Franz Schubert Die Musikserie von Christine Lemke-Matwey - Freunde und andere Männer

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Sonntag, 05. September 2021
                                                                       15.03 – 17.00 Uhr

                      Franz Schubert
        Die Musikserie von Christine Lemke-Matwey

                        Freunde und andere Männer:
                      nur ein Gesellschaftsspiel? (10/21)

Heute möchte ich da anknüpfen, wo ich vergangenen Sonntag aufgehört habe: bei der Oper.
Kennen Sie Freundschafts- oder Liebes-Duette mit Männern? Der Marquis von Posa und Don
Carlos fallen einem natürlich ein, bei Verdi. Oder Bizets „Perlenfischer“. Viel mehr wird es
kaum sein. Männer in der Oper sind, grob geschätzt, zu 98 Prozent Antagonisten, Gegner,
Feinde, Konkurrenten. Nicht so bei Schubert! Hören Sie das Duett Froila/Mauregato „Kein
Geist, ich bin am Leben“ aus dem dritten Akt seiner Oper „Alfonso und Estrella“ – und seien
Sie herzlich begrüßt zur elften Folge unserer Sendereihe: „Freunde und andere Männer: nur
ein Gesellschaftsspiel?“

 1   BPHR                Franz Schubert                                                   3‘24
     LC 13781            „Alfonso und Estrella“ D 583
     150061              Duett „Kein Geist; ich bin am Leben“
     CD 8, Track 21      Christian Gerhaher, Bariton
                         Jochen Schmeckenbecher, Bariton
                         Berliner Philharmoniker
                         Ltg.: Nikolaus Harnoncourt
                         (2005)

Was für eine Musik! Da begegnen sich Abendland und Morgenland, der Christ Froila und der
„Heide“ Mauregato, und sie tun es bei Schubert in stockenden, tastenden, fast ungläubigen
Rhythmen. Dann aber umschlingen sich ihre Melodien im Herzpuls und finden miteinander
ins Unisono. In jeder moderneren Oper wäre das psychologisch sicher weiter ausgebreitet
worden, Schubert aber findet: Das Ergebnis ist unerhört genug. Dass zwei Erzfeinde mitei-
nander Frieden schließen; dass Märchenhaftes und Historisches zusammengehen; und dass
zwei Männer öffentlich Gefühle zeigen, Empathie. Sie hörten Christian Gerhaher und Jochen
Schmeckenbecher, sie wurden begleitet von den Berliner Philharmonikern unter Nikolaus
Harnoncourt.

Schubert und die Männer, Schubert und seine Freunde, das ist ein großes Thema. Hie und
da hat es mich schon beschäftigt: als es hier um Schubert und die Schule ging beispielsweise,
seine ersten wichtigen Kontakte knüpft der Komponist im Wiener Stadtkonvikt; oder bei der
Frage nach den Texten, die er vertont. Schubert genießt das Leben in der Wiener Bohème
des frühen 19. Jahrhunderts, der Austausch mit den Künstlern und Intellektuellen ist ihm
Familienersatz und Lebensform, prägt seine eigene ästhetische Entwicklung und schärft
seine politische Wahrnehmung: für einen Aufbruch in bessere, friedlichere Zeiten nach der
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Befreiung von Napoleon. „Der Kampf ist nun entschieden./ Bald, bald erscheint der Frieden/
In himmlischer Gestalt./ Drum jubelt hoch, ihr Deutsche,/ Denn die verruchte Peitsche/ Hat
endlich ausgeknallt.“

 2     cpo                 Franz Schubert                                                     1‘20
       LC 08492            Terzett „Verschwunden sind die Schmerzen“ D 88
       999399-2            (eigener Text!? Anonymus) 1813
       Track 3             Die Singphoniker
                           (2004)

Ein Terzett a cappella für Männerstimmen, vom ganz jungen Schubert komponiert, 1813, auf
einen anonymen Text. Manche Forscher vermuten, Schubert selbst sei der Dichter dieser
acht patriotischen Strophen, inspiriert möglicherweise von Theodor Körner, den er früh liest
und vertont. Wahrscheinlich ist es aber nicht. Schubert ist kein Mann des Wortes, weder
schreibt er viel noch spricht er gern, wie wir von seinen Freunden wissen. Und alles dezidiert
Politische ist ihm ohnehin fremd. „Verschwunden sind die Schmerzen“, so heißt dieses Ter-
zett, D 88, es sangen die Singphoniker.

