Franz Schubert Die Musikserie von Christine Lemke-Matwey
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Sonntag, 01. August 2021 15.03 – 17.00 Uhr Franz Schubert Die Musikserie von Christine Lemke-Matwey Gelegenheit macht Lieder: Schuberts Texte (5/21) Und heute: ein Beginn ohne Worte ... 1 ECM Franz Schubert 3’57 LC: 02516 „Der Leiermann“ aus: „Winterreise“ D 911 481 7172 (Müller) Track 5 Anja Lechner, Violoncello Pablo Márquez, Gitarre (2018) Die Cellistin Anja Lechner und der Gitarrist Pablo Márquez mit ihrer Version des „Leier- manns“ aus Schuberts „Winterreise“. Und damit herzlich willkommen zur fünften Folge unserer Sendereihe – einer Folge, in der ich mich noch einmal mit Schubert und seinen Text- dichtern beschäftigen möchte. Letzten Sonntag Goethe, heute die anderen, wenn Sie so wol- len, Hölty, Hüttenbrenner, Schober, Mayrhofer, Senn, Collin, Müller, Rellstab, Seidl und wie sie alle heißen, Rückert, Platen und Heine nicht zu vergessen. Wie findet Schubert seine Lyriker, was reizt ihn dichterisch, was sind seine Kriterien? Und was macht er aus ihren Gedichten? „Gelegenheit macht Lieder – Schuberts Texte“. 2 ONYX Franz Schubert 3‘53 LC: 19017 „Der Leiermann“ aus: „Winterreise“ D 911 (Müller) 4010 Christine Schäfer, Sopran Track 24 Eric Schneider, Klavier (2006) „Der Leiermann“, diesmal mit Wilhelm Müllers Worten, gesungen von der Sopranistin Chris- tine Schäfer, Eric Schneider begleitete sie am Klavier. Schäfer stellt ihrer Aufnahme ein Gedicht von Thomas Brasch voran, und als ich das gelesen habe, habe ich mich sofort gefragt: Hätte Schubert das vertont? Hätte Schubert sich darin erkannt, und zwar so, dass Raum für Musik gewesen wäre, für eine Vertonung? Vom „Bleiben, wo ich nie gewesen bin“ ist da die Rede, vom Fremdsein und Welteinsamkeit. Die innere Rastlosigkeit, das Wandern, ohne jemals anzukommen, Erfolgsdruck, Gedanken an Liebe und Tod, das sind die großen Schu- bert-Themen – und das sind auch die großen Themen unserer Zeit. Woher nimmt Schubert sie, woraus schöpft er sie? Aus dem Grund seiner Künstlerseele; aus einer gewissen Bildung auch, zuhause, in der Kirche und im Wiener Stadtkonvikt; vor allem aber schöpft er seine Themen aus dem Umgang mit seinen Künstlerfreunden, und das ist für seine Textwahl von
Franz Schubert – 5. Folge Seite 2 von 8 enormer Bedeutung. Schubert war kein großer Leser. In seinem Nachlass finden sich keine Bücher; was konnte er auch mitnehmen in sein Sterbezimmer, ins kleine „Gassenkabinett“ beim Bruder Ferdinand? Eine Bibliothek gab es nach seinem Tod jedenfalls nicht zu entsor- gen. Der junge Schubert hat gelesen, die Klassiker der Antike, Lessing, Klopstock, Herder, Goethe. Der ältere, so scheint es, setzt mehr aufs klingende Wort, auf das, was im Freundes- kreis vorgetragen oder dargestellt wird. Oder auf das, was sie gemeinsam in Almanachen und auf Kalenderblättern finden. Schuberts Literaturbegriff ist ein zeitgenössischer, durch- lässiger, flüchtiger. Nicht goldbekränzte Folianten interessieren ihn, sondern die frische Pro- duktion, das Dichten für die Jetztzeit. So gesehen ist Friedrich Schiller für ihn eine Figur des Übergangs. Halb ragt er noch in Schu- berts Lebenszeit hinein, halb ist er der „Klassiker“ im Schatten Goethes, gerade als Lyriker und Balladendichter. 