"Geh endlich spielen!" - Wie Eltern ihre Kinder gewaltfrei erziehen können von Dr. Klaus Neumann

 
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„Geh endlich spielen!” - Wie Eltern ihre Kinder gewaltfrei erziehen können
von Dr. Klaus Neumann

Wer will das nicht – seine Kinder ohne Druck, ohne Strafen, ohne Gewaltanwendung
erziehen? Aber gewaltfreie Erziehung ist auch die Formel für ein inneres Dilemma bei vielen
Eltern: einerseits dem Kind nur Gutes zu geben, sein Leben so angenehm wie möglich zu
gestalten – andererseits aber auch die eigenen Ansichten und pädagogischen Ziele nicht zu
vergessen, Richtung und Maß zu vermitteln und vorzugeben.

Das aber kann nicht gut gehen. Zwei sich scheinbar widersprechende Ansprüche stehen im
Raum und treiben Eltern oft zur Verzweiflung. Rat- und hilflos versuchen sie dann, beiden
Seiten zu genügen, und sind damit fast zwangsläufig zum Scheitern verurteilt.
Dann sitzen mir Eltern (oft die Mutter als erste noch allein) in der Beratung gegenüber und
erzählen: „Ich liebe mein Kind über alle Maßen und wir waren so glücklich, als es endlich da
war. Und nun das. Ich verstehe nicht, wie es passieren konnte. Plötzlich habe ich nur noch
rot gesehen und hätte es aus dem Fenster werfen können. Ich schäme mich so für meine
Gefühle und weiß nicht, wie es weitergehen soll.”

Was sollen Eltern tun?

Den Anspruch auf Erziehung oder den auf Gewaltfreiheit aufgeben? Keines von beiden,
denn dann würde der Widerspruch nicht aufgehoben, sondern nur umgangen zulasten der
einen oder anderen Seite. Manche Eltern gehen diesen Weg – sind alles gewährend oder
alles kontrollierend – und verlaufen sich dabei völlig in der pädagogischen Landschaft. Die
Kinder reagieren darauf recht ähnlich: Verzweifelt rebellieren sie gegen die starre Ordnung
wie auch gegen die nachgiebige Grenzenlosigkeit.
Der Ansatz zu einer Lösung kann also nur darin bestehen, dass Eltern und Berater
versuchen, die schon angedeuteten Widersprüche konstruktiv aufzuheben – das Dilemma
zwischen Verwöhnen und Verweigern aufzulösen.

Das Idealbild

Wie stehen Kinder und Eltern grundsätzlich zueinander?
Schauen wir zuerst auf das geläufige Bild von Elternschaft:
•      Eltern sorgen für ihre Kinder, behüten und beschützen sie, fördern sie und geleiten
sie ins Leben. Kinder ihrerseits tragen die Wünsche und Hoffnungen ihrer Eltern weiter, sind
eine Freude für ihre Eltern.
•      Eltern sind verlässlich und beständig, geduldig und großmütig, ohne Schwächen und
dunkle Stellen. Kinder sind ehrlich und offen, interessiert und strebsam, einsichtig und
aufmerksam.

Der Traum von einer heilen Welt sitzt archaisch tief in uns und trotzt allen modernen
Erziehungsmodellen.

Die Wirklichkeit

Sie allerdings sieht anders aus. Hier ist die Welt in Unordnung. Wenn Eltern über ihre
Erfahrungen mit Kindern sprechen, dann vergolden sie gern im Rückblick die Erinnerung.
Erst nach einiger Zeit trauen sie sich, von Schwierigkeiten und Krisen, Erschöpfung und
Mutlosigkeit zu berichten.
Wirklichkeit heißt, dass vom Moment der Geburt an die gewohnte Paarstruktur völlig über
den Haufen geworfen wird. Nichts ist mehr so, wie es vorher war. Jeder wird einsehen, dass
es da zu Reibungsverlusten und zumindest anfänglich gehörigem Knirschen kommen muss.
Doch in punkto Elternschaft und Erziehung von Kindern dominiert trotz aller Erfahrungen und
vieler kluger Literatur noch das Heile-Welt-Bild: Ein Kind wird geboren und Frau wie Mann
sind aus dem Stand die besten Eltern ohne Fehl und Tadel.

