Früherkennung Prostatakrebs: Ist der PSA-Test sinnvoll?
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10 SCHWERPUNKT: PROSTATAKARZINOM © angellodeco – stock.adobe.com Früherkennung Prostatakrebs: Ist der PSA-Test sinnvoll? T. R. Schneider1, K. Boehm2, A. W. Schneider3, J. Huber4 und M. Leitsmann1 1Klinik für Urologie, Universitätsmedizin Göttingen; 2 Klinik und Poliklinik für Urologie und Kinderurologie, Uni- versitätsmedizin Mainz; 3 Gemeinschaftspraxis für Urologie, Winsen/Buchholz; 4 Klinik und Poliklinik für Urologie, Universitätsklinikum Carl Gustav Carus, TU Dresden In Deutschland gibt es Anzeichen für einen Rückgang der Prostatakarzinom-Diagnostik. Zudem häu- fen sich Untersuchungen, welche eine Zunahme an Hochrisiko-Patienten bei gleichzeitigem Rückgang der Niedrigrisiko-Tumoren zeigen. Diese Entwicklungen können schwerwiegende Folgen für die Pa- tienten und auch die Gesundheitsökonomie haben. Ziel ist nicht ein allgemeines Prostatakrebsscree- ning mittels PSA-Test, welches alle Männer in einem bestimmten Alter unabhängig von Begleiterkran- kungen und Risikoprofil einschließt, sondern eine individualisierte, risikoadaptierte Früherkennungs- strategie unter Einbeziehung des PSA-Wertes. Trotz der Risiken der PSA-Testung in Bezug auf Über- diagnose und Übertherapie scheinen die Folgen einer reduzierten Prostatakarzinomdiagnostik für Männer ebenso wenig vertretbar. Der Nutzen der PSA-Diagnostik im diagnose und -therapie steht dem Prostatakarzinom- Rahmen der Prostatakarzinomfrüh- medizinischen Nutzen und der Angst früherkennung erkennung wird kontrovers disku- vor dem Verpassen eines signifikan- Prostatakrebs ist die häufigste tiert. Der gefürchtete Schaden durch ten Prostatakarzinoms bei Einschrän- Krebserkrankung bei Männern in unnötige Prostata-Biopsien, Über- kung der Testungen gegenüber. Deutschland [1]. Die Bestimmung onkologie heute 8/2021
SCHWERPUNKT: PROSTATAKARZINOM 11 des Prostataspezifischen Antigens duzierten Mortalität und verbesser- oder -zystitis und Langzeitfolgen (PSA) im Serum spielt bei der Früh- ten Lebensqualität durch Vermei- wie Zweitmalignome oder Harn- erkennung eine entscheidende Rol- dung von Beeinträchtigungen durch röhrenstrikturen im Vordergrund. le. Der PSA-Test wurde 1986 als ein fortschreitendes Karzinom. Pa- Außerdem leidet das Erektionsver- organspezifischer Tumormarker für tienten mit einem lokal begrenzten mögen in einem ähnlichen Ausmaß das Prostatakarzinom von der FDA Tumorstadium lassen sich operativ wie beim operativen Vorgehen. zugelassen. in der Regel einfacher (geringere Komplikationsraten hinsichtlich Blut- Die Studienergebnisse zur Früh- In Deutschland besteht neben der verlust oder Verletzung von Nach- erkennung des Prostatakarzinoms kostenlosen gesetzlichen Früh- barstrukturen), mit besseren funk- sind heterogen. Ergebnisse der erkennung für Männer ab 45 Jah- tionellen Ergebnissen (nervenscho- amerikanischen PLCO-Studie postu- ren, welche Anamnese, körperliche nendes Vorgehen zum Erhalt des lierten, dass ein breites PSA-Scree- Untersuchung der Geschlechtsorga- Erektionsvermögens) und mit güns- ning im Vergleich zu einer gele- ne und eine digitalrektale Untersu- tigerem onkologischen Ergebnis gentlichen PSA-Testung nach 15 chung (DRU) beinhaltet, die zusätz- (negative Resektionsränder) thera- Jahren Follow-Up keinen signifi- liche Möglichkeit einer (kosten- pieren als in einem späten Stadium kanten Effekt auf die Prostatakarzi- pflichtigen) Bestimmung des PSA- [4]. Die Patienten selbst scheinen nom-spezifische Mortalität zeigte Wertes. Catalona et al. konnten be- durch die PSA-Tests psychisch wenig [7]. Im Nachgang stellte sich ein Teil reits früh zeigen, dass die Kombina- bis gar nicht belastet zu werden im der bewerteten Evidenz als nicht tion einer DRU und eines transrek- Gegensatz zu einem fortgeschritte- ausreichend belastbar heraus und talen Ultraschalls (TRUS) mit einer nen oder gar metastasierten Tu- es ist schlussendlich doch von einer PSA-Wert-Bestimmung hinsichtlich morleiden [5, 6]. 27−32%igen Reduktion der Prosta- der Detektion eines lokalisierten takarzinom-spezifischen Mortalität Prostatakarzinoms der rektalen Un- Kritik am PSA-Test durch die Bestimmung des PSA- tersuchung alleine überlegen ist [2]. Ein niedriger PSA-Wert schließt ein Wertes, wie auch in der ERSPC- Der Anstieg der Neuerkrankungen Prostatakarzinom nicht aus, ein ho- Studie, auszugehen [8]. Die gegen- über fast zwei Jahrzehnte ist ver- her PSA-Wert beweist es nicht. Ein teiligen Ergebnisse dieser zwei gro- mutlich auf die lange Zeit zuneh- erhöhter Wert kann so zu unnöti- ßen randomisierten Screening-Stu- mender Nutzung der PSA-Wert- gen und teils mehrfachen Prostata- dien konnten die Unsicherheit über Bestimmung zurückzuführen [1]. biopsien mit der Gefahr von Kom- die Wertigkeit der PSA-Testung plikationen wie einer Makrohäma- folglich nicht beheben. Eine Meta- Wichtig ist hier die Abgrenzung der turie oder Infektion führen und ins- analyse von Ilic et al., welche gut Begrifflichkeiten Screening gegen- besondere zu Unsicherheit und 340.000 Männer einschloss, konnte über Früherkennung. Ein PSA-ba- Angst bei den Patienten. Zusätzlich zusammengefasst keinerlei signifi- siertes Screening, welches uneinge- werden durch die Früherkennung kante Reduktion der Prostatakarzi- schränkt alle Männer in einem be- Tumoren mit niedrigem Progres- nom-spezifischen Mortalität nach- stimmten Alter unabhängig von Be- sionspotential entdeckt, die ihrem weisen [9]. gleiterkrankungen und Risikoprofil natürlichen Verlauf nach wahrschein- zu einem PSA-Test auffordert, wird lich nie klinisch symptomatisch ge- Basierend auf der Diskussion um weder von den medizinischen Fach- worden wären. Hier bringt eine ak- Überdiagnose und -therapie bei gesellschaften, noch den Leitlinien tive Therapie potentielle Nebenwir- gleichzeitig postuliertem geringen oder Patientenvertretern empfoh- kungen und unnötige Komplika- Überlebensvorteil, sprach sich die len oder gefordert. Ziel der Früh- tionen für Betroffene mit sich, die United States Preventive Services erkennung ist das rechtzeitige Dia- sonst keiner Behandlung bedurft Task Force (USPSTF) 2012 gegen ein gnostizieren von organbegrenzten hätten. Bei der radikalen Prostatek- aktives Prostatakarzinom-Screening aggressiven Tumoren. Vor allem tomie sind hier neben den direkten mittels PSA-Testung bei Männern Männer mit einer Lebenserwartung Operationsrisiken (Blutung, Infek- aller Altersgruppen aus [10]. von mehr als 10–15 Jahren