Es gibt eine berühmte Sepia-Zeichnung von Moritz von Schwind, die zeigt Schubert im Kreise
seiner Künstlerfreunde. Zwei Dinge sind daran interessant: erstens, dass Schwind die Zeich-
nung im Nachhinein anfertigt, 1868, aus dem Gedächtnis heraus (wobei er sicher fremdes
Bildmaterial zur Hilfe nimmt). Trauen kann man der Sache also nicht, im dokumentarischen
Sinn. Es ist ein Arrangement. Deswegen ist, zweitens, interessant, wo Schubert auf der Zeich-
nung sitzt – ziemlich genau in der Mitte nämlich, am Flügel zwischen dem Sänger Johann
Michael Vogl und Josef von Spaun, einem seiner ältesten Weggefährten. Der schweigsame,
schüchterne Komponist ist das Herz des Ganzen. Und alle, alle drängen sich um ihn her:
Maler, Dichter, Musiker; Rieder, Kupelwieser, Mayrhofer, Hüttenbrenner und wie sie alle
heißen. Und Franz von Schober natürlich, gleich vorne rechts, der Dichter des unseligen
„Alfonso und Estrella“-Librettos, der gerne Schauspieler geworden wäre, ein hoch gebildeter
Mann und schillernder, „zweideutiger“ Charakter, wie es heißt. 1822 vertont Schubert sein
Gedicht „Frühlingsgesang“, ein Text, bei dem man leicht auf zweideutige Gedanken kommen
kann.

Noch einmal die Singphoniker.

 3     cpo                 Franz Schubert                                                     4‘12
       LC 08492            Terzett „Frühlingsgesang“ D 709 (Schober) 1822
       999399-2            Die Singphoniker
       Track 17            (2004)

Wenn Männer singen: das a cappella-Terzett „Frühlingsgesang“ auf ein Gedicht von Franz
von Schober. Eine Aufnahme mit den Singphonikern.

War Schubert homosexuell? Diese Frage hat viele Gemüter bewegt und wird auch heute
noch gerne diskutiert. Die Forschung wird nie herausfinden, ob Schubert nun bi- oder homo-
sexuelle Neigungen hatte oder nicht. Es existieren keine Bekenntnisse, keine erotischen
Tagebücher und auch keine Prozessakten – immerhin wurden homosexuelle Handlungen in

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Österreich schwer bestraft. Seit 1878 zwar nicht mehr mit dem Tod, dafür aber mit Folter
und Kerker.

Junge Männer wie Schubert sehen sich also besser vor. So wie sie sich vor der Zensur hüten.
Mit Gedichten wie Schobers „Frühlingsgesang“ bewegt Schubert sich auf der sicheren Seite:
Metaphern wie der „flammende Speer“ des Sommers, rieselnde Quellen und schwellenden
Knospen gehen gut auch als Naturlyrik durch.

Im Leben aber hat Schubert – so viel immerhin lässt sich sagen – hat keine Wahl. Er kann es
sich nicht aussuchen, ob er bürgerlich leben möchte, mit Frau und Kindern und einer festen
Anstellung, oder ob er sein Heil als freischaffender Künstler sucht. Die Gründung einer Fami-
lie bleibt ihm verwehrt, dazu fehlt ihm schlicht das Geld. Also bleibt er Junggeselle und geht
ins Bordell, zumindest einmal, wozu Schober ihn verleitet haben soll – mit dramatischen Fol-
gen, seiner Syphilis-Infektion nämlich; oder er hält sich, wenn man so weit gehen möchte,
an andere junge Männer in einer ähnlichen Lebenssituation.