Diskrepanz zwischen Ideal und Realität

Die Erfahrung aus der Arbeit mit Familien zeigt, dass fast allen Eltern diese Diskrepanz
zwischen Ideal und Realität schwer zu schaffen macht und sie den neuen Anforderungen
nicht so ohne weiteres gewachsen sind. Das ist an sich noch kein Problem. Der eigentliche
Konflikt entsteht, wenn Eltern sich dem gewaltigen Erwartungsdruck der Gesellschaft (das
sind Partner, Freunde, eigene Eltern, Tanten und die ganze restliche Verwandtschaft) auf
optimale Elternschaft aus dem Stand ausliefern. Wer traut sich angesichts goldener Alete-
und Milupababywelt schon seine Überforderung auszusprechen: „Ich kann das nicht, ich
könnte mein Kind an die Wand klatschen, ich fühle mich allein gelassen, ich komme mir vor
wie ein Versager”.
Wer mag sich dann darüber hinaus Rat und Hilfe holen, sich an eines der zahlreichen
Hilfsangebote für Eltern und Familien zu wenden? Dazu gehören Überwindung und die Kraft,
sich gegen die Erwartung zu verhalten.
Es gehört Mut dazu, sich auf eine andere Sicht der Eltern-Kind-Beziehung einzulassen.
Geliebte Terroristen

Oft berichten mir Eltern, wie sehr sie doch ihr Kind lieben und dieses natürlich auch an ihnen
hängen würde – und trotzdem ginge so vieles schief. Angestrengt versuchen sie, dem Ideal
eines guten Vaters oder einer guten Mutter zu entsprechen. Diese Eltern sind dann im ersten
Moment fast schockiert, können aber erleichtert durchatmen und wieder einmal lachen, wenn
ich ihnen sage: „Kinder können gelegentlich wie richtige kleine Terroristen sein, die uns mit
allen Tricks aushebeln wollen. Manchmal wäre es schön, sie an einen vorbeiziehenden
arabischen Sklavenhändler zu verschachern – dann hätten wir jedenfalls mal ein paar
Stunden Ruhe”.
Es hilft, wenn man den Klammergriff eines Erziehungsmodells lösen kann, das nur die
Kinder und nicht auch die Eltern mit ihren realen Bedürfnissen und Wünschen sieht.
Es hilft, wenn wir als Gegenposition zur Auflockerung einmal formulieren dürfen: Eltern und
Kinder passen nicht so einfach zusammen!

Beziehungskiste mit doppeltem Boden

Kinder und Eltern stehen zueinander in einer zweifachen Beziehungs- und damit auch
Machtebene:
Einerseits sind Erwachsene den Kindern vielfach übergeordnet – juristisch, intellektuell,
physisch und in fast allen Bereichen des Alltagslebens. Kinder sind ihnen auf Gedeih und
Verderb ausgeliefert und hängen von ihnen ab. Das begründet im Kern die elterliche
Verantwortung und Sorge. Archaisch gesehen können Kinder ohne ihre Eltern kaum
überleben. Deshalb halten Kinder auch heute selbst in für sie schlimmen Situationen (z.B.
wenn sie Gewalt erleben) sehr loyal zu ihren Eltern.
Andererseits binden Kinder ihre Eltern emotional, wie wir vom sogenannten „Kindchen-
Schemas” wissen: Der Anblick eines runden Köpfchens wärmt unser Herz. Eltern können
sich dem kaum entziehen, erleben sich manchmal aber ausgeliefert und gefesselt in einer
tief wurzelnden Bindung.
Gegenseitige Bindung und Abhängigkeit haben natürlich „ihren guten Sinn” – hier wirkt eine
Art „innerer Generationenvertrag”. Eltern handeln auch unter Druck und Stress meist
orientiert am Wohl ihrer Kinder – Kinder erleben ihre Eltern als stark und allmächtig. So
wächst in ihnen eine solide psychische Vertrauensbasis.
Große und kleine Wirklichkeiten

