben für die Arbeitsförderung, Verwaltungskosten und rechnerische Bezüge bestehen zum Unterhaltsrecht Wohnkosten. Auf die Einkommensleistungen entfallen und zu den Grund- und Kinderfreibeträgen in der Ein- dabei lediglich 18 Mrd. Euro. Das Sozialbudget betrug kommensteuer. Eine Erhöhung der Regelbedarfe führt 2018 insgesamt fast eine Billion Euro (995 Mrd. Euro). damit über die Erhöhung der Grund- und Kinderfreibe- Bezogen auf diese gesamten sozialen Ausgaben im träge auch zu einer geringeren Steuerbelastung aller Land wird 2018 lediglich ein Anteil von 4,4 Prozent für steuerpflichtigen Erwerbstätigen. die Grundsicherung für Arbeitslose ausgegeben.1 Weitere Bezüge bestehen darüber hinaus – i. S. einer Orientierung an der Höhe des Existenzminimums – beim Kinderzuschlag, BAföG, Pfändungsfreigrenzen und Wohngeld. Insgesamt gesehen hat fast die ge- samte deutsche Wohnbevölkerung direkt oder indirekt etwas mit dem Regelbedarf zu tun. Tabelle 2: Bedeutung der Regelsätze, direkte Bezüge und Leistungsempfangende Anzahl Leistungs- Direkte Bezüge empfangende 2018, in Mio. SGB II Erwerbsfähige Regelleistungsberechtigte (ALG II) 4,00 Mio. Nicht erwerbsfähige Regelleistungsberechtigte (Sozialgeld) 1,63 Mio. SGB XII Hilfe zum Lebensunterhalt 0,37 Mio. Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung 1,08 Mio. Asylbewerberleistungsgesetz 0,41 Mio. Datenquelle: Bundesagentur für Arbeit: Eckwerte des Arbeitsmarktes und der Grundsicherung; Statistisches Bundesamt: Sozialhilfestatistik 1 Vgl. Bundesministerium für Arbeit und Soziales (2020): Sozialbudget 2019. Berlin. Die geschätzten Ausgaben für 2019 werden mit 43,3 Mrd. Euro beziffert. 5
2. Anforderungen an eine sachgerechte Regelbedarfsermittlung mit dem Statistikmodell Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem grundle- an, dass Mobilität etwa im ländlichen Raum zentral ist, genden Urteil vom 09.02.2010 das Grundrecht auf die um existentielle Bedarfe zu sichern. Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenz- miniums nachdrücklich bestätigt. Das Grundrecht „Weiße Ware“ und besondere Bedarfe: Das BVerfG hat „sichert jedem Hilfebedürftigen diejenigen materiellen bereits in der Vergangenheit u. a. die Sorge vor „einer Voraussetzungen, die für seine physische Existenz und für Unterdeckung hinsichtlich der akut existenznotwen- ein Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kul- digen, aber langlebigen Konsumgüter, die in zeitlichen turellen und politischen Leben unerlässlich sind“ (BVerfG Abständen von mehreren Jahren angeschafft werden“ 1 BvL 1/09, vom 9. Februar 2010, Leitsatz). Das Grund- (BVerfG 2014, Rn. 120) formuliert. Diese Sorge ist be- recht umfasst „das gesamte Existenzminimum durch gründet, da gerade bei kostenintensiven, langlebigen eine einheitliche grundrechtliche Garantie, die sowohl Verbrauchsgütern keine am Bedarf und der Lebens- die physische Existenz des Menschen, also Nahrung, Klei- wirklichkeit orientierte Bedarfsermittlung erfolgt. Der dung, Hausrat, Unterkunft, Heizung, Hygiene und Ge- ermittelte Bedarf für eine monatliche Pauschale zur sundheit (…), als auch die Sicherung der Möglichkeit zur Anschaffung eines Kühlschranks wird mit 1,67 Euro ver- Pflege zwischenmenschlicher Beziehungen und zu einem anschlagt. Dies geschieht auf der Grundlage von Ausga- Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturel- ben von lediglich 42 Haushalten in der Referenzgruppe len und politischen Leben umfasst, denn der Mensch als der Einpersonenhaushalte, die dann durchschnittlich je Person existiert notwendig in sozialen Bezügen.“ (BVerfG 81,01 Euro dafür verausgabt haben. Für diese Summe 2010, Rn. 135). sind lediglich ältere, gebrauchte und häufig überdurch- schnittlich viel Energie verbrauchende Kühlschränke Bei der Aktualisierung und Konkretisierung insbesonde- erhältlich. Die Rechnung dafür zahlen die leistungsbe- re des soziokulturellen Existenzminimums verfügt der rechtigten Haushalte, denn die für Energie angesetzten Gesetzgeber zwar über einen Gestaltungsspielraum. Ausgabenposten reichen in der Regel nicht aus. Dieser findet aber seine Grenzen in Mindeststandards, die nicht unterschritten werden dürfen. Der Gestal- Ganz ähnlich verhält es sich auch mit Waschmaschinen. tungsspielraum ist dabei enger, soweit es um die Be- Für diese sind nach der Einkommens- und Verbrauchs- darfe zur Deckung des physischen Existenzminimums stichprobe 2018 gerade einmal 1,60 Euro im Regelsatz geht, und weiter, soweit es um die notwendigen Be- enthalten. Dieser Ansatz folgt aus einer Hochrechnung darfe zur Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen aus gerade einmal 38 erfassten Haushalten mit einer