Pipa-Spielen in der Schweiz

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Pipa-Spielen in der Schweiz
Pipa-Spielen in der Schweiz | norient.com                                17 Nov 2021 11:23:58

    Pipa-Spielen in der Schweiz
    P O D C A S T by Thomas Burkhalter

    Yang Jing ist mit ihrer Laute Pipa in der ganzen Welt
    aufgetreten. Heute lebt sie in Aarburg. Im Gespräch redet sie
    über die Unterschiede zwischen einem Leben als Musikerin in
    der Schweiz und in China.

    Hintergründe zum Podcast

    Schon mit dreizehn Jahren spielte Yang Jing im Orchester der Henan Oper,
    studierte am Konservatorium in Schanghai Pipa und Komposition und
    avancierte 1986 zur Solistin im chinesischen Nationalorchester, dem sie zwölf
    Jahre treu blieb.

    Ihre Konzerttourneen führten sie unter anderen in die Carnegie Hall in New
    York, die Suntory Hall in Tokyo, den Goldenen Saal des Musikvereins Wien
    und die Barbican Hall in London. Die Pipakonzerte, die sie mit Orchestern wie
    dem Tokyo Metropolitan Symphonie Orchester unter Naoto Ohtomo (CD:
    Minoru Miki: Pipa Concerto. Camerata Tokyo 2004), dem Yomiuri Nippon
    Symphonie Orchester unter Kurt Masur, dem BBC Symphonie Orchester von
    Wales unter Grant Llewellyn, der Honolulu Symphonie unter Alastair Willis,
    dem Boston Newton Symphonie Orchester unter Jeffrey Rink, der China
    Philharmonie unter Yang Yang oder dem Zürcher Kammerorchester unter
    Martin Lukas aufführte, wurden von Komponisten wie Minoru Miki, Julian
    Philips oder Mo Fan speziell für sie geschrieben.

    Ihre Offenheit erlaubt ihr, mit verschiedensten Ensembles zu spielen: Sie
    gründete 1996 «Qing Mei Jing Yue», das erste chinesische Konzert-Quartett
    mit weiblichen Solistinnen, spärer kamen andere Formationen dazu: seit 2002
    ist sie die musikalische Leiterin des «Asia Ensemble» in Tokyo und tritt
    regelmässig mit dem «Yui Ensemble» auf. Seit vielen Jahren kreiert sie mit
    dem Schweizer Perkussionisten Pierre Favre, mit dem sie die CDs Moments
    und Two in One (Intakt CD 114, 2006) produzierte, immer wieder neue
    Klangwelten. Die Verbindung der chinesischen mit den kreativen wie den
    traditionellen Formen der westlichen Musik übt einen besonderen Reiz auf sie
    aus.

    Im September 2006 demonstrierte sie in Seminaren und Workshops an der
    Musikhochschule Zürich, wie nah die klassische chinesische Musik der
    kontemporären westlichen ist. Den Abschlussbeweis lieferte das
    Schlusskonzert der Studienwoche in der Tonhalle Zürich, wo sie mit dem
    Collegium Novum die Komposition des Wahlgenfers Wen Deqing «Spring,
    River and Flowers on a Moonlit Night» zur Premiere brachte.

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    Ihr grosses Verdienst aber ist es, der Pipa den gebührenden Platz unter den
    Soloinstrumenten wiederzugeben, den dieses Instrument schon vor tausend
    Jahren in China hatte.

    Yang Jings Musik wurzelt, wie die Pipa selbst, in den chromatischen
    Harmonien der Tang Dynastie vor über tausend Jahren. Das Studium der
    ältesten Manuskripte aus dieser Blütezeit der chinesischen Kultur schufen in
    ihr ein Musikverständnis für die Gegenwart, mit deren neueren Harmonien sie
    sich in ihren Kompositionen ständig auseinandersetzt. So schafft sie
    musikalische Ausdrucksformen, die die Grenzen der klassischen Musik in
    jedem Sinne überschreiten. Dass diesen Errungenschaften ihre musikalische
    wie technische Virtuosität zugrunde liegt, bezeugen Kritiker und Publikum
    gleichermassen.

    Im Gespräch mit Thomas Burkhalter erzählt Yang Jing von ihren Erfahrungen
    als Musikerin in der Schweiz.

    Auszüge aus dem Gespräch

              «Bei chinesischer Musik denken die Leute meistens:
              Pentatonik – Fünftonreihen. Bei meinen Recherchen zu
              alter chinesischer Musik habe ich eine ganz andere
              chinesische Musik gefunden. Zum Beispiel Pipa-Musik, die
              vor mehr als 1000 Jahren geschrieben worden ist. Da
              findest Du die ungewöhnlichsten Skalen. Genau mit denen
              experimentiere ich heute. Die Skalen in meinem Stück
              ‹Disclosure› zum Beispiel. Sie sind ähnlich wie die der

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              zeitgenössischen europäischen Musik – nur sind sie viel
              älter. An den Hochschulen in China wurde ich immer
              kritisiert: ‹Du bist so konservativ. Du solltest weltoffen
              sein! Warum interessierst Du Dich für diese uralte
              chinesische Musik?› Als modern galt bei meinen Lehrern
              zum Beispiel John Cages Komposition ‹4’33› – dieses
              Stück besteht nur aus Stille. Der chinesische Philosoph
              Lao-Tse aber redete schon im 6. Jahrhundert von der
              Stille! Was ist der grösste Klang, fragte er. Die Stille.»