Ein frühes Lied wie „Der Jüngling und der Tod“ nach Josef von Spaun scheint das zumindest
nahezulegen, auch wegen seiner Beschwörung von „schön‘ren Welten“ und einem
„geträumten Land“.

Christian Gerhaher und Gerold Huber, 2002.

 4     Arte Nova           Franz Schubert                                                     4‘23
       LC 03480            „Der Jüngling und der Tod“ D 545 (Spaun) 1817
       74321 92771         Christian Gerhaher, Bariton
       2                   Gerold Huber, Klavier
       Track 2             (2002)

Ein sperriges, finsteres Lied! Ursprünglich für zwei Stimmen geschrieben, als Duett sozusa-
gen: „Der Jüngling und der Tod“ D 545. Ein Geschwisterlied zu Schuberts Matthias-Claudius-
Vertonung „Der Tod und das Mädchen“. Die Bezüge reichen bis in einzelne Verse hinein. Das
Mädchen ruft „Ich bin noch jung, geh Lieber!/ Und rühre mich nicht an“; der Jüngling bittet
„O komm‘ und rühre mich doch an“. Was sagt diese Umkehrung, diese Spiegelung? Sie zeigt,
wie intensiv Schubert und seine Freunde in der Kunst gelebt haben, wie intensiv wie mit
Ideen umgegangen sind. Der Tod, das ist zu diesem frühen Zeitpunkt die Erlösung, die
„schön‘re Welt“, die Utopie eines Allaufgehobenseins. Bei Schubert wird sich das später
ändern. Noch aber ist er sich mit seinen Freunden einig: Die Kunst ist die einzig mögliche
Existenzform auf Erden.

Ein Gedicht von Johann Baptist Mayrhofer, „An Franz“, und das „Ständchen“ aus dem
„Schwanengesang“, ein Lied also nach Ludwig Rellstab – hintereinander weggesprochen und
-gesungen, ganz im Sinne einer Schubertiade, in der Verschiedenartiges, zueinander kommt.
Julian Prégardien, Xavier Doaz-Latorre, Marc Hantai und Philippe Pierlot.

 5     MYR                 An Franz“ (Johann Baptist Mayrhofer)                               4‘21
       LC 19355            Franz Schubert
       018                 „Ständchen“ aus: Schwanengesang D 957
       Track 27 + 28       Julian Prégardien, Bariton

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                           Xavier Doaz-Latorre, Gitarre
                           Marc Hantai, Traversflöte
                           Philippe Pierlot, Baryton

Eines der vielen Schubert-„Ständchen“, in einer Bearbeitung für Gitarre, Traversflöte und
Baryton. Es sang Julian Prégardien.

Es gibt unterschiedliche Künstlerkreise, in denen Schubert sich bewegt, und richtig säuber-
lich auseinanderzuhalten sind sie nicht. Es ist eben nicht so, dass er vom „Linzer Kreis“ um
Anton von Spaun, dem Bruder seines Freundes Josef, in den „Wiener Kreis“ um Franz von
Schober wechselt und von dort aus dann mit den Jüngeren weiterzieht, mit Mayrhofer,
Kupelwieser und Bauernfeld. Die Grenzen sind vielmehr fließend. Der „Linzer Kreis“, heißt
es, sei eher „utopisch-jakobinisch“ ausgerichtet, man will offenbar auch politisch etwas
bewegen; der „Wiener Kreis“ und seine „Lesegesellschaft“ hingegen verstehen sich als „uto-
pisch-romantisch“. Die politische Aufbruchsstimmung nach den Befreiungskriegen ist aufge-
zehrt, unter der Knute des Metternich-Regimes tritt so etwas wie Resignation ein. Was
bleibt, ist der Freiraum der Kunst, was bleibt, ist die Freundschaft, das Leben in einer mehr
oder weniger verschworenen Gemeinschaft. Wobei man sich das nicht freudlos vorstellen
darf. Die Freunde lesen nicht nur streng Goethe, Kleist, Tieck, Aischylos, Heine, Schlegel,
Rückert oder Platen und steigern sich in einen heiligen geistigen Eifer hinein, sie spielen auch
Spiele oder machen Ausflüge. Nach Schloss Atzenbrugg zum Beispiel, 35 Kilometer westlich
von Wien gelegen und zum Stift Klosterneuburg gehörend. Schobers Onkel ist dort Gutsver-
walter, wie günstig.