und politischen Leben geht. entsprechenden Ausgabe. Die Durchschnittsausgaben der Referenzgruppe betrugen hier 100,96 Euro. Wer In seinem Beschluss vom 23.07.2014 hat das Bun- einmal eine Waschmaschine gekauft hat, mag ermes- desverfassungsgericht die Ansprüche an die Begrün- sen, was für eine Art von Waschmaschine man dafür dung und Offenlegung von Erwägungen im Zuge der bekommt. Doch auch hier müsste man selbst dafür Regelbedarfsermittlung gegenüber dem Urteil vom noch über fünf Jahre aus dem Regelsatz ansparen, um 09.02.2010 erneuert. Das BMAS ignoriert auch 2020 diese zu finanzieren. verschiedene ernstzunehmende Hinweise und Vorga- ben des Bundesverfassungsgerichts: Stromkosten: Das Bundesverfassungsgericht hat dem Gesetzgeber auferlegt, dass „die Entwicklung der Preise Verkehr: Das Bundesverfassungsgericht hat ausdrück- für Haushaltsstrom berücksichtigt werden“ (BVerfG 2014, lich betont, dass der Gesetzgeber sicherstellen muss, Rn. 144) müsse. Der Entwurf des Regelbedarfsermitt- „dass der existenznotwendige Mobilitätsbedarf tatsäch- lungsgesetzes geht von regelbedarfsrelevanten Strom- lich gedeckt werden kann“ (BVerfG 2014, Rn. 145). Dabei ausgaben in Höhe von 35,30 Euro aus. Wie bei den zu- sieht das Bundesverfassungsgericht Ausgaben für Ver- rückliegenden Ermittlungsverfahren auch, wurde auch kehr und Mobilität nicht nur als Bestandteil der Bedar- hier eine Sonderauswertung der EVS vorgenommen, bei fe zur soziokulturellen Teilhabe, sondern erkennt auch der die Haushalte außer Betracht blieben, die mit Strom 6
heizen. Die durchschnittlichen Stromausgaben beliefen Ein zentrales Problem der Regelbedarfsermittlung sich danach auf 35,71 Euro. Die tatsächlichen Ausgaben durch die Bundesregierung liegt darin, dass die not- für Strom liegen bei vielen Grundsicherungsberech- wendigen Voraussetzungen für ein funktionsfähiges tigten jedoch deutlich höher und können angesichts al- Statistikmodell nicht beachtet wurden. ter Elektrogeräte leicht 50 Euro überschreiten (vgl. etwa: Verbraucherzentrale NRW 2018). • Die Einkommenslage der statistisch zu definie- renden Gruppe muss so gewählt werden, dass Die Aufträge des Bundesverfassungsgerichts aus dem die Verbräuche dieser Gruppe einen plausiblen Jahr 2014 wurden nach Bewertung des Paritätischen Hinweis auf die Deckung des Existenzminimums Gesamtverbands in der Regelbedarfsermittlung auf geben und nicht lediglich Abbild einer Mangel- der Grundlage der Einkommens- und Verbrauchsstich- lage sind. Die soziale Lage der Referenzgruppe probe 2018 nicht angemessen aufgegriffen. Da die muss demnach auf die Geeignetheit überprüft Regelbedarfsermittlung 2021 weitgehend dem bishe- werden. Diese Forderung ergibt sich aus der Ent- rigen Vorgehen folgt, bleiben die Handlungsaufträge scheidung des Bundesverfassungsgerichts aus auch weiterhin aktuell. 2010, in der es heißt: Das Ausgabenverhalten der ausgewählten Bevölkerungsgruppe müsse zu Doch es stellt sich nicht nur die Frage der verfassungs- erkennen geben, „welche Aufwendungen für das rechtlichen Einschätzung der Regelbedarfsermittlung. menschenwürdige Existenzminimum erforderlich Aus einer fachlichen Perspektive stellt sich vor allem die sind“ (BVerfG 2010, Rn. 160). Eine Prüfung, ob die- Frage, ob das Verfahren der Regelbedarfsermittlung ge- se Voraussetzung erfüllt ist, hat es im Rahmen der eignet ist, um die Bedarfe von mehr als sieben Millionen Regelbedarfsermittlung erkennbar nicht gegeben. Menschen realitätsnah abzubilden und Teilhabe zu er- möglichen. Diesem Anspruch wird das vorliegende Re- • Die Referenzgruppe muss so gewählt werden, dass gelbedarfsermittlungsgesetz aus Sicht des Paritätischen „Zirkelschlüsse“ vermieden werden. Es muss me- aus den nachfolgenden Gründen nicht gerecht. thodisch ausgeschlossen werden, dass sich in der Referenzgruppe Personen(-gruppen) befinden, die 1989 erfolgte die Grundentscheidung, die damaligen auf demselben oder womöglich sogar geringeren Regelsätze der „Hilfe zum Lebensunterhalt“ nicht län- materiellen Niveau leben wie die Grundsicherungs- ger durch das bis dahin geltende Warenkorbmodell zu beziehenden. Es dürfen sich damit insbesondere ermitteln. Während das Warenkorbmodell im Wesent- keine sog. „verdeckt Arme“ in der Referenzgruppe lichen auf normativen Vorstellungen darüber beruhte, befinden; diese sind vielmehr aus der Betrachtung was zum notwendigen Lebensunterhalt gehören auszuschließen (BVerfG 2010, Rn. 169). sollte, und dadurch Art, Menge, Qualität und preisliche Bewertung disponibel waren, versprach das Statistik- • Das Statistikmodell arbeitet mit der Grundannah- modell ein höheres Maß an Objektivität durch empi- me, dass individuell