1815, da hat Schubert Goethe bereits für sich entdeckt, komponiert er eine große Schiller-Ballade, die zweite nach dem „Taucher“ – und wer von Ihnen in der Schule noch auswendig lernen musste, ahnt, was jetzt kommt: richtig, „Zu Dionys, dem Tyrannen schlich ...“ – „Die Bürgschaft“. 20 Strophen, eine dramatische Geschichte von Freundschaft und Treue. Gute Unterhaltung mit Johannes Martin Kränzle und Hilko Dumno. Und mit Franz Schubert natürlich. 3 Challenge Franz Schubert 17‘13 LC: 81999 „Die Bürgschaft“ D 246 (Schiller) 72600 Johannes Martin Kränzle, Bariton Track 7 Hilko Dumno, Klavier (2014) Viel Text, wenig Musik? „Die Bürgschaft“, Text Friedrich Schiller, Musik Franz Schubert. Die Interpreten waren Johannes Martin Kränzle und Hilko Dumno. Wer genau hinhört, hört hier natürlich viel Musik: den packenden Einstieg in g-Moll, viel Rezitativisches, wenn geredet und verhandelt wird, Hochzeitsklänge, Naturschilderungen, Tonmalereien, die Rettung des Freundes in keuchenden Rhythmen und die majestätischen Akkorde des Königs bis hin zu dessen geflügelten Worten „Ich sei, gewährt mir die Bitte, in eurem Bunde der Dritte.“ Die dichterische Handlung aber steht hier eindeutig im Vorder- grund, es geht darum, sie musikalisch möglichst anschaulich wiederzugeben, zu erzählen, und diese Erzählung liefert der junge Schubert. Wie sehr er dabei ums Lied ringt, wie früh er mit der Form als Form experimentiert, das zeigt, zeitgleich, seine Beschäftigung mit dem deutschen Dichter und Theologen Gotthard Ludwig Kosegarten. Kosegarten wurde durch seine „Uferpredigten“ auf Rügen bekannt – ein Pfarrer, der zu den Fischern ging, wenn die nicht in die Kirche kommen konnten, weil sie arbeiten mussten. 1815, von Juni bis Oktober, vertont Schubert 20 Gedichte von Kosegarten, und Musikwissenschaftler halten es für möglich, dass diese 20 Lieder Schuberts ersten Zyklus darstellen. Acht Jahre vor der „Schönen Müllerin“ wohlgemerkt! Die These gründet sich darauf, dass die Kosegarten-Lieder in einer durchnummerierten Abschrift vorliegen, von 1 bis 20. Die Abschrift stammt zwar nicht von Schubert, aber sie legt den zyklischen Gedanken insofern nahe, als es sich hier um ein so genanntes Liederspiel handeln könnte. Das heißt: © rbbkultur vom Rundfunk Berlin-Brandenburg (rbb) www.rbbKultur.de
Franz Schubert – 5. Folge Seite 3 von 8 Man singt und spielt mit verteilten Rollen und erzählt eine quasi dramatische Geschichte. In Schuberts Fall: die des jungen Abenteurers Wilhelm und seiner Liebschaften Elwina, Ida, Luisa und Rosa. Dietrich Fischer-Dieskau und Gerald Moore mit vier Liedern. 