Sechs Atzenbrugger Deutsche, es spielt Paul Badura-Skoda.

 6     Gramola                 Franz Schubert                                                   5‘10
       LC 20638                Sechs Atzenbrugger Deutsche D 145/365
       99104                   Paul Badura-Skoda, Klavier
       Track 5                 (2015)

Paul Badura-Skoda mit Sechs Atzenbrugger Tänzen, so genannten Deutschen, also im 3/4-
oder 3/8-Takt geschrieben und auch zu tanzen.

Die Künstlerkreise entfalten die unterschiedlichsten Aktivitäten, gemeinsam gelesen wird
viel und regelmäßig, oft trifft man sich aber auch einfach nur im Wirtshaus. Zu den Aktivitä-
ten gehören auch die von Anton von Spaun und Johann Mayrhofer herausgegebenen
„Beyträge zur Bildung für Jünglinge“. Darin setzt man sich u.a. mit dem Freundschaftsbegriff
auseinander, und die Emphase, in der das geschieht, ist typisch für den Schubert-Kreis und
seine Zeit. Freundschaft, heißt es da, befreie von Gewalt, begeistere zum Siegen oder Ster-
ben, lehre Bürgertugend, sei der Schrecken der Tyrannen und belebe die verfallenden Staa-
ten mit frischem Geiste. Hohe Ideale! Gelebt werden sie unter allen Kunstsparten gleich, das
ist wichtig. Der Austausch dient dem Austausch mit anderen, nicht mit seinesgleichen. Für
Schubert ist das wegweisend. Er, der eine ordentliche, aber keine überragende Schulbildung
hat, profitiert von der geistigen Gewandtheit seiner Freunde. Und von ihrer politischen
Gesinnung.

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Vor allem sind es Dichter und Maler, die Schubert inspirieren, Wort und Bild also. Aber
natürlich hat er auch mit Musikern zu tun, mit anderen Komponisten. Mit Franz Lachner zum
Beispiel, den er schätzt, mit Johann Jenger – oder mit Anselm Hüttenbrenner. Der kompo-
niert 1816 sein erstes Streichquartett, sein Opus 3, und Schubert schreibt über ein Thema
aus diesem Quartett ein Jahr später Variationen, 13 an der Zahl und für Klavier. Will er sich
damit vor dem Freund verbeugen? Oder verbeugt er sich vielleicht vor jemand ganz ande-
rem?

 7     GCCDSA              Ludwig van Beethoven                                               2‘28
       LC 00690            Sinfonie Nr. 7 A-Dur op. 92
       921116              2. Allegretto
       CD 4, Track 6       Orchestra of the Eighteenth Century
       0‘00 – 2‘28         Ltg.: Frans Brüggen
       Blende              (2011)

Das Allegretto aus Beethovens Siebter, ein Ausschnitt daraus, Franz Brüggen leitete das
Orchestra of the Eighteenth Century – und das spiele ich hier, weil es exakt das Thema ist
aus Anselm Hüttenbrenners Streichquartett, auf das wiederum Schubert sich in seinen Hüt-
tenbrenner-Variationen bezieht. Musik über Musik über Musik, wenn Sie so wollen.

Der Pianist Wilhelm Kempff mit den „13 Variationen über ein Thema von Hüttenbrenner“ in
a-Moll, D 576.