profitie- tion, Verletzung von Strukturen) ren hier von einer kurativen Thera- die potentiellen Folgen auf das Folgen einer reduzierten pie (radikale Prostatektomie oder Erektionsvermögen und die Harn- PSA-Testung Bestrahlung der Prostata) [3]. Der kontinenz zu nennen. Bei der Be- Diese Empfehlung führte in den USA Vorteil in der frühzeitigen Prostata- strahlung stehen akute Nebenwir- in der Folge zu einer signifikanten karzinomdetektion liegt in einer re- kungen wie eine Strahlenproktitis Reduktion des PSA-basierten Prosta- 8/2021 onkologie heute
12 SCHWERPUNKT: PROSTATAKARZINOM takarzinomfrüherkennung in allen 200 Erkrankungsrate: Männer Altersgruppen über 50 Jahre [11]. 180 Sterberate: Männer Weitere Auswirkungen zeigten sich 160 Prognose Erkrankungsrate: Männer an deutlich weniger durchgeführten 140 Prostatabiopsien und im Verlauf an 120 einer Abnahme der Prostatakarzi- 100 nom-Inzidenz bei dabei beobachte- 80 ter gleichzeitiger Zunahme an fort- 60 geschrittenen und primär metasta- 40 sierten Tumorstadien [12, 13]. Bhat 20 et al. konnten in einer Kohorte von 0 Patienten, die sich einer laparosko- 1999 2001 2003 2005 2007 2009 2011 2013 2015 2017 2019 pischen roboterassistierten radikalen Zeit (Jahre) Prostatektomie unterzogen, einen Abb. 1: Altersstandardisierte Erkrankungs- und Sterberate bei Prostatakarzinom in signifikanten Anstieg an Hochrisiko- Deutschland 1999–2016/2017, Prognose (Inzidenz) bis 2020; je 100.000 (mit freundli- Tumorerkrankungen feststellen. In- cher Genehmigung des Zentrums für Krebsregisterdaten im Robert Koch-Institut) [1]. direkt zeigten sich dabei schlech- tere funktionelle Ergebnisse (einge- morstadien-Shift alarmieren ameri- Inwieweit sich die Akzeptanz der schränktes Erektionsvermögen, Harn- kanische Urologen und Gesund- Prostatakrebsfrüherkennung im Ver- kontinenz), welche die Autoren auf heitswissenschaftler. Vor allem wird lauf der letzten Jahre in Deutsch- die notwendige erweiterte chirurgi- ein Nachteil für junge Männer mit land verändert hat, lässt sich nur sche Resektion zur Vermeidung po- Hochrisiko-Erkrankungen befürch- schwer beurteilen. Seit dem Jahr sitiver Schnittränder zurückführen tet, welche am meisten von einer 2011 nimmt die Inzidenz des Prosta- [14]. frühen Detektion und aktiven The- takarzinoms stetig ab – trotz einer rapie profitieren [15]. Die Empfeh- immer älter werdenden männlichen Diese beobachteten Trends einer lung der USPSTF wurde 2018 ange- Bevölkerung (E Abb. 1) [16]. Einen reduzierten Prostatakarzinomdiag- passt auf ein individuelles Testen Einfluss der USPSTF-Empfehlung auf nostik und abnehmenden Inzidenz der Altersgruppe 55−69 Jahre nach Deutschland kann man anhand der bei gleichzeitigem negativen Tu- ausführlicher Aufklärung. damaligen Pressereaktionen und der Parameter ≤ 2010 2011–2013 2014–2016 2017–2019 p N (%) 896 1.361 1.249 1.336 Pathologisches Tumorstadium, n (%) n = 875 n = 1.320 n = 1.102 n = 1.235 0,001 pT2 546 (62,4) 817 (61,4) 657 (59,2) 683 (55,0) pT3a 199 (22,7) 283 (21,3) 241 (21,7) 294 (23,7) ≥pT3b 130 (14,9) 220 (16,5) 204 (18,4) 258 (20,9) NA 21 41 147 101 Pathologische Gleason- Summe, n (%) n = 868 n = 1.317 n = 1.201 n = 1.290 < 0,001 ≤6 209 (24,1) 275 (20,9) 129 (10,7) 136 (10,5) 7 478 (55,1) 786 (59,7) 762 (63,4) 