unterschiedliche Bedarfe nur rische Evidenz, indem es sich an den tatsächlichen mittels statistischer Durchschnittswerte erfasst Ausgaben unterer Einkommensgruppen orientiert. werden können; entsprechend wird den Leistungs- berechtigten mit der Regelleistung ein Budget zur Der Wechsel zum Statistikmodell mit einer Bezugnah- Verfügung gestellt, mit denen sie nach eigenen me auf die alle fünf Jahre erhobene Einkommens- und Bedürfnissen frei haushalten können: „Dem Stati- Verbrauchsstichprobe des Statistischen Bundesamtes stikmodell liegt bei der Bildung des regelleistungsre- versprach eine objektivierte und realitätsgerechtere levanten Verbrauchs die Überlegung zugrunde, dass Regelbedarfsermittlung. Diese Erwartung hat sich al- der individuelle Bedarf eines Hilfebedürftigen in ein- lerdings nicht erfüllt. Das Statistikmodell erwies sich zelnen Ausgabepositionen vom durchschnittlichen nicht als resistent gegen manipulative Eingriffe in das Verbrauch abweichen kann, der Gesamtbetrag der Verfahren. Regelleistung es aber ermöglicht, einen überdurch- 7
schnittlichen Bedarf in einer Position durch einen Gesetzgeber an die Grenze dessen, was zur Sicherung unterdurchschnittlichen Bedarf in einer anderen aus- des Existenzminimums verfassungsrechtlich gefor- zugleichen. Der Gesetzgeber muss deshalb die regel- dert ist. Verweist der Gesetzgeber auf einen internen leistungsrelevanten Ausgabepositionen und -beträ- Ausgleich zwischen den Bedarfspositionen, auf ein ge so bestimmen, dass ein interner Ausgleich möglich Ansparen oder auch auf ein Darlehen zur Deckung bleibt.” (BVerfG, 1 BvL 1/09 vom 09.02.2010, RNR existenzsichernder Bedarfe, muss er jedenfalls die 172, vgl. auch 205). finanziellen Spielräume sichern, die dies tatsächlich ermöglichen“ (BVerfG 2014, Rn. 121). • Das Statistikmodell setzt für seine Funktionsfä- higkeit voraus, dass nicht willkürlich Ausgaben- Aus Sicht des Paritätischen ist – wie gezeigt werden positionen der Referenzgruppe herausgestrichen wird – die regierungsamtliche Ermittlung der Regelbe- werden (vgl. hierzu insbesondere Becker 2011; darfe in all diesen Aspekten unzureichend. Becker / Tobsch 2016). Nicht statthaft ist es daher, aus den Ausgabenpositionen in der Einkommens- Zudem ist es aus Perspektive des Paritätischen keines- und Verbrauchsstichprobe nach dem Modell des wegs legitim, dass die unterstellten gesetzgeberischen Warenkorbs eine Auswahl zu treffen und lediglich Gestaltungsmöglichkeiten bei der Bewertung der Re- selektiv Ausgabepositionen als regelbedarfsrele- gelbedarfe ausschließlich zur Kürzung der Ansätze ge- vant anzuerkennen. Die Nichtberücksichtigung nutzt werden. Niedrige Ausgaben der Referenzgruppe einzelner Ausgabenpositionen aus der EVS bei der sind grundsätzlich kein Beleg für einen niedrigen Be- Regelbedarfsermittlung kann zwar verfassungs- darf, sie können insbesondere auch Ausdruck von Bud- rechtlich unbedenklich sein. Dieses Vorgehen muss getrestriktionen sein. Aufgrund dessen läge es näher, sich aber auf begründete und nachvollziehbare dass in einem bedarfsorientierten Ermittlungsverfah- Einzelfälle beschränken und darf nicht dazu füh- ren Anpassungen nach oben vorgenommen werden, ren, dass durch die Summe der Streichungen die nicht umgekehrt. Dies zeigt beispielsweise die Ernäh- realitätsbezogene Regelbedarfsbemessung insge- rung. Die Expertise der Paritätischen Forschungsstelle samt in Frage gestellt wird. Wenn einzelne Ausga- hat aufgezeigt, dass eine offiziell empfohlene gesunde benposten bei der Berechnung unberücksichtigt Ernährungsweise mit den Mitteln der Grundsicherung bleiben, sinkt der Wert der einbezogenen Ausga- nicht zu finanzieren ist (Aust 2020, S. 9-12). Zu ähnlichen ben. Damit verringert sich im Ergebnis der Regel- Ergebnissen kommt auch der Wissenschaftliche Beirat bedarf. Das Bundesverfassungsgericht formulierte für Agrarpolitik, Ernährung und gesundheitlichen Ver- bereits 2014 für die Ermittlung 2011 erhebliche brauchschutz des Bundesministeriums für Ernährung Zweifel an der verfassungsrechtlichen Zulässigkeit und Landwirtschaft in seinem Gutachten „Politik für an dem Gesetz. Wörtlich heißt es in dem Urteil: eine nachhaltigerer Ernährung“ (2020). Wörtlich heißt es in dem Gutachten: „Die derzeitige Grundsicherung „Nach den angegriffenen Regelungen sind die mo- reicht ohne weitere Unterstützungsressourcen nicht aus, natlichen Pauschalleistungen jedoch so berechnet, um eine gesundheitsförderliche Ernährung zu realisie- dass nicht etwa alle, sondern bei Alleinstehenden ren“ (a.a.O., S. 114f.) und rät der Bundesregierung daher 132 Euro weniger und damit insgesamt lediglich 72 „die Bedarfsermittlung so anzupassen, dass