Öffentlich-private Quartierswiederbelebung - Text Wolfgang Kabisch - Bauwelt
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Öffentlich-private
Quartierswiederbelebung
Text Wolfgang Kabisch
Ein Blick nach Paris, das immer noch wesentlich stärker durch Einzelhandel und
Kleingewerbe geprägt ist als andere Metropolen: Mit der Agentur Semaest mischt
auf dem dortigen Markt für Geschäftslokale seit vielen Jahren ein halb städtisch,
halb privatwirtschaftlich organisierter Mitspieler mit, dessen Geschäftszweck nicht
die Gewinnoptimierung, sondern der Erhalt kleinteiliger Strukturen ist.
Paris ist eine Schnecke. Nicht, weil die Stadtverwaltung so langsam ar- Ziel im Sinne der Lebensqualität der Bewohner. Der Lebensmitteleinzel-
beitet, sondern weil sich seine Bezirke aneinanderreihen wie auf einem handel hat dagegen um 38 Prozent zugenommen, und das Dienstleis-
Schneckenhaus. Von 1 bis 20. Im Uhrzeigersinn. Dabei ist jeder Bezirk, je- tungsangebot im regionalen Bereich ist um über zwölf Prozent gewach-
des Arrondissement, anders. Größe, Architektur, Lebensart der Bewohner sen. Das kommt ebenfalls den Anwohnern zugute. Mit einer dritten Auf-
und so weiter unterscheiden sich deutlich. Standardisierte Fußgängerzo- lage von „Vital’ Quartier“ soll das Programm auch 2021 fortgesetzt werden.
nen mit uniformen Ladenketten sind hier seltener als in anderen Metropo- Immer nach dem Leitmotiv: Wenn man fünf Prozent aller Geschäfte in
len. Einzelhandel und Kleingewerbe sind in Paris häufig noch bunt durch- einem Viertel revitalisiert, saniert man damit das gesamte Viertel.
mischt. Sie bestimmen die Identität der Bezirke und ihrer Viertel in hohem
Maße. Die Schnecke lebt. Konkret funktioniert das Modell von Semaest nach folgendem Prinzip:
„Semaest“ heißt eine Gesellschaft, die sich inzwischen seit 30 Jahren 1. Die Gesellschaft kauft leer stehende Geschäftsräume auf der Basis des
mit verschiedenen Programmen dem Wohlergehen dieses fragilen Orga- Vorkaufrechts, das ihr von der Stadt übertragen wird.
nismus widmet. Sie ist eine von mehreren Stadtentwicklungsgesellschaf- 2. Sie renoviert die Geschäfte nach den technischen Normen und Anfor-
ten, denn auch an Paris gehen die bekannten Konzentrationsprozesse, derungen des Einzelhandels.
Immobilien- und Kapitalinteressen keinesfalls spurlos vorbei. Halb städ- 3. Die fertigen Räume werden über das Internet angeboten.
tisch, halb privatwirtschaftlich organisiert (Société d’économie mixte – 4. Interessenten bewerben sich um einen Mietvertrag bei Semaest, der
Public-Private Partnership) ist Semaest im Laufe der Zeit zu einem wir- dann für 3/6/9 Jahre gilt – also alle drei Jahre kündbar ist.
kungsvollen Instrument der Stadt bei der Belebung und Wiederbelebung 5. Semaest sucht die Kandidaten nach eingehender Beratung und Prü-
prekärer Viertel geworden. Programmatisch setzt Semaest beim Einzel- fung aus. Der Vertrag beinhaltet eine 3-Monats-Kaution. Darüber hinaus
handel an. sind weder eine Bürgschaft noch eine Abstandszahlung (wie sonst in
Nach ersten Erfolgen mit Sanierungsprogrammen im Osten von Paris Paris üblich) nötig.
hat die Stadt die Gesellschaft mit vielen Eingriffen in beinahe allen Arron-
dissements beauftragt. Unter dem Titel „Vital’Quartier“ wurden – in einer Die Finanzierung des aufwendigen Programms läuft zunächst über den
ersten Welle ab 2004 und einer zweiten ab 2008 – inzwischen gut 650 Pro- Haushalt der Stadt Paris. Sie vergibt an Semaest Kredite, die am Ende
jekte von der Gesellschaft betreut, die den Einzelhandel und das Kleinge- der Laufzeit des Programms zurückgezahlt werden müssen. Für 2004–
Im 10. Pariser Arrondisse- werbe in den Stadtvierteln unterstützen und für die Bewohner „peu à peu“ 2015 (Vital’Quartier 1) waren das 58 Millionen Euro, für 2008–2021 (Vital’
ment, Dezember 2020.
die Einkaufsmöglichkeiten in der Nachbarschaft verbessern. Quartier 2) 34 Millionen Euro und für 2021 (Vital’Quartier 3) sollen es 38
Fotos: Wolfgang Kabisch
Das Ergebnis ist bemerkenswert. Der Leerstand von Ladenflächen ist Millionen Euro werden.