              «Diese Flut von Informationen, der ich in der Schweiz
              ausgesetzt bin, ist wunderbar, aber auch gefährlich. Du
              kannst Dich sehr schnell verlieren darin. Damals in China,
              da habe ich ständig nach Informationen gesucht – weil sie
              nicht erhältlich war. Hier habe ich 200 Fernsehkanäle und
              keine Zeit, sie alle anzuschauen. Man kann seine Zeit
              vergeuden, mit diesem Konsum. Wir müssen uns
              entscheiden: Was brauchen wir wirklich? Wir haben alle
              Freiheiten – alles ist erhältlich. Was aber stellen wir mit
              dieser Freiheit an? Die Mentalitäten in China und der
              Schweiz sind extrem anders: In China arbeiten die
              Menschen hart. Der Wettbewerb ist riesig, und die Leute
              verbrauchen all ihre Energie. Meine Schweizer Studenten
              und viele Kollegen hingegen sind oft so entspannt. Sie
              könnten alles erreichen, wenn sie nur möchten. Alle Türen
              stehen ihnen offen. Viele nutzen ihre Chancen aber nicht.
              Was machen wir aus unserem Leben? Wir müssen uns
              entscheiden. Wenn Du nur etwas besonders gut machst,
              dann ist das schon viel. Denn es gibt ja so viele Menschen
              auf unserem Planeten.»

              «Das Gemeinsame eines Lebens als Musikerin der
              Schweiz und in China ist: Musiker haben es nirgendwo
              einfach auf die Welt. Immer und überall müssen wir uns
              motivieren, stark zu sein und den eingeschlagenen Weg
              weiterzugehen. Es gibt aber auch Unterschiede: Ich finde
              hier in der Schweiz die Zeit, mich selber zu hören. Ich bin
              der Natur so nahe – hier in meinem Haus am Waldrand. Im
              alten China galt das als höchstes Ziel überhaupt: In
              Einklang zu leben mit der Natur. Heute aber findest Du in
              China mehr Menschen als Bäume! In der Schweiz kann ich

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               jetzt also nach östlichen Idealvorstellungen leben. Das ist
               ein Geschenk. Ich finde die nötige Ruhe und Distanz zu
               meinem Schaffen. Ich kann nachdenken: Was tue ich
               eigentlich? Und was ist wirklich wichtig?»

               «Die Schweizer interessieren sich immer mehr für die
               chinesische Musik und Kultur. Trotz gewisser
               Schwierigkeiten habe ich hier also auch Vorteile. Etwas
               irritiert mich aber hier. Die Schweizer wollen keine Stars.
               In China hatte ich einen guten Agenten, ich wurde gut
               bezahlt für Konzerte. Hinter der Bühne gab es jeweils
               saubere Handtücher, Blumen und Tee. Hier in der Schweiz
               gibt es oft nicht einmal einen Backstage-Bereich. Für
               mich hängt das aber alles zusammen: Die Ruhe hinter der
               Bühne, Tee, und die Musik. Die Schweizer sehen das
               irgendwie anders. Mein Agent in China sagt jeweils: ‹Sag
               den Leuten nie, dass Du aus einer armen Familie
               stammst. Das Publikum will zu Dir hochschauen. Du musst
               Dich gut kleiden.› Das hat mich damals etwas müde
               gemacht. Hier in der Schweiz fällt das weg – das ist nun
               wieder positiv. Und das ändert sich jetzt auch in China.
               Die Zeiten ändern sich: Im Westen und im Osten.»

    Dieses Gespräch fand im Rahmen des Norient Projektes Sonic Traces: From
    Switzerland statt. Am Fr. 25.2 erschienen Auszüge aus diesem Gespräch in der
    Radio-Reportage «Die Schweiz, mal anders. 5 Portraits» auf Schweizer Radio
    DRS2.

    → Published on February 25, 2011

    → Last updated on October 07, 2020

    Thomas Burkhalter is an anthropologist/ethnomusicologist (PhD), AV-artist, and
    writer from Bern (Switzerland). He is the founder and director of Norient, the Norient
    Space (Norient.com), and the founder and strategic director of the Norient Film
    Festival (NFF). He co-directed documentary films (e.g. “Contradict”, Berner
    Filmpreis 2020 + Al-Jazeera Witness) and AV/theatre/dance performances, is the
    author and co-editor of several books, teaches regularly at universities, and runs
    workshops for arts institutions. His experimental radio feature, «Gqom Edits – A
    Durban Visit», was nominated for Prix Europa in 2017. Currently, he is working on a
    new music project, and on the experimental podcast series’ Timezones and South
    Asian Sound Stories with musicians from the UK, Bangladesh, India, and Pakistan.

    → Topics
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