die Grundsi- Prozent, bei Kindern je nach Altersstufe zwischen 69 cherungsleistungen eine gesundheitsförderliche Ernäh- Euro und 75 Euro weniger und damit 75 Prozent bzw. rung ermöglichen“ (a.a.O., S. 666). Dieser Empfehlung 78 Prozent der in der EVS erfassten Konsumausgaben ist die Bundesregierung nicht gefolgt. Methodisch ist der den unteren Einkommensgruppe zugehörigen bemerkenswert, das in dem Bereich der Ernährung das Referenzhaushalten als existenzsichernd anerkannt Statistikmodell – abgesehen von der Nichtberücksichti- werden. Zwar ist es begründbar, einzelne Verbrauchs- gung von Alkohol – im Kern sachgerecht umgesetzt ist. positionen nicht als Bedarfe anzuerkennen. Wenn in Es gibt hier keine Kürzungen beim Berechnungsverfah- diesem Umfang herausgerechnet wird, kommt der ren durch die Bundesregierung. 8
Jenseits einer sachgerechten Ermittlungsweise ist demzufolge zu prüfen, ob mit den ermittelten Leis- tungen im Ergebnis eine Bedarfsdeckung möglich ist – sinnvoll ist daher ein ergänzender „Bedarf-TÜV“. 3. Auswahl der Referenzgruppe für Erwachsene – Regelbedarfsermittlungsgesetz vs. Der Paritätische a. Kritik am Vorgehen der Bundesregierung Grundlage für die Berechnung des Erwachsenen- simuliert werden können“ und die entsprechenden Da- Regelbedarfes sind Ein-Personen-Haushalte. Um Zir- ten damit eine hohe Fehleranfälligkeit zeigen. Diese kelschlüsse zu vermeiden, müssen aus der Gesamt- Begründung kann allerdings nicht überzeugen. Eine zahl die SGB II-Beziehenden und die Beziehenden von Herausrechnung der verdeckt Armen ist empirisch Leistungen der Sozialhilfe, Grundsicherung im Alter möglich und verbessert das Ergebnis in jedem Fall. Ein und bei Erwerbsminderung (SGB XII) sowie des Asyl- Verzicht auf dieses Vorgehen verringert im Ergebnis die bewerberleistungsgesetzes ausgeschlossen werden. ermittelten Regelbedarfe. Allerdings werden auch im aktuellen Gesetzentwurf der Bundesregierung nicht alle Leistungsbeziehenden Aus der um Grundsicherungsbeziehende bereinigten ausgeschlossen, sondern nur solche, die kein Erwerbs- Gruppe aller Ein-Personen-Haushalte werden als Refe- einkommen erzielen. renzgruppe zur Bemessung der Regelsätze (Regelbe- darfe) die untersten 15 Prozent der nach ihrem Netto- Erwerbstätige Leistungsberechtigte, sogenannte „Auf- Einkommen geschichteten Ein-Personen-Haushalte stocker“, sind vollständig in der Bezugsgruppe einge- herangezogen, nicht wie es bis 2010 der Fall war, die schlossen. Damit sind auch Haushalte einbezogen, die untersten 20 Prozent. lediglich ein marginales Erwerbseinkommen haben, so dass sich ihre soziale Lage kaum von der leistungsbe- Das Bundesverfassungsgericht hat dieses Vorgehen rechtigter Haushalte ohne Erwerbseinkommen unter- zwar 2014 als verfassungsrechtlich nicht beanstandet, scheidet. doch ist diese gravierende Veränderung weder sachge- recht noch nachvollziehbar. Eine fachlich überzeugende Ebenfalls nicht herausgenommen wurden von der Bun- Begründung für diese Veränderung der Berechnungs- desregierung Haushalte mit einem derart niedrigen grundlage blieb die Bundesregierung bis heute schul- Einkommen, dass ein Anspruch auf Grundsicherungslei- dig.2 Da die Bezugshaushalte nach der Höhe ihrer stungen unterstellt werden kann, der aber nicht realisiert Einkommen geschichtet sind, führt eine solche Verklei- worden ist – die sogenannten „verdeckt Armen“. Bereits nerung der Bezugsgruppe zwangsläufig zu einer Verrin- anlässlich der Regelbedarfsermittlung 2011 ist massiv gerung der daraus abgeleiteten Regelsätze. kritisiert worden, dass ein expliziter Handlungsauftrag des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG 2010, Rn. 169) 2 Die Bundesregierung rechtfertigt dieses Vorgehen in dem ignoriert wurde. In der Begründung zum aktuellen Ge- Gesetzentwurf damit, dass bei den „Einpersonenhaushalten … mit knapp setzesentwurf zur Ermittlung der Regelsätze wird zwar 8 Prozent ein erheblich größerer Teil der SGB II- und SGB XII-Haushalten ausgeschlossen (wird) als bei den übrigen Haushalten.“ Die Summe aus zutreffend festgestellt, dass solche Fälle „statistisch nicht ausgeschlossenen Haushalten und Referenzgruppe läge dann bei etwa 20 erfasst, sondern nur im Rahmen von Modellrechnungen Prozent der Haushalte (BMAS 2020, S. 18). 9
