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Fiel die Mauer sang- und klanglos? | norient.com   23 Nov 2021 20:15:22

    Fiel die Mauer sang- und
    klanglos?
    by Theresa Beyer

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Fiel die Mauer sang- und klanglos? | norient.com                         23 Nov 2021 20:15:22

    Im kollektiven Gedächtnis ist «Wind of Change» der
    Soundtrack zum Mauerfall. Nach einer ostdeutschen Hymne
    sucht man aber vergebens – in der turbulenten Zeit wollte
    kein Lied so recht passen, das gesprochene Wort hatte die
    Macht. Welche Lieder haben den Untergang der DDR
    begleitet? Eine Spurensuche in den letzten Monaten vor dem
    9. November 1989.

    Sehen wir die Bilder vom Berliner Mauerfall 1989, haben wir sofort ein Lied
    dazu im Kopf: «Wind of Change» von den Scorpions. Der vermeintliche
    Soundtrack ist aber ein mehrfacher Anachronismus. Das Lied wurde zwar im
    Sommer 1989 geschrieben, kam 1990 auf Platte heraus und wurde erst 1991
    zum Welthit. Auch ein anderes Lied beansprucht für sich, die Mauerfall-
    Hymne zu sein:

    David Hasselhoff steht auf der Berliner Mauer in einer blinkenden Lederjacke
    und alle jubeln im zu. Perfektes Setting – aber leider zu spät. Die Party war
    nicht der Mauerfalltag am 9. November sondern die Silvesternacht fast zwei
    Monate danach.

    «Wind of Change» und «Looking for Freedom» legen sich wie ein Soundtrack
    über den Film der Erinnerung. Als die Mauer fiel kannte sie noch niemand.
    Und: beide Lieder kommen aus dem Westen und deuten die Geschichte aus
    ihrer Sicht. Wo sind die Lieder hin, welche die Menschen in der DDR durch die
    turbulente Wendezeit begleitet haben?

    Die Stimmung im langsam untergehenden Staat beschreibt der rockig-wilde
    Song «S.O.S.» von Silly, ein Hilferuf vom Narrenschiff DDR, erschienen im
    Februar 1989. Die Bürgerinnen und Bürger fühlen sich von der politischen
    Führung missverstanden und fremdbestimmt:

    Immer noch schwimmt da vorn der Eisberg
    Nur die Spitze ist zu sehn
    Immer noch träumen wir von Heimkehr
    Und vertraun dem Kapitän.
    Ein ähnliches Gefühl der Passivität beschreibt Gerhard Schöne in «Das weisse
    Band»:

    Vielleicht sind wir mitschuldig
    Sind zu lasch, zu geduldig
    Leben nicht überzeugend

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    Fremden Willen uns beugend
    Statt uns wild aufzubäumen.

    Melancholisch tönt auch «Als ich fortging» von Karussel: aufs erste Ohr ein
    Liebeslied. Aber zwischen den Zeilen geht es um die Massenflucht aus der
    DDR. Vor dem Mauerfall verlassen 200.000 Menschen das Land - über die
    Prager Botschaft oder über Ungarn.

    Video not available anymore

    Das Lied für alle fehlt
    Zu einem «gemeinsamen Lied» werden diese Lieder aber nicht: Ab dem
    Moment, wo die DDR-Bürgerinnen und Bürger ihre Stimme erheben – zum
    Beispiel mit den Montagsdemonstrationen – verlieren auch die Texte der
    Lieder langsam an Gültigkeit. Auf den Demos wären sie aber nicht nur
    thematisch fehl am Platz gewesen. Anders als bei der klingenden Revolution
    im Baltikum oder den derzeitigen Protesten in Hong Kong (siehe Norient-
    Artikel Protest Music in Hong Kong) stand niemandem der Sinn nach einem
    Lied – zu brenzlig war die Situation. Am Anfang reagierte der Staat mit
    Gewalt und Verhaftungen – Armee und Betriebskampfgruppen standen an
    jeder Ecke.

    «Es gab gar kein Lied, mit dem sich jeder hätte identifizieren können»,
    vermutet die Schauspielerin Claudia Wenzel, die bei den Leipziger Demos
    dabei war: «Unter den Demonstranten waren ganz verschiedene Leute,
    Arbeiter, Künstler, Lehrer, Studenten und alle hatten ganz unterschiedliche
    Liedgüter.» Und hinzu kommt: das Singen in der Masse war in der DDR
    belegt. Da waren die Pionierlieder, oder am 1. Mai mussten die DDR-Bürger
    Arbeiterlieder singen – mit dieser DDR wollten die Demonstranten nichts
    mehr zu tun haben (siehe auch Norient-Artikel: Der Staat singt mit - Das Lied
    in der DRR).

    Als Sound der Massenproteste schreiben sich vor allem die rhythmischen
    Sprechchöre in die Geschichte ein: «Wir bleiben hier», «Gorbi Gorbi»,
    «Schliesst euch an» oder das bekannte «Wir sind das Volk». Wenzel findet,
    dass auch das irgendwie Musik war.

    Konzerte werden zum Politikum

    Mehr als konkrete Lieder sind es die Konzerte, die den Nerv der
    Endzeitstimmung in der DDR treffen. Kritische DDR-Rockmusikerinnen und
    Liedermacher schliessen sich zusammen – «Hierbleiber für Hierbleiber»
    heisst einer der frenetisch bejubelten Abende. Die Konzerte wurden zum
    Podium, um die Ereignisse in den Wochen vor dem Mauerfall zu verdauen und
    dem Ärger Luft zu machen.

