Felix Mendelssohn Bartholdy

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Sonntag, 16. April 2023
                                                              15.03 – 17.00 Uhr

                           Felix Mendelssohn Bartholdy
                             Von Christine Lemke-Matwey

                                      16. Folge
             „Dass ich ein Deutscher sei“: Felix Mendelssohn auf Reisen

Herzlich willkommen zur 16. Folge. Mit der Schottischen Sinfonie habe ich mich in der ver-
gangenen Woche verabschiedet – und mit der „Schottischen“ möchte ich Sie heute begrü-
ßen. Und zwar nicht nur, weil sich das vom Reisethema her so schön anbietet, sondern auch
weil ich der Ansicht bin, dass hier der folgende Gedanke zu seinem Recht kommt: Mendels-
sohn, das haben wir an seiner Auseinandersetzung mit Beethoven gesehen, komponiert
zwangsläufig von einer anderen, gleichsam moderneren Warte aus. Natürlich ist es auch bei
den Klassikern, bei Haydn, Mozart und Beethoven wichtig, zu wissen, unter welchen Lebens-
umständen ihre Werke jeweils entstanden sind. Ein erstes Bewusstsein geschaffen zu haben
für die Geschichtlichkeit der Musik, das ist ja eins von Mendelssohns großen Verdiensten.
Mendelssohn selbst aber und die Romantiker überhaupt, sie schöpfen vor allem eine Erkennt-
nis aus dem Vakuum, das die Meister ihnen hinterlassen: Die Erkenntnis, dieses Vakuum an-
ders füllen zu müssen. Die Musik ist das Leben, sagt die klassische Tradition. Mendelssohn,
der überzeugte Traditionalist, antwortet darauf: Das Leben ist und macht die Musik.

 99-11582                Felix Mendelssohn Bartholdy                             4’03
 NYP 9704/05             Sinfonie Nr. 3 a-Moll op. 56 „Schottische“
 LC 00000                2. Vivace non troppo
 Track 205               New York Philharmonic Orchestra
                         Leitung: Leopold Stokowski

Die „Schottische“ hat, um den besagten Lebenshintergrund der Musik ein wenig zu erhellen,
eine reichlich merkwürdige Entstehungsgeschichte. Den Genieblitz zu dieser seiner letzten
Sinfonie erfährt Mendelssohn während seiner ersten großen England-Reise 1829 in Schott-
land, genauer gesagt in Holyrood Palace, der Residenz des britischen Königshauses in Edin-
burgh. Die Ruinen der Maria-Stuart-Kapelle dort haben es ihm angetan: „Der Kapelle fehlt
nun das Dach, Gras und Efeu wachsen viel darin, und am zerbrochenen Altar wurde Maria
zur Königin von Schottland gekrönt. Es ist da alles zerbrochen, morsch und der heitere Him-
mel scheint hinein.“ Dieses Sinnbild des Vergänglichen bannt Mendelssohn in einen a-Moll
Dreiklang, e-a-c, der die Andante-Eröffnung des sinfonischen Kopfsatzes prägt und trägt. Ein
düster-melancholisches Motiv, auch in seiner Klanggestalt, ausgeführt durch Oboen und
Bratschen. Vorerst aber legt Mendelssohn von der Sinfonie lediglich ein Klavierparticell an
mit spärlichen Angaben zur Instrumentation. Und dann ruht das Ganze, und zwar lange, bis
ins Jahr 1841. Erst in Berlin nämlich, wo Mendelssohn eine Stelle als „Hauskomponist“ des
preußischen Königs Friedrich Wilhelm IV. bekleidet, scheint er sich wieder an die geplante
Sinfonie zu erinnern. Warum so spät und warum überhaupt, darüber ist viel gerätselt und
spekuliert worden. Eine zufrieden stellende Antwort gibt es nicht. Ob sich hier geografisch
für ihn ein Kreis schließt, immerhin war Mendelssohn 1829 aus dem Elternhaus zu seiner
ersten großen Reise aufgebrochen? Wahrscheinlich ist auch der Gedanke, Mendelssohn habe
sich als Königlich-Preußischer Generalmusikdirektor mit einem neuen repräsentativen Werk
hervortun wollen. Außerdem ist die schottische Königin Maria Stuart so etwas wie eine Inku-
nable romantischen Denkens und Empfindens. Von Schiller bis Stefan Zweig, von Donizetti
bis Thea Mussgrave reicht ihre künstlerische Rezeptionsgeschichte. Das Schicksal der über-
aus talentierten Monarchin, die nach 18 Jahren Kerkerhaft politischen Intrigen zum Opfer
Felix Mendelssohn Bartholdy (Wh.) – 16. Folge          Seite 2 von 8