Aus den Angaben der Bundesregierung geht schließ- lich nicht hervor, dass sie geprüft hat, ob die von ihr gewählte Referenzgruppe als Ausgangspunkt für die Ermittlung der Regelbedarfe geeignet ist. Becker und Tobsch haben ein komplexes Prüfverfahren vorge- schlagen, mit dem die Abstände bei verschiedenen Bedarfspositionen der Referenzgruppe zur gesell- schaftlichen Mitte geprüft werden (Becker / Tobsch 2016). Erst wenn die Abstände zur gesellschaftlichen Mitte ein politisch festgelegtes Maß nicht überschrei- ten, ist eine Referenzgruppe nach ihrem Vorschlag ge- eignet. Irene Becker und Verena Tobsch haben diesen Vorschlag jüngst in einem Gutachten für die Fraktion Bündnis 90 / Die Grünen noch einmal erneuert (2020). Auch wenn entsprechende Prüfungen auf der Grund- lage der EVS 2018 bislang fehlen, ist doch zweifelhaft, dass die von der Bundesregierung definierte Referenz- gruppe die zentrale Bedingung für eine Anwendung des Statistikmodells erfüllt. Die Einkommenssituation der Referenzgruppe ist so prekär, dass kaum Rück- schlüsse auf ein angemessenes menschenwürdiges Existenzminimum zulässig sind. Die Einkommensober- grenze der Referenzgruppe der untersten 15 Prozent der Haushalte liegt nach Angaben des Statistischen Bundesamts bei 1.086 Euro. Dies ist das höchste Ein- kommen der Haushalte in dieser Gruppe; das durch- schnittliche Einkommen wird weder vom Statistischen Bundesamt noch von der Bundesregierung ausgewie- sen.3 Die Armutsschwelle lag 2018 nach den Angaben des Statistischen Bundesamts bei 1.035 Euro. Es ist so- mit davon auszugehen, dass die überwiegende Mehr- zahl der Haushalte in der Referenzgruppe ein Einkom- men unterhalb der Armutsschwelle hatte. Angesichts dieses Befundes dürfte die Aussage von Irene Becker auch 2018 weiter zutreffen, dass „die Ausgaben der Re- ferenzgruppe (weniger) das soziokulturelle Existenz- minimum als vielmehr Mangellagen spiegeln“ (Becker 2016, S. 13). 3 Nach Angaben von Irene Becker (2016) lag das durchschnittliche Einkommen der Referenzgruppe in der EVS 2013 mit 764 Euro fast zweihundert Euro unterhalb des Grenzwerts (951 Euro). 10
b. Vorgehen des Paritätischen zur Bestimmung der Referenzgruppe Der Paritätische hält aus den darlegten Gründen die diese Gruppe auszuschließen, um Zirkelschlüsse Referenzgruppe, die der Ermittlung der Regelbedarfe zu vermeiden. durch die Bundesregierung zugrunde liegt, für eine sachgerechte Ermittlung der Regelbedarfe für unge- • Nach Ausschluss der genannten Gruppen bezieht eignet. sich die Sonderauswertung auf die untersten 20 Prozent der nach dem Einkommen geschichteten Die weiteren Berechnungen des Paritätischen basie- Haushalte. Damit wird die – mutmaßlich aus Grün- ren stattdessen auf einer Sonderauswertung der EVS- den der gezielten Kleinrechnung der Regelbedarfe Daten 2018 durch das Statistische Bundesamt, die von vorgenommene – Veränderung der Bezugsgruppe der Fraktion Die Linke im Deutschen Bundestag in Auf- aus 2010 korrigiert und wie zuvor wieder die un- trag gegeben wurde. tersten 20 Prozent der Haushalte zugrunde gelegt. Die Sonderauswertung berücksichtigt die Kritikpunkte Auf der Grundlage der vorliegenden Informationen kann durch die Setzung folgender Parameter: davon ausgegangen werden, dass diese Referenzgruppe geeignet – zumindest: im Vergleich geeigneter – ist, um • „Verdeckt Arme“ werden aus der Grundgesamtheit ein sachgerechtes Ergebnis zu ermitteln. Dies zeigt ein der Haushalte ausgeschlossen, um Zirkelschlüsse Blick auf die Einkommenssituation der neu festgelegten zu vermeiden. Dazu wurde ein Mindesteinkom- Referenzgruppe. Der Grenzwert der Haushaltsnettoein- men für die Haushalte definiert. Das Mindestein- kommen liegt bei dieser Gruppe bei 1.280,33 Euro, d.h. kommen ergibt sich in typisierender Weise aus der einkommensstärkste Haushalt, der noch zu den un- der Summe aus dem bundesweit einheitlichen tersten 20 Prozent der Haushalte gehört, verfügt über ein Regelbedarf und den durchschnittlichen Kosten Nettoeinkommen von 1.280 Euro. Bei der von der Bun- der Unterkunft und Heizung. Für 2018 wurde die- desregierung festgelegten Gruppe lag dieser Grenzwert ses Mindesteinkommen von der Fraktion Die Lin- bei lediglich 1.086 Euro – selbst der einkommensstärkste ke mit 769,84 Euro angesetzt. Bei Ein-Personen- Haushalt in dieser statistischen Gruppe lag damit nur Haushalten mit einem Einkommen unterhalb etwa 50 Euro oberhalb der Armutsschwelle. In der Son- dieser Schwelle darf angenommen werden, dass derauswertung für die Fraktion Die Linke werden zudem sie Anspruch auf ergänzende Grundsicherungs- die Mittelwerte der Haushaltseinkommen ausgewiesen: leistungen haben und / oder auf einem ähnlichen das durchschnittliche Einkommen lag demnach bei Niveau leben müssen wie Grundsicherungsbezie- 1.047 Euro, der Median bei 1.050 Euro. Die durchschnitt- hende. Diese Haushalte werden deshalb aus der lichen Einkommen der neu definierten Referenzgruppe Grundgesamtheit der Haushalte ausgeschlossen. liegen damit knapp oberhalb der Armutsschwelle nach dem Mikrozensus. Zumindest im Durchschnitt sind