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    Dabei fordert das Publikum die politische Stellungnahme der Musiker ein.
    Dem werden sie mit gesprochenen Kommentaren und einer Resolution
    gerecht, die sie jeweils vor ihren Konzerten verlesen. Darin heisst es:

    Wir wollen in diesem Land leben, und es macht uns krank,
    tatenlos mit ansehen zu müssen, wie Versuche einer
    Demokratisierung, Versuche der gesellschaftlichen Analyse
    kriminalisiert beziehungsweise ignoriert werden.

    Ähnlich scharf tönt es in den Kundgebungen fünf Tage vor dem Mauerfall auf
    dem Alexanderplatz in Berlin. Vor einer halben Million Menschen singen die
    Liedermacher Kurt Demmler, Jürgen Eger, Gerhard Schöne und
    Wenzel/Mensching. Aber auch hier ist das gesprochene Wort die primäre
    Ausdrucksform, nicht die Musik. Und die Masse singt nicht mit, sondern hört
    gebannt zu.

    In der Nacht auf den 9. November fällt die Mauer. Gegen 19.00 verkündet der
    SED-Politiker Günter Schabowski, dass die Grenze offen ist. Ganze
    Karawanen pilgern nach Westberlin. «Wir sind mit unserem himmelblauen
    Trabant losgefahren und standen erst einmal zwei Stunden im Stau», erzählt
    Klaus Koch, Chef des Berliner Musikverlags Buschfunk. Lange Autoketten,
    Stau, Gehupe, Gejole – jedes Lied wäre bei diesem Lärm untergegangen. In
    Westberlin angekommen wurde Bier spendiert, gefeiert, und gemeinsam
    sangen Ost und West Gassenhauer wie «Griechischer Wein» oder «So ein
    Tag, so wunderschön wie heute.» – «Das waren meistens Lieder aus
    Westdeutschland, denn nur die kannten auch wirklich beiden Seiten», erzählt
    Koch.

    Alte Lieder mit neuer Bedeutung

    Mit der Nacht auf den 10. November verbindet er aber kein konkretes Lied:
    «Es war für mich nicht die Zeit der Lieder, ich hatte ganz andere Dinge im
    Kopf. Ich war in einer Art Schockstarre, weil ich null Ahnung hatte, wie mein
    Leben weiter verlaufen wird.» Ungefähr so müssen sich viele DDR-Musiker
    gefühlt haben. Es dauert, bis sie den grossen Umbruch in eigenen Liedern
    verarbeiten. Der Liedermacher Gerhard Schöne zum Beispiel nahm sich erst
    mal eine lange Kreativpause – zu verwirrt war er von den
    gesellschaftspolitischen Umwälzungen in der Wendezeit.

    Zwar entstanden im Taumel um den 9. November wenig neue Lieder, aber
    alte veränderten ihre Bedeutung: Plötzlich passten sie zum Zeitgeist. Zum
    Beispiel «Irrenhaus» von Keimzeit. Im beginnenden Einigungsprozess wird
    das Lied zur Forderung:

    Irre ins Irrenhaus
    Die Schlauen ins Parlament

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    Selber Schuld daran
    Wer die Zeichen der Zeit nicht erkennt
    ... singt der Sänger Norbert Leisegang mit seiner typischen näselnden
    Stimme. Er erzählt: «Dieser Song war in Deutschland zur richtigen Zeit am
    richtigen Ort. Aber als ich ihn 1986 schrieb, habe ich einfach nach phonetisch
    passenden Wörtern gesucht, ohne gross über den Inhalt nachzudenken.»

    Verwertung durch die Musikindustrie

    Zur ostdeutschen Wende-Hymne wurde aber auch «Irrenhaus» nicht. Auch
    hier wieder das Problem: Zu diffus waren die Vorstellungen, wohin es mit der
    DDR gehen soll, zu schnell überschlugen sich die Ereignisse. Kein Lied konnte
    da Schritt halten, und so hinterlässt ausgerechnet die emotionale Wendezeit
    eine Lied-Lücke.

    «Vielleicht ist das der Raum, den die Scorpions mit ‹Wind of Change› für sich
    besetzen konnten», sinniert Klaus Koch. «Das zeigt für mich auch, wie die
    Verwertungsbedürfnisse der Musikindustrie sofort nach der Wende Einzug
    hielten», sagt er. Und wundert sich, dass es zwar das Wort «sprachlos» gibt,
    nicht aber das Wort «lieblos».

    Ein weiteres Lied aus der DDR, welche die Stimmung der Zeit um den
    Mauerfall trifft:

    Dieser Artikel ist zuerst erschienen bei SRF 2 Kultur Online.

    → Published on November 10, 2014

    → Last updated on July 20, 2020

    Theresa Beyer gehört seit 2011 als Editorin, Kuratorin und Mitherausgeberin des
    Buches «Seismographic Sounds – Visions of a New World» zum Kernteam von
    Norient und beschäftigt sich mit Themen wie Queeren Musikkulturen,
    experimenteller Musik in Städten wie Belgrad oder Neu Delhi, und reflektiert in
    Vorträgen über die Chancen des multilokalen Kuratierens. Neben ihrer Norient-
    Identität ist sie Musikredaktorin bei Radio SRF 2 Kultur.

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