fällt und am 8. Februar 1587 hingerichtet wird, es wird als Metapher, ja als Menetekel gelesen:
das Individuum als Opfer einer restriktiven Gesellschaft. Die Walter-Scott-Romane zum
Thema, „The Abbot“ und „Kenilworth“ von 1820/21, dürfte Mendelssohn gelesen haben. Vor
allem aber kannte er Schillers „Maria Stuart“-Drama von 1800, das die letzten Tage der Kö-
nigin vor ihrer Hinrichtung schildert.

Wie tief die romantische Identifikation mit der sagenhaften Schottin reicht, das zeigen auch
Robert Schumanns späte Gesänge op. 135 auf Gedichte der Maria Stuart. Die Lieder entste-
hen 1852, Mendelssohn kann sie also nicht mehr gehört haben. Aber ein umgekehrter Ein-
fluss ist vorstellbar, schließlich ist Schumann bei der Leipziger Uraufführung der Schotti-
schen Sinfonie am 3. März 1842 dabei. Gleichsam rezitativisch und den Gesang skelettierend
folgt das Klavier hier dem königlichen Dichterinnenwort, was insofern nicht ganz unproble-
matisch ist, als die deutsche Übersetzung von Gisbert von Vincke es im Original mit franzö-
sischen, lateinischen und englischen Texten zu tun hat.

 Orfeo C 636 041 B        Robert Schumann                                          7’58
 LC 08175                 Gedichte der Königin Maria Stuart op. 135
 Track 016 – 020          Brigitte Fassbaender, Mezzosopran
                          Erik Werba, Klavier

Schumann, wie gesagt, ist Zeuge der Uraufführung von Mendelssohns Schottischer Sinfonie
im Frühjahr 1842 im Leipziger Gewandhaus. Und er irrt sich ebenso gewaltig wie viel sagend,
wenn er in seiner Rezension in der Neuen Zeitschrift für Musik der Sinfonie „jene alten im
schönen Italien gesungenen Melodien“ zuschreibt. Ein typischer Kritiker-Fauxpas, eine Ver-
legenheit – oder doch mehr? Mendelssohn hat, was seine neue Sinfonie betrifft, zunächst alle
Hinweise auf außermusikalische Inspirationsquellen vermieden. Das zeitgenössische Publi-
kum konnte also ganz unvoreingenommen und absolut hören. Da die Hebridenouvertüre al-
lerdings ziemlich bekannt war, dürfte hier so manche Verwandtschaft und Parallele buch-
stäblich ins Ohr gesprungen sein: die raue Harmonik, die dunkel timbrierte Instrumentation,
die sequenzierten Wiederholungen. Derlei gilt der Musikwissenschaft als „ossianischer Stil“,
ein Attribut, das auch Schumann gerne angeheftet wird. Ossian, der „Homer des Nordens“
und mutmaßliche schottische Barde des 18. Jahrhunderts, den es wohl nie gegeben hat, den
aber schon Herder und Goethe schätzten. Ossian, der auf dem gegenüber liegenden europä-
ischen Festland wie kein anderer romantische Sehnsüchte weckte: nach Naturverbundenheit
und Ursprünglichkeit, nach einem unentfremdeten Dasein. 1840 komponiert der junge Däne
Niels Wilhelm Gade eine Ouvertüre, sein Opus 1, und tauft es „Nachklänge von Ossian“. Er
reicht die Partitur bei einem Wettbewerb des Kopenhagener Musikvereins ein – und gewinnt.
In der Jury hätte neben Louis Spohr und dem sächsisch-anhaltinischen Komponisten Fried-
rich Schneider auch Felix Mendelssohn Bartholdy sitzen sollen, der dann aber wegen akuter
Arbeitüberlastung absagt. Ob Mendelssohn Gades Ouvertüre trotzdem gekannt hat? In sei-
nem Oxforder Nachlass findet sich ein Exemplar der Erstausgabe von 1841, im selben Jahr
erinnert Mendelssohn sich, wie gesagt, an seine eigene schottische Erfahrung – Bezüge sind
hier also durchaus möglich. Aber hören Sie selbst ..