4 DG Franz Schubert 7‘36 LC: 00173 Kosegarten-Zyklus (1815): 477 8994 „Das Finden“, „Der Abend“, „Die Erscheinung“, „Die Täu- CD 4, Tracks schung“ D 219, 221, 229, 230 6, 12, 10, 11 Dietrich Fischer-Dieskau, Bariton Gerald Moore, Klavier (1970) Vier Lieder aus Schuberts frühem Kosegarten-Zyklus: „Das Finden“, „Der Abend“, „Die Erscheinung“ und „Die Täuschung“. Es sang Dietrich Fischer-Dieskau, es spielte Gerald Moore. Natürlich ist das noch eine sehr junge, „naive“ und illustrierende Musik, auch die Texte bie- ten keine große, tiefschürfende Dichtung – und das beides erklärt, warum die Kosegarten- Lieder so gut wie niemand kennt. Als Scharnier in Schuberts Liedschaffen aber sind sie wich- tig: weil sie zeigen, wie konzeptionell Schubert vorgeht. Von der Schiller-Ballade zum Lieder- zyklus ist es im Grunde nur ein kleiner Schritt; klein und logisch. Schuberts Plan ist es zunächst, das behauptet zumindest sein Freund und Mentor Joseph von Spaun, Liedersammlungen nach Dichtern herauszugeben. Zu diesen gehört Ludwig Hölty, ein Literat des Sturm und Drang, von dem Schubert über 30 Gedichte vertont. Und, hören Sie selbst, plötzlich ist der Ton ein anderer, plötzlich klingt Schubert wie – Schubert. 5 ARCHIV Franz Schubert 3‘03 „An den Mond“ D 193 (Hölty) CHR Ilker Arcayürek, Tenor LC: 24055 Simon Lepper, Klavier 133 (2017) Track 20 Der junge türkisch-österreichische Tenor Ilker Arcayürek mit einem Hölty-Lied von Franz Schubert, Simon Lepper war der Pianist. Schubert komponiert Hölty, und findet ab 1815 zu einem spezifischen Ton. „Der Verlassene an den Mond“, so könnte dieses Lied auch heißen, ein typisches Schubert-Setting, die Natur als Trösterin und Spiegel der Seele. Höltys Lyrik ist zweifellos weniger einfältig als die von Kosegarten, und das inspiriert Schubert: zu mehr Gestaltung, zu mehr musikalischem Wage- mut. Den Plan, Lieder nach Dichtern in Gruppen zu fassen und zu veröffentlichen, lässt Schubert bald fallen. Dafür gibt es zwei Gründe. Erstens: Bei weitem nicht alles, was er komponiert, findet auch den Weg in die Öffentlichkeit. Darüber wachen seine Künstlerfreunde, und ihre © rbbkultur vom Rundfunk Berlin-Brandenburg (rbb) www.rbbKultur.de
Franz Schubert – 5. Folge Seite 4 von 8 Kriterien sind streng. Kriterien, denen Schubert sich fügt. Von den Hölty-Liedern etwa ist es nur ein einziges, das zu seinen Lebzeiten veröffentlicht wird, von den Ossian-Liedern keins, von den 40 Matthison-Vertonungen nur drei und so weiter und so fort. Am besten schneiden Wilhelm Müller, Goethe, Johann Mayrhofer und Friedrich Schiller ab, und zwar in dieser Reihenfolge. Außerdem – und das ist der zweite Grund, warum es kaum Liedersammlungen nach einzelnen Dichtern gibt – entdeckt Schubert, dass ihm das Denken in inhaltlichen Bezügen und Themen viel besser liegt. Und so fängt er an, Lieder in einzelnen Opera zusammenzufassen. Zum Beispiel sein Opus 8 nach Texten von Heinrich Hüttenbren- ner und Johann Mayrhofer, vier Lieder, die von Tod, Natur und politisch-persönlicher Depression erzählen. „Der Jüngling auf dem Hügel“, „Sehnsucht“, „Erlafsee“ und „Am Strome“. Die Interpreten sind noch einmal Dietrich Fischer-Dieskau und Gerald Moore. 