 8     DG                  Franz Schubert                                                   14‘38
       LC 00173            13 Variationen über ein Thema von Hüttenbrenner
       479 5545            a-Moll D 576
       CD 32, Tracks       Wilhelm Kempff, Klavier
       6 – 19              (1968)

Wilhelm Kempff mit Schuberts Hüttenbrenner-Variationen, eine Aufnahme von 1968.

Man darf sich die Künstler- und Freundeszirkel, in denen Schubert sich bewegt, nicht zu
gemütlich und locker vorstellen. Das Ganze ist ein Lebensmodell und hat Ansprüche – „das
Gute allenthalben frey und öffentlich auszusprechen“, wie Anton von Spaun es einmal
formuliert. Auch setzen sich die Freunde mit theoretischen Schriften zur Kunst auseinander,
mit Friedrich Schlegels Universalpoesie zum Beispiel, in der es heißt: „Das Wesen der höhern
Kunst und Form besteht in der Beziehung aufs Ganze. Darum sind alle Werke Ein Werk, alle
Künste Eine Kunst, alle Gedichte Ein Gedicht. Denn alle wollen ja dasselbe, das überall Eine
und zwar in seiner ungeteilten Einheit.“ Diese Idee von einem Ganzen, diese Idee von einer
Art Gesamtkunstwerk hat Schubert, den Liederfürsten, den verhinderten Opernkomponis-
ten, sicher fasziniert.

Aber man ist auch gerne lustig miteinander. So pflegt sich der Wiener Kreis um Schober Tarn-
namen aus dem Nibelungenlied zu geben. Schober ist „der grimme Hagen“, der Maler Moritz
von Schwind ist Giselher, das Kind, Franz von Bruchmann, der angehende Jurist, ist Gunther
und Schubert ist Volker, der Spielmann. Ein ähnliches Rollenspiel wiederholt sich in einer
Parodie, die Eduard von Bauernfeld 1825 zu Silvester schreibt, diesmal an der Commedia
dell‘arte orientiert: Hier übernimmt Schober den Pantalone, Schwind den Arlecchino und

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Schubert den Pierrot. Dass Schubert sich komponierend am komischen oder komödianti-
schen Fach versucht, ist selten. Hin und wieder aber tut er es, bei „Herrn Josef Spaun, Asses-
sor in Linz“ zum Beispiel – Rezitativ und Arie auf einen in der Ferne weilenden, schmerzlich
vermissten Freund.

Dietrich Fischer-Dieskau und Gerald Moore.

 9     DG                                 Franz Schubert                                               4‘55
       LC 00173                           „Herrn Josef Spaun, Assessor in Linz“ D 749
       477 9002                           Dietrich Fischer-Dieskau, Bariton
       CD 13, Track 17                    Gerald Moore, Klavier
                                          (1969)

Das Dokument einer parodistisch erhöhten Sehnsucht: „Herrn Josef Spaun, Assessor in Linz“,
D 749. Die Interpreten waren Dietrich Fischer-Dieskau und Gerald Moore.

Unter den Freunden gibt es also: Lesegesellschaften, Wirtshausbesuche, kleinere Ausflüge,
größere Landpartien, die Schubertiaden, auf die ich gleich noch kommen werde – und es gibt
telepathische bzw. musiktherapeutische Sitzungen, die man abhält. Was es damit auf sich
hat, erklärt das folgende Protokoll aus dem Hause des Malers Ludwig Ferdinand Schnorr von
Carolsfeld: „Abends 7 Uhr 25 fiel die Somnambule Louise Mora in Trance, als Herr Schubert
einen jener Deutschen Tänze spielte, welcher wie gewöhnlich bei ihr diese Wirkung hervor-
bringt. < … > Unter anderen Stücken wurde auch Der Wanderer, von ihm selbst componirt,
gespielt, welcher ebenfalls einen tiefen Eindruck auf sie machte. Sie begehrte wach zu wer-
den.“