diese • Die Sonderauswertung schließt des Weiteren Haushalte damit nicht einkommensarm. Haushalte mit einem Einkommen aus Erwerbs- tätigkeit und Solarstrom bis zu 100 Euro aus der Der private Konsum liegt bei der neu definierten Refe- Grundgesamtheit aus. Der Freibetrag von 100 Euro renzgruppe in der Summe bei 1.083 Euro – und damit auf Erwerbseinkommen begründet sich als pau- in der globalen Betrachtung um etwa einhundert Euro schale Abgeltung der zusätzlichen Kosten einer höher als die Konsumausgaben der ärmeren Referenz- Beschäftigung (etwa: zusätzliche Aufwendungen gruppe der Bundesregierung. Bereits an dieser Diskre- für Mobilität und Kleidung). Im Ergebnis leben panz von 100 Euro in Bezug auf die Konsumausgaben Haushalte mit einem Erwerbseinkommen bis zu ist zu erkennen, dass die Definition der Referenzgrup- 100 Euro auf demselben Niveau wie andere Lei- pe einen durchschlagenden Effekt auf die Höhe der er- stungsbeziehende. Es ist daher sachgerecht auch mittelten Regelbedarfe hat. 11
4. Bewertung der privaten Konsumausgaben bei der Regelbedarfsermittlung – Regelbedarfsermittlungsgesetz vs. Der Paritätische a. Kritik am Vorgehen der Bundesregierung Das Vorgehen der letzten Bundesregierung entspricht schalen Leistung, Erweiterung von zusätzlichen Son- weitgehend der Regelbedarfsermittlung seit 2011. Po- derbedarfen und / oder kostenfreie Dienstleistungen. sitiv zu vermerken ist, dass in dem Gesetzentwurf eine Der Gesetzgeber ist dieser Aufforderung bislang nicht Erweiterung bei den anzuerkennenden Verbrauchsaus- gefolgt, obwohl die Abschläge sich auf einem vergleich- gaben vorgenommen wurde: bei den Kommunikations- baren Niveau wie 2011 bewegen. ausgaben werden nunmehr auch die für die Nutzung von Mobilfunk (Handy-Nutzung) anfallenden Ausgaben Betrachtet man die einzelnen Abteilungen im Über- berücksichtigt. Der Entwurf erkennt damit an, dass die blick, so zeigt sich, dass die wesentlichen Kürzungen in Nutzung von Handys heute Bestandteil des Alltags ist vier Ausgabenpositionen zu finden sind (in Klammern: und damit gesellschaftliche Realität darstellt. Differenz von Ausgaben der Referenzgruppe zu als re- gelbedarfsrelevante anerkannte Ausgaben durch das Die Kritiken an der Vorgehensweise behalten anson- RBEG, vgl. Tabelle A1 im Anhang) sten unverändert ihre politische Bedeutung. Die kri- tische Bewertung des Bundesverfassungsgerichts aus • Freizeit, Unterhaltung und Kultur (Kürzung um 2014 ist bereits zitiert worden. Der Gestaltungsspiel- 43,41 Euro); raum des Gesetzgebers endet, wenn die Regelbedarf- sermittlung derart restriktiv erfolgt, dass ein interner • Verkehr (Kürzung um 37,80 Euro) Budgetausgleich und ein Mindestmaß an sozialen Teil- habemöglichkeiten nicht mehr möglich erscheinen. • Beherbergungs- und Gaststättendienstleistungen (Kürzung um 37,49 Euro) und Selbst wenn einzelne normative Wertungen des Gesetz- gebers innerhalb der verfassungsrechtlich gegebenen • Alkohol und Tabak (Komplette Streichung von Gestaltungsräume liegen, kann eine Vielzahl von Kür- 20,32 Euro; zur „Kompensation“ Anerkennung 3,13 zungen zu einem evident unzureichenden Gesamtbe- Euro als Warenwert der Flüssigkeit; der Abteilung darf führen. Die Abbildung 1 und die angehangene Ta- „Nahrungsmittel und alkoholfreie Getränke“ zuge- belle A 1 zeigen in einer Übersicht, in welchen Bereichen rechnet). in welchem Umfang Verbrauchsausgaben von der Bun- desregierung als regelbedarfsrelevant eingestuft wer- Darüber hinaus ist nicht nachzuvollziehen, warum den. In der Summe werden etwa 160 Euro der Konsu- Ausgaben der Referenzgruppe für notwendige Versi- mausgaben nicht als regelbedarfsrelevant anerkannt. cherungen durch die Bundesregierung nicht ebenfalls Damit steigt die Summe der nicht als Regelbedarf aner- als regelbedarfsrelevante Ausgaben gewertet werden. kannten Verbräuche gegenüber dem Urteilsspruch des Dies umfasst sowohl Ausgaben für eine Kfz-Versiche- BVerfG aus 2014 – hier wurden bei Alleinstehenden 132 rung, eine private Haftpflichtversicherung sowie eine Euro genannt – sogar noch an. Lediglich 73 Prozent der Hausratsversicherung. Diese Ausgaben summieren Ausgaben werden als regelbedarfsrelevant erklärt. Das sich nach den Angaben des Statistischen Bundesamts Bundesverfassungsgericht hatte 2014 gefordert, dass auf 16,79 Euro. bei Kürzungen in diesem Umfang der Gesetzgeber Vor- kehrungen treffen müsse, um eine verfassungswidrige Durch die Neuermittlung der Regelbedarfe werden die Unterdeckung der Bedarfe zu vermeiden und einen in- Leistungen für die Grundsicherungsbeziehenden nur ternen Ausgleich weiterhin zu ermöglichen. Drei Wege geringfügig erhöht. Die Anpassung übersteigt kaum hat das Gericht hierfür gewiesen: Erhöhung der pau- die Preissteigerung. 12