Kinder und Erwachsene erleben die Welt aber völlig unterschiedlich, haben oft ganz
gegensätzliche Interessen und Sichtweisen.
Ein Erwachsener bewältigt seinen Tag, indem er (meist) einem Plan folgt. Für ihn sind
Uhrzeiten wichtig, Züge oder Busse müssen rechtzeitig erreicht werden – hier hat vieles mit
Sinn zu tun, mit Erwachsenen-Sinn.
Ein Kind geht in jeden Tag neu, es lebt weniger strukturiert (… heute schon aufgeräumt?)
und entscheidet sich spontan. Was ihm jetzt noch wichtig ist, kann schon bald höchst
uninteressant sein. Kinder ähneln darin dem Flug eines Schmetterlings – sie machen viele
Umwege und kommen manchmal nie ans Ziel.
So stehen also Kinder und Eltern zueinander – viel entfernter voneinander, als uns die enge
Bindung glauben macht und aushalten kann.

Eine Erziehung, die Gewalt möglichst vermeiden möchte, muss deshalb dies alles
berücksichtigen. Erwachsene, die „gute Eltern” sein wollen, dürfen bei aller Nähe zu ihren
Kindern die fundamentalen Unterschiede nicht vergessen. „Gute Eltern” sind aber vor allem
solche, die in der Erziehung auch sich selbst nicht vergessen – die, im Interesse des Kindes,
sich selbst nicht immer zurückstellen.
Ratsuchende Eltern können sich diese Sicht anfangs kaum zu eigen machen. Ein
angemessener Interessenausgleich gilt vielen schon als schädlicher Egoismus. Viel ist
erreicht, wenn es Eltern gelingt, sich innerlich neben ihren Kindern zu behaupten. Oft geht es
dann „nur noch” darum, die neue Sicht im Alltag praktisch umzusetzen.

Allerdings liegt auch hier – wie so oft – der Teufel im Detail. „Nur noch umsetzen” hört sich
einfach an – wer Kinder hat, weiß um die Schwierigkeiten.

Grundsätze zur praktischen gewaltfreien Erziehung

Zur gewaltfreien Erziehung von Kindern scheinen mir einige Grundsätze besonders wichtig:
•      Kinder und Eltern sind in dem, was sie können und wollen, oft inkompatibel. Sie
brauchen Freiräume, Puffer, sozusagen „Adapter” zum passenden Ausgleich. Diese
„Freiräume der Begegnung” müssen in den Köpfen und Herzen – also intellektuell wie
emotional – wie auch konkret und real existieren.
•      Eltern müssen von ihren erwachsenen Erwartungen an die Kinder viel Abstand
nehmen – wie auch Kinder langsam lernen, ihre kindlichen Vorstellungen von den Eltern zu
korrigieren. Wer als Erwachsener mit Kindern ein Ziel erreichen möchte, muss die
notwendigen kindlichen Umwege akzeptieren und einplanen.
•         Kinder und Eltern müssen sich auch „auseinandersetzen” dürfen. Konkret und real
sollte eine Chance bestehen, dass Eltern ihre Kinder auch mal „allein lassen” können und
umgekehrt. Der Satz „Lass’ mich endlich einmal in Ruhe, geh’ zu den anderen und spiel’” ist
in den Wind gesprochen, wenn die Gestaltung von Wohnung und Wohnumfeld dies
gefahrlos nicht zulässt, wenn Kontakte zu anderen Eltern und Kindern in der Nachbarschaft
fehlen.

Gewaltfreie Erziehung gibt es nicht auf Rezept. Sie ist möglich, wenn alle Verantwortlichen
(und das sind vornehmlich die Erwachsenen) ein realistisches Bild von Elternschaft
entwickeln und die jetzt existierenden bloßen „Überlebensinseln” von Familien zu Lebens-
und Entwicklungsräumen für Kinder wie Eltern erweitern.

Dr. Klaus Neumann
ist Diplompsychologe und Familientherapeut. Er berät Eltern im Kinderschutz-Zentrum des
Deutschen Kinderschutzbundes in München.
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