Mit dem „Wanderer“ ist wohl die berühmte „Wandererfantasie“ gemeint, die Schubert im
November 1822 schreibt, und vielleicht bleibt in dem Protokoll bewusst etwas undeutlich,
ob die Patientin durch die Fantasie nun weiter in Trance gehalten wurde, oder ob ihr rabiater
Wanderschritt sie erwachen ließ. Schubert als Hypnotiseur, was für eine Idee! Doch wenn,
dann wäre wohl die Wandererfantasie dafür geeignet, einen in Trance zu versetzen: weil sie
auf einem einzigen musikalischen Motiv fußt und ihre vier Sätze ineinander übergehen, und
weil das Ganze so vielsagend schillert zwischen Fantasie und Sonate. Der Sog, den das hat,
dieser Sog ist jedenfalls sehr schubertisch.

Die Fantasie in C-Dur D 760 op. 15, die „Wandererfantasie“. Es spielt: Swjatoslaw Richter.

 10     Profil             Franz Schubert                                                            20‘44
        Hänssler           „Wanderer“ Fantasie C-Dur D 760 op. 15
        LC 13287           Swjatoslaw Richter, Klavier
        PH 17005           (1963)
        Tr. 505

„Der Teufel soll dieses Zeug spielen!“, soll Schubert gerufen haben beim Versuch, seine Fan-
tasie in C-Dur D 760 selbst aufzuführen, die legendäre „Wandererfantasie“ – zweifellos eines
seiner technisch anspruchsvollsten Werke überhaupt. Wir hörten eine Aufnahme mit
Swjatoslaw Richter aus dem Jahr 1963.

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Franz Schubert – 10. Folge                 Seite 7 von 8

Immer wieder gibt es in den Künstlerkreisen auch Entfremdungen, Zerfallsprozesse, etwa
wenn sich die Zusammensetzung ändert. Der harte Kern aber bleibt bestehen. Ihn bilden
Schober, Schwind, Schubert und Bauernfeld, und wie weit das geht, wie eng Kunst und Leben
miteinander verzahnt sind, zeigen Eduard von Bauernfelds Erinnerungen: „In der Frage des
Eigentums war die kommunistische Anschauungsweise vorherrschend; Hüte, Stiefel, Hals-
binden, auch Röcke und sonst noch eine gewisse Gattung Kleidungsstücke, wenn sie sich nur
beiläufig anpassen ließen, waren Gemeingut. Wer eben bei Kasse war, zahlte für den oder
die anderen. Natürlich dass Schubert unter uns die Rolle des Krösus spielte und ab und zu in
Silber schwamm, wenn er etwa ein paar Lieder an < den > Mann gebracht hatte.“

Einer für alle, alle für einen – was für ein gelebtes Ideal! Dieses Ideal steht sozusagen hinter
allem, auch hinter einer Oper wie „Alfonso und Estrella“, wenn sich am Ende alle Konflikte
lösen und die Idylle über die harte politische Realität siegt.

Rezitativ, Terzett und Finale aus dem dritten Akt, „Empfange nun aus meiner Hand – Hab ich
dich, Vater, wieder! – Die Schwerter hoch geschwungen“. Nikolaus Harnoncourt leitet die
Berliner Philharmoniker.

 11     BPHR                            Franz Schubert                                             8‘03
        LC 13781                        „Alfonso und Estrella“ D 583
        150061                          Rezitativ, Terzett und Finale „Empfange nun aus
        CD 8, Track 22                  meiner Hand – Hab ich dich, Vater, wieder! - Die
                                        Schwerter hoch geschwungen“
                                        Christian Gerhaher, Bariton
                                        Jochen Schmeckenbecher, Bariton
                                        Dorothea Röschmann, Sopran
                                        Kurt Streit, Tenor
                                        Hanno Müller-Brachmann, Bass
                                        Rundfunkchor Berlin
                                        Berliner Philharmoniker
                                        Ltg.: Nikolaus Harnoncourt
                                        (2005)

Christian Gerhaher, Jochen Schmeckenbecher, Dorothea Röschmann, Kurt Streit, Hanno
Müller-Brachmann sowie der Rundfunkchor Berlin und die Berliner Philharmoniker unter
Nikolaus Harnoncourt mit dem Finale aus Schuberts Oper „Alfonso und Estrella“, die zu Leb-
zeiten des Komponisten nie aufgeführt wurde.