zwischen 2004 und 2017 in den betreuten Gebieten um 25 Prozent, der Semaest erzielt die notwendigen Einnahmen aus Mieten und dem Wei-
Anteil von Großhändlern um 49 Prozent zurückgegangen. Dieser Rück- terverkauf der renovierten Läden an die Mieter oder städtische Tochter-
gang ist angesichts ausufernder Mono-Aktivitäten – beispielsweise im gesellschaften. Mit einer Ausnahme: Im Quartier Latin, dort, wo es bei der
12. Bezirk (Informatik) und im 10./1 1. Bezirk (Textilgroßhandel) – erklärtes Revitalisierung um Buchläden und Galerien geht, sichert sich die Stadt
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Das Leitmotiv von Semaest: Wenn man
fünf Prozent aller Geschäfte in einem In den Ladenlokalen des
Viertel revitalisiert, saniert man damit Semaest-Programms
„Testeur de Commerce“,
das gesamte Viertel hier im Quartier Château
d’Eau, können Händler
ihre Geschäftsidee bis zu
Semaest-Projekte in den vier Monate lang auf
Pariser Arrondissements. Praxistauglichkeit prüfen.
Karte: © Semaest Foto: Wolfgang Kabisch
0 1 2
Kilomètres
zum Ende des Projektes das Eigentum selbst. So wird der Charakter des chen bis zu vier Monaten mieten und unter Realbedingungen ausprobie-
Viertels langfristig erhalten. Das ist zumindest die Absicht. ren, wie man sich zum Beispiel präsentiert.
Neben dem reinen Immobilienangebot unterstützt Semaest seine Mieter Natürlich kommt der Erfolg dieser Pariser Unternehmung nicht von un-
mit einer Reihe von Fortbildungsmaßnahmen, Untersuchungen zur Ren- gefähr. Es ist das funktionierende Zusammenspiel zwischen den über
tabilität, Erleichterungen bei einer Kreditaufnahme etc. bis hin zu dem Pro- 60 Angestellten von Semaest und den einzelnen Dezernatsmitarbeitern der
gramm CoSto (Connected Stores), mit dem Semaest eine digitale Platt- Stadt sowie deren politisch Verantwortlichen, woraus das notwendige Po- Im Straßenbild geben sich
die von Semaest verwalte-
form zur Verfügung stellt, über die bereits 1400 Geschäfte miteinander tenzial entsteht. Ein positives Beispiel für Public-Private Partnership.
ten Ladenlokale durch ihre
vernetzt sind. Neue Ideen für den Einzelhandel von morgen sollen schließ- Dazu kommt ein politischer Wille, der bis auf die Zeit von Bertrand Dela- in satten, kräftigen Farben
lich nicht am Laden an der Ecke vorbeigehen. noë zurückgeht, der Anfang der 2000er Jahre Bürgermeister von Paris einheitlich gestrichenen
Fronten zu erkennen, hier
Wer sich nach dem Studium des differenzierten Angebots immer noch war. Dessen damalige Dezernentin für Stadtentwicklung hieß Anne Hidalgo
ein Buchhändler im 5. und
nicht sicher ist, ob er dem Ganzen trauen kann oder ob seine eigene Ge- – und die ist die gerade in ihrem Amt bestätigte derzeitige Bürgermeiste- ein Chocolatier im 17. Arron-
schäftsidee tragfähig ist, auch für den hat Semaest einen Vorschlag: Wa- rin. Paris lebenswerter zu machen und den Anschluss an die Zukunft wie- dissement.
rum nicht einen Laden zur Probe mieten, bevor man sich in das Abenteu- derherzustellen, das ist ihr häufig angefeindetes Programm. Man kann Fotos: © Semaest/Matthieu
Gauchet (links)/Amal Busi-
er eines langfristigen Mietvertrages stürzt? „Testeur“ heißt das Programm. Semaest durchaus als eine Frucht dieser Delanoë/Hidalgo-Politik bezeich- arzist (rechts)
Es besteht aus jeweils einem Ladengeschäft, dem „Testeur de Commerce“ nen, die man nun – weit über die Stadtgrenzen hinaus – anfängt wahrzu-
im 10. und 11. Bezirk von Paris. Den kann man für eine Dauer von vier Wo- nehmen.
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La Station La Tonkinoise
Lebensmittel ohne Abfall Schmuckherstellung und -verkauf
69, rue de Maubeuge, 75010 Paris 80, rue Jean-Pierre Timbaud, 75011 Paris
Amélie Meppiel Bei der Suche nach einem Standort stieß ich im Vorteil. Darüber hinaus bieten sie einen Bera-
Internet auf die Website von Semaest. Die sind tungsservice an. Insgesamt ergibt das nicht nur
„Die Idee, einen Laden aufzumachen, entstand gut referenziert. Ich habe gesehen, was sie anbie- einen sehr fairen Preis, sondern schafft ein Ver-
zu der Zeit, als ich mich näher mit Ökologie und ten, und dann mein Projekt mit ihnen bespro- trauensverhältnis, das den Absprung in ein
der Vermeidung von Abfall beschäftigt habe. chen. Kurze Zeit später meldeten sie sich bei mir neues Leben erleichtert. Wie gut das funktio-
Nach der Handelsschule hatte ich fünf Jahre lang zurück und fragten, ob ich an einem bestimm- niert, kann ich in diesen Viruszeiten mit zwei
für ein großes Unternehmen im Bereich Marke- ten Laden interessiert wäre. Der war an einer Stel- Lockdowns noch nicht sagen.“
ting gearbeitet. Doch da war mir die Arbeit am le, die ich bereits auf ihrer Website gesehen hat-
Ende nicht konkret genug. Bei vielen Themen, te und die eine meine Favoriten war.