 99-908795                Niels Wilhelm Gade                                       14’39
 Chandos 9422             Ouvertüre „Nachklänge von Ossian“ op. 1
 LC 7038                  Symphonieorchester des Dänischen Rundfunks
 Track 9                  Leitung: Dimitri Kitajenko

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Schottisch, dänisch, deutsch? Wirklich exakt dürfte das nicht auszumachen sein, wenngleich
die Harfe natürlich ein typisches Bardeninstrument ist und insofern typisch „ossianisch“.
Auch existiert – zumindest im Hintergrund dieser Musik – ein narratives Programm, das Gade
selbst entwarf und das auf einer dänischen Übersetzung einzelner Ossian-Gesänge fußt.
Wichtig ist also: Es wird etwas erzählt. Wichtig ist der Balladenton, ist der Episodencharakter
der Musik. Der findet sich auch bei Mendelssohn, sowohl in der Hebridenouvertüre und ihren
impressionistischen Farben als auch in der Schottischen Sinfonie und ihren Bildern. Wie
wusste schon Fanny? „Männer müssen von Reisen schreiben, u. Frauen von zu Hause, die
bringen dann jeden wohlbekannten Sandkorn aufs Tapet u. das erfreut in der Fremde.“ Und
warum sollte dieses Schreiben nicht auch Komponieren bedeuten.

Doch noch einmal die Frage: Wie kann ausgerechnet Schumann eben diese Farben, diesen
Ton in Mendelssohns Schottischer Sinfonie als italienisch identifizieren? Er weiß zweifellos
um Mendelssohns unveröffentlichte Italienische Sinfonie, insofern liegt eine Verwechselung
vielleicht nahe. Aufschlussreicher allerdings erscheint mir die folgende Überlegung: Schu-
mann spricht hier nämlich nicht nur von italienischen, sondern auch von „alten“ Melodien, es
kommt ihm also gar nicht in erster Linie auf eine konkrete musikalische Landessprache an,
sondern vielmehr auf deren Verwurzelung in einer volkstümlichen Tradition. Die Tatsache,
dass hier Attribute aus einer an-deren, fremden Sprache und Zeit bemüht werden, ist an sich
offenbar wichtiger, ausschlaggebender als die Frage, um welche Zeit und welche Sprache es
sich handelt. Im Fremden, in der Fremdheitserfahrung selbst liegt der Schlüssel zum verloren
gegangenen Paradies – und das ist jetzt auch musikalisch gemeint. Maria Stuart, wie Men-
delssohn sie imaginiert: königlich punktierte Rhythmen und die Holzbläser im Trauermarsch
über einem beständig absteigenden Lamento-Bass.

 99-11582                 Felix Mendelssohn Bartholdy                               9’32
 NYP 9704/05              Sinfonie Nr. 3 a-Moll op. 56 „Schottische“
 LC 00000                 3. Adagio cantabile
 Track 206                New York Philharmonic Orchestra
                          Leitung: Leopold Stokowski

Und noch ein kleiner Test, wie schottisch das Schottische bei Mendelssohn wirklich ist. Die
Sinfonie Nr. 3, wie gesagt, hat eine lange Inkubationszeit, von 1829 bis 1841. Das Maria-Stuart-
Motiv des Kopfsatzes indes, jenen elegisch aufsteigenden a-Moll Dreiklang, hat Mendelssohn
von Anfang an im Kopf, seit seinem Besuch in Holyrood Palace. Hier ist der Dreiklang noch
einmal, zur Erinnerung ...