Welche Rolle spielt Schubert im Kreis seiner Freunde? Glaubt man Moritz von Schwinds
Sepia-Zeichnung: eine bedeutende. Der Komponist sitzt im Zentrum des Bildes, wie gesagt,
die Gesellschaft scheint ihn zu brauchen. „Schubertiade“, so heißt der Titel dieser Zeichnung.
Schubertiaden sind größere Veranstaltungen ab Januar 1821, bei denen Schuberts Musik im
Vordergrund steht und zu denen formell eingeladen wird, oft mit Tanz im Anschluss. Ohne
Schubert, ohne die Musik hätte das nicht funktioniert. Allerdings gibt es den einen Schubert,

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Franz Schubert – 10. Folge               Seite 8 von 8

den öffentlichen, nicht ohne den anderen, ohne denjenigen, der ganz mit sich allein sein
muss, um an musikalischen Problemen und Fragen zu arbeiten.

    12   Sony                           Franz Schubert                                  3‘59
         LC 06868                       Fuge in e-Moll D 952
         60137                          Allegro moderato
         Track 11                       Yaara Tal & Andreas Grothuysen, Klavier
                                        (1995)

Das klingt sehr wenig nach geselliger Unterhaltungsmusik: Das Klavierduo Yaara Tal und
Andreas Grothuysen mit einer späten Fuge in e-Moll, ursprünglich für Orgel zu vier Händen
komponiert. Und das ist eben auch Schubert: ernst, grüblerisch, schwermütig. Als er begreift,
was seine Syphilis-Diagnose bedeutet, entfremdet er sich mehr und mehr von den Freunden.
Sie sind gesund, für sie geht das Leben in der Kunst weiter, der Traum vom Tod als Erlösung.
Für ihn aber wird der Tod zur bitteren Realität. „Schubert war lange und schwer krank gewe-
sen“, schreibt Mayrhofer, „er hatte niederschlagende Erfahrungen gemacht, dem Leben war
die Rosenfarbe abgestreift; für ihn war Winter eingetreten.“

Diesen Winter – und das ist das Großartige – fasst Schubert auch am Ende seines Lebens in
Töne, die immer noch von Sehnsucht sprechen und von Hoffnung. Anna Lucia Richter, Gerold
Huber und Matthias Schorn mit dem „Hirt auf dem Felsen“.
 13 Pentatone                   Franz Schubert                                   12‘26
      LC 12686                  „Der Hirt auf dem Felsen“ D 965
      5186 722                  Anna Lucia Richter, Sopran
      Track 15                  Gerold Huber, Klavier
                                Matthias Schorn, Klarinette
                                (2019)

Die junge Sopranistin Anna Lucia Richter mit dem „Hirt auf dem Felsen“, eine brandneue
Aufnahme von 2019. Begleitet wurde sie von dem Pianisten Gerold Huber und dem Klarinet-
tisten Matthias Schorn.

Nächste Woche, in Folge 11, lautet das Thema „Grün ist alle Utopie“, und das ist natürlich
nicht tagespolitisch gemeint, sondern beschäftigt sich mit Schubert auf Landpartie.
Ich bin Christine Lemke-Matwey und gebe Ihnen jetzt noch ein paar Walzertakte mit in einen
hoffentlich schönen Sonntagabend.

    14   PROFIL                         Franz Schubert                                  1’53
         LC 13287                       12 Grazer Walzer, D 924
         16094                          Nr. 8 und 12
         Tr. 008                        Ammiel Bushakevitz, Klavier

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