die mir wichtig waren, konnte ich dort nichts be- Semaest funktionieren so, dass sie ihre Vor-
wegen. Und weil ich noch jung bin, habe ich mir schläge sehr spezifisch in Bezug auf die Art der
das unternehmerische Wagnis zugetraut, mit Projekte der Bewerber machen. Zum Beispiel
einem neuen Verkaufsmodell konkret Einfluss bieten sie das 19. Arrondissement eher für Kunst-
auf unseren Alltag zu nehmen. handwerk an. Hier im 10. Bezirk wollen sie Le-
In Paris gab es keine Geschäfte für den tägli- bensmittelgeschäfte und im 5. zum Beispiel ei-
chen Bedarf, in denen man verpackungsfrei oder nen Buchladen. Sie versuchen, ein Gleichge-
besonders umweltfreundlich einkaufen kann. wicht zwischen ihren Vorstellungen, was gut für
Also lag die Idee nahe, es mit einem Geschäft in welchen Stadtteil wäre, und den Wünschen der
irgendeinem Pariser Stadtteil zu versuchen. Bewerber zu finden.
Und dort den potentiellen Kunden Lebensmittel Bei der Miete liegt Semaest unter den Preisen
direkt als Schüttgut anzubieten. Gute nachhal- des privaten Immobilienmarkts. Außerdem muss
tige Produkte mit Null-Abfall also. man keinen Abstand zahlen! Das ist ein großer
Fotos: © Semaest/Matthieu
Gauchet (links); Wolfgang
Kabisch (rechts)
Fotos: © Semaest/Matthieu
Gauchet
Chantal Manoukian
„Meine Schmuckmarke La Tonkinoise gibt es eigene, seriöse Immobilienangebote machen, die lichkeiten gut genutzt werden und ein Gewinn
jetzt gut zehn Jahre. Die ersten fünf Jahre habe Stadtteile gut kennen und das kommerzielle für das Viertel sein können.
ich meine Arbeiten auf Pariser Märkten verkauft, Leben in den Vierteln beleben wollen. Deshalb Es ist jetzt sechs Jahre her, dass ich die Räum-
auf denen Mode und Design angeboten wird. vermieten sie günstig und haben keine Abstands- lichkeiten übernommen habe, und die Gegend
Parallel war ich mit meinem Schmuck auch auf klauseln. Woanders in Paris muss man oft 30 hat sich inzwischen sehr zum Guten verändert.
den internationalen Pariser Großhandelsmes- oder 50 Tausend Euro investieren. Mit Corona ist es jetzt natürlich ruhiger gewor-
sen Première Classe und Bijorhca. So habe ich mir Dieser Laden hier erlaubt mir nun beides: an den. Aber Semaest hat mir bei dem ersten Lock-
einen Stamm von Kunden aufgebaut, denen ich Einzelpersonen zu verkaufen und zur Zeit der down einen dreimonatigen Mietverzicht gewährt.
irgendwann gerne eine feste Adresse anbieten Pariser Modewochen einen Showroom zu betrei- Das ist eine große Hilfe. Viele Händler hier ha-
wollte, unter der sie mich das ganze Jahr über ben, ohne irgendwo extra einen teuren Stand ben keinen Mietverzicht.“
finden können. mieten zu müssen. Außerdem habe ich jetzt hier
Um geeignete Geschäftsräume zu finden, auch Platz, meinen Schmuck herzustellen.
habe ich angefangen, über Zeitungsanzeigen zu Bei den Bewerbungsbedingungen stellt Se-
suchen und auch gut 20 Angebote besichtigt. maest hohe Anforderungen an Finanzierungs-
Das war erfolglos. Dann bin ich bei den soge- plan, zu erwartende Umsätze, Konzept etc. Man
nannten Ateliers von Paris, wo die Stadt jungen muss eine umfangreiche Akte vorlegen, um
Designern praktische Anregungen durch Ge- zu belegen, dass das Projekt Chancen hat. Das
spräche mit Unternehmern, Anwälten oder Steu- zwingt einen, sich alles noch einmal genau zu
erberatern gibt und die mit Semaest verbun- überlegen.
den sind, auf dieses Angebot der Stadt Paris ge- Semaest prüft die Anträge sehr genau, weil
stoßen. Semaest hat mich interessiert, weil sie es auch in ihrem Interesse liegt, dass die Räum-
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