Abb. 1: Regelbedarfsermittlung: Bundesregierung mit und ohne Abschläge (2018) Nahrungsmittel, alkoholfreie 147,8 € Getränke 150,9 € Alkoholische Getränke, 20,3 € Tabak 0,0 € 37,1 € B'regierung ohne Bekleidung, Schuhe Abschläge 36,1 € Wohnen, Energie, 37,3 € Instandhaltung 36,9 € Innenausstattung, B'regierung mit 28,7 € Abschläge Haushaltgeräte und - gegenstände 26,5 € 27,5 € Gesundheitspflege 16,6 € 76,8 € Verkehr 39,0 € 38,9 € Nachrichtenübermittlung 38,9 € Freizeit, Unterhaltung, 74,3 € Kultur 42,4 € 8,9 € Bildungswesen 1,6 € Beherbergungs- und 48,9 € Gaststättendienstleistungen 11,4 € 37,7 € Andere Waren und Dienste 34,7 € 0,0 € jenseits privater Konsum: 0,0 € 0 60 120 180 Betrag in € © Der Paritätische Gesamtverband Datenquelle: - Datenquelle: BMAS (2020): Entwurf eines Gesetzes zur Ermittlung von Regelbedarfen und zur Änderung des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch sowie des Asylbewerberleistungsgesetzes Anmerkungen: - Bei der Rubrik "B'regierung ohne Abschläge" wurden die Kosten der Unterkunft (KdU) abgezogen, sowie GEZ. Stromkosten sind enthalten - Beim Vorschlag des Paritätischen sind aus der Berechnung im Gegensatz zu den Zahlen der Bundesregierung "weiße Ware" nicht enthalten und ebenso sind Stromkosten nicht berücksichtigt, da beide Kostenpunkte pauschal erstattet werden sollen. - Bei der Abteilung "Andere Waren und Dienste" hat die Bundesregierung den Ausgabenposten "Mitgliedsbeiträge für Vereine, Parteien u.ä." aus dem Bereich des nicht privaten Konsums in Höhe von 4.58 € übernommen. In der vorliegenden Tabelle ist dieser Ausgabenpunkt ebenfalls unter "Andere Waren und Dienste" enthalten, obwohl dieser dort nicht erfasst wird. Beim Paritätischen wird diese Ausgabe unter "jenseits privater Konsum" geführt, sowie auch in der ausgewiesenen Statistik. 13
b. Alternative Berechnung des Paritätischen Der Paritätische geht in seiner alternativen Ermittlung Jenseits der privaten Konsumausgaben hält der Pari- des Regelbedarfs von dem Grundsatz des „reinen“ tätische Versicherungen für notwendig. Da der Besitz Statistikmodells aus und bewertet im Wesentlichen eines Kfz gesellschaftlich üblicher Standard ist und alle Ausgaben der Referenzgruppe als regelbedarfs- auch für Leistungsberechtigte in der Grundsicherung relevant. Ausnahmen betreffen lediglich Ausgabepo- weder verboten noch komplette Ausnahme ist, ist sitionen, die bei Grundsicherungsbeziehenden nicht die Anerkennung der Ausgaben für eine verpflicht- anfallen und /oder anderweitig gedeckt werden (wie ende Versicherung folgerichtig. Ebenso sollte auch im etwa GEZ, Kosten der Unterkunft und Heizung). Grundsicherungsbezug nicht auf eine private Haft- pflicht- oder Hausratsversicherung verzichtet werden Zusätzlich spricht sich der Paritätische für eine Aus- müssen. gliederung der Ausgabeposten für Haushaltsenergie (Strom) und langlebige Konsumgüter („Weiße Ware“) Für 2018 ergibt sich aus dem skizzierten Vorgehen ein aus dem Regelbedarf aus, da diese Ausgaben nicht Regelbedarf von 628 Euro für eine*n alleinstehende*n sachgerecht pauschaliert werden können. Stromko- Erwachsene*n. Der so ermittelte Regelbedarf wird in sten sollen als zusätzlicher Bedarf in Höhe der tatsäch- einem weiteren Schritt nach den bestehenden gesetz- lichen Kosten übernommen werden. Die Weiße Ware lichen Regelungen auf 2021 fortgeschrieben.4 ist im Bedarfsfall als zusätzlicher Sonderbedarf zu übernehmen. Der Regelbedarf wird um die entspre- Im Ergebnis ermittelt der Paritätische damit einen an- chenden Summen reduziert, sofern eine anderweitige gemessenen Regelbedarf für eine*n alleinlebende*n vollständige Bedarfsdeckung gesichert ist. Erwachsene*n für 2021 von 644 Euro. 4 Die Anpassung auf 2020 erfolgt nach den Regeln des Referenten- entwurfs mit einer Erhöhung um 0,93 Prozent. Die auf der Homepage des BMAS verkündete Anpassung auf 2021 entspricht einer Steigerung von 1,59 Prozent. Diese Werte wurden auch hier zugrunde gelegt 14
Tabelle 3: Alternative Berechnung des Paritätischen: Ausgaben der Ein-Personen-Haushalte nach Abteilungen (2018), in Euro tatsächliche regelbedarfs- Begründung Ausgaben relevant Nahrungsmittel, alkoholfreie Getränke 157,29 € 157,29 € Alkoholische Getränke, Tabak 21,58 € 21,58 € Bekleidung, Schuhe 40,72 € 40,72 € Wohnen, Energie, Instandhaltung 466,15 € 1,88 € ohne Kosten der Unter- kunft und Stromkosten Innenausstattung, Haushaltsgeräte und 35,57 € 29,93 € ohne weiße Ware -gegenstände Gesundheitspflege 30,22 € 30,22 € Verkehr 88,92 € 88,92 € Nachrichtenübermittlung 41,20 € 41,20 € Freizeit, Unterhaltung, Kultur 99,70 € 86,69 € ohne GEZ Bildungswesen 7,04 € 7,04 € Beherbergungs- und Gaststättendienstleistungen 51,34 € 51,34 € Andere Waren und Dienste 43,24 € 43,24 € jenseits privater Konsum: Mitgliedsbeiträge 5,26 € 5,26 € Geldspenden 1,69 € 1,69 € Gerichtskosten 0,50 € 0,50 € Versicherungen (private Haftpflicht, KfZ, Hausrat) 20,75 € 20,75 € Summe Regelbedarf 2018 628,3 € gerundet 628,0 € Summe Regelbedarf 2021 644,2 € gerundet 644,0 € Datenquelle: Sonderauswertung der EVS (Statistisches Bundesamt), eigene Berechnungen 15