861 (66,7) ≥8 181 (20,8) 256 (19,4) 310 (25,8) 293 (22,7) NA 28 44 48 46 Postoperativer CAPRA- Score, n (%) n = 568 n = 1.137 n = 1.071 n = 1.191 < 0,001 Low risk 214 (36,5) 439 (38,6) 335 (31,3) 369 (31,0) Intermediate risk 189 (32,3) 412 (36,2) 410 (38,3) 449 (37,7) High risk 165 (31,2) 286 (25,2) 326 (30,4) 373 (31,3) NA 328 224 178 145 Tab. 1: Veränderung von Tumorstadium, Gleason-Grad und postoperativer Risikoklassifikation bei 4.842 Patienten nach radikaler Prostatektomie zwischen 2000 und 2019 [17]. onkologie heute 8/2021
14 SCHWERPUNKT: PROSTATAKARZINOM T1/2-N0-M0 LR T1/2-N0-M0 MR 30 % 40 % 27,16 % 39,02 % 25,50 % 39 % 38,80 % 25 % 24,00 % 38 % 20,20 % 37,20 % 20 % 18,00 % 17,50 % 16,73 % 37 % 36,70 % 16,51 % 36,30 % 36,50 % 15 % 36 % 35,54 % 35,00 % 35 % 10 % 34 % 5% 33 % 0% 32 % 2012 2013 2014 2015 2016 2017 2018 2019 2012 2013 2014 2015 2016 2017 2018 2019 T1/2-N0-M0 HR Metastasiert 29 % 28,90 % 9% 28,18% 8,10 % 8,10 % 8% 7,70 % 7,80% 7,50 % 7,70 % 28 % 27,70 % 27,34 % 27,10 % 27 % 7% 26,19 % 6% 26 % 25,79 % 5,40 % 5% 4,80 % 25 % 24,09 % 4% 24 % 3% 23 % 2% 22 % 1% 21 % 0% 2012 2013 2014 2015 2016 2017 2018 2019 2012 2013 2014 2015 2016 2017 2018 2019 Abb. 2: Tumorstadien-Shift innerhalb der Primärfälle des Prostatakarzinoms der Prostatakarzinomzentren von 2012–2019 (mit freundlicher Genehmigung der Deutschen Krebsgesellschaft) [20]. LR = Niedrigrisiko, MR = Mittleres Risiko, HR = Hochrisiko. Diskussion über Überdiagnose und morstadium entdeckt werden. Auf oder Folgen einer verzögerten -therapie sicherlich nicht von der diese Entwicklung kann ein Sta- Prostatakarzinom-Diagnostik zu Hand weisen. Die Entwicklung einer dien-Shift von Niedrig- zu Hoch- werten ist, lässt sich aktuell nicht abnehmenden Neuerkrankungsrate risiko-Karzinomen hindeuten. Auch mit Sicherheit beurteilen. Der Ein- lässt möglicherweise auf eine ab- in Deutschland ist eine Verände- fluss einer nachweislich zunehmen- fallende Nutzung der PSA-Testung rung der Tumorstadien-Verteilung den Active Surveillance Strategie während der letzten Jahre schließen nach radikaler Prostatektomie an- auf den Tumorstadien-Shift von [1]. Weitere indirekte Anzeichen hand einzelner Untersuchungen zu Niedrig- zu Hochrisiko-Karzinomen einer reduzierten Prostatakarzinom- beobachten. ist auch eine mögliche Erklärung früherkennung sowie die Konse- [18]. Wir vermuten, dass beide Ef- quenz einer reduzierten PSA-Tes- Eine kürzlich durchgeführte Ana- fekte hierzu beitragen. tung können sich in einer Abnahme lyse der Daten des jetzt in „URO- an Prostatabiopsien widerspiegeln. Cert“ umbenannten Dachverbands Eine Untersuchung von Saar et al. Auch hier sollte aufgrund der zuneh- der Prostatazentren Deutschlands konnte im Vergleich von radikal menden älteren Bevölkerung eine e. V. von 2005–2019 von Boehm prostatektomierten Patienten aus Steigerung zur erwarten sein. Bis et al. konnte einen ansteigenden 2008–2010 vs. 2017 sowohl einen dato fehlen jedoch Daten zur PSA- Anteil an Mittel- und Hochrisiko- Anstieg der präoperativen PSA- Diagnostik in Deutschland. Patienten bei der radikalen Pros- Werte als auch einen Stadien-Shift tatektomie bei gleichzeitigem Ab- hin zu fortgeschrittenen und lym- Eine abnehmende Prostatakarzi- fall der Niedrigrisiko-Patienten