 99-13895                 Felix Mendelssohn Bartholdy                       0’59
 Decca 460 239-2          Sinfonie Nr. 3 a-Moll op. 56 „Schottische“
 LC 00171                 1. Andante con moto (- Allegro un poco agitato) <
 Track 001                Ausschnitt >
                          Wiener Philharmoniker
                          Leitung: Christoph von Dohnanyi

Exakt dieses Motiv findet sich nun auch, geringfügig abgewandelt, in der Ouvertüre zu Men-
delssohns Chorkantate „Die erste Walpurgisnacht“ von 1832 wieder. Als wolle der Komponist
es hier deponieren, auf dass es nicht verloren geht. Und so klingt das dann:

 99-13891                 Felix Mendelssohn Bartholdy                               2’00
 Decca 460 236-2          Die erste Walpurgisnacht op. 60

© rbbkultur 2009                                                                                  3
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 LC 00171                 Ouvertüre: Allegro con fuoco < Ausschnitt >
 Track 105                Wiener Philharmoniker
                          Leitung: Christoph von Dohnanyi

Die „Erste Walpurgisnacht“ geht auf die gleichnamige Ballade von Goethe zurück. Eine Bal-
lade, die vieles sein kann: Protestgesang gegen den christlichen Übereifer, Satire auf mittel-
alterlichen Aberglauben oder aber – und damit wären wir wieder in der Romantik – eine Be-
schwörung des Urwissens jenseits aller historischen Forschung. Was aber heißt es, wenn die
Goetheschen Hexen und Druiden bei Mendelssohn nun buchstäblich im Schottenrock um den
heimischen Brocken tanzen? Drei Möglichkeiten: Entweder die besagten Motiv- und Klang-
gewänder sind so schottisch gar nicht; oder die beiden Welten, der Harz und das ferne
Schottland, nehmen sich nicht viel, sind vor allem eines: mythisch und lange versunken und
gerade darin erstrebenswert; oder aber es ziemt sich einfach nicht, derart programmatisch
über Musik zu reden und zu urteilen. Felix Mendelssohn ist gegen jede Art der Zuschreibung
und des Andichtens ohnehin allergisch: „Es wird so viel über Musik gesprochen, und so wenig
gesagt. Ich glaube überhaupt, die Worte reichen nicht hin dazu, und fände ich, dass sie hin-
reichten, so würde ich am Ende gar keine Musik mehr machen ...“ In diesem Sinne drückt sein
zweifach verwendetes a-Moll Dreiklangsmotiv – in der Schottischen Sinfonie wie in der Ou-
vertüre der „Walpurgisnacht“-Kan-tate – also dezidiert nichts Folkloristisches, Touristisches,
irgend Lautmalerisches aus. Sondern vielmehr eine Atmosphäre, eine Stimmung, einen See-
lenzustand, ja wohl auch so etwas wie Wehmut und ein sich Sehnen.

 99-13891                 Felix Mendelssohn Bartholdy                           12’22
 Decca 460 236-2          Die erste Walpurgisnacht op. 60
 LC 00171                 2. – 6. „Könnt Ihr so verwegen handeln“ / „Wer Opfer
 Track 107 – 110          heut zu bringen scheut“ / „Verteilt euch, wackre Män-
                          ner, hier“ / „Diese dumpfen Pfaffenchristen“ /
                          „Kommt mit Zacken und mit Gabeln“
                          Margarita Lilowa, Alt
                          Horst Laubenthal, Tenor
                          Tom Krause, Bariton
                          Alfred Sramek, Bass
                          Wiener Singverein
                          Wiener Philharmoniker
                          Leitung: Christoph von Dohnanyi

Felix Mendelssohn Bartholdy, die Folge 16 unserer 26-teiligen Sendereihe. Ihr Titel: „Dass ich
ein Deutscher sei: Felix Mendelssohn auf Reisen“.

