Expertiseabhängige Unterschiede kognitiver Repräsentationen mannschaftstaktischen Verhaltens im Fußball

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HEIKO LEX, DIETMAR POLLMANN, ANDREAS KNOBLAUCH UND THOMAS
SCHACK

Expertiseabhängige Unterschiede kognitiver Repräsentationen
mannschaftstaktischen Verhaltens im Fußball

1 Einleitung
Technische und konditionelle Faktoren von Leistung erfüllen keinen Selbstzweck im
Bereich der Sportspiele (bspw. Fußball). Vielmehr erhalten sie ihren Zweck erst
durch die Entwicklung übergreifender taktischer Pläne und Konzeptionen (Roth,
1989). Insbesondere ist die Taktik und das taktische Verhalten eines Spielers mit
steigendem Spielniveau von zentraler Bedeutung für seine Spielfähigkeit (Höner,
2005).
Bisanz & Gerisch (2008) verstehen unter dem Begriff Taktik alle organisierten
Maßnahmen zur Erreichung der globalen Spielziele: Tore erzielen und Gegnertore
verhindern. Aus diesen globalen Spielzielen ergeben sich somit taktische Maß-
nahmen die entweder Angriffs- oder Abwehraktionen betreffen. Taktisches Verhal-
ten eines Fußballspielers differenziert sich in individual-, gruppen- und mann-
schaftstaktische Verhaltensweisen, wobei dabei die Anzahl involvierter Spieler we-
sentliche Diskriminationsmerkmal ist (Bisanz & Gerisch, 2008; Peter, 2007;
Reimöller & Voggenreiter, 2006). Die Individualtaktik umfasst alle taktischen Mittel
zur Lösung von direkten Zweikampfsituationen. Gruppentaktische Maßnahmen sind
Handlungen, die die gemeinsame Koordinierung mehrerer Spieler und Gegenspie-
ler (z.B. 2:2 oder 3:3 Spielsituationen) erfordern. Die Mannschaftstaktik baut auf die
Fähigkeiten und Kenntnisse der Spieler in den Bereichen individual- und gruppen-
taktisches Verhalten auf. Wesentliches Merkmal ist die gemeinschaftliche Koordi-
nierung aller Spieler einer Mannschaft mit einer definierten Zielstellung (Bisanz &
Gerisch, 2008). Mannschaftstaktisches Verhalten im Fußball ist sehr komplex.
Handlungen im Kontext der Sportspiele sind immer auch als intentionaler Prozess
zu verstehen (Nitsch, 2004). Intentionale Bezüge im Handlungsgeschehen Fußball-
spiel werden durch die fast ausschließlich praktizierte ballorientierte Raumdeckung
und die Vorgabe eines konkreten Spielsystems wesentlich beeinflusst. Weit ver-
breitet ist das Spielsystem 4:4:2, da es eine hohe Flexibilität in der Definition positi-
onsspezifischer Aufgaben gewährt (Marzialli & Mora, 2007, 2009; Reimöller &
Voggenreiter, 2006).
Fußball ist aufgrund der enormen Anzahl möglicher Handlungsalternativen eines
Individuums und des Verbunds mehrerer Personen ein hoch situationsbezogener
Sport (Mazzali, 2001). Deshalb ist die Vorgabe eines Spielsystems allein, nicht aus-
reichend um handlungsleitende Lösungsmöglichkeiten für die Vielzahl unterschied-
licher Spielsituationen zu generieren. Allgemeingültige Aussagen zu einzelnen
handlungsleitenden mannschaftstaktischen Verhaltensweisen können lediglich auf
die kleinste gemeinsame Schnittmenge situationspezifischer Einflussfaktoren redu-