6 DG Franz Schubert: op. 8 14‘41 LC: 00173 „Der Jüngling auf dem Hügel“ D 702 (Hüttenbrenner), 477 8994 „Sehnsucht“ D 516 , „Erlafsee“ D 586, „Am Strome“ D CD 13, Tracks 5 + 539 (Mayrhofer) 6 Dietrich Fischer-Dieskau, Bariton CD 10, Track 16 Gerald Moore, Klavier CD 9, Track 22 (1970) Schubert fest in Freundeshand: sein op. 8 nach Texten von einem der Hüttenbrenner-Brüder, Heinrich, sowie des Schubert-Intimus Johann Baptist Mayrhofer. Wir hörten Dietrich Fischer- Dieskau und Gerald Moore. Spätestens mit Mayrhofer erhalten Schuberts Lieder eine politische Dimension. Mayrhofer, zehn Jahre älter als Schubert, Jurist, Theologe, Dichter, Zensor im Metternich-Regime, Jung- geselle und Melancholiker. Was für eine Kombination! Zwei Selbstmordversuche unter- nimmt er, einmal springt er in die Donau, beim zweiten Mal, 1836, stürzt er sich aus dem dritten Stock seines Dienstgebäudes und stirbt. Er habe, heißt es, den Zwiespalt zwischen seinem Broterwerb als Bücherrevisor und seinen politischen Überzeugungen nicht länger ausgehalten. Diese Überzeugungen spiegeln sich auch in seinen Gedichten wider, und da das extrem behutsam geschieht, muss man sehr genau lesen, um das überhaupt mitzukriegen (jedenfalls aus heutiger Sicht). So kann „Am Strome“, das letzte Lied aus Schuberts op. 8, als Klage über Österreich verstanden werden, wo das lyrische Ich nichts „Frohes“ erlebt, sich nach „mildren Landen“ sehnt und am Ende resigniert. Schubert unterstreicht das mit der finsteren Tonart H-Dur und allerlei musikalischen Schroffheiten. Um politisch unerkannt zu bleiben und trotzdem nicht zu verstummen, greift Mayrhofer gern zu antiken Figuren und Stoffen. Wer würde hinter Helden wie Philoktet oder Memnon schon aufrührerische Kommentare vermuten – oder die antike Sonnenstadt Heliopolis als meta- phorische Kampfansage an die Gegenwart begreifen? „Hoffnungspflanzen, Tatenfluten“: zwei Lieder, „Aus Heliopolis“ I und II, Brigitte Fassbaender wird begleitet von Graham Johnson. © rbbkultur vom Rundfunk Berlin-Brandenburg (rbb) www.rbbKultur.de
Franz Schubert – 5. Folge Seite 5 von 8 7 Hyperion Franz Schubert 5’20 LC: 07533 „Aus Heliopolis“ I + II D 753, 754 (Mayrhofer) J33011 Brigitte Fassbaender, Mezzosopran Tracks 14+ 15 Graham Johnson, Klavier (1990) „Wenn die starken Stürme brausen, findest du das rechte Wort“: Schubert im April 1822, vermeintlich Seit‘ an Seit‘ mit seinem Dichterfreund Mayrhofer, einig darin, dass mit der Kunst die Welt aus den Angeln zu heben sei – nur mit der Kunst. Zwei Lieder „Aus Heliopolis“. Es sang Brigitte Fassbaender, es spielte Graham Johnson. Im richtigen Leben haben sich die Freunde zu diesem Zeitpunkt längst überworfen. Sind sie sich zu nahe gekommen? Ist viel- leicht etwas dran an der These, dass beide homosexuell sein sollen, der eine mehr, der andere weniger? Und dass Schubert, von Schober zu „therapeutischen“ Bordellbesuchen genötigt, sich anschließend mit Syphilis infizierte? Stichhaltige Belege dafür gibt es keine. Eines der schönsten, ergreifendsten Mayrhofer-Lieder ist für mich neben dem „Nachtstück“ und der „Auflösung“ der „Abendstern“, komponiert im Frühjahr 1824. Weltüberdruss, Ein- samkeit, Resignation, das sind auch hier Mayrhofers Themen. Schubert gestaltet sie mit einer geradezu bestürzenden musikalischen Schlichtheit. Ein paar Dissonanzen im Pianissimo, Akkorde auf der Subdominante, mehr braucht