Felix’ Reisen, diese Liste ist lang und sie liest sich wie das Dokument einer steten Flucht.
1829, von Mitte April bis Ende November: die erste große England-Reise, Schottland inklusive
– damit verlässt Felix sein Berliner Elternhaus. Dann die große, fast zweijährige Italienreise,
von Mitte Mai 1830 bis Juni 1832. Felix arbeitet sich über Weimar, München und Wien nach
Venedig, Florenz und Rom schließen sich an; die Rückreise erfolgt gleichfalls über Florenz,
biegt dann aber über Genua und Mailand ab in die Schweiz, um schließlich in München länger
Station zu machen; von dort geht es Anfang November nach Düsseldorf, Mitte Dezember
nach Paris und im April 1832 schließlich über London – als ob dies der nächste Weg wäre –
zurück nach Hause. Und die Anglomanie soll sich noch verstärken. Das Jahr 1833 sieht Felix
gleich zweimal im Vereinigten Königreich, einmal im Frühling, einmal im Sommer. Es folgt
das Intermezzo als Düsseldorfer Musikdirektor, weswegen die nächste Fahrt über den Kanal

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erst im Herbst 1837 stattfindet, Hauptziel ist diesmal das Musikfest in Birmingham. Inzwi-
schen ist Mendelssohn Leipziger Gewandhauskapellmeister und Familienvater, Zeit zum Rei-
sen findet er erst 1840 wieder, erneut ist er in Birmingham zu Gast. 1842 fährt er im Mai nach
London, wo er gleich zweimal von Queen Victoria in den Buckingham Palast gebeten wird,
und im August macht er Ferien mit der Familie in der Schweiz. Die achte Reise nach England
findet wiederum zwei Jahre später statt, 1844, und 1846 stellt er dann in Birmingham seinen
„Elias“ vor. Mendelssohns letzte England-Reise ist auf die Monate April/Mai 1847 datiert, er
konzertiert mit dem Geiger Joseph Joachim und macht erneut der Königin seine Aufwartung.
Am 14. Mai stirbt Fanny. Um sich von diesem Schicksalsschlag zu erholen, hält Mendelssohn
sich ein halbes Jahr lang, bis September, mit seiner Familie in Baden-Baden und erneut in
der Schweiz auf. Dies ist seine letzte Reise.

Das Fazit des Reise-Künstlers Mendelssohn Bartholdy indes steht schon früh fest – und es
bestätigt Abraham Mendelssohns ehrgeiziges väterliches Ziel auf ganzer Linie. Bereits im
Februar 1832, also auf der Rückreise seiner großen Italien-Fahrt, bekennt Felix gegenüber
seinem alten Lehrer Carl Friedrich Zelter: „Denn wie ich jetzt nach all’ den Schönheiten, die
ich in Italien und der Schweiz genossen, nach allem Herrlichen, das ich gesehen und erlebt,
wieder nach Deutschland kam, und namentlich bei der Reise über Stuttgart, Heidelberg,
Frankfurt, den Rhein hinunter nach Düsseldorf: da war eigentlich der Hauptpunkt der Reise;
denn da merkte ich, dass ich ein Deutscher sei und in Deutschland wohnen wolle, so lange
ich es könne.“ Was Vater Abraham gesagt hätte, wenn der Sohn sich anders entschieden
hätte, beispielsweise für England, für London, wo er sich von Anfang an „so in der Fremde
zu Hause“ fühlte? Wir wissen es nicht. Angeblich war Felix die Wahl freigestellt. Die innige
Verbindung zu Goethe aber hat ganz gewiss dazu beigetragen, seine deutschen Wurzeln zu
stärken – und sein Selbstbewusstsein als Weltbürger.

 99-13891                Felix Mendelssohn Bartholdy                             7’59
 Decca 460 236-2         Die erste Walpurgisnacht op. 60
 LC 00171                7. – 9. „So weit gebracht, dass wir bei Nacht“ / „Hilf,
 Track 111               ach hilf mir, Kriegsgeselle“ / „Die Flamme reinigt sich
                         vom Rauch“
                         Margarita Lilowa, Alt
                         Horst Laubenthal, Tenor
                         Tom Krause, Bariton
                         Alfred Sramek, Bass
                         Wiener Singverein
                         Wiener Philharmoniker
                         Leitung: Christoph von Dohnanyi