zei- phogen metastasierten Tumorsta- nom-Diagnostik (PSA-Test und Bi- gen [17] (E Tab. 1, S. 12). Ob die dien zeigen [19]. opsie) könnte dazu führen, dass vie- beobachtete Migration der Tumor- le Tumoren nicht mehr frühzeitig stadien und -grade als Zeichen Auch lässt sich diese Entwicklung an- diagnostiziert und somit zu einem einer besseren Patientenselektion hand der Kennzahlenauswertung späteren, fortgeschritteneren Tu- zur Vermeidung von Übertherapie der Jahresberichte der zertifizierten onkologie heute 8/2021
SCHWERPUNKT: PROSTATAKARZINOM 15 Endpunkte Fazit IQWIG-Bewertung Kritische Bewertung der DGU Gesamtmortalität Hier zeigt sich kein Anhaltspunkt für einen Nutzen Da bzgl. des Gesamtüberlebens kein Effekt in eine oder Schaden des PSA-basierten Prostatakarzinom- Richtung nachweisbar war, sich jedoch Vorteile des screenings. PSA-Screenings hinsichtlich des prostatakarzinom- spezifischen Überlebens und der Diagnose metas- Prostatakarzinom- Hier zeigt sich ein Hinweis auf Nutzen für die Sub- tasierter Erkrankungen gezeigt haben, spiegelt die spezifische Mortalität gruppe der Studien mit einem PSA-Cut-off-Wert Schlussfolgerung des Vorberichts („das PSA-Scree- unterhalb von 4 ng/ml. Bei der Subgruppe der Stu- ning schadet mehr als das es nützt“) die Datenlage dien mit einem PSA-Cut-off-Wert von 4 ng/ml und nicht adäquat wieder. höher zeigte sich kein statistisch signifikanter Unter- schied zwischen den Gruppen. Da aber die Konta- mination (PSA-Testrate in der Kontrollgruppe) der beiden größten Studien (Anm. PLCO, ERSPC) dieser Subgruppe hoch war, bleibt unklar, ob dies einen möglichen Effekt des Screenings verschleiert. Diagnosen metastasierter Hier zeigt sich ein Hinweis auf einen Nutzen des Prostatakarzinome Prostatakarzinomscreenings mittels PSA-Test. Unerwünschte Ereignisse Hierzu wurde in keiner der eingeschlossenen Studien – berichtet. Gesundheitsbezogene Hier lagen in keiner der eingeschlossenen Studien Das Risiko von Überdiagnosen betrifft in Deutschland Lebensqualität verwertbare Ergebnisse vor. bei einem PSA-Cut-Off-Wert von 4 ng einen geringen Anteil der Patienten von 0,7–1,6%. Potentiell negati- Überdiagnosen In den Studien mit einem PSA-Cut-off-Wert unter- ve Folgen wie Ängste oder zusätzliche Untersuchun- halb von 4 ng/ml zeigte sich ein Überdiagnoserisiko gen werden in der Diskussion des IQWiG genannt, je nach Studiensetting von 35 bis 60 pro 1.000 ein- aber nicht mithilfe von Daten quantifiziert bzw. ob- geladene Männer, mit einem PSA-Cut-off-Wert von jektiviert. So gibt es bspw. für den Endpunkt gesund- 4 ng/ml und höher je nach Studiensetting von 7 bis heitsbezogene Lebensqualität überhaupt keine rando- 16 pro 1.000 eingeladene Männer. Es ergab sich ein misierten zur Verfügung stehenden Daten. Dennoch Beleg für einen Schaden bezüglich der Konsequen- wird die vermeintlich eingeschränkte Lebensqualität zen von Überdiagnosen. mehrfach als Argument gegen ein PSA-Screening angeführt. Außerdem werden die Daten der ERSPC- Studie aus Finnland nicht berücksichtigt, die gezeigt haben, dass psychische Belastung sowie Lebensquali- tät nach einer Biopsie ohne Krebsnachweis gleich sind wie bei den Patienten ohne Gewebeprobe. Falsch-positive In den Studien mit einem PSA-Cut-off-Wert