er nicht, um in dieses Weltbild einzustimmen. Und doch bleibt das Ganze: ein Lied, ein Schubert-Lied. 8 Avi Franz Schubert 2‘46 LC: 15080 „Abendstern“ D 806 (Mayrhofer) 8553373 André Schuen, Bariton Track 11 Daniel Heide, Klavier (2018) Die Einsamkeit der Venus am Firmament: André Schuen und Daniel Heide mit dem „Abend- stern“ nach Mayrhofer. Von den 600 Liedern, die Schubert geschrieben hat, beruhen rund 140 auf Gedichten seiner Freunde, fast ein Viertel also. Das heißt: Die Freunde – so sie Dich- ter sind – bestimmen Schuberts Liedschaffen ganz wesentlich mit. An ihren Texten entzündet sich seine Musik, sie lenken seine ästhetische Entwicklung, den Weg in die freie, die freiere Form. Umgekehrt trägt die Musik die Botschaften der Texte in die Welt. Für Schubert ist das Zusammensein mit Spaun, Schober, Schwind, Bauernfeld & Co. mehr als bloß ein geselliger Zeitvertreib. Für Schubert ist es eine Lebens-, ja eine Kunstform. Dass es dabei zu Konflikten und Krisen kommt, dafür ist die Trennung von Mayrhofer nur ein Beispiel. Vielsagend auch: Dass Schubert weiterhin Mayrhofer-Gedichte vertont. Das persön- liche Band mag zerrissen sein, auf den Künstler, den Bruder im Geist kann er nicht verzichten. Interessanterweise steht in der Werkliste unmittelbar vor dem „Abendstern“ Schuberts ers- tes professionelles Streichquartett. „Professionell“ in dem Sinn, dass er ein Konzertquartett schreibt und die Gattung damit aus seinem musizierenden Elternhaus erlöst. Schubert wech- selt das Gegenüber. Nicht der Vater ist es mehr, vorübergehend sind es auch nicht die dichtenden Freunde – sondern gewissermaßen die Gattung Streichquartett selbst. Und hören Sie doch einmal, wie es ihm gelingt, sich den ästhetischen Ansprüchen zu stellen, einerseits, und andererseits © rbbkultur vom Rundfunk Berlin-Brandenburg (rbb) www.rbbKultur.de
Franz Schubert – 5. Folge Seite 6 von 8 (und gleichzeitig) ganz er selbst zu bleiben. In der Durchführung des ersten Satzes, den wir gleich hören, gibt es nach etwa siebeneinhalb Minuten einen totalen Zusammenbruch, eine krasse Dissonanz, gefolgt von einer Generalpause. Wie Schubert danach das vollkommen zerstörte Thema wieder aufbaut, tastend, zitternd, als fürchtete er, nie wieder zur Melodie, zum Gesang zurückfinden zu können, das ist ein großer, atemberaubender Moment. Streichquartett a-Moll D 804, Allegro ma non troppo. Es spielt das Alban Berg Quartett. 9 ARCHIV Franz Schubert 12‘21 Streichquartett Nr. 13 a-Moll D 804 „Rosa- EMI munde“ LC: 06664 1. Allegro ma non troppo 566144-2 Alban Berg Quartett CD 4, Track 5 (1984) Arnold Schönberg hat die Art und Weise, wie Schubert diesen Satzschluss erreicht, über alle Irritationen und Zweifel hinweg, mit der Harmonik von Wagners „Tristan“ in Verbindung gebracht: Wir hörten den Kopfsatz aus dem Streichquartett in a-Moll, dem so genannten „Rosamunde“-Quartett (wobei sich der Beiname auf den zweiten Satz bezieht und auf Anklänge an Schuberts Musik zu Helmina von Chézys „Rosamunde“-Schauspiel). Es spielte das Alban Berg Quartett. Es ist hier natürlich überhaupt nicht der Platz, alle Textdichter zu Wort kommen zu lassen, denen Schubert sich in seinen Liedern widmet. Über 100 sollen es sein, ich habe sie nicht gezählt. Viele sind uns heute überhaupt nur noch durch Schuberts Lieder ein Begriff. Wer kennt schon, Hand aufs Herz, Johann Georg Jacobi, Ignaz Kastelli, Christian Friedrich Daniel Schubart, Matthäus von Collin, Karl Lappe, Ernst Schulze, Johann Chrysostomus Senn, Franz Xaver Schlechta oder Friedrich Leopold zu Stolberg-Stolberg? 