Seine Walpurgisnacht-Ballade, so Goethe selbst, handle davon, wie „ein Altes, Gegründetes,
Geprüftes, Beruhigendes durch auftauchende Neuerungen gedrängt, geschoben, verrückt
und wo nicht vertilgt, doch in den engsten Raum eingepfercht werde.“ Mit anderen Worten:
Es geht hier um den raumgreifenden Anbruch einer neuen Zeit. Diese Neuerungen erlebt der
reisende Mendelssohn zum Teil ziemlich handfest. Nur zur Erinnerung: Eine einfache Kutsch-
fahrt von Berlin nach Leipzig dauerte in den 30er Jahren des 19. Jahrhunderts im Schnitt 12
bis 16 Stunden, je nach Jahreszeit, Witterung und zur Verfügung stehenden Pferdestärken.
Welche Erleichterung muss da die Erfindung der Eisenbahn bedeutet haben. 1836 fährt zwi-
schen Nürnberg und Fürth die erste deutsche Bahn überhaupt, 1837 folgt die Strecke Dres-
den – Leipzig und ein Jahr später das uns heute so kurz vorkommende Stück zwischen Berlin
und Potsdam. In England war der Aufbau eines nationalen Schienennetzes zu dieser Zeit

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schon etwas weiter fortgeschritten – sicher auch ein Argument für Mendelssohns lebens-
lange Anglophilie. London hält für ihn erfolgreich die Waage zwischen Zukunft und Tradition.
Schon sein allererster Besuch der Metropole reißt den 24-Jährigen zu Begeisterungsstür-
men hin. Er schreibt nach Hause: „Es ist entsetzlich! Es ist toll! Ich bin konfus und verdreht!
London ist das grandioseste und komplizierteste Ungeheuer, das die Welt trägt!“ Ein Übriges
tut der Erfolg beim britischen Publikum. Erstmals in seinem Leben wird Mendelssohn nach
Aufführungen seiner ersten Symphonie oder der „Sommernachtstraum“-Ouvertüre in der
Öffentlichkeit enthusiastisch gefeiert. Das merkt sich ein Künstlerherz.

Anfang Dezember 1829 ist Felix Mendelssohn zurück in Berlin. In seinem Reisegepäck befin-
det sich unter anderem ein Liederspiel, in Liverpool komponiert und den Eltern zugedacht
als Geschenk zu ihrer Silberhochzeit. Der viel sagende Titel des gut einstündigen Einakters?
„Heimkehr aus der Fremde“. Uraufgeführt wird das Liederspiel um einen gleichsam „verlo-
renen“ Sohn am ersten Weihnachtsfeiertag, wie gewohnt unter der tatkräftigen Beteiligung
einiger Familienmitglieder.

 99-24790                 Felix Mendelssohn Bartholdy                              3’37
 hänssler 98.487          „Heimkehr aus der Fremde“ op. 89
 LC 06047                 Arie „Ich bin ein viel gereister Mann“
 Track 108                Christian Gerhaher, Bariton
                          Radio-Sinfonieorchester Stuttgart des SWR
                          Leitung: Helmuth Rilling

Eine Ouvertüre, die an Mendelssohns „Meeresstille und glückliche Fahrt“ erinnert, spaßhaft
zitierte Dudelsäcke, Fanfaren, die kurz darauf auch in der Hebriden-Ouvertüre auftauchen:
Das private Liederspiel bietet einen repräsentativen Querschnitt durch Felix’ aktuelles Schaf-
fen. Veröffentlichen freilich wollte er das „zarte Werkchen“ (Eduard Devrient) nie, erst 1851,
vier Jahre nach seinem Tod, erscheint es im Druck, wird in Leipzig sogar auch aufgeführt,
um dann freilich endgültig in der Versenkung zu verschwinden.

Neben den Annehmlichkeiten der Technik und der beginnenden industriellen Revolution frei-
lich lernt Mendelssohn auf Reisen auch andere Seiten des Lebens kennen. Er besucht Museen
und erhärtet seinen konservativen Kunstgeschmack, indem er Bilder von William Turner als
„abscheulichste Schmierereien“ beschimpft. Er sieht, was in England Kinderarbeit bedeutet,
und fährt mit Liverpooler Kumpels in einen modernen Bergwerksstollen hinunter. Das
Münchner Musikleben langweilt ihn ebenso wie ihn das Wienerische empört, der vollkommen
italianisierten Oper wegen und weil die Wiener von Bach nichts halten. In Neapel bemerkt er
das Fehlen einer bürgerlichen Mittelschicht in der Bevölkerung, in Rom berauscht er sich am
Karneval und studiert Palestrina sowie den Gesang der päpstlichen Kapelle, in der Schweiz
erfährt er als Fußreisender und am eigenen Leib, was Naturgewalten bedeuten. Über all das
schreibt Mendelssohn Briefe, führt Tagebuch, zeichnet und komponiert. Ein eifriger Chronist
seiner Zeit.