unter- In diesem Zusammenhang ist der im Bericht verwen- Screeningbefunde halb von 4 ng/ml zeigte sich, dass bei etwa 76–82% dete Begriff „falsch-positiv“ insbesondere für Patien- der Männer mit erhöhtem PSA-Wert in der nach- ten irreführend, da ein PSA-Wert größer 4 ng/ml kein folgenden Biopsie kein Prostatakarzinom gefunden Beweis für ein Prostatakarzinom ist. Die PSA-Werte wurde. Bezieht man die falsch-positiven Screening- und deren Bedeutung müssen mit dem behandelnden befunde auf alle Männer, die am Screening teilneh- Urologen ausführlich diskutiert und durch weitere men, haben etwa 8–19% aller Screeningteilnehmer Untersuchungen wie die digital-rektale-Untersuchung einen falsch-positiven Screeningbefund. In den Stu- und ggf. mit einem multiparametrischen MRT der dien mit einem PSA-Cut-off-Wert von 4 ng/ml und Prostata ergänzt werden. Weiterhin wird vernachläs- höher erwiesen sich pro Screeningrunde etwa 68– sigt, dass nicht die absolute Betrachtung des PSA-Wer- 81% der positiven Screeningbefunde als falsch und tes im klinischen Alltag von Bedeutung ist, sondern hatten somit etwa 4–9 % aller Screeningteilnehmer Parameter wie die PSA-Geschwindigkeit oder verschie- einen falsch-positiven Screeningbefund. Insgesamt de PSA-Quotienten weitere nützliche Hinweise auf das ergab sich ein Beleg für einen Schaden des Scree- Vorliegen eines Prostatakarzinoms geben können. Dies nings mittels PSA-Test bezüglich der Konsequenzen findet sich entsprechend auch in der S3-Leitlinie zum von falsch-positiven Screeningbefunden. Prostatakarzinom wieder. „Diejenigen Männer, die von sich aus nach einer Früherkennung fragen, sollen ergebnisoffen über die Vor- und Nachteile aufgeklärt werden. Dabei sollen der mögliche Nutzen wie auch die Risiken (Überdiagnose und Übertherapie) in natür- lichen Zahlen und auch grafisch dargestellt werden.“ Weiterhin wird für ältere Patientengruppen (>70 Jah- re), die einen niedrigen PSA-Wert aufweisen ohnehin keine weitere PSA-Testung empfohlen. Tab. 2: Gegenüberstellung des Fazits der IQWIG-Bewertung der zusammenfassenden G-BA-Dokumentation und der kritischen Bewertung der DGU hinsichtlich der „Ergebnisse zu patientenrelevanten Endpunkten und Screeningschäden“ [26, 30]. 8/2021 onkologie heute
16 SCHWERPUNKT: PROSTATAKARZINOM Prostatakarzinomzentren von 2012 Zusammenfassung bis 2019 abbilden [20] (E Abb. 2, S. 14). Diese Beobachtungen ent- Daten aus den USA zeigen die schwerwiegenden Folgen einer Reduk- sprechen den in den USA beobach- tion der PSA-Testung. Zeichen einer abnehmenden Prostatakarzinom- teten Folgen des eingeschränkten Diagnostik in Deutschland spiegeln sich möglicherweise in einem Rück- PSA-Screenings [12, 21]. gang der Inzidenz des Prostatakarzinoms wider. In diesem Zusammen- hang zeigen sich in einzelnen Untersuchungen ein negativer Tumor- Die Zunahme an Patienten mit hö- stadien-Shift nach radikaler Prostatektomie sowie eine Zunahme an heren Tumorstadien bei der Primär- lokal fortgeschrittenen Tumoren. Diese Beobachtungen können auf therapie sowie der Anstieg an Pa- eine Zunahme an schwerwiegenden Folgen für die Patienten auf- tienten mit primär metastasiertem grund einer später diagnostizierten Prostatakrebserkrankung und Prostatakarzinom führen schließlich