5. Vergleich Regelbedarfsermittlung: Regelbedarfsermittlungsgesetz vs. Der Paritätische In der Abbildung 2 wird die Regelbedarfsermittlung für Haushalte reduziert, in denen keine Mittel für Al- nach dem Regelbedarfsermittlungsgesetz mit dem kohol verausgabt werden. Darüber hinaus werden die Vorschlag des Paritätischen verglichen. In der Summe Möglichkeiten, individuell Ausgleiche zwischen ver- muss der Regelbedarf nach der Darlegung des Pari- schiedenen Bedarfspositionen vorzunehmen, weiter tätischen um etwa 198 Euro angehoben werden. Die verringert. Auf dieser Ausgleichsmöglichkeit beruht je- größten Unterschiede zeigen sich in den für die sozi- doch das Statistikmodell der Regelbedarfsermittlung. ale Teilhabe relevanten Bereichen (Freizeit, Unterhal- tung, Kultur, Beherbergungs- und Gaststättendienst- leistungen sowie Verkehr) und der methodischen wie Abteilung 03: normativen Bewertung der Ausgaben für Alkohol und Bekleidung und Schuhe Tabak. Bereits die Unterschiede in diesen Bereichen er- geben eine Summe von über 100 Euro. Im Gegensatz zum RBEG-E 2021, das Ausgaben für che- mische Reinigung, Waschen, Bügeln und Färben von Im Folgenden werden die unterschiedlichen Bewer- Bekleidung nicht anerkennt, sind die Ausgaben der tungen von BMAS und Paritätischem in den einzelnen Referenzgruppe nach Überzeugung des Paritätischen Abteilungen kurz erläutert.5 voll anzuerkennen. Im Entwurf werden etwa die in der Stichprobe nachgewiesenen Kosten für „Chemische Reinigung, Waschen, Bügeln und Färben von Beklei- Abteilung 01/02: dung” in Höhe von 0,52 Euro nicht anerkannt. An an- Nahrungsmittel / alkoholfreie Getränke / deren Stellen finden sich deutlich niedrigere Ansätze alkoholische Getränke, Tabakwaren als in der zurückliegenden Stichprobe, etwa 0,23 Euro statt zuvor 1,48 Euro bei den Ausgaben für “Beklei- Der Titel der Abteilung aus der Einkommens- und Ver- dungsstoffe zum Anfertigen von Kleidung”. Aufgrund brauchsstichprobe täuscht: Im RBEG-E 2021 werden der kleinen Zahl von in dem Fall nur 60 nachrichtlich die Ausgaben für Tabak und alkoholische Getränke erfassten Haushalten ist das kaum möglich. Hier zeigt nicht anerkannt. Das ist ein Beispiel dafür, dass die Vor- sich einmal mehr das grundsätzliche Problem, dass mit gaben des Statistikmodells nicht umgesetzt, sondern der Verkleinerung der Referenzgruppe auch die Mög- durch Wertungen durchbrochen werden. lichkeiten zur statistisch zuverlässigen Ableitung der Regelbedarfe verringert wurden. Der Anteil an alkoholischen Getränken an den Ausga- ben, der nicht auf Spirituosen entfällt, wird stattdessen in eine äquivalente Menge Mineralwasser umgerech- Abteilung 04: net („Substitution”). Berechnungsgrundlage sind da- Wohnen, Energie und Wohnungs- bei alle Einpersonenhaushalte, einschließlich derer, in instandhaltung denen keinerlei Alkohol konsumiert wird. Nach Über- zeugung des Paritätischen sind diese Kürzungen un- Der Zugang zu Energie stellt ein grundlegendes Ele- sachgemäß. Mit dem gewählten Umrechnungsverfah- ment der Daseinsvorsorge und gesellschaftlichen ren der durchschnittlichen Ausgaben für alkoholische Teilhabe dar. Ohne Strom geht in den betreffenden Getränke in Mineralwasser werden auch die Bedarfe Haushalten nicht nur das Licht aus, elementare Verrich- tungen wie Kochen und Warmwasserzubereitung sind 5 Eine vollständige Übersicht über die Ausgaben, die die Regierung nicht mehr möglich. Die hohe Zahl von Stromabschal- nicht als regelbedarfsrelevant anerkannt und bei der Berechnung außen lässt, findet sich im Regierungsentwurf nicht. Diese Übersicht müssen sich tungen – 2018 waren es fast 300.000 bei 4,9 Mio. Sperr- Interessierte aus verschiedenen Quellen zusammensuchen. Vgl. hierzu androhungen (Bundesnetzagentur 2019, S. 30) – zeigt, die Aufstellung im Anhang und die ausführliche Auflistung der Diakonie dass wir es hier mit einem massiven Problem zu tun (Michael David): https://www.diakonie.de/fileadmin/user_upload/ Diakonie/PDFs/Pressmitteilung_PDF/20-8-13_Berechnung_Fehlbetraege_ haben. Die Stromkosten sind für Verbraucher*innen Regelsatz_Diakonie.pdf in Deutschland in den letzten Jahren angestiegen, bei 16
Sie können auch lesen