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ziert werden (vgl. Nitsch, 2004). Diese kleinste gemeinsame Schnittmenge situati-
onsspezifischer Faktoren mannschaftstaktischen Verhaltens im Fußball ist zum Ei-
nen klassifizierbar durch die Phase des Ballbesitzes einer Mannschaft (in Defensi-
ve und Offensive). Allerdings erfordert der Wechsel von Defensive zu Offensive ein
schnelles physisches und mentales Umschalten der Spieler auf allen Positionen
(Bisanz & Gerisch, 2008). Dieses schnelle Umschalten beschränkt die sinnvollen
Handlungsalternativen der Fußballspieler. Zum Anderen klassifizieren die Grenzbe-
reiche kurz vor und kurz nach einem Wechsel des Ballbesitzes zwischen den
Mannschaften die Schnittmenge situationsspezifischer Faktoren. Die Grenzberei-
che werden bezeichnet als Phase in der ein Ballbesitzwechsel gerade vollzogen
wurde und Phase in der ein Ballbesitzwechsel erwartet wird (siehe Bisanz &
Gerisch, 2008; Peter, 2007; Reimöller & Voggenreiter, 2006). Eine Vierfeldertafel in
Tabelle 1 verdeutlicht schematisch diese Klassifizierung der kleinsten gemeinsa-
men Schnittmenge situationsspezifischer Faktoren und zeigt gleichzeitig entspre-
chende mannschaftstaktische Verhaltensweisen. Die dort genannten mannschafts-
taktischen Konzepte sind gleichzeitig Gegenstand dieser Untersuchung. Somit
kann gewährleistet werden, dass neben der hohen praktischen Relevanz dieser
Konzepte die übergeordneten Zielstellungen (jeweils in Klammern) innerhalb des
Fußballspiels berücksichtigt wurden.
Tab. 1. Vierfeldertafel der Klassifikation mannschaftstaktischer Verhaltensweisen im Fußball. In den vier Zel-
        len der Tabelle sind beispielhaft ausgewählte mannschaftstaktische Konzepte benannt.
                                                                     Ballbesitz
                                                      Defensive                      Offensive
                                               Defensivverbund bilden               Konterspiel
                       gerade vollzogen
                                                   (Tore verhindern)              (Tore erzielen)
 Ballbesitzwechsel
                                                       Pressing                  Spielverlagerung
                        in Kürze erwartet
                                              (Ballbesitz zurückerobern)      (Ballbesitz verteidigen)

Bislang werden vorwiegend post-hoc Analysen mannschaftstaktischen Verhaltens
im Fußball mittels Videobeobachtungsverfahren durchgeführt (Carling, Williams, &
Reilly, 2005; Memmert, 2004, 2006). Der Einsatz dieser Mittel ist vornehmlich auf
die Auswahl einer gegnerangepassten mannschaftstaktischen Verhaltensweise
ausgelegt. So können Leistungsparameter wie wiederkehrende Spieleröffnungen,
Muster in der Spielanlage bei Torerzielung oder Schlüsselspieler im Spielaufbau
erkannt werden. Allerdings lassen Videoanalysen im Fußball nur bedingt Rück-
schlüsse auf interne Informationsverarbeitungsprozesse der Spielern zu (Garganta,
2009).
Ward & Williams (2003) untersuchten in einem Experten-Novizen Paradigma das
Entscheidungsverhalten von (Nicht-)Fußballspielern hinsichtlich möglicher Passop-
tionen nach dem Abspielen einer vorgegebenen Videosequenz. Es konnte nach-
gewiesen werden, dass Experten im Gegensatz zu Novizen die situativen Hand-
lungsoptionen in Form von Passvarianten besser abschätzen und priorisieren kön-
nen. Hodges, Huys & Starkes (2007) stellten in einer Reihe von Untersuchungen in
unterschiedlichen Sportspielen fest, dass ein strategischer Expertisevorteil vermut-
lich durch etablierte Strukturen im Langzeitgedächtnis hervorgerufen werden kann.
Ergänzend wurde vermutet, dass diese Strukturen im Langzeitgedächtnis in Bezug

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auf taktisches Entscheidungshandeln konzeptuell in Form von „tactical skills“ orga-
nisiert sind (McPherson & Kernodle, 2003).
Gegenstand der vorliegenden Untersuchung ist die Erfassung der kognitiven Rep-
räsentation mannschaftstaktischer Verhaltensweisen im Langzeitgedächtnis. Dabei
wird angenommen, dass mannschaftstaktisches Wissen aus einer strukturellen
Verknüpfung zwischen Handlungs- und Bewegungswissen besteht, welches, ähn-
lich wie motorische Fertigkeiten (Schack & Mechsner, 2006), auf der Ebene menta-
ler Repräsentationen konzeptuell organisiert ist.