potentiell nicht mehr kurativer Situation hinweisen. Für das Gesund- zu einer Zunahme an nicht mehr ku- heitssystem würde dies eine Zunahme an finanzieller Belastung durch rativ behandelbaren Patienten. Wir sehr teure Systemtherapien bedeuten. gehen davon aus, dass eine Verschie- bung zu höheren Tumorstadien und „Männern, die nach ausführlicher Aufklärung über die Vor- und Nach- zu höheren Tumorgraden bei Erst- teile, die Aussagekraft von positiven und negativen Testergebnissen, diagnose als weitere Konsequenz Überdiagnose sowie ggf. erforderliche daraus resultierende Maß- langjährige Belastungen für die Pa- nahmen, eine Früherkennungsuntersuchung wünschen“ soll nach der tienten durch Metastasen, lokale aktuellen S3-Leitlinie Prostatakarzinom „die Bestimmung des PSA- Symptome und Behandlungsfolgen Wertes als Untersuchungsmethode angeboten werden“ [28]. Ziel ist durch Hormon-, Chemo- und/oder eine individualisierte Früherkennung mit Bestimmung des PSA-Wertes, Immuntherapie bedeutet. Aufgrund um ein klinisch relevantes Prostatakarzinom rechtzeitig in einem lokal der hohen Inzidenz des Prostatakar- begrenzten Stadium zu erkennen und somit kurativ behandeln zu kön- zinoms ist es hier wichtig, auch die nen. PSA-Tests sollten zukünftig weiter, jedoch in Abhängigkeit vom mögliche volkswirtschaftliche Be- individuellen Risiko des Mannes erfolgen. Die PROBASE-Studie ver- deutung der Systemtherapien der folgt das Konzept eines „risikoadaptierten PSA-Screenings“ [29]. Ein fortgeschrittenen Tumorstadien und gesteigertes Bewusstsein hinschlich einer frühzeitigen Detektion und der dadurch entstehenden Kosten Diagnose möchte auch die Europäische Gesellschaft für Urologie (EAU) darzustellen. Schneider und Fichtner mit der Aufnahme des Prostatakarzinoms in den EU Cancer Plan er- konnten bereits 2014 zeigen, dass reichen. alleine aufgrund der mit dem de- mografischen Wandel bedingten Schlüsselwörter: Prostatakarzinom – Prostataspezifisches Antigen Zunahme an fortgeschrittenen Pros- (PSA) – Früherkennung – Überdiagnose – Therapieverzögerung tatakarzinom-Patienten in Zukunft Behandlungskosten von mehr als 3 Mrd. € erreicht werden könnten [22]. In der Zwischenzeit stehen wei- erkennung ist also zu diskutieren, ob PSA-Antrag tere (hochpreisige) Therapien für hier die Kosten und Nachteile für Der PSA-Test wird in Deutschland das fortgeschrittene Prostatakarzi- den einzelnen Patienten im Ver- als Früherkennungsleistung aktuell nom zur Verfügung. So belaufen gleich zu den Folgen eines Tumor- nicht von den gesetzlichen Kran- sich die Kosten von z. B. Abirateron stadien-Shifts zu höheren Stadien kenkassen erstattet. Der Gemein- auf 3.500 €/Monat. Eine Zunahme insgesamt geringer und weniger be- same Bundesauschuss (G-BA) be- nicht mehr kurativ behandelbarer einträchtigend sind und damit die schloss Anfang 2019 auf Initiative Prostatakarzinom-Patienten durch Vorteile einer rechtzeitigen Versor- des Bundesverbands Prostatakrebs Unterlassung einer rechtzeitigen gung des Prostatakarzinoms über- Selbsthilfe e. V. das Institut für PSA-Diagnostik wird somit zu einer wiegen [23]. Der Schlüssel zur Ver- Qualität und Wirtschaftlichkeit im massiven Erhöhung der Behand- meidung einer Übertherapie liegt Gesundheitswesen (IQWIG) mit der lungskosten führen [15, 22]. nicht in der Unterlassung der PSA- „Bewertung eines Prostatakrebs- Testung, sondern in der korrekten Screenings mittels Bestimmung des Trotz der potentiellen Risiken von Risikostratifizierung und Therapie- PSA“ zu beauftragen [25]. In dem Überdiagnose und -therapie im auswahl der diagnostizierten Pa- Anfang 2020 veröffentlichten Vor- Rahmen der Prostatakarzinom-Früh- tienten [24]. bericht zu diesem Gutachten wurde onkologie heute 8/2021