Sein erstes großes Klavierkonzert legt er im Sommer 1830 in Rom, zumindest im Kopf. Zur
Niederschrift kommt es auf der Rückreise in München, die Uraufführung findet am 17. Okto-
ber 1831 im Odeon statt und ist ein Erfolg. Der Autor selbst staunt darüber nicht schlecht:
„Ich habe es in wenigen Tagen und fast nachlässig komponiert, dennoch hat es immer den
Leuten am besten gefallen, obgleich mir selbst wenig.“ Die dreisätzige Anlage ist eine Remi-
niszenz an Beethoven, natürlich, allerdings gehen die drei Sätze nahtlos ineinander über, und
überhaupt trumpft Mendelssohn mit einigen formalen Neuerungen auf. So wird das

© rbbkultur 2009                                                                                 6
Felix Mendelssohn Bartholdy (Wh.) – 16. Folge         Seite 7 von 8

Verhältnis zwischen Solist und Orchester im Kopfsatz neu definiert, indem beide in einen
beständigen Dialog miteinander treten, gleichsam immer an der Rampe der Konzert-Bühne.
Der langsame Satz wiederum, ein Andante, entlässt den Solisten in die Freiheit, indem er das
von Bratschen und Celli intonierte Thema immer wieder als Inspirationsmoment für ein weit
gespanntes eigenes Singen und Fantasieren nutzt. Und das Finale verbindet dann allerlei
überschäumendes, glitzerndes Passagenwerk mit einem thematischen Rückgriff auf den
Kopfsatz. Hier schließt sich also der Kreis – als käme Mendelssohn von einem Ausflug in ein
unbekanntes Land zurück.

 99-29475                Felix Mendelssohn Bartholdy                               5’36
 Dutton                  Klavierkonzert Nr. 1 g-Moll op. 25
 9781                    3. Satz:Presto – Molto allegro e vivace
 LC 20793                Anja Dorfman, Klavier
 Track 007               London Symphony Orchestra
                         Leitung: Walter Goehr

Die frühen Reisen, wie gesagt, sind eine für Mendelssohn überaus ertragreiche Zeit. Reisen
bildet, heißt es, und das wird im 19. Jahrhundert keineswegs als trübe Pflichtübung verstan-
den, sondern als Luxus. Jeder, der kann, der es sich leisten kann, tut es. Die Welt anschauen,
was gibt es Bereichenderes, Reicheres, Schöneres. Mendelssohn schreibt an Zelter: „So
denke ich meine Reise wieder anzutreten und mich nach allen Seiten genau umzusehen und
umherzuwenden, damit ich erfahre, wie die Menschen aussehen und umgekehrt, damit ich
mich freier fühlen kann, damit ich das Ungewohnte kennen und das Gewohnte neu schätzen
lerne, kurz, damit ich ein Mensch werde, oder mit anderem Worte, ein Musiker.“ Diese Gleich-
setzung von Mensch zu Musiker ist natürlich aufschlussreich. Und ich denke, es ist wirklich
eine Gleichsetzung, keine Steigerung. Der Musiker ist in Mendelssohns Augen nicht etwa der
bessere Mensch, sondern des Musikers oberstes Ziel muss es sein, Mensch zu sein. Ein
Mensch mit Bildung, mit Tugenden, mit Erfahrung und sozialer Verantwortung. Fast gespens-
tisch, wie erfolgreich Mendelssohn dieses Programm in jungen Jahren umsetzt. Zweifleri-
sche, fragende Töne begegnen dem Leser in seinen Aufzeichnungen eigentlich nur in zwei
Situationen: bei Todesfällen in der Familie – der Vater, die Mutter, die Schwester – oder in
Phasen akuter Überlastung, die dem Komponisten das Gefühl geben, zum Eigentlichen, zum
Komponieren und Menschsein nicht mehr zu kommen.