10 ARCHIV Franz Schubert 3’25 MYRIOS „Auf dem Wasser zu singen“ D 774 (Stolberg-Stolberg) LC: 19355 Christoph Prégardien, Tenor CC72645 Michael Gees, Klavier (2015) Track 15 Christoph Prégardien, begleitet von Michael Gees mit „Auf dem Wasser zu singen“ nach einem Gedicht von Friedrich Leopold zu Stolberg-Stolberg, Stürmer und Dränger, Übersetzer, Jurist und Goethe-Freund. Die glitzernden Wellen im Klavier die Emphase des Gesangs – müsste ich den Prototyp eines Schubertliedes benennen, dieses käme ganz sicher in die engere Wahl. Kaum besser bekannt als Stolberg-Stolberg, aber mit und seit Schubert ein Begriff ist Wilhelm Müller, der Dichter der beiden großen Schubert-Zyklen, der „Schönen Müllerin“ von 1823 und der „Winterreise“ von 1828. Müller, Zeitgenosse Schuberts, in Dessau geboren und gestorben, Philologe, Befreiungskrieger gegen Napoleon, gesellschaftskritischer Dichter, Hofrat, Freimaurer und Kämpfer gegen die türkische Besetzung Griechenlands (obwohl er © rbbkultur vom Rundfunk Berlin-Brandenburg (rbb) www.rbbKultur.de
Franz Schubert – 5. Folge Seite 7 von 8 nie in Griechenland war) – weswegen er auch „Griechen-Müller“ genannt wird. 1821 erschei- nen Müllers „Sieben und siebzig nachgelassene Gedichte aus den Papieren eines reisenden Waldhornisten“, eine Sammlung, in der der Dichter eine unglückliche Liebe verarbeitet haben soll. Für Schubert ist das eine Fundgrube, eine wahre Schatzkammer. Auf die „Schöne Müllerin“ (so heißt der Zyklus auch bei Müller) entfallen 25 der 77 Gedichte, und Schubert wiederum vertont davon 20. Das heißt: Er lässt fünf Gedichte weg. Über die Gründe ist viel gerätselt worden: Sind sie ihm zu ironisch oder zu betulich? Stören sie die Identifikation mit der Geschichte, der Geschichte des Müllerburschen, der sich in die schöne Müllerin verliebt und von ihr nicht erhört wird, weswegen er am Ende ins Wasser geht? Wer ist der Naive, Müller oder Schubert – wer ist der Romantiker? Und was ist Ironie? Zwei Lieder, ein Gedicht: „Der Neugierige“, „Das Mühlenleben“ und „Ungeduld“. Es singt und spricht Brigitte Fassbaender, es spielt Aribert Reimann. 11 DG Franz Schubert 8’38 LC: 00173 „Die schöne Müllerin“ D 795 445 863-2 6. „Der Neugierige“/ * Das Mühlenleben/ Tracks 7 – 9 7. „Ungeduld“ Brigitte Fassbaender, Mezzosopran Aribert Reimann, Klavier (1995) Es gibt mehrere Sängerinnen und Sänger, die die nicht vertonten Gedichte der „Müllerin“ sozusagen in den Zyklus zurückholen und rezitieren – Brigitte Fassbaender ist eine von ihnen. Warum Schubert „Das Mühlenleben“, das Gedicht zwischen dem sechsten und dem siebten Lied nicht vertont hat, ist allerdings ziemlich klar: Ein Genrebild wie dieses – Marienvereh- rung und Handwerkssegen inklusive – lenkt vom Eigentlichen ab, vom Selbstbetrug des Mül- lerburschen nämlich, der recht gut weiß, auch zu diesem Zeitpunkt schon, welcher Illusion er sich hingibt. Die Müllerin wird ihn niemals zurücklieben, das sagt Schuberts instabile Har- monik, das sagen Trugschlüsse und übersteigerte Spitzentöne. Es ist nicht so, dass Schubert mit jedem Dichter, auf den er trifft, den er sich komponierend erobert, zu neuen Ufern aufbräche. Müller aber inspiriert ihn – selbst wenn er ihn als Ironi- ker, der er auch ist, missverstehen sollte. Die Müllersche Dichtung ist poetisch konkret, das heißt, sie bedient Metaphern und Affekte, die Schubert kennt und braucht; aber sie bietet auch Raum für Musik, gerade durch manche Unebenheit, durchs vermeintlich oder tatsäch- lich „Ungekonnte“. Das macht Schuberts Musik frei, befreit sie zu sich selbst, und wie am Schluss des Zyklus Wiegenlied und Wanderschritt miteinander verschmelzen, absolute Gegensätze also, so mag man sich kurz vorstellen, wie Schubert im Oktober 1823 im Kran- kenhaus liegt, um seine Syphilis weiß, weiß, dass er nie wieder gesund werden wird, ein 26- Jähriger also, der am Ende ist – und solche Musik schreibt. 12 ONYX Franz Schubert 6’49 LC: 19017 „Die schöne Müllerin“ D 795 4112 20. „Des Baches Wiegenlied“ Track 20 Florian Boesch, Bariton Malcolm Martineau, Klavier (2016) © rbbkultur vom Rundfunk Berlin-Brandenburg (rbb) www.rbbKultur.de
Franz Schubert – 5. Folge Seite 8 von 8 „Des Baches Wiegenlied“, Inbegriff musikalischer Transzendenz oder Ankündigung eines Freitods: Florian Boesch und Malcolm Martineau mit dem letzten Lied aus der „Schönen Mül- lerin“. Und jetzt fehlt im Grunde nur noch einer, das heißt, es fehlen viele Textdichter, wie gesagt, aber der fehlt nun wirklich: Heinrich Heine. Schubert lernt die ersten Heine-Texte bei Lesun- gen im Hause seines Freundes Franz von Schober kennen, im Spätsommer 1828 dann vertont er sechs Gedichte aus Heines Buch „Heimkehr“. Und was sich bei Wilhelm Müller abzeichnet, dass Schubert musikalisch immer freier wird, immer kühner, moderner, schlichter auch, das setzt sich bei Heine fort. Nur leider blieb Schubert für weitere Heine-Erfahrungen keine Lebenszeit mehr. „Gelegenheit macht Lieder – Schuberts Texte“, das war heute mein Thema. In einer Woche, möchte ich hier einen Blick in die Schubertsche Werkstatt werfen: Wann und wie wird aus Schubert eigentlich Schubert? Und was lässt uns seine Musik oft nach wenigen Takten schon erkennen? Hören Sie jetzt noch ein Heine-Lied: „Am Meer“, aus dem „Schwanengesang“. Das dumpfe Grollen der Brandung, eine verhaltene Melodie, Moll und Dur, Dur und Moll, Idylle und Gefährdung, Seele und Natur: alles ist wie immer – und doch ist nichts, wie es war. Ich bin Christine Lemke-Matwey und wünsche Ihnen einen schönen Sonntagabend. 13 HARMONIA MUNDI Franz Schubert 4’45 FRANCE „Am Meer“ D 957 (Heine) LC: 07045 Mark Padmore, Tenor 907520 Paul Lewis, Klavier Track 12 (2011) © rbbkultur vom Rundfunk Berlin-Brandenburg (rbb) www.rbbKultur.de
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