18 SCHWERPUNKT: PROSTATAKARZINOM geschlussfolgert, dass „die Nach- Summary teile die Vorteile eines PSA-Scree- nings deutlich überwiegen“. Ende Prostate Cancer Early Detection: Does the PSA Test Make Sense? 2020 schloss sich der G-BA der Be- T. R. Schneider, K. Boehm, A. W. Schneider, J. Huber and M. Leitsmann wertung und dem Fazit des IQWiG an und entschied gegen den PSA- U.S. data show the serious consequences of reducing PSA testing. Signs Test als Kassenleistung [26]. Laut of a decreasing prostate cancer diagnosis in Germany may be reflected Deutscher Gesellschaft für Urologie in a decrease in the incidence of prostate cancer. In this context, indivi- (DGU) „eine folgenschwere Fehl- dual studies show a negative tumor stage shift after radical prostatec- entscheidung zum Nachteil der tomy and an increase in locally advanced tumors. These observations Patienten“ [27]. Die Kritikpunkte may indicate an increase in serious consequences for the patient due to am Gutachten liegen vor allem an a later diagnosed prostate cancer and a potentially no longer curative der unzureichenden und veralte- situation. For the health system, this would mean an increase in the fi- ten Datengrundlage auf die sich nancial burden due to very expensive system therapies. das IQWIG bezieht. Zudem wurden Daten, welche sich mit den Fol- According to the current S3 guideline for prostate cancer, „men who, gen einer Unterlassung des PSA- after detailed information about the advantages and disadvantages, Testes befassen nicht berücksichtigt the informative value of positive and negative test results, overdiagno- (E Tab. 2, S. 15). Ein erneuter Be- sis and any necessary measures resulting from this, want an early detec- schluss des G-BA zum PSA-Test wird tion examination should determine the PSA value as examination me- erst in 5 Jahren erwartet. Die erneu- thod are offered“ [28]. The aim is an individualized early detection te negative Presse im Umfeld der with determination of the PSA value in order to recognize clinically re- IQWIQ-Begutachtung birgt die Ge- levant prostate cancer in a locally limited stage in good time and thus fahr, dass Männer Früherkennungs- to be able to treat it curatively. PSA tests should continue to be carried untersuchungen zum Prostatakarzi- out in the future, but depending on the individual risk of the man. The nom vermeiden. PROBASE study follows the concept of a „risk-adapted PSA screening“ [29]. The European Society for Urology (EAU) would also like to increase Literatur: awareness of early detection and diagnosis by including prostate can- 1. Robert Koch-Institut (date of home- page: 17.12.2019) Krebs in Deutsch- cer in the EU Cancer Plan. land. Prostata 2. Catalona WJ et al. 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