Auch an das g-Moll Klavierkonzert wäre natürlich die Frage zu richten, wie italienisch es ist.
Die Idee dazu, wie gesagt, wird in Rom geboren – da sind die Eindrücke des Italien-Erlebnisses
noch ganz enthusiastisch und frisch. Die quirlige Munterkeit des Werks, das Spielen mit der
Virtuosität, das Singenwollen im zweiten Satz: Wären das mehr als südländische Klischees?
Das Musikleben im Mutterland des Gesangs ist Mendelssohn ein Graus, und das mag ihn da-
vor bewahrt haben, im Komponieren allzu folkloristisch zu werden. Außerdem sehnt er sich
über die Alpen hinweg nach seiner damaligen Geliebten, der Münchner Pianistin Delphine
von Schauroth, der er das g-Moll Konzert später auch widmet. Mit den Gedanken, mit dem
Herzen ist er also durchaus nicht nur im Land, wo die Zitronen blühen. Die römische Orches-
terpraxis jedenfalls findet er desolat, größere Chöre existieren schlichtweg nicht, und das
Publikum besitze keinerlei Kunstverstand. In einem Brief an Fanny (die es immer nicht fassen
kann, dass der Bruder aus der wundervollen Ferne auch Negatives zu berichten weiß): „Aber
genug davon, es ist verdrießlich. Warum soll auch Italien heut zu Tage mit Gewalt ein Land
der Kunst sein, während es das Land der Natur ist und dadurch Alles beglückt.“ Hier also, in
der Natur, im Natürlichen, Unverbildeten, liegt der Schlüssel zum Reise-Komponisten und
unfreiwilligen Programmatiker Mendelssohn Bartholdy. Wie in Schottland, wo ihn in erster

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Felix Mendelssohn Bartholdy (Wh.) – 16. Folge          Seite 8 von 8

Linie das Licht und die Einsamkeit der Landschaft fesseln, allenfalls noch die Ruinen der Ma-
ria-Stuart-Kapelle, so ergeht es ihm auch in Italien. Was Mendelssohn künstlerisch verarbei-
tet, verarbeiten will – zumal in seiner Italienischen Sinfonie (die diesen Namen erst nachträg-
lich erhält) –, sind unmittelbare, gleichsam unverdorbene, unentfremdete, ursprüngliche Sin-
neseindrücke. Ganz wie er schon 1830 an Zelter schreibt: „Auch verdanke ich dem, was nicht
die eigentliche, unmittelbare Musik ist: Ruinen, den Bildern, der Heiterkeit der Natur, am
meisten Musik.“ Wer denkt da nicht an das Rousseau’sche „retournons à la nature!“, das
berühmte „zurück zur Natur!“. Mendelssohn, ein Romantiker, ein das Paradies mit der Seele
Suchender wider willen? Dagegen sprechen auf jeden Fall seine stets akribischen Reisevor-
bereitungen, die gesellschaftlichen Kontakte, die er kraft seines Namens vorab knüpft und
die ihm, wo auch immer, ein herzliches Willkommen bescheren. Die Reise ins Offene, die Un-
mittelbarkeit des Erlebens – sie sind somit auch Bestandteil einer wiederum: romantischen
Illusion.
…geschrieben zum Jahreswechsel 1832/33, für den Münchner Klarinettisten Heinrich Baer-
mann und seinen Sohn Carl, im Stil von Carl Maria von Weber. Musikalisch ist Mendelssohn
spätestens mit diesen kleinen, fast parodistischen Stücken wieder ganz in seiner deutschen
Heimat angekommen.

Und damit sage ich herzlichen Dank fürs Zuhören. In einer Woche widmen wir uns hier dem
Bearbeiter Felix Mendelssohn Bartholdy, mit Musik, unter anderem, von Georg Friedrich Hän-
del und Johann Sebastian Bach. Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Sonntag.

 99-21281                 Felix Mendelssohn Bartholdy                             7’38
 Zuk Records              Konzertstück Nr. 1 für Klarinette, Bassetthorn und Kla-
 326                      vier f-Moll op. 113
 LC 05460                 Bärmann Trio
 Track 001

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