2 Methodik

An der Untersuchung nahm zum Einen eine Novizengruppe bestehend aus 10
Frauen und 10 Männern mit einer mittleren Fußballerfahrung von 3,2 (±4,2) Jahren
teil. Die Fußballerfahrung wurde bis maximal zur 8. Liga, in der universitären Aus-
bildung oder im nicht-organisierten Freizeitfußball angeeignet. Zum Anderen bilde-
ten die Spieler einer 4. Liga Herrenfußballmannschaft (n=18) die Gruppe der Exper-
ten. Diese Experten hatten eine durchschnittliche Fußballerfahrung von 14,6 (±6,7)
Jahren. Die Untersuchung der Novizen fand in einem Seminarraum der Universität
statt. Die Expertengruppe wurde unter vergleichbaren Bedingungen in einem Besp-
rechungsraum der Geschäftsstelle des Sportvereins untersucht. Das Stimulusmate-
rial in Form von Taktiktafeldarstellungen ausgewählter Spielsituationen der in Ta-
belle 1 dargestellten mannschaftstaktischen Verhaltensweisen wurde in Anlehnung
an wesentliche Literaturquellen zu Mannschaftstaktiken erstellt (Lucchesi, 2008a,
2008b; Marzialli & Mora, 2009; Peter, 2007; Reimöller & Voggenreiter, 2006). Zu
diesem Zweck wurden für jede mannschaftstaktische Verhaltensweise sieben ver-
schiedene typische Spielsituationen erstellt. Anschließend wurde dieses Stimulus-
gesamtset (28 Spielsituationen) per Ratingverfahren durch erfahrene Fußballtrainer
(mindestens A-Lizenz) auf die jeweils drei typischsten Spielsituationen der jeweili-
gen Taktik reduziert. Die in Tabelle 2 kurz skizzierten Spielsituationen bilden das fi-
nale Stimulusset. Um Aussagen zur Speicherung von taktischen Situationen im
Fussball machen zu können, kam eine experimentelle Methode zur Messung von
Gedächtnisstrukturen, das Cognitive Measurement of Tactics, zum Einsatz. Diese
Methode untersuchte die Repräsentation der zwölf unterschiedlichen Spielsituatio-
nen im Langzeitgedächtnis. Dabei wurden (in Anl. an SDA-M, Schack, 2011) immer
jeweils zwei der Spielsituationen in einer Splitprozedur hinsichtlich ihrer Ähnlichkeit
bewertet. Alle Versuchspersonen sahen eine randomisierte Präsentation aller Sti-
muluskonstellationen und markierten ihre Entscheidungen auf vorgefertigten Ant-
wortbögen. Die Antworten der Versuchspersonen wurden zur weiteren Auswertung
in einen Computer übertragen. Die in der Splitprozedur getroffenen Entscheidun-
gen informieren über die Proximität zwischen den einzelnen Spielsituationen. Die
Entscheidungen bilden die Basis für ein ungewichtetes hierarchisch-agglomeratives
Clusterverfahren (average-linkage). Anschließend prüft eine Invarianzanalyse die
ermittelten Gedächtnisstrukturen gegen eine inhaltlich abgeleitete Idealstruktur der

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Taktiksituationen auf strukturelle Homogenität. Zwei Repräsentationsstrukturen
sind demnach als invariant zu betrachten, wenn λ>λkrit=.68 gilt.
Tab. 2. Benennung der genutzten Stimuli mit Zuordnung zu den jeweiligen mannschaftstaktischen Verhal-
        tensweisen aus Sicht einer Mannschaft. Die Normlösung für die Clusterung der Spielsituationen er-
        gibt sich aus den jeweils zusammengehörenden Mannschaftstaktiken.
 Stimulus   Spielrichtung       Mannschaftstaktik   Beschreibung
 1          Offensive           Konterspiel         Balleroberung zentral in der Mittelfeldzone
 2          Offensive           Konterspiel         Balleroberung nach gegnerischem Eckball
 3          Offensive           Konterspiel         Balleroberung in der Mittelfeldzone außen
 4          Defensive           Pressing            In der Angriffszone links
 5          Defensive           Pressing            In der Mittelfeldzone rechts
 6          Defensive           Pressing            In der Angriffszone rechts
 7          Offensive           Spielverlagerung    In Mittelfeldzone auf die rechte Spielfeldseite
 8          Offensive           Spielverlagerung    Über den eigenen Torwart auf die linke Spielfeldseite
 9          Offensive           Spielverlagerung    In Mittelfeldzone auf die rechte Spielfeldseite
 10         Defensive           Defensivverbund     Nach Ballverlust in Mittelfeldzone links
 11         Defensive           Defensivverbund     Nach Ballverlust in Angriffszone zentral
 12         Defensive           Defensivverbund     Nach Ballverlust in Mittelfeldzone rechts

3 Ergebnisse

Im Weiteren werden die Ergebnisse der Analyse des Cognitive Measurement of
Tactics getrennt für die jeweilige Expertisegruppe ausgewertet (Abbildung 1). Die in
der kognitiven Repräsentation nachweisbaren Strukturen (Cluster) sind gekenn-
zeichnet durch graue Balken. Die Zahlen an den Querverbindungen zwischen ein-
zelnen Spielsituationen kennzeichen die Euklidische Distanz der Konzepte zuei-
nander. Je geringer die Euklidische Distanz zwischen zwei Konzepten ist, desto
enger ist der kognitive, merkmalsbasierte Zusammenhang zwischen diesen Kon-
zepten im Langzeitgedächtnis. Die grau-gestrichelte Linie markiert die kritische
Euklidische Distanz (dkrit=4,552 mit p=,01), welche statistisch signifikante Cluster-
strukturen definiert. Die Zahlen unterhalb der Gedächtnisstruktur kennzeichnen die
einzelnen Stimuli gemäß der Auflistung in Tabelle 2.
Abbildung 1a zeigt die mittlere kognitive Repräsentationsstruktur mannschaftstakti-
schen Verhaltens der Novizengruppe. Diese Struktur ist gekennzeichnet durch die
Bildung von zwei Clustern, welche jeweils sechs Spielsituationen enthalten. Es ist
zu beobachten, dass lediglich eine Separierung der offensiven und defensiven
Spielsituationen vorliegt. Mit anderen Worten, es ist eine funktionale Struktur der
repräsentierten Einheiten zu erkennen, die allerdings leidiglich ausweist, ob die ei-
gene oder die gegnerische Mannschaft in Ballbesitz ist. Darüber hinaus scheinen
Fußballnovizen auf mentaler Ebene keine differenziertere Unterscheidung der
Spielsituationen repräsentiert zu haben. Die kognitive Repräsentationsstruktur der
Novizen unterscheidet sich statistisch von der definierten idealtypischen Normlö-
sung (λ=,42). Abbildung 1b zeigt die mittlere kognitive Repräsentationsstruktur
mannschaftstaktischen Verhaltens der Expertengruppe. Diese Struktur ist gekenn-
zeichnet durch eine Aufteilung in vier separierte Cluster mit jeweils drei Spielsitua-

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tionen. Des Weiteren lässt sich erkennen, dass auf übergeordneter Ebene die je-
weiligen offensiven und defensiven Mannschaftstaktiken zusammengehörend rep-
räsentiert sind. Die Expertenstruktur zeichnet sich somit durch eine funktional ge-
gliederte kognitive Repräsentationsstruktur aus, welche identisch zur idealtypischen
Normlösung (λ=1,0) ist.

Abb. 1. a Mittlere kognitive Repräsentationsstruktur mannschaftstaktischen Verhaltens der Novizengruppe
mit geringer Fußballerfahrung. b Mittlere kognitive Repräsentationsstruktur der Experten. Die grauen Balken
unterhalb der Abbildung kennzeichen zusammengehörende Spielsituationen innerhalb eines Clusters.

4 Zusammenfassung

In der vorliegenden Studie wurden die kognitiven Repräsentationsstrukturen mann-
schaftstaktischen Verhaltens im Fußball erfasst und für zwei unterschiedliche Ex-
pertisegruppen nachgewiesen. Die Expertengruppe wies, im Gegensatz zu den
Fußballnovizen, eine funktional gegliederte kognitive Repräsentationsstruktur auf.
Die Annahme das mannschaftstaktisches Verhalten, ebenso wie komplexe Bewe-
gungen, kognitiv repräsentiert sind, kann bestätigt werden.
Die Entscheidungen der Versuchspersonen wurden auf Basis der proximalen Effek-
te der Bewegung einzelner Spieler und der distalen Kontextmerkmale der Gesamt-
spielsituation getroffen. Es kann angenommen werden, dass mannschaftstakti-
sches Verhalten im Sportspiel Fußball, genauso wie motorisches Handlungswissen
(Bläsing, Tenenbaum, & Schack, 2009; Kunde, 2006; Schack, 2011), über die Anti-
zipation intendierter Ziele beziehungsweise erwarteter Effekte kontrolliert wird.
Durch die Möglichkeit der Messung der kognitiven Repräsentation mannschaftstak-
tischen Verhaltens im Fußball können Rückschlüsse auf das Expertiseniveau ge-
zogen werden. Es ist weiterhin anzunehmen, dass auf der Basis individueller Ge-
dächtnisprofile, ähnlich wie im Kampfsport (Weigelt, Ahlmeyer, Lex, & Schack,
2011), ein zielgerichtetes Training mannschaftstaktischer Verhaltensweisen vorge-
nommen werden kann.

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